Wandern auf dem inneren Weg - Andreas Wolf von Guggenberger - E-Book

Wandern auf dem inneren Weg E-Book

Andreas Wolf von Guggenberger

4,8

Beschreibung

Andreas Wolf von Guggenberger "Wandern auf dem inneren Weg" Andreas, Wolf von Guggenbergers "Wanderung auf dem inneren Weg" führt die anrührende Suche nach den religiösen und seelischen Wurzeln des Menschlichen auf 200 zusätzlichen Seiten fort, die er in seiner spirituellen Novelle "Was bin ich, wenn ich bin?" begonnen hat. Er baut dabei auf seinen Werken: "Evolution der Seele und der Schöpfung", "Liebe" und "Der Mensch und die Wirkung seiner Seele" auf. In seinem Werk "Wanderung auf dem inneren Weg" nimmt er sich dem Thema der Seele an. Der Autor gibt Einblicke in das ganz neue Bild einer möglichen Schöpfungsentstehung. Er integriert Qualitäten, Dynamiken und Erfahrungen des Schöpfungsgeistes in einem neuen Seele-, Geist-, ICH-Modell. In seinem Seelenmodel verbindet er auch die evolutionären Antriebe im Grundverhalten der Persönlichkeit. Er beschreibt Konflikte des Gewissens, des freien Willens, dem ICH und dem Ego in der Wahrnehmung. Dabei dringt er tief in die Psychologie des Menschen ein. Heiko und Frank sind unterwegs auf einer Pilgerfahrt durch den Kaukasus. Heiko hat alles verloren: Arbeit und Familie. Frank will dem Verzweifelten Bruder Gregori vorstellen, seinen spirituellen Lehrer, der in einem abgelegenen Kloster in den Bergen des Kaukasus lebt. Am nächtlichen Lagerfeuer entspinnt sich ein Gespräch. Bruder Gregori provoziert Heiko, fordert ihn heraus. Bald begreift Heiko: Nichts ist so, wie es scheint. Er ist nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Er hat seine Frau vernachlässigt und alles der Karriere geopfert. Verwirrt, erkennt er durch den Mönch, dass es auf einer geistigen Ebene keine Schuld gibt. Bruder Gregori eröffnet ihm eine neue und liebende Welt der Schöpfung. Heiko begreift seine Abhängigkeit von Vorurteilen und Erwartungen. Er erkennt plötzlich seine eigene Verblendung, seinen Selbsthass, die sein Leben bestimmten. Endlich öffnet er sich, lässt Schmerz und Trauer zu. Er wird reif für Veränderungen. Ein Neuanfang zeichnet sich ab.

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Andreas Wolf von Guggenberger

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10965 Berlin

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Tel: 0049 (0) 176 326 51 517

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Inhaltsverzeichnis

Einige persönliche Gedanken zu meinen Büchern

Andreas Wolf von Guggenberger

Begriffserklärungen für meine Bücher

Literaturnachweise

Was bin ich, wenn ich bin?

Der Jesusdialog

Evolution der Seele und der Schöpfung

„Liebe“

„Der Mensch und die Wirkung seiner Seele“

Einige persönliche Gedanken zu meinen Büchern

Meine Bücher entstanden in 8 bis 10 Jahren autodidaktischer Aufbauarbeit. So ging es mir anfangs nie um Religion. Ich bezeichnete mich ja selbst als Atheist, zugleich war ich aber immer auf der Suche nach einer Verbundenheit zum Leben. Ich spürte einen inneren Drang, den ich aber nicht beschreiben und erfassen konnte. Er trieb mich in Zweifel und provozierte Lebensfragen. Ein inneres Gefühl von Leid brachte mich auf die Fragen der Heilung und weckte gleichzeitig ein Bedürfnis nach Selbsterforschung.

Anlässlich einiger Reisen und damit verbundenen Kontakten zu fremdländischen Religionen, begegnete ich dem Begriff der Seele. Dieses Wort rückte nun immer mehr in den Vordergrund. Langsam verstand ich, dass auch ich meine eigene Seele habe und eine Seele bin. Bisher spürte ich ihre Wirklichkeit nicht und konnte sie deshalb nicht erkennen. Während der nächsten Jahre kam es zu tiefen inneren Prozessen und Verschiebungen. Ich suchte nach Worten für das immer wieder neu Erlebte. Ich beschrieb Lebensprozesse und beobachtete dabei die Entstehung meiner eigenen Gedankenwelt. Ich versuchte Ordnung in meine Inspirationen, Gedanken und Gefühle zu bringen, sowie Lösungen für Widersprüche zu finden. Während mehrere Jahre schrieb ich so nur für mich selbst, wie jemand ein Tagebuch schreibt. Es war eine Zeit tiefer innerer Umbrüche und der Selbsterforschung. Meine Schriften nahmen immer neue Formen an, entwickelten sich ständig neu. Es entstanden immer neue Fassungen, die ich unter dem Titel „Evolution der Seele“ zusammenfasste. In diesem Prozess merkte ich, dass mir die ethischen Grundwerte der Religionen immer verständlicher wurden. Plötzlich erkannte ich, dass mein Denken schon immer von theologischen Grundsätzen beeinflusst war, die mir aber so nie bewusst waren. Diese Erkenntnis weckte mein Interesse auch für andere, mir bis dahin fremde Religionen. Türen für neue und wertvolle Begegnungen öffneten sich. In dieser Zeit las ich viel. In meinem Literaturnachweis am Ende des Buches finden Sie die Themen und Titel der Bücher. Da mich aber die Antworten der Religionen nie befriedigten, suchte ich nach Lösungen in den Wissenschaften. So fand ich mich zwischen Stuhl und Tisch, zersplittert in den verschiedenen Weltmodellen wieder. Ich ließ sie los und überdachte alles bisher Geschriebene. Dahinter entdeckte ich mein eigenes Denken.

Inspiriert durch die Schriften von Muhyidin Ibn Arabi und Nisargadatta Maharaj rückte die Einheit immer näher. Es ging es nicht mehr um Religion sondern um die Schöpfungsvielfalt als Einheit - ich freundete mich langsam mit dem Wort Gott an. In diesem Prozess eröffnete sich mir nach vielen Jahren endlich die große Form meiner Schrift „Evolution der Seele“. Inzwischen war aus einem Experiment der Reduktion das kleine Buch „Was bin ich, wenn ich bin“ entstanden. Man bat mich, es zu vertiefen. Danach folgte die Schrift „Wandern auf dem inneren Weg“,die auf eine erzählerische Weise die „Evolution der Seele“ reduziert und vereinfacht zusammenfasst. Am Ende versuchte ich meine verschiedenen Blickwinkel des Menschen zu konzentrieren und entwickelte das „Seelen, Geist, Körpermodel“. So ging es mir nie um Philosophie oder Religion - ich wurde erst zum Schluss damit konfrontiert. Dies können Sie im Literaturnachweis nachvollziehen. Angeregt durch die Arbeiten von Milton Erikson, Prof. Shultz wurde mir die Kraft der inneren Bilder bewusst, die unsere Vorstellungen, Motivation und Handlungen beeinflussen. Ich erkannte einen Zusammenhang der inneren Wahrnehmung, der Seele und einer möglichen Schöpfungsentstehung.

In meinen Schriften entstanden auf experimentelle Art eigene Begrifflichkeiten, die ich erkläre und beschreibe. Sie unterscheiden sich von den herkömmlichen Modellen. Am Ende der Bücher finden sie die Begriffserklärungen. So kann es bei Fragen nützlich sein, sie immer mal wieder zu lesen. Es kann ihnen als Übersicht dienen. In meinen Büchern geht es nicht darum, mich über bestehende Begriffe, über Wissenschafts- und Religionsmodelle hinwegzusetzen. Im Gegenteil: Es war mein persönlicher Weg, sie zusammenführen. Ich erkannte, dass sie gleichwertig verschiedene Ebenen und Qualitäten der Einheit beschrieben, dadurch konnte ich ihre Unterschiedlichkeit in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Für einige Menschen könnten meine Gedanken und Schöpfungsideen auch Brücken zwischen den Wissenschafts- und Religionsmodellen sein. Das würde mich sehr glücklich machen. So sind meine Vorstellungen nur Brücken.

Andreas Wolf von Guggenberger

geb. 1963 in Zürich, arbeitete in der Schweiz als Rezeptionist in der Hotellerie, war freier Verkäufer. Nach Berlin umgezogen, handelte er mit litauischer Keramik, ehe er sein Leben spirituell umorientierte. Neben einer Ausbildung zum Heilpraktiker ließ er sich zum medizinischen Masseur ausbilden, absolvierte eine Hypnoseausbildung nach Giligan, Lenk und Henning und in Neurolinguistischem Programmieren (NLP) bis zum Mastergrad. Es folgten Kurse in hypnosystemischer Hypnotherapie (EMDR), in Entspannungsverfahren (Leiter für Autogenes Training nach J.H. Schultz, Internationale Yogalehrerausbildung) und eine Ausbildung in tiefenpsychologischer Handschriftendeutung.

In seiner Arbeit als freier Graphologe baut er auf Erkenntnissen von Freud, Adler und Ludwig Klages auf und erstellt psychologische Persönlichkeitsprofile. Ferner bietet er Einzelcoachings, Suchtberatungen, Seminare und Vorträge an. Er setzte sich praktisch mit Sufismus, der Advaitaphilosophie und dem Herzensgebet auseinander, um danach seinen eigenen Weg zu finden, den er in seinen Büchern formuliert.

Seit Stunden saßen sie jetzt eingepfercht in engen Sitzen des überfüllten Busses. Gerüche fremder, abgestandener Gewürze vermischten sich im Atem und Schweiß der Menschen. Sie irritierten Heiko. Die Sitze waren unbequem und eng. Nur der Fahrtwind, der durch die offenen Fenster drang, verschaffte ihm Erleichterung. Als der Bus endlich hielt, kämpften und drängten die Menschen um den Ausstieg. Der Dorfplatz war staubig. Händler saßen erwartungsvoll vor ihren Läden, gaben sich gelassen und freundlich. Der Fahrer reichte den Fahrgästen die Rucksäcke vom Dach. Heiko und Frank nahmen ihr Gepäck entgegen und marschierten los. Es war heiß. Die Mittagssonne brannte auf ausgetrocknete und staubige Straßen. Am Ende des Dorfes machten sie Halt, um etwas zu trinken.

Heiko bestellte eine Cola. Man wusste ja nicht, was man in so einem Kloster vorgesetzt bekam, sagte er sich. Trotz des vielen Zuckers trank er sie, leicht angewidert.

„Es wird dir gefallen“, meinte Frank. „Du wirst wieder zur Ruhe kommen.“

Heiko blickte seinen Freund stumm an, war sich da nicht so sicher. Frank wollte ihm unbedingt seinen Lehrer vorstellen, von dem er seit Monaten schwärmte. Er hatte sich dazu überreden lassen.

Heiko hatte in Deutschland seine Familie und Arbeit verloren. Eine Firma hatte er gehabt, gekämpft, investiert, war erfolgreich gewesen. Das hatte ihn Zeit gekostet, – so viel Zeit, dass für seine Frau und zwei Kinder am Ende nichts mehr von ihr übrig geblieben war. Als er von seiner letzten Geschäftsreise zurückkehrte, stand die Wohnung leer. In seiner Abwesenheit hatte seine Frau die Kleider, Spielsachen der Kinder und das Wichtigste für sich zusammengepackt. Sie musste alles vorbereitet haben. Heiko betrat schweigende Räume. Sie waren leer und klagten ihn an. In den Wänden und Decken spiegelte sich drückend seine Schuld. Die Bank hatte seinen Kredit gestrichen. Die Firma war bankrott. All die Jahre war er Chef gewesen. Jetzt war er niemand mehr. Arbeitslos saß er in der drückenden Stille der Wohnung und wusste nicht weiter. So überredete Frank ihn, hierher in den Kaukasus mitzufahren. Ohnmächtig willigte er ein.

Heiko kramte aus der Hosentasche ein paar Münzen hervor und legte sie auf den kleinen Tisch. Frank war bereits aufgestanden.

Sie machten sich auf den Weg zum Kloster. Anfangs war es eine Straße, doch bald bogen sie in einen Pfad, der sie steil zwischen großen Felsbrocken ins Bergmassiv hineinführte. Es ging aufwärts. Große Steine bildeten Treppenstufen. Schon nach einigen Metern begann Heiko zu schnaufen. Schweiß zeigte sich in dunklen Flecken auf seinem Hemd. Die Sonne brannte. Ihr Atem ging schwer. Sie waren auf 1.500 Metern Höhe und das Wandern in den Bergen nicht gewohnt.

Heiko sah Frank mit schweren Bergschuhen marschieren. In diesem Moment bereute er seinen Entschluss. Wie kann man an so was nur Vergnügen finden, dachte er fluchend. Er fand es einfach nur anstrengend.

So stiegen sie weiter auf. Unter ihnen lag das Tal. Kleine Dörfer zwischen grünen Hügeln zeigten sich mit ihren Steindächern. Doch die Aussicht kümmerte Heiko wenig. Er war zu sehr damit beschäftigt, Sauerstoff in seine Lungen zu ziehen und nicht auf den glatten Steinen auszurutschen. Seit zwei Stunden stiegen sie nun auf. Es gab keine Häuser mehr. Über sich sahen sie das Ende der Bergkuppe.

Er freute sich und schluckte seinen Ärger über die Anstrengung herunter. Schritt um Schritt ging es bergauf. Der Rucksack drückte. Ändern konnte er nichts mehr. Langsam fand er sich mit der Situation ab.

Vor dem inneren Auge sah er plötzlich seinen Sohn im Park lachen. Traurigkeit befiel ihn, raubte ihm die Kraft in seinen Beinen. Er stellte sich den Jungen vor, wie er spielend herumrannte. Schmerzlich vermisste er ihn.

Dohlen kreisten krächzend über ihnen in der Luft. Wie gut sie es haben! Vom Wind können sie sich tragen und treiben lassen, dachte Heiko. Gern wäre er eine von ihnen gewesen. Befreit von Verpflichtungen würde er sich fliegend durch die Täler tragen lassen. Beim Klingeln der Haustür, in Erwartung des Gerichtsvollziehers, würde er nicht mehr zusammenzucken. Er könnte einfach nur fliegen, wäre frei. Oh, wie er die Vögel beneidete!

Schritt um Schritt arbeiteten sich die beiden Freunde den Berg empor. Der Weg schien endlos. Er blickte nur noch auf seine Füße und atmete schwer. Mit der Frage, wie lange es noch dauern würde, wollte er sich nicht mehr quälen. Die Zeit zerrann.

„Gleich haben wir es geschafft, Heiko.“

Er blickte hoch und sah Frank lachen. Er zeigte auf einen Felsen. Sie schienen am Ende des Aufstiegs zu sein. Erleichterung breitete sich in ihm aus. Er ging schneller. Als er den Felsen erreicht hatte, wurde es plötzlich flach. Eine Ebene mit Kiefern und einem kleinen blaugrünen See breitete sich vor ihnen aus.

Frank setzte sich auf einen Stein und trank Wasser aus seiner Flasche.

„Und wie fühlst du dich, Heiko?“

„Wie kannst du fragen? Schlecht.“

Er setzte sich knurrend zu ihm und legte den Rucksack ab. Er musste seinem Ärger Ausdruck verleihen.

„Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht mitgekommen! Das kannst du mir glauben!“

Frank lachte ihn nur an.

„Darum habe ich dir ja auch nichts von dem Aufstieg erzählt.“

„Du bist ein echter Freund, danke.“ Er fand es gar nicht lustig.

„Jetzt reg dich mal ab und trink was!“ Frank reichte seinem Freund die Flasche.

Kleine grüne Tannen mit Moos standen um den See. Wiesen leuchteten unter der blauen Weite des Himmels. Es war wunderschön.

Plötzlich legte sich der Ärger in Heiko, doch er wusste nicht, ob ihm dies gefallen sollte.

„Ist es noch weit?“

„Es geht. Wir müssen noch auf den nächsten Hügel.“

„Welchen Hügel?“

„Da, siehst du?“

Heiko blickte auf die andere Seite des Sees. Dort sah er in der Weite über den Bäumen eine zweite gewaltige Bergkette.

„Das ist nicht dein Ernst, Frank!

„Doch, dort oben ist das Kloster!“

„Das ist ja noch steiler!“ Es verschlug ihm fast die Sprache.

„Wir sind auf einem Pilgerweg. Ich sagte dir ja, dass das Kloster in der Einsamkeit liegt.“

„Du hast von Einsamkeit gesprochen, aber nicht von so einem Aufstieg, verdammt noch mal!“

„So, jetzt beruhige dich mal. Du gewöhnst dich schon daran.“ Frank lachte, was Heiko gar nicht nachvollziehen konnte. Er zog seine Schuhe aus, um seine Füße im frischen Wasser abzukühlen.

„Ist es nicht wunderschön hier?“

Heiko schwieg.

Frank kannte seinen Freund und machte sich nichts daraus. Er schloss die Augen, atmete den Duft der Tannen ein.

Wie er das vermisst hatte, endlich den erdrückenden Berliner Straßenschluchten zu entfliehen! Wegzukommen von ärgerlichen, gehetzten Menschen, die sich wie Ameisen durch die Schächte der U-Bahn drängten. Weg von weißen, sterilen Gängen des Krankenhauses, in dem er sein Praktikum als Medizinstudent machte. Sie bedrückten und ekelten ihn schon beim Arbeitsbeginn. Er hatte die Nase voll von langen Nachtdiensten, unregelmäßigen und zu langen Arbeitsschichten, die schlecht bezahlt wurden. Nur an seinen freien Tagen konnte er in ihr gemeinsames Dorf zurückkehren, wo er wie Heiko lebte. Oft vermisste er die schöne Natur Brandenburgs. Den Arztberuf hatte er sich anders vorgestellt. Besonders, wenn man in Begleitung von Kollegen morgens schweigend hinter dem leitenden Arzt von Bett zu Bett ging. Höflich lächelnd wurden die Patienten nach ihrem Befinden befragt. Doch wenn sie antworteten, hörte man ihnen kaum zu. Waren sie Menschen oder nur noch abstrakte Fälle?

„Willst du auch eine Zigarette, Frank?“

„Ja, gib mir eine, danke.“

Heiko streckte sie ihm entgegen.

Frank hatte eigentlich aufgehört, doch heute genehmigte er sich wieder mal eine. Man soll ja nicht immer so vernünftig sein, sich auch mal was gönnen, dachte er.

„Was meinst du, wie lange wir brauchen werden?“

„Ich schätze, drei bis vier Stunden. Ist das schlimm?“

„Willst du eine Antwort?“

„Nicht nötig.“

Sie lachten sich an. Langsam besserte sich Heikos´ Laune. Still saßen sie und rauchten. Frank wurde es schwindlig. Vögel kreischten und Bäume spiegelten sich im Wasser.

„Komm, lass uns weitergehen, sonst werden die Beine müde!“

„Okay, du hast Recht.“

Sie packten wieder die Rucksäcke und überquerten das Bergplateau. Der warm-feuchte Wiesengeruch war angenehm. Vor ihnen ragte bedrohlich die Bergkette in die Höhe.

Heikos´ Atem begann sich schon bei ihrem Anblick zu beschleunigen. Sein innerer Widerstand machte ihm den Aufstieg schwerer. Das musste er sich eingestehen. Es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Der Weg wurde steiler und steiler. Sie machten kleine Schritte, um Luft zu sparen. Sich dahinschleppend, verging die Zeit. Doch irgendwie kam es ihm diesmal leichter vor. Er hörte seinem Atem zu. Schweiß tropfte ihm von der Stirn in die Augen und brannte. Schritt für Schritt, Stein um Stein erklommen sie das Massiv. Die Zeit löste sich auf. Heiko fand langsam Gefallen daran.

Er erinnerte sich, wie er vor langer Zeit mit seinem Vater Bergwanderungen gemacht hatte. Sie waren durch den Nationalpark marschiert, um Murmeltiere zu beobachten. Es war lange her. Wie schön es damals war, dachte er. Er blickte in seine verklärte Vergangenheit. Lange war es her, dass er sich an sie erinnert hatte.

Kiesel knirschten unter Bergschuhen. Das Atmen fiel ihnen schwer. Stunden vergingen. Stumm, in Gedanken versunken, stiegen sie auf. Plötzlich erhob sich eine etwa zweihundert Meter hohe, fast senkrechte Felswand vor ihnen. Ein kleiner Pfad schlängelte sich an ihr empor. Oben, über dem Tal, stand ein Kreuz aus Holz.

„Heiko, sieh, dort oben! Bald haben wir es geschafft!“

Es war ihm mulmig zumute, als er hochblickte.

„Okay, lass es uns versuchen. Gib mir deine Hand.“ Frank lachte.

Sie schlugen ein. Schweiß rann über ihre Gesichter.

„Komm!“

Sie machten sich auf. Der Pfad war schmal. Die Tiefe zog sie magisch an. Nur nicht runtersehen. Der steile Weg lenkte sie ab. Sie blickten auf ihre Füße, griffen immer wieder nach der Felswand, die ihnen Sicherheit gab. Ein großer Stein stürzte polternd herab. Aus der Ferne hörten sie jetzt den Klang einer Glocke. Sie spannten ihre Muskeln an, zwangen sich, nach Luft ringend, weiter vorwärtszugehen. Es war still, nur der Wind summte. Nur noch ein paar Meter, über sich sahen sie das Kreuz näherkommen. Gleich haben wir es, dachte Heiko erleichtert. Seine Schritte wurden schneller. Der Marsch kam ihm plötzlich gar nicht mehr so lang vor.

„Wir haben es geschafft!“ Frank winkte von oben.

Heiko nahm die letzten Meter.

Schnaufend und schwitzend standen sie nun beieinander und blickten hinab ins Tal. Die Berge berührten den Horizont. Tief unten lag der kleine See mit den Bäumen. Anstrengung fiel von ihnen ab.

Mit ihrem Schweiß waren Erinnerungen an Deutschland verdunstet.

Plötzlich wurde Heiko die Schönheit des Ortes bewusst. Er erwachte. Dohlen krächzten über den Eindringlingen, beobachteten sie misstrauisch und neugierig. Der Wind war stärker hier oben, Kälte stieg in ihnen empor. Sie zogen sich die Jacken über.

„Wo ist nun dein Kloster?“

„Da, hinter den Bäumen.“ Frank deutete mit dem Finger in eine Richtung.

„Wo der Rauch hochsteigt, siehst du? Da liegt es!“

„Hinter wie vielen Bäumen?“, fragte Heiko in Erwartung einer weiteren Katastrophe. Das aufsteigende Dunkle in der Ferne hatte er nicht wahrgenommen.

„Wir haben es gleich geschafft.“ Frank schmunzelte.

Sie rauchten schweigend fertig und machten sich wieder auf den Weg. Diesmal hatte Frank recht: Nach ungefähr fünfhundert Metern erkannte er den Saum der Bäume. Vor ihnen lag eine Wiese, von grauen Gebirgsketten umgeben. Ein paar Häuser standen dort. In ihrer Mitte ragte eine kleine, hölzerne Kirche empor. Sollte dies das Kloster sein, fragte sich Heiko. Dicke Mauern, die kleine Häuser schützend umgaben, hatte er sich vorgestellt. Als sie näherkamen, sah er stattdessen kleine Gärten und Kühe, die im Gras weideten.

„Das ist es, Heiko. Wir sind da.“

Tatsächlich: Da arbeitete ein Mensch in einem langen schwarzen Gewand. Es musste ein Mönch sein. Plötzlich erhob er sich, blickte zu ihnen und begann zu winken. Ihre Schritte beschleunigten sich.

Nach ein paar Minuten hatten sie es geschafft und standen vor ihm.

„Hallo.“

„Hallo, ich heiße Frank.“ Er gab dem Mönch die Hand und blickte ihn an. Er hatte ein offenes und neugieriges Wesen. Heiko hatte noch nie in solch klare Augen geblickt. Sie berührten ihn. Der Mönch drehte sich schweigend um und ging voraus. Sie kamen zu einem kleinen Holzhaus. Die kleine Tür ließ sich schwer öffnen, hing etwas schräg im Rahmen. Im Inneren war es dunkel.

„Legt eure Sachen hin und ruht euch erstmal aus. Ihr könnt heute hier schlafen. Wollt ihr warmen Tee?“

„Danke, das wäre sehr nett.“

Der Mönch war bereits wieder weg. Im Raum standen ein Tisch und zwei Betten. Auf dem Tisch lagen eine Bibel, der Koran und eine Bhagavad Gita. Der Boden war aus Lehm. Ihre Rucksäcke lehnten sie an die Wand. Heiko legte sich hin. Das Bett ächzte und war zu kurz. Das kann ja heiter werden, dachte er. Die Matratze war dünn und hart.

„Es wird kalt werden, Frank.“

„Ich habe dir gesagt, nimm einen dicken Pullover mit.“

Frank öffnete die Tür und trat hinaus. Er setzte sich auf die Bank und lehnte sich an das warme Holz der Hütte. Eine erwartungsvolle Unruhe hatte ihn erfasst. Drinnen blickte Heiko hinauf zur Decke und faltete die Hände hinter seinem Nacken. Eine Spinnwebe hing in der Ecke. Seine Füße ragten aus dem Bett.

„Heiko, komm raus!“

Er erhob sich. Seine Beine waren schwer von dem langen Marsch. Frank saß draußen und trank Tee. Neben ihm stand ein dampfendes zweites Glas für sein Freund. Sie saßen nebeneinander, genossen den Tee. Kühe grasten friedlich und ignorierten sie. Eine befreiende Stille hüllte sie ein.

„Na, wo ist jetzt dein Lehrer?“

„Ich weiß nicht. Ich denke, wir sehen ihn beim Abendessen.“

In Gedanken vertieft saßen sie da. Müdigkeit befiel sie. Von Zeit zu Zeit huschte ein Mönch vorbei und warf ihnen einen neugierigen Blick zu. Die Zeit verging.

Heiko spürte die Unruhe seines Freundes, wollte ihn aber nicht stören. Er erhob sich, ging zurück ins Haus, um seine Sachen auszupacken. Ein kleines Regal stand in der Ecke. Er verstaute seine Kleider und legte sich wieder auf das zu kleine Bett. Zwei Tage wollten sie hier bleiben. Eigentlich zu kurz für so eine lange Reise, dachte er. Mönche suchten innere Ruhe und Einkehr. Sie würden Gäste nicht lange bei sich aufnehmen, hatte Frank ihm erklärt. Er schloss die Augen. Stille hüllte ihn ein. Sein Kopf war leer und Schlaf bemächtigte sich seiner.

Frank saß draußen und wartete. Der Himmel färbte sich rot am Horizont und kündigte die Nacht an. Plötzlich sah er einen Mönch auf sich zukommen. Er bedeutete ihm, ihm zu folgen.

Innere Aufregung richtete ihn auf. Er war wieder hellwach. Der Mönch führte ihn zu einer Tür und verschwand. Frank betrat das Haus, in dem er beim letzten Mal mit seinem Meister gesessen hatte. Kleine Tische und Stühle teilten den Raum. In einfachen Holzregalen aufgestellt, standen Bücher an der Wand. Ein alter Mann saß auf einem Baumklotz vor dem großen Feuer, das in der Ecke brannte. Unter der schweren Kutte sah man seinen breiten Rücken.

Frank stand im Raum, wartete aufgeregt.

Er drehte sich um.

Frank wurde kalt. Verwirrt wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte.

„Setz dich“, sprach er in gebrochenem Deutsch und deutete auf einen Stuhl am Feuer.

Frank schluckte, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Der Mönch war nicht sein Lehrer.

„Willst du einen Tee?“

„Gern.“

Er nahm eine rußige Kanne aus dem Feuer und griff zwei Gläser, die neben ihm an der Wand auf einem Regal standen. Dampf stieg auf, als er den dunklen Tee eingoss. Das Feuer knisterte. Schweigend saßen sie da. Frank bekam ein ungutes Gefühl. Er hielt sich an dem warmen Teeglas fest.

„Ich soll mit dir reden. Bruder Gregori ist in einem fernen Dorf. Es gab dort einen Krankheitsfall. Morgen wird er zurückkommen, muss dann aber wieder gehen. Er entschuldigt sich dafür.“

Plötzlich traurig wusste Frank nicht, wie ihm geschah. Bleierne Schwere übermannte den Körper. Seine Beine wurden kalt.

„Ist dein Freund da, wegen dem du gekommen bist?“, fragte der Mönch in gebrochenen Deutsch.

„Ja.“

Frank fiel es wie Schuppen von den Augen: Es ging um Heiko, nicht um ihn. Er hatte seinem Lehrer geschrieben, dass Heiko dringend Hilfe und Beistand bräuchte. Er hatte ihm seine Lebenssituation beschrieben, darum gebeten, mit ihm hier ins Kloster kommen zu dürfen. Ohnmacht und Traurigkeit machten sich in ihm breit.

„Hast du eine Frage?“

Tausend Fragen hatte Frank, doch sein Kopf war leer. Er wusste nichts zu antworten. So saßen sie weiter da. Die Schatten an der Wand schienen Frank zu verhöhnen. So viel Hoffnung und Erwartung hatte er in diesen Moment gesetzt! Erschrocken wurde ihm dies bewusst. Wie ein kleiner, naiver Junge fühlte er sich. Er begann zu frieren.

Der Mönch schwieg. Die Stille war drückend; nur das Feuer knisterte. Wortlos lächelten die Augen des Mönchs.

Frank konnte sich nicht rühren. Sein Blick war ihm unangenehm. Er fühlte sich nackt und war enttäuscht. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen.

Die scharfen Blicke hinter dem Lächeln ließen ihn nicht los. Sie bohrten sich in seine Seele.

„Manchmal ist eine Erfahrung wichtiger als Wissen. Die Erfahrung ist der Weg zu deiner Seele. Sie kann dir zeigen, wer du hinter deinen Wunschvorstellungen in Wirklichkeit bist. Das, was zerbricht, das bist du nicht. Du hast nur gedacht, dass du es bist. Du hast dich mit deinen Vorstellungen, mit deinen Bildern und Wünschen von dir selbst verwechselt“.

Frank war verwirrt, fühlte, dass es nicht um ihn gehen würde. Der Mönch nahm sein Glas und trank. War er umsonst gekommen? Sein Körper war wie erstarrt. Plötzlich zerbrach etwas in ihm.

Der Mönch nahm eine Flasche, die neben ihm stand. Er goss sich Wasser auf die Hand.

„Schau, das ist dein ICH, deine Idee von dir!“

Er spritzte das Wasser ins Feuer. Es zischte und Dampf stieg auf.

„So verdampft die Idee von dir und wird zu Geist. Er steigt in dir, deiner Seele auf. Siehst du, wie der Dampf sich mit der Luft vereint? So wirst du dich in deiner Seele mit Gott wieder vereinen. Das Unbekannte im Inneren deines Raumes bist du. Es ist das Bewusstsein deiner Seele.“

Frank blickte ins Feuer. Ruhig saßen sie beieinander. Er wusste nichts zu erwidern. Die Schatten wurden freundlicher, begannen an der Wand zu tanzen.

„Ich muss jetzt gehen. Man hat euch Essen in die Hütte gebracht. Achte auf deine Träume! Vielleicht wird Bruder Gregori dich besuchen.“

Er stand auf. Leichten Schrittes ging er zur Tür und trat hinaus.

Frank saß allein am Feuer. Etwas war in ihm zerbrochen; er fühlte sich leer. Tränen liefen über seine Wangen. Unkontrolliert brach es aus ihm heraus. Was hatte er in seinem Meister gesucht? Er schämte sich, kam sich wie ein Kind vor, das von seinem Vater verlassen wurde. Seine innere Einsamkeit fröstelte ihn. Die Nacht war herangebrochen. Er hatte das Zeitgefühl verloren. Langsam erhob er sich, trat heraus in die Dunkelheit.

Der Himmel war klar. Sterne funkelten ihn mitleidig an. Tief arbeitete dieser aufgeplatzte Schmerz. Er war wie gelähmte, konnte nicht mehr denken. Behutsam öffnet er die Tür zur Hütte, sie knarrte. Eine Kerze brannte. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Kartoffeln. Heiko schnarchte unter seiner Decke. Frank beschloss, ihn nicht zu wecken. Kartoffeln blickten ihn einladend an, doch er hatte keinen Hunger. Unbeachtet ließ er sie stehen und rollte seinen Schlafsack aus. Wie ein Kind kuschelte er sich hinein. Die Hände zwischen den Beinen, sich selbst wärmend, lag er auf der Seite. Lange fand er keinen Schlaf. Bilder von seinem Vater stiegen schmerzhaft in sein Bewusstsein. Er liebte ihn, doch erreichte ihn nicht. Nie konnte er es ihm Recht machen. Plötzlich sehnte er sich nach ihm. Sein erstarrter Schmerz begann sich zu lösen. Stumm weinte er. Das Kerzenlicht wachte über ihm, während er vom Schlaf erlöst wurde.

Zwischen Schlaf und Wachheit zogen Bilder vor ihm her. Es waren Gesichter alter, weiser Menschen; in der Dunkelheit sahen sie ihn stumm und ernst an. Schlafend, doch sich allem bewusst, fragte er sich, wer sie wohl waren. So hatte es ihn damals sein Meister gelehrt. Die Gesichter reagierten nicht. Sie blickten ihn nur schweigend an. Dann schwebte er empor. Sie saßen stumm und sinnend unter ihm am Feuer, in der Dunkelheit.

Unruhig wälzte er sich unter der Decke hin und her.

Dann sah er sich im Garten arbeiten. Sein Vater kam lachend und diskutierend mit Freunden. Er wollte auf sie zugehen, doch sie beachteten ihn nicht. Frank rief seinen Vater, der drehte sich zu seinen Freunden. Lachend gingen sie weiter. Schmerz schoss durch sein Herz. Einsam in seinen inneren Trümmern, stand er vor seiner Arbeit.

Stunden vergingen. In seinem Traum arbeitete er und fühlte sich müde. Er sehnte sich nach Ruhe und wollte loslassen, Frieden finden. Doch der Tiefschlaf wollte ihn nicht erlösen. Hin und wieder wachte Frank auf. Es war kalt. Er griff zu seiner Wollmütze und zog sich den Schlafsack über den Kopf. Die Kälte seiner Einsamkeit war schlimmer als die der Nacht. Er musste sich aushalten und ertragen. Erbarmungslos langsam vergingen die Stunden. Unruhig sich hin und her wälzend, beschloss er, aufzustehen und spazieren zu gehen. Plötzlich jedoch begann sein Körper sich tief zu entspannen. Die Vorzeichen des Schlafes übermannten ihn. Von sich befreit, ließ er los und sank tief in sich hinab.

In der Ferne sah er ein blaues Licht. Es kam auf ihn zu, wurde groß und größer. Es war eine leuchtende Kugel mit einer Gestalt darin. Langsam näherte sie sich ihm. Ein bläuliches Licht durchstrahlte sie. Plötzlich erkannte Frank seinen Vater darin, er lächelte ihn an. Tiefe Freude durchfuhr ihn. Er wollte zu ihm, doch wie gelähmt lag er im Traum fest.

„Ich werde immer bei dir sein, mein Sohn. Ich werde dich nun verlassen, damit dein Weg frei wird.“

„Vater!“, wollte Frank verzweifelt schreien.

Plötzlich sah er seinen Meister, der aus dem Licht zu seinem Vater kam und ihn an der Hand nahm. Der Vater war glücklich. Lächelnd blickte er Frank ein letztes Mal an. Er nahm die Hand des Meisters. Sie verschwanden im Licht.

Schockiert wollte Frank ihnen nachrufen, doch etwas erfasste ihn und zog ihn weg auf eine Wiese. Ein tiefer Frieden, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte, breitete sich in ihm aus. Es war ein befreiendes Glücksgefühl. Im Licht sah er einen Weg, der in der Unendlichkeit des Horizontes verschwand.

„Dies ist dein Weg, Frank. Er ist nun offen. Verabschiede dich von den alten überholten Vorstellungen deines Vaters.“

Er erkannte die Stimme seines Meisters, war überwältigt. Dann versank er in tiefen Schlaf.

Draußen erwachte grau dämmernd der neue Tag. Vögel zwitscherten.

Es war dunkel in der Hütte. Heiko öffnete verschlafen die Augen. Frierend griff er zu seinem Pullover und zog ihn sich über. Er kroch aus seinem warmen Schlafsack und torkelte benommen aus der Hütte.

Frank schlief noch. Ein leichtes Schnarchen war zu hören.

Draußen schien golden die Morgensonne und ließ die grünen satten Wiesen leuchten. Heiko griff in die Hosentasche und entdeckte, dass er keine Zigaretten mehr hatte. Enttäuscht setzte er sich auf die Bank und lehnte sich an die Holzhütte. Er genoss die Ruhe des Morgens. Sonnenstrahlen tanzten auf seinem Gesicht und wärmten ihn. Seine Gedanken klärten sich. Dohlen zogen unter dem blaugräulichen Himmel kreischend ihre Kreise. Der Wind hatte aufgehört. Die kleinen Holzhäuser standen dicht beisammen. Mönche waren nicht zu sehen. Er beschloss, etwas zu lesen. Er liebte Krimis und hatte sich einen mitgenommen. Also ging er zurück und kramte das Buch aus seinem Rucksack. Er hoffte, die Lektüre würde ihn von seinem Drang nach Zigaretten und Kaffee ablenken. Die Vorstellung des Rauchens machte ihn unruhig. Seine alltäglichen Gewohnheiten, Wünsche und Rituale trieben ihn. Sie forderten durch seinen Körper ihr Recht.

Er machte es sich wieder auf der Bank bequem und begann zu lesen. Zwei Männer wanderten den Weg entlang und verschwanden zwischen den Häusern. Der Geruch von Rauch zog ihm durch die Nase und ließ ihn wieder an Kaffee denken.

Der Kommissar in seinem Buch besichtigte gerade die Spuren des Tatortes. Eine tote Frau lag nackt in ihrem Blut auf der Wiese. Der Täter hatte ein Tuch über ihren Kopf geworfen, um sie zu entmenschlichen. Hans blätterte angewidert um …

Wie eine Mutter, die ihr Kind im Arm hält, trugen die Berge das Dorf. Sie taten es gelassen, nährten die Menschen mit Früchten, Beeren und Korn.

So vergingen die Stunden. Frank schlief tief. Er erholte sich von dem Marsch und seiner anstrengenden Nacht.

Plötzlich schreckte Heiko auf. Ein Mönch stand vor ihm, den er nicht hatte kommen hören. Er reichte ihm eine Kanne mit dampfendem Tee. Er nickte ihm zu, bedeutete ihm, sich von dem Brot zu bedienen.

„Danke“.

Der Mönch verstand kein Deutsch und huschte lautlos weg.

Erleichtert legte er sein Buch zur Seite und goss sich die Tasse voll. Kaffee wäre ihm lieber gewesen, doch er genoss den zuckrigen Tee. Er lehnte seinen Kopf an die Holzwand und schloss einen Moment die Augen. Eigenartige Menschen, dachte er bei sich. Er wurde nicht schlau aus ihnen. Sie waren ihre Gäste, doch man sah die Mönche kaum. Gewiss wollten sie nicht gestört werden. Nicht umsonst hatten sie sich auf dieses Hochplateau in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen. Es ging ihn ja auch nichts an. Für ihn wäre so ein Leben ohne Bier, ohne Freude und Musik jedenfalls nichts.

Plötzlich musste Heiko wieder an seine Familie denken, die er verloren hatte. Eigentlich waren seine Freunde und alles andere ihm nicht mehr wichtig. Seine Frau mit den Kindern hatte ihn verlassen. Irgendwie konnte er es noch nicht richtig fassen. Sollte das jetzt, nach fünfzehn Jahren Ehe, alles gewesen sein? Soll alles, was sie sich aufgebaut hatten, so ein abruptes Ende gefunden haben?

Er belog sich selbst mit seinen Gedanken. Natürlich hatte der Prozess schon lange gedauert.

Von Ehrgeiz getrieben, in der Arbeit versunken, hatte er sich verspekuliert. Die Bank hatte seinen Kredit an eine andere verkauft, die seine sofortige Rückzahlung forderte. An freien Abenden hatte er mit Parteifreunden in Sitzungen gesessen. Danach diskutierten sie im Restaurant weiter. Er brauchte die Partei, um Ansehen, Aufträge, Kontakte und Genehmigungen für seine Bauvorhaben zu bekommen.

Mit den Jahren wurde seine Frau immer stiller. Er merkte, dass sie ihn brauchte. Nächsten Monat habe ich mehr Zeit für sie, versprach er sich selbst. Sein, ihn bedrückendes Gewissen wuchs. Aus einem Monat wurden zwei. Seine Schuldgefühle entfremdeten ihn von seiner Frau. Drei und mehr Monate vergingen. Je mehr die stummen Wünsche in den Augen seiner Frau Nähe forderten, umso höher wuchs die Mauer seines schlechten Gewissens. Es war eine kalte unmenschliche Mauer des Schweigens, die sich zwischen ihnen auftürmte. Giftige unausgesprochene Vorwürfe, Ansprüche, Bedürftigkeit ließen sie beide verstummen. Anklagend hingen sie in den Räumen der Wohnung. Am Wochenende schnappte er sich die Kinder, um mit ihnen in den Park zu gehen. Damit wollte er alles wieder gutmachen. Doch schlechtes Gewissen und Schuldgefühle legten sich wie Schatten über die Liebe zu ihnen. Zuhause war er müde und flüchtete vor den Fernseher. Er und seine Frau glotzten stumm Serienkrimis. Sohn und Tochter waren in ihren Zimmern, lasen oder chatteten mit Freunden am Computer. Diese Momente nutzte er, um über Tagesgeschehnisse nachzudenken. Er genoss die Wärme der Familie. Doch in Schweigen gehüllte Anklagen seiner Frau – fordernde Erwartungshaltungen nach Anerkennung und Gesprächen – zerstörten langsam die Wärme. Sie erzeugten in ihm eine ständige Spannung und Unruhe. Er wollte ihnen entkommen. Seine Frau machte ihn wütend. Gleichzeitig belasteten ihn seine Schuldgefühle. Er wusste, dass er sich zu wenig Zeit für seine Familie nahm. Sie benutzte immer langweilige Geschichten von Promis aus Illustrierten, die sie ihm lachend vorlas. Meist ging es um verpatzte Liebesgeschichten. Sie stellte sich dann vor, wie einsam die Menschen waren. Sie war es, die einsam war. Heiko hasste diese Geschichten, ihre unterschwelligen Vorwürfe darin. Das steigerte seine Schuldgefühle und innere Wut. Dann und wann brachte er ihr Blumen mit oder lud sie zum Essen ein. Er hatte sie ja trotzdem gern, liebte sie noch immer. Manchmal saß er ohnmächtig zwischen seinen Gefühlen und wusste nicht mehr ein noch aus. Er hatte das Gefühl, alles falsch zu machen.

Eine Kuh stupste mit ihren Hörnern eine andere beiseite. Heiko öffnete die Augen. Die Sonne hatte ihr Leuchten verloren. Seine Melancholie ließ das Grün fahl und gewöhnlich erscheinen. Sie bedrückte ihn, tat weh. Er nahm sein Buch, um weiterzulesen. Doch es ging nicht mehr, seine Gedanken schweiften wirr umher.

„Na, was ist los? Lässt du mir auch noch einen Schluck Tee übrig?“

Heiko fuhr hoch. Frank stand vor ihm.

„Mensch, musst du mich immer so erschrecken? Setz dich zu mir! Der Tee ist sehr süß, müsste aber noch warm sein.“ Er goss ihm ein Glas ein.

„Gut geschlafen, Frank?“

„Nee, gar nicht. Doch ich will jetzt nicht darüber sprechen.“

Heiko war erstaunt. So kannte er seinen Freund nicht. Er ließ ihn in Ruhe und vertiefte sich wieder in sein Buch. So saßen sie in der Morgensonne.

Frank war benommen und verwirrt von der Nacht. Er fühlte sich frei und leicht, war erstaunt über sich selbst. Hatte er doch das Gegenteil erwartet, doch er wollte im Moment nicht darüber nachdenken. Sein Kopf war leer. Er trank Tee. Die Wiese war feucht. Es musste in der Nacht geregnet haben. Ihr sattes Grün strahlte. Es war ein erhabenes Licht, das durch die klare Luft der Berge strahlte.

Frank hatte sich kurz von Heiko getrennt und machte einen Spaziergang. Frieden hatte sich in ihm ausgebreitet. Er fühlte sich von einer jahrelangen Last erlöst. Nach seinem anstrengenden Traum in der Nacht war er über diese Veränderung erstaunt. Er musste an seinen Lehrer denken. Ärger und Enttäuschung waren verflogen. Langsam bekam er Hunger. Die Sonne stand senkrecht am Zenit, so machte er sich auf den Rückweg. Die Häuser lagen im Kessel der Berge. In der Ferne sah er Heiko und einen Mönch vor der Hütte. Eine Glocke erklang im Dorf.

„Na, wo warst du?“

„Ich bin etwas spazieren gegangen. Da oben war ich.“ Frank zeigte auf einen Felsen am Berghang.

„Komm lass uns reingehen. Essen steht schon auf dem Tisch.“

Licht strömte durch die Fenster in die schattige Hütte. Es war kühler als draußen. Sie setzten sich hin. Eine Schüssel mit dampfendem Reis und scharfer Soße stand vor ihnen. Daneben eine zweite mit unbekanntem, grünem Gemüse. Dazu gab es Tee. Sie aßen wortlos.

Heiko fand die Situation komisch.

„Also, was ist los mit dir, Frank? Raus mit der Sprache!“

Frank wusste nicht recht, ob er von seinen Träumen oder dem Gespräch mit dem Mönch erzählen sollte. Er kannte seinen Freund und wusste, dass er nur auf Unglauben stoßen würde. Doch entschloss er sich, ihm eine Kurzversion zu erzählen.

Heiko hörte ihm gespannt zu.

„Und du meinst, das hat wirklich was mit dem Mönch und deinem Meister zu tun? Ich weiß nicht recht.“

„Wieso fühle ich mich nach dieser fast schlaflosen Nacht so befreit?“

Heiko wusste keine Antwort darauf. Es fiel ihm aber auf, dass die Augen, das Gesicht von Frank weich und entspannt waren. Das ließ ihn mit seinen sonst so scharfen Kommentaren vorsichtig werden.

„Frank, Wir hatten uns alle gewundert, wieso du diesen Meister so vergötterst. Als du nach Berlin ins Praktikum gingst, sah man dich kaum mehr im Dorf. Die Freunde vom Stammtisch fragten mich auch schon, was denn mit dir los sei. Sie dachten du seist zu ihm gegangen.“

„Ich vergöttere ihn nicht. Was unterstellst du mir da? Ich empfinde einfach tiefen Respekt für ihn.“

„Das wirkt aber anders. Es ist trotzdem eine Frechheit, dass er dich nach diesem langen Weg nicht empfängt! Das ist nicht okay, egal was diese Nacht passiert ist.“

Frank konnte nichts entgegnen.

„Vielleicht war es einfach dein Wunsch, der sich in deinen Träumen manifestiert hat. Oder war es nur einfach Zufall?“

„Wieso dann diese Bilder von meinem Vater? Wieso dieser Schmerz? Wieso passierte dies alles so plötzlich? Ich habe meine Wünsche, meinen Vater in den Lehrer projiziert. Das ist mir heute richtig bewusst geworden. Ich fühlte mich gestern nackt, wie ein kleiner Junge.“

„Da hast du dir ja selber die Antwort gegeben“, erwiderte Heiko siegessicher. „Es ist doch logisch: Du hast nur das gesehen, was du gefühlt hast. Im Traum hast du deine Enttäuschung erlebt.“

„Jetzt hör aber auf!“ Frank war verletzt. Er wollte sich nicht verteidigen und ärgerte sich.

„Wieso sollen wir aufhören? Lass uns darüber sprechen! Jetzt geht es mal um dich!“

„Wieso fühle ich mich heute befreit? Wieso hat der Mönch gestern Abend voraus gesagt, was in dieser Nacht passieren würde? Woher konnte er wissen, dass mein Lehrer in meinen Träumen auftauchen wird?“

„Vielleicht ist es die Folge einer Suggestion?“

„Jetzt reicht es mir aber! Das sind keine Zufälle! Ich fühle mich erleichtert wie seit Jahren nicht mehr. Da ist tief in mir etwas passiert. Ich kann dir aber nicht sagen, was genau. Okay?“

Heiko schwieg. Wieder fiel ihm die Veränderung in Franks Gesicht auf. Er konnte diese nicht abstreiten. Es konnte aber auch die Folge des gestrigen Marsches sein. Über was diskutierten sie hier eigentlich? An Geistergeschichten und religiösen Unfug glaubte er sowieso nicht. Er brauchte einen Tapetenwechsel, um auf andere Gedanken kommen. Deshalb begleitete er seinen Freund.

„Lass es gut sein, Frank. Ich wollte dich nicht verletzen.“

In Gedanken versunken aßen sie. In der Hütte war es kühl. Der Traum ließ Heiko aber doch nicht gleichgültig. Irgendwie fand er das Ganze doch seltsam und wurde nun immer neugieriger auf diesen Lehrer.

„Lass uns nicht streiten.“ Er streckte seinem Freund die Hand hin.

Frank hatte sich wieder gefangen und schlug ein.

„Ist schon okay. Danke.“

Sie blickten einander in die Augen und mussten lachen.

„Komm, Frank. Lass uns rausgehen, den Tee in der Sonne trinken.“

Sie standen auf. Die Holzwand der Hütte war warm. Es tat gut, sich anzulehnen. Sie saßen draußen mit ihrem Glas in der Hand. Frank hatte die Augen geschlossen, streckte die Beine aus. Wortlos war jeder in seine Gefühle und Gedanken versunken.

Müdigkeit überfiel Frank. Das war die Bergluft. Wegen des ständigen stetigen Wechsels von Tag- und Nachtschichten im Spital, konnte er in Berlin kaum noch richtig schlafen.

„Ich werde mich noch etwas hinlegen. Die Nacht kann heute lang werden.“ Er stand auf.

Die Holztür wehrte sich knirschend. Sein Bett lachte ihn einladend an. Er legte sich hin und schlief ein. Draußen färbte sich die Sonne rötlich, suchte den Horizont. Irgendwann reiste er im Traum durch schöne Landschaften, in denen er mit Fremden lange Gespräche führte. Viel wollte er noch wissen, doch plötzlich war es wieder eng und kühl. Frank war wieder zurück in seinem Körper. Es fröstelte ihn im Schlafsack. Verschlafen öffnete er die Augen. Licht flutete aus dem Fenster ins Innere der Hütte. Wie spät es wohl sein mochte? Das Licht hatte einen warmen, rötlichen Ton. Wurde es schon Abend? Erschrocken setzte er sich auf. Er nahm den Pullover, rieb sich die Augen und hastete aus der Hütte. Heiko lag auf der Wiese. Er hatte eine Decke ausgebreitet und las in seinem Buch.

„Mensch, hast du lange geschlafen, Frank! Ich hätte dich gleich geweckt. Der Mönch, der Deutsch spricht, war da und fragte nach dir.“

„Was wollte er?“

„Das sagte er nicht. Er bat mich nur, dir auszurichten, wieder in das gestrige Haus zu kommen.“

Plötzlich war Frank hellwach.

„Hast du auch etwas geschlafen?“

„Ja, ich nickte kurz ein. Der Marsch war doch anstrengender als ich dachte. Sonst bin ich um diese Zeit nicht so müde. Das ist die Bergluft“.

Sie saßen einen Moment beisammen.

„Willst du den Mönch noch lange warten lassen? Es ist fast eine Stunde her, als er nach dir fragte!“

„Nein, ich geh jetzt.“ Frank fühlte sich gedrängt.

Verschlafen, war er noch nicht ganz bei sich. Er dehnte sich, gähnte und ging. Es roch nach Kuhmist. Auf dem Weg zur Hütte stieg Rauch über den Dächern auf. Die Mönche kochten offenbar Essen. Er erreichte das Haus und blickte durch ein Fenster. Niemand war zu sehen; nur Tische standen herum, Regale mit Büchern standen an den Wänden. Es war wohl ein Aufenthaltsraum oder eine Bibliothek. Er öffnete die knarrende Holztür und senkte den Kopf. Drinnen war es dunkel. Das Feuer brannte. Seine Augen mussten sich erst ans Dämmerlicht gewöhnen. Einen Moment stand er allein im Raum. War er zu spät gekommen? Er ärgerte sich, dass Heiko ihn nicht geweckt hatte. Plötzlich hörte er Schritte über sich. Holzplanken ächzten, Staub fiel zwischen ihren Ritzen herab. Er blickte herum und bemerkte eine kleine Treppe in der Ecke. Sie war ihm bisher noch nicht aufgefallen. Jemand schien oben in etwas herumzustöbern. Er beschloss, sich hinzusetzen und zu warten.

Das Feuer knisterte. So verging eine ganze Zeit, während der Mönch oben etwas erledigte.

Frank entspannte sich. Er hatte seine Aufregung gar nicht richtig bemerkt. Die alten Bücher, einige in altem Leder gebunden, standen nach Themen sortiert in Regalen. In einer Ecke stapelten sich Pergamentrollen. Bücher hatten immer einen Reiz für ihn. Doch Frank wagte nicht, sie sich näher anzuschauen. Er war hier ein Fremdling, ein Eindringling. Die Mönche suchten Einsamkeit. Sie waren vor den Menschen, dem Lärm der Stadt nach hier oben geflohen. Niemand hatte Heiko und ihn gebeten, zu kommen. Sie hatten es einfach getan. Frank hatte viele Fragen. Sie machten ihn unruhig und erregten ihn.

Schwere Bergschuhe ließen jetzt die alte Treppe erzittern. Es schien der Mönch von gestern zu sein. Seine Hände zogen die schwarze Kutte hoch.

Frank überlegte sich, was er ihm sagen sollte. Er wusste nichts über ihn.

„Da bist du, Frank. Ich grüße dich.“

Franks Herz schien einen Moment zu erstarren. Es war Bruder Gregori, sein Lehrer. Sofort erhob er sich.

„Ich freue mich so, Sie zu sehen!“, brach es aus ihm heraus.

Sein Lehrer streckte ihm beide Hände hin. Frank umfasste sie. Tief berührt blickte er in die warmen Augen des Mönchs und wusste nichts zu sagen. So standen sie einen Moment.

Frank wurde es unangenehm. Diese Art der Nähe, war er nicht gewohnt. Sie verunsicherte ihn.

Bruder Gregori lächelte ihn schweigend an.

„Du willst sicher einen Tee. Setz dich.“ Er ließ Franks Hände los.

Erleichtert setzte er sich wieder auf den Stuhl, froh, sich an den Armlehnen festhalten zu können. Wie lange hatte er sich diesen Moment herbeigesehnt, diese vergangenen Gespräche, die ihn so berührt und geöffnet hatten! Frank fühlte sich beklommen wie ein Schuljunge.

Sein Lehrer setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und stellte zwei kleine Gläser neben die Kanne. Dann goss er Tee ein. Dampf stieg an die Decke. Er reichte ihm ein Glas. Schweigend tranken sie. Bruder Gregori musterte ihn.

„Seid ihr gut hier raufgekommen?“

„Ja, danke. Es war anstrengend.“ Frank war erleichtert. Die Worte brachen das beklommene Schweigen.

„Und wie geht es deiner Familie und deinem Bruder?“

„Gut. Mein Bruder hat gerade geheiratet.“

„Das freut mich für ihn. Möge er glücklich sein!“

„Und wie geht es Ihnen?“, fragte Frank.

„Ich habe viel zu tun. Der Vater einer Familie ist sehr krank. Etwas raubt ihm den Lebenswillen. Meine Medikamente wirken nicht richtig. Das gibt es. Gott weiß, wieso.“

„Bruder Gregori, werden Sie ihn heilen können?“

„Es liegt nicht in meiner Hand. Ich spreche mit seiner Seele, mache ihr Mut. Es ist eine arme Familie mit vielen Kindern. Der Mann konnte seit längerem nicht mehr arbeiten. Sie haben mich viel zu spät gerufen. Sie schämten sich für ihre Armut.“

„Das tut mir leid.“

„Das ist so. Wir müssen es akzeptieren. Es liegt nicht in unserer Hand.“

Der Lehrer schwieg, blickte einen Moment auf sein Glas. Dann hob er den Kopf und blickte Frank scharf in die Augen.

„Hast du von deinem Vater geträumt?“

Frank konnte dem Blick nicht ausweichen. Er drang in sein Innerstes. Verlegen lächelte er.

„Ja, und …“

„Es wird alles gut werden.“ Der Mönch lächelte. „Hast du sonst noch Fragen?“

Er war voller Fragen, doch plötzlich waren sie weg. Alles, was ihn so unruhig machte, ihn die ganze Zeit so angetrieben hatte, war verschwunden. Es hatte seine Wichtigkeit verloren. Frank war verwirrt.

„Gut, so ist das manchmal. Schön, dass du unseren Tee und die gute Luft schätzt. Manchmal vergessen die Menschen, was wichtig ist. Sie leben zu sehr in ihren Ideen. Sie verwechseln ihre Vorstellungen und Bilder von sich, mit ihrem Tatsächlichen.“

Frank fühlte sich ertappt.

„Ja, ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen …“

„Tust du das wirklich?“

„Wie meinen Sie das?“

„Denk mal drüber nach.“

Er fühlte sich provoziert und wollte etwas erwidern. Der Lehrer unterbrach ihn.

„Erzähl mir jetzt von deinem Freund! Wegen ihm bist du ja hier. Das ist doch so?“

Frank hätte sich wegen des Briefes ohrfeigen können. Er hatte Angst um Heiko gehabt und um Hilfe gebeten. Dramatisiert hatte er das Ganze. Natürlich wollte er seinen Lehrer sehen und mit ihm sprechen. Er fühlte sich entlarvt.

Die wachen Augen des Mönchs beobachteten seine Regungen. Frank begann zu erzählen.

„Es ist gut, dass du ihn hierhergebracht hast. Du hast ein gutes Herz, das dir viele Türen öffnen wird. Geh sorgsam damit um. Deine Seele wohnt darin und in ihr Gott.“

Er stand auf, nahm die Gläser und legte sie in einen Eimer voller Wasser.

„Wir sehen uns um acht am Feuer mit deinem Freund. Komm her!“

Der Lehrer blickt ihn ernst an. Dann hob er seine großen Hände und legte sie auf Franks Kopf.

Frank verstand die Worte des Gebetes nicht. Eine leichte Wärme floss durch seine Wirbelsäule.

„Geh jetzt! Ich habe noch zu tun.“

Der Lehrer drehte sich um und stieg wieder die Treppe hoch.

Frank stand verwirrt im Raum und verstand nicht. War es ein Segen gewesen? Er war sich nicht sicher. Er ging zur Tür und trat hinaus.

Die Kühe waren verschwunden. Der Himmel war rot. Die Sonne versank langsam hinter den Gipfeln. Fasziniert blickte er in ihren Schein. Was für ein schöner Anblick! Stolz standen die Berge vor ihm, wachten über ihnen. Die Wärme des Segens breitete sich in seinem Körper aus. Es war ein Gefühl des Friedens. Glücklich war er und fühlte sich leicht. Für einen Moment schien er ins warme Rot der Sonne einzutauchen. Etwas hüllte ihn sanft ein. Wie benommen stand er da und genoss das Gefühl.

„Frank, das Essen ist da! Ich habe Hunger!“ Heiko stand neben der Hütte und winkte ihm zu.

„Ich komme.“ Er drehte sich um und ging zu ihm.

Heiko musterte ihn neugierig. Irgendwie kam Frank ihm eigenartig vor, wie er so lächelnd und strahlend auf ihn zukam.

„Lass uns essen! Der Reis wartet auf uns in der Hütte.“

Sie öffneten die knarrende Tür. Im Inneren war es dunkel und kühl. Heiko zündete die Kerzen auf dem Tisch an. Rote Abenddämmerung hüllte das Dorf ein, während die Sonne in Schatten der Nacht versank.

„Heute um acht sollen wir beim Feuer sein.“

„Ah, dein Lehrer ist also hier?“

„Ja, ich habe ihn gerade gesehen.“

„Und wie war es?“

„Schön.“ Mehr wusste Frank nicht zu sagen. Er war erfüllt.

„Habt ihr Schnaps getrunken? Da hättest du ruhig an mich denken können! Es soll hier ja Selbstgebrannten geben.“

Typisch Heiko, Frank musste lächeln. Er fühlte sich ihm nah.

„Nein, haben wir nicht. Wieso?“

„Weil du die ganze Zeit grinst, als ob du etwas getrunken hast!“

„Wirklich?“

„Ja.“

Jetzt fiel es Frank selbst auf: Er fühlte sich beschwingt.

„Okay, ich frage nicht. Hab‘ verstanden.“

„Ist schon okay.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Aufgewühlt saß er mit dem Freund am Tisch.

„Heiko sei einfach offen! Mehr kann ich dir nicht sagen. Es kommt sowieso immer anders. Ich gebe es auf, mir Vorstellungen zu machen. Jedenfalls will ich das versuchen.“

„Tja, vielleicht hast du Recht. Hoffentlich wird die Nacht nicht so kalt.“

„Wir können ja Decken und Schlafsäcke ans Feuer mitnehmen.“

„Gute Idee Frank.“

Draußen war es Nacht geworden. Der Reis schmeckte genauso wie am Mittag. Doch das war ihnen gleichgültig. Sie saßen im Licht der Kerze. Schatten tanzten in ihren Gesichtern. Heiko wollte nun auch diesen Lehrer kennenlernen. Sie scherzten über schöne Frauen, die ihnen vielleicht in Deutschland begegnen würden. Sie mussten über sich selbst lachen, genossen das Beisammensein.

Plötzlich hörten sie Geräusche. Rauchgeruch zog in ihre Nasen. Frank stand auf und schaute aus dem Fenster. Ein Mönch hatte ein großes Feuer angezündet. Das war das Zeichen.

„Jetzt bin ich wirklich neugierig, Frank.“

„Das kannst du auch sein“, meinte er lächelnd.

Sie beschlossen, noch etwas zu warten. Es war kühl geworden. Sie kramten ihre Pullover und Jacken aus den Rucksäcken.

Heiko war jetzt auch unruhig. Erwartungsspannung baute sich in ihm auf. Er war noch nie einem solchen Menschen begegnet. Was konnte so Besonderes an ihm sein, das es seinen Freund so bewegte? Er wollte sich überraschen lassen, goss beiden noch Tee ein.

„Bist du nervös?“

„Nein. Sollte ich es sein?“ Heiko mimte den Unberührten.

„Ich dachte nur so.“ Frank setzte sich wieder zu ihm.

Draußen begannen Flammen gegen den Himmel zu lodern. Es knisterte. Manchmal knallte es, wenn die sich ausbreitende Luft im feuchten Holz einen Ast sprengte. Sie fühlten sich geborgen in der Hütte, doch Unruhe hatte nun beide erfasst. Draußen war es finster geworden. Sie saßen schweigend da, wussten nicht, was sie erwartete.

„Komm, lass uns gehen. Am Feuer ist es schöner.“

„Gut, ich will nur schnell austrinken.“

Heiko stand auf, zog sich die Jacke über. Frank nahm einen letzten Schluck. Sie traten hinaus in die Nacht. Der Himmel war klar, Sterne leuchteten über ihnen. Vorsichtig gingen sie zum Feuer. Sie waren die Dunkelheit nicht gewohnt, hatten Angst, über etwas zu stolpern. Zwei dicke Baumstämme lagen am Feuer. Eine große Teekanne mit kleinen Gläsern, ein Wasserbehälter und eine leere Blechdose standen daneben.

Heiko war erstaunt. Man sah die Mönche nie, doch waren sie dienend für sie da. Er setzte sich auf den Stamm und blickte in die Flammen.

Frank stand neben ihm. Er war noch immer erfüllt von dem Glücksgefühl. Staunend, demütig schaute er hinauf in den unendlichen Himmel mit seinen Sternbildern. Ob es dort wohl auch Leben gibt, fragte er sich.

Heiko schwieg.

Stille hüllte sie ein. Knisternden Flammen nahmen ihre Gedanken gefangen. Langsam versanken sie in sich. Die Stille reinigte und beruhigte ihren Geist. So saßen sie am Feuer, starrten hinein. Es war eine lang vergessene Erfahrung. Von weitem hörten sie Hunde bellen. In der Ferne auf einem Bergkamm glühten Lichter verstreuter Hütten.