Waldorferziehung im ersten Lebensjahrsiebt - Gerhard Hallen - E-Book

Waldorferziehung im ersten Lebensjahrsiebt E-Book

Hallen Gerhard

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Beschreibung

Diese Publikation beschreibt aus der Sicht eines Elternteils die Grundlagen der Waldorferziehung im ersten Lebensjahrsiebt

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Informativ, unterhaltsam, verständlich, humorvoll, anregend

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Inhaltsverzeichnis

Anstelle eines Vorwortes die erzählte Inhaltsangabe

Mitteilungen aus dem Nähkästchen

Was ist ein Kind?

Da ist Musik drin

Intelligenzorientierte Sichtweisen

Der „Ich-Einschlag“

Die Übersetzung ins Bildhafte

Bahnhofshalle oder Kindergarten

Erzähl mir eine Geschichte

Kindgemäße Urlaube

Die Lebensprozesse

Das Leben in Rhythmen

Das durchwärmte Leben

Wir ernähren uns

Sich etwas zu eigen machen, oder es aussondern – die Individualisierung

Den Körper bei Kräften halten

Kinder wachsen

Die Reproduktion

Die Sinne

Die Willenssinne bzw. Körpersinne

Fazit

Die Konstitutionen – jedes Kind ein Rätsel

Großköpfige Kinder

Kleinköpfige Kinder

Kosmische Kinder

Irdische Kinder

Kinder mit geschwächter Erinnerung - phantasiearm

Kinder, die etwas nicht vergessen können - phantasiereich

Fazit

Nachwort

Literatur

Anstelle eines Vorwortes die erzählte Inhaltsangabe

Diese Broschüre möchte Sie, liebe Eltern und angehende Eltern, motivieren, sich mit der Waldorfpädagogik für Kinder im ersten Lebensjahrsiebt auseinander zu setzen. Ich werde versuchen, anhand praktischer Beispiele dasjenige zu verdeutlichen, was den Wert und Sinn der Waldorfpädagogik in diesem Lebensabschnitt ausmacht.

Zuerst berichte ich in meiner Eigenschaft als Elternteil über jene Veränderungen, die Kinder bewirken können, wenn wir sie zu uns sprechen lassen – und zwar nicht nur verbal, sondern durch ihre schrittweise sich entfaltende Persönlichkeit. Anschließend berichte ich über drei Bereiche, die das pädagogische Fundament der Waldorf-Erziehung im ersten Lebensjahrsiebt bilden:

die Lebensprozesse (Seite

),

die Sinne (Seite

)

und die Konstitutionen (Seite

).

Dabei greife ich auf meine Erlebnisse als Klassenlehrer in Waldorf- Regel- wie auch in Waldorf- Förderschulen zurück, denn in den ersten beiden Jahrgangsstufen zeigt sich dort, was ggf. an Entwicklungsverzögerungen vorliegt und wie man diese Verzögerungen „wettmachen“ kann. Die hier erwähnten Namen der Betroffenen wurden geändert.

Gerhard Hallen

Mitteilungen aus dem Nähkästchen

Im Folgenden berichte ich über unsere positive Betroffenheit als Eltern zweier Mädchen, die von klein auf unsere Anleiterinnen in erzieherischen Belangen waren. Wir ließen uns von ihnen zeigen, was zuträglich oder gar unerträglich für sie war. Selbstverständlich hatten wir viele Freundinnen und Freunde, die uns mit Tipps zur Seite standen, aber wir stellten schnell fest, dass zum Beispiel unsere Eltern bei ihren Erziehungsbemühungen noch vollkommen andere Rahmenbedingungen vorgefunden hatten als wir mit unseren Kindern:

Wir hatten unsere ersten Lebensjahre noch in einem natürlichen Umfeld verleben können. Es wurde mit Naturmaterialien wie Sand, Erde, Gras, Stöckchen u. a. m. gespielt. Wir hielten uns draußen auf, ohne durch den Straßenverkehr gefährdet zu sein, und aßen dasjenige, was die Jahreszeit an Erzeugnissen hergab. Das Leben unserer Töchter war dagegen von Geburt an medizinisch konditioniert – durch Untersuchungen, Wiegeaktionen, Spezialnahrung, Impfungen, Beratungen, Bespaßungen usw. Sie wohnten im ersten Obergeschoss eines Miethauses und konnten nicht in einem Garten spielen. Die nahegelegenen Spielplätze dienten vorrangig als Katzen- und Hundetoiletten, wie auch die Spielgeräte phantasielos waren.

Der Spielwarenhandel bot „Fitness-Center“ für unsere Babys an. Diese wurden am Kinderbettchen befestigt, waren entsetzlich bunt und aus Plastik. Alles wackelte, klingelte grunzte und grinste mechanisch. Sobald die Kinder laufen konnten, wurden sie an die Bedienung von prämedialen Apparaturen herangeführt. Auf Knopfdruck erschallten bestimmte Lieder, erschienen auf einem Display bestimmte Gestalten. Alles war in seiner Funktion für die Kleinen undurchschaubar.

Auch gab es für unsere Kleinen knallbunte Kinderbücher mit comicartiger Aufmachung, die, gelinde ausgedrückt, ein wesentlicher Beitrag zur Volksverblödung waren. Da unterhielt sich Lämmlein „Lämmi“ mit dem Hasen „Hansi“ über die Milchleistung der Kuh „Gerlinde“ – und das auch noch in holprigen Knittelversen. Die Illustrationen trotzten vor Schwulst. Nun ja! Es war ja nur für Kinder produziert…

Dagegen stellten wir fest, dass Singen, das Wiegen auf dem Arm, überhaupt ein zarter körperlicher Kontakt unseren Kindern besser bekam als jener Kram, der als vermeintlich intelligenzförderndes Material angeboten wurde. Wir entdeckten auch Kinderbücher, die nicht so prall illustriert und sprachlich gut durchgeformt waren. Wir mussten nur ein wenig suchen… Denn diese Bücher sprangen uns nicht sofort an.

Was ist ein Kind?

Die wesentliche Voraussetzung für eine „kindgerechte“ Umgebung ist die Art und Weise, wie wir unsere Kinder anschauen. Als wir vor über 40 Jahren zum ersten Male Eltern wurden, freuten wir uns unglaublich über die kleine Christina. Wir präsentierten sie stolz im Verwandtenkreis und ließen den Ähnlichkeitsbestimmungen der Großeltern, Onkel, Tanten und anderen Verwandten freien Lauf. Man hält es nicht für möglich, wem solch ein kleiner Mensch alles ähnelt.

„Das sind halt die Gene“, stellte einer der Verwandten fest und fasste damit dasjenige zusammen, was alle dachten. Als bei der ersten Nachuntersuchung im Krankenhaus eine ältere Ärztin bemerkte, dass dieses Kind – wie jedes seiner Art – ein Wunder sei, dachte auch ich: „Es ist doch die Summe von Erb- und Umweltfaktoren…“

Unsere Kleine wuchs heran und gedieh. Das war nach meinem Verständnis die Bilanz von Nahrungsaufnahme und Nahrungsverwertung, die sich in den Lebensfunktionen ausdrückte. Und weil die Zunahme der sprachlichen Kompetenz mit der Menge der auf unser Kind einströmenden Worte korrelierte, redete ich auf die arme Christina ein, als gelte es, die Vorlesungsinhalte zweier Semester in einen Vormittag zu packen. Ich wundere mich heute noch, wie geduldig unsere Tochter diese Quasselei ertragen hat. Ja, sie gab sich die größte Mühe, den Erfolg meiner pädagogischen Interventionen zu honorieren. Sie war gerade mal zehn Monate alt und hatte begonnen, auf ihren Beinchen herumzuwackeln, da dozierte ich ihr etwas über die Deckenbeleuchtung und schloss meine Ausführungen mit dem Hinweis: „Da ist Licht.“ Christina wies sogleich mit ihrer winzigen Rechten auf die besagte Leuchte und wiederholte den Satz. „Da ist Licht.“

War dies die inständige Bitte, dass ich endlich meinen Mund halten sollte, oder das Bedürfnis, sich auch mal zu entäußern? Ich war verblüfft und berichtete meiner Frau voller Stolz über das große rhetorische Ereignis. „Wo sie das wohl herhat?“, erwiderte sie lächelnd. „Ich habe es noch“, hielt ich dagegen. – So erfuhren wir durch die reine Anschauung, dass die Kleinen alles, was man ihnen vorlebte, nachahmten – den Blick, das Lächeln, später den sprachlichen Ausdruck, häufig auch den Klang der Stimme, bestimmte Gesten usw. War unser Kind also eine Zusammenfassung von Vererbung und Umwelteinflüssen? –

Eines Tages schaute uns Christina so an, als wenn sie von sich aus etwas entäußern wollte – und zwar ohne unsere Veranlassung. In ihren Augen war ein Ausdruck, der uns klar und sicher fixierte, wie es selbst bei Erwachsenen nur selten der Fall ist. In diesem Blick lebte ein feiner, milder Wille. Wir lächelten sie an, sie erwiderte das Lächeln aber nicht, sondern ihr Blick schweifte über unsere Augen. Wer da so auf uns schaute, war nicht Bestandteil der Erbmasse. Es handelte sich zweifellos um etwas Individuelles.

„Du bist gar nicht die Summe aus den Genen deiner Eltern, auch nicht das Produkt deiner Umgebung. Du hast etwas ganz Eigenes“, murmelte meine Frau, und Christina nickte uns zu, als wolle sie die Worte bestätigen. Nun wussten wir, dass sich da etwas Individuelles entwickelte.

Diese Einsicht führte zu einem Perspektivwechsel auf die Erziehung. Es ging nicht mehr um das Konditionieren eines noch unentwickelten Wesens, dessen Leistungsvermögen u. a. in der Sensomotorik zu steigern war, sondern darum, dem Kind eine Umgebung anzubieten, in der es seine seelischen Fähigkeiten entfalten konnte. Wir stellten uns das folgendermaßen vor:

Zuerst wurde der eigene Körper ergriffen. Das würde bis zur Schulreife dauern.

Danach konnte dieser Körper dazu dienen, Kenntnisse von der Welt zu erfassen und damit ein Interesse an der Welt zu entwickeln. Das würde bis zur Pubertät dauern.

Diese Welterfassung war wiederum die Grundlage für den Erwerb der Fähigkeit, die Welt zu gestalten. Das entsprach dem Jugendalter.

Um diese Schritte vollziehen zu können, brauchte unser Kind Angebote, damit sie ihre persönliche Kraft entfalten konnte.

Was aber bildete die richtige Umgebung? Zweifellos waren wir ein wesentlicher Bestandteil dessen. Es gab aber noch mehr Umwelt als uns. Waren beispielsweise Medien das zeitgemäße Mittel, in unsere Zivilisation hineinzuwachsen? –

Das erfuhren wir bei einem Besuch im Freundeskreis. Dort lief tagsüber bis spät in die Nacht der Fernseher. Als wir einer Einladung dieser Freunde folgen, wurde dort gerade eine ‚kindgerechte Trickfilmserie‘ präsentiert – „Biene Maja“ und anschließend „Heidi“. Das war damals so etwas wie heute Pal Patrol. Unsere Tochter, damals 18 Monate alt, starrte zehn Minuten mit weit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm und war um nichts in der Welt davon abzulenken.

Als es uns dann endlich gelungen war, sie in einem Nebenraum mit anderem Spielzeug zu beschäftigen, zappelte sie eine geschlagene Viertelstunde wie ein kleiner Kobold herum. Die Freunde lachten darüber, denn sie waren mit derartigen Reaktionen vertraut und hielten das für normal. Wir fanden diese Wirkung aber gruselig, denn so kannten wir unsere Tochter nicht. Als das Gehampel vorbei war, stand der Entschluss fest, dass weder der Fernseher, noch der Game Boy, welcher damals in den Kinderschuhen steckte, etwas für unsere Kleine war.

Den fernsehaffinen Freunden schlugen wir vor, dass deren Söhne und unsere Tochter gemeinsam im Sandkasten wühlen, oder mit uns Erwachsenen Topfschlagen und Blinde-Kuh spielen könnten. Als wir das in die Tat umsetzten, bemerkten wir, dass die Atmosphäre während der Aktionen und auch danach wesentlich entspannter war und wir dann auch genug Zeit fanden, über Erwachsenen-Themen zu sprechen, während die Kinder friedlich miteinander spielten.

Unser Fernseher war von da an die eigene Tochter. Wir beobachteten insbesondere ihre Bewegungen beim Spielen, Laufen, aber auch bei ihrem Bemühen, unsere Arbeit im Haushalt zu unterstützen. Denn sie wollte all das machen, was auch wir gerade taten: Staub saugen, fegen, putzen, abwaschen, auch kochen und backen. Meine Frau und ich entwickelten eine Engelsgeduld, sie gewähren zu lassen.

Ja, wir wunderten uns über die Geschicklichkeit, mit der sich unsere nicht einmal Zweijährige in die Arbeiten einklinkte. Sie las sogar – wie ich – die Zeitung, hielt das Blatt aber auf dem Kopf, so dass sie eigentlich nichts lesen konnte. Das spiegelte mir deutlich, dass Erwachsenenbetätigungen ohne Handlungsorientierung für kleine Kinder vollkommen sinnlos sind. Sie ahmen zwar das Verhalten beim Lesen nach, sie erfassen aber nicht dasjenige, was wir daran erleben.

Nun stelle ich mir vor, was die Kleinen heute alles miterleben, wenn die Eltern am I-Phone oder Tablet hängen und auf das Display starren, um den Instruktionen des Gerätes zu folgen. Was erfassen die Kinder dann? Sie erleben, dass ihre Eltern gebannt sind und keine Wahrnehmung mehr für sie haben. Besonders markant sind Eltern, die, am Handy klebend, den Kinderwagen schieben. Das Kind sucht den Blickkontakt, erlebt aber nur etwas Abwesendes.

Damit ist das Konditioniert-Sein für die Kleinen etwas Normales und Gutes; denn für Kleinkinder ist alles, was in ihrem Umkreis geschieht gut und nachahmenswert. Weil wir schon 60 Jahre zunehmender Medienkonditionierung hinter uns gebracht haben, frage ich mich, inwieweit sich diese Entwicklung auf unsere Gesellschaft und ihre Handlungsfähigkeit ausgewirkt hat. Sind wir noch in der Realität beheimatet oder schon in einer virtual reality gefangen?

Waldorferziehung ist ein gutes Mittel gegen diese Tendenzen. Die Kinder werden zur aktiven Teilhabe und zum sinnstiftenden Gebrauch ihres Willens erzogen.

Das hatten wir damals ohne nähere Kenntnis der Waldorfpädagogik praktiziert. Die Folge war, dass unsere Christina initiativ und phantasievoll spielen konnte. Am liebsten ging sie mit einfachen Tüchern um, die sie über ihre Hände stülpte und etwas sagen ließ. Je ungestalteter das Spielzeug war, desto mehr wurde ihre Vorstellungskraft angeregt. So war ein Kochlöffel oder ein Nudelholz interessanter als ein intelligenzförderndes Steckspiel. Der Kochlöffel konnte sich sogar mit dem Nudelholz unterhalten, wie auch ein Klumpen Lehm wie ein Auto brummen oder wie ein Hund bellen konnte. Diese Spielkultur war ansteckend, denn auch wir fingen an, das ansonsten Unbelebte zum Leben zu erwecken. Die Haarbürste gackerte wie ein Huhn, was unsere Tochter ebenso zum Lachen brachte, wie die singenden Schuhe oder der tanzende Besen.

Befreundete Eltern beobachteten unser Treiben mit einer Mischung aus Befremden und Interesse. Eines ihrer Kinder, ein Junge, war mal bei uns zu Gast und konnte das Beleben von Tüchern und Gegenständen nicht nachvollziehen. Er fürchtete sich sogar, als Christina mit einem Tuch vor seiner Nase herumwedelte und dabei eine Taube imaginierte. Daraufhin kramte ich eine alte Kasperle-Puppe aus unserem Spielzeugmagazin hervor und zeigte sie dem Jungen. Der griff nach dem Kasperle und betastete ihn ausgiebig. Dann ermutigte ich ihn, die Puppe über seine rechte Hand zu streifen. Es dauerte ein wenig, bis sich seine Finger in den Armen und dem Kopf des Kasperle zurechtgefunden hatten. Als er die Puppe einigermaßen bedienen konnte, zog ich ein Tuch über meine Rechte und erklärte dem Kasperle, das sei „die Großmutter“. Da begann der Junge, sich als Kasperle mit der „Großmutter“ zu unterhalten. – So gibt es auch für die unerfahrenen Kinder Einstiege in das phantasievolle Spielen. Man muss es aber individuell abstimmen.

Da ist Musik drin