Weihnachten - Karl-Heinz Göttert - E-Book

Weihnachten E-Book

Karl-Heinz Göttert

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Beschreibung

Weihnachten wird weltweit groß gefeiert, von Christen wie Nichtchristen. Karl-Heinz Göttert fahndet in der Kirchen- und Weltgeschichte nach Ursprung und Entwicklung dieses unvergleichlichen Festes. Er findet unglaubliche Ereignisse und skurrile Bräuche: Wie wurde aus der Geburtsszene im Stall Jahrhunderte später eine kirchliche Feier, um den Glauben an Jesus als Erlöser zu stärken? Warum nahm man als Termin ausgerechnet die Wintersonnenwende, die bis in die Neuzeit für Trubel und Verbote sorgte? Wie trugen Folklore und Kommerz zum Erfolg des Festes bei? Und in welchem Wettbewerb zueinander standen Krippe und Christbaum? Ein spannender historischer Überblick für alle, die Weihnachten lieben, wie auch für diejenigen, die daran verzweifeln.

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Seitenzahl: 353

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Karl-Heinz Göttert

Weihnachten

Biographie eines Festes

Reclam

2020, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Durchgesehene Ausgabe

Covergestaltung: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung

Coverabbildung: © 123rf.com / Olga Korneeva

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961769-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011369-1

www.reclam.de

Inhalt

Prolog

Christi Geburt in den Evangelien

Die Erfindung des Weihnachtsfestes

Der Weihnachtsfestkreis im Mittelalter

Weihnachten auf dem Weg zum Familien- und Schenkfest

Weihnachten zwischen Wandel und Bewahrung

Epilog

Dank

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Über den Autor

Prolog

Die Geschichte von Weihnachten ist die Geschichte des Christentums, auch wenn das Christentum mit Weihnachten von Anfang an größte Schwierigkeiten hatte.

Umso erstaunlicher wirkt der Triumph dieses Festes, das mittlerweile weltweite Ausstrahlung besitzt und auch da seine Spuren hinterlässt, wo das Christentum kaum vertreten ist, in China zum Beispiel, wo es sogar ein Wort für den »Heiligen Abend« gibt – Shéngdán ping’an yé. Ja, es sieht so aus, dass Weihnachten in dem Maße zum Fest der Feste aufstieg, als es seinen ursprünglichen Inhalt verlor: nämlich als Feier der Geburt des Erlösers, des Erlösers von einer Sünde, die die Menschheit mit dem Verlust des Paradieses bezahlte. Ausgerechnet diese Säkularisierung des Weihnachtsfestes, die Befreiung von den theologischen Konstrukten, hat es erst richtig groß gemacht. Das veränderte seinen Charakter hin zu einem Familien- und Schenkfest, womit wiederum neue und andersartige Probleme verbunden sind.

Die offiziellen Kirchen haben sich mit dieser Sinnentleerung nicht abfinden wollen. Besonders eifrige Mitglieder verbrannten im Dezember 1951 vor der Kathedrale von Dijon einen Weihnachtsmann als Symbol des Abwegs von den »echten« Wurzeln, um stattdessen den heiligen Nikolaus zu würdigen. 2002 wurde etwas weniger martialisch vom katholischen Bonifatiuswerk die Aktion »Weihnachtsmannfreie Zone« im Stadtbild ins Leben gerufen.

Dieses Buch versucht, diesen langen Weg wie in einer Biographie nachzuzeichnen: mit einer Geschichte des Entstehens, Wachsens und Sich-immer-neu-Erfindens, nicht jedoch mit der Suche nach dem Wesen oder dem »wahren« Sinn von Weihnachten. Um das Wichtigste kurz abzustecken: Es geht im Folgenden natürlich auch um die biblischen und theologischen Grundlagen, aber es geht nicht um Glaubensfragen. Ich betrachte die Geschichte von Weihnachten als Historiker, der einem wesentlichen Stück unserer europäischen Kultur auf die Spur kommen möchte. Deshalb stehen die Quellen und Zeugnisse im Vordergrund, auf denen dieses Fest beruht, wie auch die Frage, inwiefern wir uns auf diese verlassen können. Es ist einfach spannend zu sehen, wie Lukas und Matthäus die Geburtsgeschichte als eine der »Großerzählungen« zu den für das Christentum wichtigen Themen Liebe und Frieden konstruiert haben, wie sie sich in historischen und mythischen Überlieferungen zurechtzufinden suchten und selbst am Mythos von Weihnachten mitwirkten – nicht ohne Widersprüche und deshalb auch ohne ein wirklich klares Gesamtbild.

Eine besondere Überraschung beim Gang durch die Geschichte wird für viele darin liegen, dass die uns heute so vertraute Feier am 24./25. Dezember recht spät entstand, und zwar um die 400 Jahre nach den in der Bibel geschilderten Ereignissen. Was uns heute so selbstverständlich erscheint, die Feier der Geburt Jesu, war es erst einmal jahrhundertelang nicht. Trotz einer intensiven Forschung ist die Entstehung von Weihnachten bis heute umstritten. Wir werden sehen, dass die bekannteste These – Weihnachten habe ein heidnisches (Vorgänger-)Fest des Sonnengottes abgelöst bzw. abgewandelt, wie es etwa bei der Ersetzung von Tempeln durch Kirchen geschah oder wenn heidnische Bräuche einen christlichen Sinn erhielten – kaum haltbar ist. Noch weniger überzeugt die Berufung auf Autoren des 4. Jahrhunderts, die den Geburtstag Jesu für diesen Termin einfach errechnen zu können glaubten. Und dann gibt es auch noch die Theorie von Weihnachten als »polemischem« Fest, als Fest gegen »Irrlehren«, bei denen sich die frühen Kirchenvertreter in unsägliche Spitzfindigkeiten hinsichtlich der Person ihres Gründers verbissen. So war die Geschichte von Stall und Krippe willkommen, um die menschliche Natur gegen die Behauptung einer lediglich göttlichen abzugrenzen – übrigens unter besonderer Berücksichtigung der Windeln, die schon Lukas ins Spiel brachte und die in keiner Festpredigt der Bischöfe oder Päpste fehlen.

Aber es gibt auch eine viel weniger problembeladene Seite von Weihnachten als diese angedeuteten Querelen in der frühen Kirchengeschichte, auf die wir stoßen werden. In ruhigeren Zeiten hat die Kirche das Jahr in einen Festkreis gekleidet, in dem Weihnachten (eingeleitet durch den Advent, ausklingend mit Epiphanias bzw. Maria Lichtmess) neben Ostern einen weiteren Höhepunkt darstellte. An dieser liturgischen Ausgestaltung im Mittelalter nahmen die Künste teil, die dem Fest mit Malerei und Skulptur, mit Musik und Schauspiel einen prunkvollen Rahmen gaben. Man denke nur an die Heerscharen von Mariengestalten, vor allem in Regionen, wo die Jungfrauen bzw. Bräute in Mittelalter und früher Neuzeit keinen Schleier oder sonstigen Kopfschmuck trugen und Maria entsprechend mit prachtvoll offenem Haar erscheint – provozierend nicht des Haars, sondern der »mütterlichen« Jungfrau wegen. Genauso ist der gregorianische Choral zu würdigen, der in den Gottesdiensten jedes vorgetragene Wort als Gesang ausformte. Schließlich gilt es, über Theaterstücke zu berichten, die die Liturgie spielerisch einer breiten Menge an Gläubigen nahebrachten, die mit den lateinischen Texten und komplizierten theologischen Fragen überfordert war. Es ist keine Frage: Weihnachten hat die europäische Kultur nachhaltig inspiriert, auch wenn sich viele Relikte heute nur noch in Museen finden.

Wirklich einfach aber war das Fest nie. Schon im tief »gläubigen« Mittelalter geht aus dem Fest der Unschuldigen Kinder mitten im Weihnachtsfestkreis ein eigenartiges »Kinderbischofsfest« hervor, bei dem das soziale Oben und Unten verkehrt wird – mit der Folge von Ausschreitungen, die schließlich zu Verboten führen. Man hat dies in Verbindung zu den Saturnalien und den Neujahrsfeiern in römischen Zeiten gebracht. Aber es ist Vorsicht geboten. Das Kinderbischofsfest stellt eher eine Erweiterung der Religiosität ins Spielerische dar, die sich auch in den Theaterspielen dieser Zeit zeigt. Als dann im 16. Jahrhundert die Reformatoren einschritten, ging es nicht mehr um solche Nebenerscheinungen, sondern um die gesamte religiöse Ausformung des Glaubens, in deren Folge unter der Herrschaft der Puritaner in England für kurze Zeit das Weihnachtsfest als »abergläubischstes« aller Feste abgeschafft wurde. Mehr als ein Jahrhundert später erwuchs daraus in den Vereinigten Staaten von Amerika ein neuer »Kampf« um Weihnachten, den letztlich die Erfindung einer neuen Figur schlichtete: Santa Claus, der »Weihnachtsmann«, mit dem einige Zeitgenossen heutzutage allerdings eher den Anfang vom Ende eines christlich geprägten Weihnachtsfestes verbinden – siehe die Aktivisten in Dijon und des katholischen Bonifatiuswerks.

Dabei war noch gar nicht die Rede davon, dass neben der kirchlichen Liturgie und Theologie auch eine ganz andere Tradition prägend wurde: ein Brauchtum, das die religiösen Probleme links liegen ließ und sich eine eigene Welt des Feierns schuf, in der ein Weihnachtsbaum und eine Krippe wichtiger wurden als jede noch so gute Predigt. Das Bürgertum des 18. und des 19. Jahrhunderts bewahrte sich das Weihnachtsfest nach Aufklärung und teilweise rigider Entkirchlichung weiter als Familien- und Geschenkfest, das eingefleischte Agnostiker ebenso wie assimilierte jüdische Familien durchaus begeistert mitfeierten. Andererseits fehlt es nicht an Vereinnahmungen durch die Politik, die das Fest entweder – wie im Ersten Weltkrieg – mit seiner Friedensbotschaft für ihre Zwecke instrumentalisierte oder es – wie die Nationalsozialisten – durch angeblich »germanische« Vorläufer zu ersetzen suchte. Natürlich musste unter den Bedingungen des Kapitalismus auch dieses Fest in Folklorisierung und Kommerzialisierung münden. Aber es taucht aus den scheinbar alles verschlingenden Wogen des bloß Gemütvollen oder Kitschigen immer wieder auf und wird als Inspirationsquelle ernst genommen.

Dafür sucht dieses Buch einen Beitrag zu leisten. Es versteht sich als eine Spurensuche entlang der Quellen und Überlieferung, als eine Einladung an Leserinnen und Leser, sich die entscheidenden Karrierestufen und -knicke des Weihnachtsfestes zu vergegenwärtigen. Niemand weiß, wie das Christentum zusammen mit den anderen Weltreligionen die fortschreitende Säkularisierung überleben wird. Was aber das Christentum der Welt an kultureller Ressource anbietet, kann gerade die »Biographie« von Weihnachten verdeutlichen. Sie ist dabei ganz nebenbei – ich blase einmal die Backen auf – eine der spannendsten Geschichten, die von dieser Kultur zu erzählen ist.

Christi Geburt in den Evangelien

Die Evangelien

Wer nach Christi Geburt fragt, muss zur Bibel greifen, genauer gesagt: zu den Evangelien des Neuen Testaments. Christlich Erzogene können die Autoren noch hersagen: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Das sind sie, die vier Evangelisten, in alten Kirchen oft an den Kanzeln abgebildet, weil von dort schließlich das Evangelium verkündet wird. Es sind immer würdige Gestalten, die vergessen lassen, dass wir über sie wenig bis nichts wissen, auch nicht, ob gerade sie es waren, deren Texte wir lesen. Denn sie nennen sich nicht selbst mit Namen, die Zuschreibung stammt aus späteren Zeiten. Wobei wir es heute ohnehin nicht mehr mit Originalen zu tun haben. Dazu waren die damaligen Schreibstoffe zu schlecht. Papyri zerfallen leicht, schon die ältesten Zeugnisse sind Abschriften von Abschriften, von denen Reste aus dem 2. Jahrhundert stammen – zusammenhängende Darstellungen in Codexform gibt es erst seit dem 4. und 5. Jahrhundert. Diejenigen, die diese Texte aufzeichneten, hatten leider keine Ahnung, welche Bedeutung ihre Notizen bekommen sollten, dass sich Heerscharen von Interpreten einmal über jede Silbe hermachen würden. Und so bearbeiteten und ergänzten sie, nicht nach Gutdünken, aber nach den jeweiligen Umständen. Wenn man all die Varianten sammelt, übertrifft deren Umfang den der Texte.

Und dies ist nur die eine Schwierigkeit. Die nächste liegt in den Verfassern. Wie verändert auch immer ihre Botschaft die Zeiten überdauerte: Sie verfolgten mit dieser Botschaft einen Zweck. Sie wollten mit der Schilderung der Lebensgeschichte dieses »Gesalbten« (griech. christos) eine Wende in der Menschheitsgeschichte herbeiführen. Im Alten Testament war von Sündenschuld die Rede, und die Hoffnung auf einen Retter, den Messias, wurde geweckt. Die Botschaft der Evangelisten lautet, lax gesagt: Es hat funktioniert, der Retter ist da, man muss es nur glauben. Bekanntlich glaubten es die Juden selbst nicht. Umso wichtiger war der »Beweis«, der das Vertrauen wecken und sichern sollte. Die Evangelien sind Beglaubigungserzählungen. Jedes einzelne Ereignis ist Zeugnis der einigermaßen ungeheuerlichen Wahrheit, dass da vor ein paar Jahrzehnten Gottes Sohn in die Welt gekommen und Mensch geworden war. Jeder Evangelist wusste genau um die Schwierigkeit der Überzeugungsarbeit und malte die bislang überlieferte Geschichte aus, um sie glaubhaft zu machen.

Dabei spielen zwei Ereignisse eine überragende Rolle, wovon eines im Mittelpunkt dieses Buches steht: die Geburt Jesu durch eine Jungfrau sowie seine Auferstehung von den Toten nach der Kreuzigung, woraus schließlich die beiden kirchlichen Hochfeste Weihnachten und Ostern entstanden. Die junge Kirche hat zunächst ganz und gar auf Ostern, also die Auferstehung, gesetzt. An Jesus als Gottes Sohn und Erlöser zu glauben hieß: an die Auferstehung glauben. Der Apostel Paulus, der nicht zum engsten Kreis der Jünger gehörte, sondern nach anfänglicher Verfolgung der Christen erst später dazustieß, formuliert dies am klarsten. In einem seiner Briefe an die Gemeinde in Korinth (im 1. Korintherbrief, Kapitel 15, Vers 14; abgekürzt: 1 Kor 15,14) sagt er, ohne die Auferstehung sei »unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube«. Zur Geburt trägt Paulus nicht viel vor. Für ihn ist Jesus von einer »Frau« geboren, wobei er das griechische Wort für die verheiratete Frau benutzt, definitiv nicht »Jungfrau«. Im Römerbrief spricht er vom »Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten« (Röm 1,3 f.). Und davon, »dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind« (Röm 6,3). Das war in den Jahren um 50 n. Chr., als Paulus im Zusammenhang der Missionsreisen durch Kleinasien sowie nach Griechenland und Zypern seine Briefe schrieb, die ältesten Zeugnisse des Christentums überhaupt, da Jesus selbst nichts Schriftliches hinterließ. Auch das früheste Evangelium, das des Markus, kennt in der Zeit vor 70 n. Chr. nur das leere Grab als Andeutung der Auferstehung, verliert kein Wort über die Geburt, sagt nichts zur Jungfrau.

Das änderte sich dann grundlegend. Beide Evangelien, die sich auf Markus stützen, das des Lukas und das des Matthäus, ungefähr gleichzeitig und unabhängig voneinander nach 70 n. Chr. entstanden, berichten ausführlich über die Geburt und stellen Maria als Jungfrau dar, womit die Gottessohnschaft von Jesus festgezurrt wird, ehe weitere Belege wie die Wunder bis hin zu Totenerweckungen und schließlich die Auferstehung hinzukommen. Wieder anders verhält es sich dann im letzten Evangelium, dem des Johannes, nach 90 n. Chr.: Hier ist Jesus der vor aller Zeit für seinen Auftrag der Erlösung bestimmte Sohn Gottes, der die Göttlichkeit in seinen Reden und Taten bezeugt – was die Taten betrifft, mit seiner Auferstehung von den Toten, aber ohne jungfräuliche Geburt. Die Evangelien unterscheiden sich also stark und widersprechen sich sogar in wesentlichen Punkten, wie wir noch näher sehen werden.

Weihnachten, darauf kommt es hier an, gibt es überhaupt nur in zwei von ihnen, die sich die Ereignisse gewissermaßen teilen: Lukas schreibt über die Geburt im Stall und den Auftritt der Hirten. Matthäus behandelt die Ankunft der »Magier« und die Flucht nach Ägypten vor dem Kindermord des Herodes. Aber die Geschehnisse greifen eben nicht nahtlos ineinander, sie passen im Gegenteil überhaupt nicht zusammen.

Denn Lukas lässt die Geburt in Betlehem stattfinden, nachdem Maria und Josef aufgrund der unter Augustus angeordneten Volkszählung aus dem weit entfernten Nazaret (wo der Engel Gabriel die Schwangerschaft angekündigt hatte) dorthin gewandert sind. Dann folgen nach mosaischem Gesetz die Beschneidung sieben Tage später sowie die »Darstellung« des Neugeborenen zusammen mit der »Reinigung« von Maria im Tempel zu Jerusalem nach 40 Tagen. Die Familie wohnt jedenfalls eine ganze Weile in Betlehem oder in direkter Nähe zu Jerusalem. Erst später kehrt Jesus zusammen mit der Familie in die alte Heimat Nazaret zurück. Bei Matthäus findet zwar ebenfalls die Geburt in Betlehem statt, in diesem Fall aber ganz ohne Volkszählung, weil die Familie dort schon immer wohnte, übrigens in einem Haus, nicht in einem Stall. Dann folgt die Huldigung durch die »Magier«, wonach Herodes den Mord an Jesus plant, dem die Familie mit ihrer schleunigen Flucht nach Ägypten zuvorkommt. Erst nach dem Tod von Herodes, der mittlerweile sämtliche Säuglinge in Betlehem umbringen ließ, kehrt die Familie zurück, aber nicht nach Betlehem oder Jerusalem, weil dort mittlerweile ein Sohn von Herodes regiert, der nicht minder gefährlich erscheint als sein Vater, sondern ins sicherere Nazaret, wovon zuvor nie die Rede war.

Warum dies nicht zusammenpasst, ist klar: Es handelt sich um jeweils eigene mythologische Konstruktionen. Nur machen die Evangelisten diesen mythologischen Charakter nicht deutlich, sondern schildern im Gegenteil alles so, als sei es tatsächlich geschehen. Vor allem Lukas benutzt den Begriff der »Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben« sowie deren Überlieferung durch diejenigen, »die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes« waren. »Ereignisse« also und »Augenzeugen« – nichts Erdachtes, auch nichts Mythologisches, in das Historisches »eingekleidet« wäre. So bezeugt es schon Markus in seinem Evangelium, dem sich Matthäus und Lukas eng anschlossen, weiter eine Sammlung von Jesusworten, die vermutlich nie schriftlich fixiert, sondern mündlich weitergegeben wurde. Noch im sicher nicht auf Petrus selbst zurückgehenden 2. Petrusbrief (wahrscheinlich zu Beginn des 2. Jahrhunderts geschrieben) liest man: »Denn wir sind nicht klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundtaten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe« (2 Petr 1,16).

Man muss sich zum besseren Verständnis die Situation in der Zeit um 80 n. Chr. vorstellen: Überall im Mittelmeerraum haben sich christliche Gemeinden gebildet, in denen Menschen an diesen Jesus als Erlöser glaubten, an die Botschaft von einem künftigen ewigen Leben dank seines Opfertodes. Es war jedoch wenig bekannt von dem Menschen Jesus, daher die schriftliche Fixierung der Tradition, die dann in Gottesdiensten nach dem Vorbild der jüdischen Synagogen vorgetragen werden konnte und nicht zuletzt der Werbung neuer Mitglieder diente. Eine ganze Reihe von Evangelien entstand, von denen die heutigen vier sich durchsetzten und kanonisiert wurden. Sie alle hatten dasselbe Problem: Beweise zu liefern für das, was normalerweise niemand glauben kann, weil es den Naturgesetzen widerspricht. Wobei damals die Bereitschaft zu einem solchen Glauben offenbar anders einzuschätzen ist als heute.

Dass man aber auch damals Probleme bei der Vermittlung sah, belegt etwas anderes: Tatsächlich beanspruchten alle Evangelisten neben der Augenzeugenschaft eine Art zweite Basis der Glaubwürdigkeit. Sie liegt in der Annahme, dass alle wichtigen Ereignisse im Alten Testament, also in den heiligen Schriften der Juden, »vorhergesagt« worden waren. Wichtige Passagen der Evangelien wie etwa die Passionsgeschichte lesen sich (schon bei Markus) wie aneinandergereihte Zitate aus den Propheten sowie den Psalmen. Wir werden dem bei der Weihnachtsgeschichte wiederbegegnen. Man kann sicher sagen, dass die damaligen Leser/Hörer in diesen Vorhersagen eine besonders starke Basis der Glaubwürdigkeit sahen, vielleicht sogar stärker als in der Berufung auf Augenzeugen. Von heute her gesehen kann man sich darüber nur wundern, denn sämtliche »Vorhersagen« sind äußerst vage, einige beruhen auf schlichter Fehlinterpretation. Den Musterfall dafür bietet die Jungfrauengeburt. Denn die Berufung auf den Propheten Jesaja erledigt sich für jeden Kenner des Hebräischen dadurch, dass im originalen Text das Wort almah steht, das nicht ›Jungfrau‹ bedeutet, sondern lediglich ›junge Frau‹.

Davon später mehr. Hier interessiert etwas anderes. Wenn es keine wirkliche Augenzeugenschaft gibt und die Voraussagen keine sind: Was besagt dies über die »Wahrheit« der Evangelien? Sind sie eben doch Fälschungen, wie es Kritiker seit der Aufklärung behauptet haben? In gewissem Sinne schon. Aber dies rechnet zu wenig mit den erzählerischen Möglichkeiten der damaligen Zeit, die den uns geläufigen Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion nicht machte, sondern an einem »Gesamtbild« oder einer »Gesamterzählung« arbeitete, die ihre Wahrheit mit beiden Elementen konstruierte, mit Historischem und Mythischem. Dies gilt auch für die Lehren Jesu in Form von Gleichnissen und Reden, die früh gesammelt wurden, wobei die authentischen Worte dennoch kaum oder nur sehr schwer zu rekonstruieren sind. Die Bergpredigt beispielsweise, die Matthäus in ihrer ausführlichsten Form wiedergibt, könnte im »Original« eine Sozialutopie enthalten haben, bei der Jesus seinen Zuhörern konkrete Landversprechungen machte. Lukas gibt sie ebenfalls wieder, als »Feldrede« mit stark abweichenden Äußerungen, die jedoch einen ähnlichen sozialutopischen Kern enthalten, angereichert durch ein ausgesprochenes Steckenpferd von Lukas: die Hochschätzung der Armut. Es spricht viel dafür, dass Jesus eine solche Rede gehalten hat. Nur wurde sie in der Überlieferung sofort dem Strom des eigenen Erzählens zu- oder untergeordnet.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Evangelisten griffen auf Berichte zurück, die Historisches mit Mythologischem in für sie nicht zu durchschauendem Gemenge präsentierten. Ganz sicher hatte sich in der Wahrnehmung der Ereignisse schon Grundlegendes geändert. Der historische Jesus war von einem kurz bevorstehenden Weltende überzeugt gewesen, predigte zu einer radikalen Umkehr angesichts der »Tatsache«, dass ohnehin bald alles vorbei sei. Das musste gut zwei Generationen später, als nichts passiert war, korrigiert werden. Die Botschaft lautete jetzt »nur« noch: Glaube an die Auferstehung und das ewige Leben im Vertrauen auf Jesus als den Erlöser. Die dazu passende »Erzählung« war im Gerüst da. Die ersten Jünger, die wirklichen Augenzeugen, hatten diese Erzählung entwickelt und mit den Elementen ausstaffiert, die Glauben erwecken sollten. Dann wurde weitergearbeitet, weitererzählt. Die Weihnachtsgeschichte war die erste neue Zutat, die zur Grunderzählung hinzukam. Lukas und Matthäus wussten um das Mythologische ihres Erzählens (weil sie es ja selbst entwickelt hatten), während sie die vorhandene Mythologie wohl für historisch hielten. Ihre Leser bzw. Hörer nahmen dann auch die neue Mythologie für historisch hin.

Lukas

Lukas also hat sich die Geburt im Stall ausgedacht, aber nicht aus der Luft gegriffen. Die Theologen pflegen von »Sondergut« zu sprechen, weil die Szene bis auf die Lokalisierung in Betlehem von sonst niemandem berichtet wird. Aber das besagt nichts über das genauere Vorgehen von Lukas. Dazu muss man zunächst etwas über ihn wissen.

Das wird schwierig und provoziert deshalb Spekulationen. Trotzdem: Es hat schließlich diesen Evangelisten gegeben, der im Text selbst nicht seinen Namen nennt, sich nur in die »vielen« einreiht, die schon Berichte verfasst haben. Dafür wissen wir, dass der »Unbekannte« nicht nur das Evangelium, sondern auch eine Art Fortsetzung geschrieben hat: die Apostelgeschichte, auch wenn diese beiden Teile eigenartigerweise nie zusammen überliefert wurden. Es existiert also von einem einzigen Verfasser ein Doppelwerk, von dem man weiterhin weiß, dass es einen bestimmten Zweck zu erreichen suchte. Der Verfasser hat die beiden Bücher nämlich jemandem gewidmet, den er als »hochverehrten Theophilus« anspricht. Falls auch dieser Theophilus existierte (und nicht lediglich seiner wörtlichen Bedeutung nach ein »Gottesfreund«, wie es letztlich jeder angenommene Leser sein sollte), könnte er ein vornehmer Mann gewesen sein, der sich für die Christen interessierte, vielleicht erste Kenntnisse vertiefen wollte. Der Unbekannte hätte dann das Evangelium als eine Art private Überzeugungsarbeit geschrieben, als Probe der »Zuverlässigkeit der Lehre«, in der der Adressat bislang schon »unterwiesen« wurde. Ein gefestigter Christ schrieb also nach dieser Vermutung für einen noch nicht Gefestigten.

Aber etwas weiter kommt man doch. In der Apostelgeschichte unseres vorläufig Unbekannten ist von einem Mann namens Lukas die Rede, den Paulus auf seinen Reisen mitnahm und im Brief an die Kolosser als seinen »geliebten Arzt« bezeichnet. Die alte Kirche war davon überzeugt, dass es sich dabei um den Evangelisten handelte. Zwar hat die spätere Forschung herausgefunden, dass dieser Lukas in den Berichten seiner Apostelgeschichte nicht immer genau mit dem übereinstimmt, was Paulus in seinen Briefen schreibt. Man kann dies aber auch so erklären, dass Lukas nur zeitweise mit Paulus zusammen war, ihn immer wieder verließ bzw. aus den Augen verlor. Nur wo Lukas in der ersten Person als »ich« berichtet, könnte es sich um gemeinsam Erlebtes handeln, während die »wir«-Berichte auf einen Zuträger zurückgehen. Alles sehr unsicher, aber auch nicht ganz so wichtig. Jedenfalls wusste Lukas, wie wir unseren Unbekannten nun doch mit fast zwei Jahrtausende alter Tradition nennen wollen, einiges über den historischen Jesus, wenn schon nicht aus erster Hand, so doch aus sehr guter Quelle. Und er hatte eine klare Vorstellung davon, dass das Christentum es geschafft hatte, überall Verbreitung fand, sogar in Rom als der Endstation der Apostelgeschichte, wo Lukas möglicherweise seine Werke verfasste.

Natürlich fragt man sich, wer dieser Lukas war, zum Beispiel ursprünglich ein Jude, der Christ wurde, oder doch eher ursprünglich ein Heide. Für Letzteres spricht, dass Lukas unter den Evangelisten das stilistisch beste Griechisch schrieb, jedenfalls wenn er frei war wie in der Einleitung, die einige Eleganz zeigt. Im Text selbst lehnt er sich sehr eng an Markus an, als wolle er jede Erfindung abweisen, was dann auf ziemlich schlechtes Griechisch hinausläuft, weil Markus wirklich Jude war, der möglicherweise sogar ursprünglich hebräisch bzw. aramäisch schrieb. Das sieht man an typischen Formeln wie »Es begab sich aber«, auch an der Nebeneinanderstellung von Hauptsätzen statt Unterordnung mit entsprechenden Konjunktionen – was Lukas dann brav nachahmt, als sei mit solchen Plumpheiten die Wahrheit erwiesen.

Buchmalerei eines Meisters der Fuldaer Schule: Der Evangelist Lukas, um 840

Auch etwas anderes passt bei Lukas trotz seines großen Interesses an Israel (und der bedauerlichen Trennung als Teil seiner Geschichte) eher nicht zum gebürtigen Juden. Lukas kennt sich zwar in deren heiligen Schriften bestens aus, kopiert förmlich Sprüche der Propheten und Psalmen ein, aber dann fiel Forschern auf, dass ihm das Lokalkolorit von Palästina kaum bekannt war. Als er etwa über die Heilung eines Gelähmten berichtete, fand er bei Markus durchaus das Passende vor, wenn dort davon die Rede ist, dass man den Kranken durch das Dach des Hauses herabließ, weil es offenbar aus Lehm bestand, in dem man leicht eine Öffnung herstellen konnte. Lukas hat vielleicht nicht genau hingesehen oder es sich anders nicht vorstellen können, jedenfalls spricht er von Ziegeln, die man abnahm – Ziegeln, die es im abgelegenen Palästina schlicht nicht gab.

Man muss sich Lukas wohl als einen weltläufigen Intellektuellen vorstellen, einen »Hellenisten«, wie man in der damaligen globalisierten Welt solche Menschen aufgrund der von den Griechen (Hellenen) dominierten Kultur nannte, ob nun ein jüdischer oder ein heidnischer Hellenist. Wie er Christ wurde, wissen wir nicht. Bei Markus und Matthäus sind sich die Experten sicher, dass sie ursprünglich Juden waren, bei Lukas eben nicht. Nur seine profunde Kenntnis des Alten Testaments, das er allerdings auf Griechisch las, spricht für ursprüngliches Judentum. Sagen wir bei dieser Gelegenheit, dass dieses griechische Alte Testament eine Übersetzung war, die einst von 70 jüdischen Gelehrten angefertigt wurde und deshalb auf Griechisch als Hebdomekonta bezeichnet wird. Wir kennen sie heute besser in der lateinischen Bezeichnung als Septuaginta, die von den frühen Christen nicht nur gelesen, sondern auch im christlichen Sinne uminterpretiert wurde – so sehr, dass die Juden selbst irgendwann neue Übersetzungen anfertigten und letztlich wieder zum hebräischen Urtext zurückkehrten. Lukas zitiert jedenfalls stets aus dieser griechisch-hellenistischen Septuaginta, was nicht folgenlos blieb. Also ein guter Bibelkenner, aber auch einer mit erheblicher Voreingenommenheit. Den hebräischen Urtext kannte er wohl nicht.

Womit wir zur Abfassungszeit des Evangeliums kommen, die sich nur einigermaßen genau fixieren lässt. Die Apostelgeschichte, wenn man so will des Evangeliums zweiter Teil, datiert auf die Zeit um 90 n. Chr. In Bezug auf das Evangelium geht eine Vielzahl der Exegeten davon aus, dass Lukas bereits auf die Eroberung von Jerusalem durch die Römer unter Titus und die damit verbundene Zerstörung des Tempels im Jahr 70. n. Chr. zurückblickt. Eine vage Andeutung darauf gibt es etwa bei Lukas mit der Bemerkung: »Jerusalem wird von den Völkern zertreten werden« (Lk 21,24). Damit zeichnet sich wenigstens ein Rahmen ab.

Um zusammenzufassen: Es gab auf jeden Fall einen Lukas, der Evangelium sowie Apostelgeschichte schrieb und dabei der »Wahrheit«, wie er sie verstand, so nahe wie möglich kommen wollte. Wir wissen weiter, worin sein Problem lag. Denn Lukas wendet sich an einen Hochgebildeten, der mit Religionen und Philosophien seiner Zeit vertraut gewesen sein wird. Und dem galt es, Ungeheuerliches zu erzählen: von einem Jesus, der Gottes Sohn gewesen sein muss, da er schließlich von den Toten auferstand und in den Himmel aufgenommen wurde. Lukas ist ganz begeistert von dessen Lehren, besonders von einem Zug, den er immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, breit ausmalt: Es kann auf dieser Welt nicht darum gehen, irdische Reichtümer anzuhäufen, es geht um mehr und Größeres. Von Lukas’ Wiedergabe der Bergpredigt als »Feldrede«, in der das erste Gebot des neuen Glaubens nichts anderes als die »Armut« bedeutet, war schon die Rede.

Aber die Sache mit Jungfrauengeburt und Auferstehung strapazierte eben die Glaubwürdigkeit. Theophilus wird, philosophisch gebildet, wie er war, aufgeklärt gewesen sein und die damaligen Erzählungen über die griechisch-römischen Götter als alberne, jedenfalls überholte Geschichten betrachtet haben. Ein Zeus als notorischer Schürzenjäger, der stets hinter Menschenfrauen her war, sich in einen Stier verwandelte, um Europa zu entführen, oder in einen Schwan, um Leda zu schwängern: Da bot das Judentum etwas anderes mit einem gnädigen und nur bei Fehlverhalten strafenden Gott, der letztlich Erlösung versprach. Und dann erst dieser christliche Gott, der angeblich noch viel weitergegangen war, mit seinem Tod die Menschen von der ererbten Sünde rettete, ihnen eine neue Vervollkommnung in Aussicht stellte. Wobei man eben an diese Göttlichkeit glauben musste, für die sein Leben so sehr sprach, besonders mit den Ereignissen nach dem Tod, aber eben auch mit der angenommenen Jungfrauengeburt. Immerhin gab es dafür teils Augenzeugen, teils die Vorausdeutungen der jüdischen Propheten und der Psalmen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wer einen offenbar bestens gebildeten Mann von diesem Jesus überzeugen wollte, konnte nicht mit Phantastereien aufwarten. Schon hatte überdies der Druck der Außenwelt eingesetzt, hatten die ersten Christenverfolgungen begonnen, u. a. durch Kaiser Nero, nach dem Brand von Rom im Jahr 64. Christ zu sein oder zu werden, brachte jedenfalls ein steigendes Risiko mit sich. Gerade hatten die Römer gezeigt, wie sie mit Juden umgingen, die sich ihnen widersetzten, indem der Kaiser ein Heer schickte, das Jerusalem stürmte, möglichst viele Einwohner umbrachte, den Tempel verwüstete und seine Reichtümer mitnahm, um in Rom das Kolosseum zu bauen. Es war sehr fraglich, ob es auf Dauer genügte, sich von diesen Juden abzusetzen und ihnen (und nicht dem Römer Pilatus) die Schuld an der Kreuzigung in die Schuhe zu schieben, ja einen brutalen Antijudaismus zu pflegen, wie er besonders die Evangelien von Matthäus und Johannes prägt. Wo aber lag die Garantie, dass die Römer nicht genauso Christen bekämpften, die sich weigerten, den Kaiser als Gott anzuerkennen? Da musste man sich der christlichen Lehre schon sehr sicher sein, sie sehr überzeugend darstellen. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass Lukas es Paulus gleichtun wollte und eine Geschichte lieferte, die von gleichem Wert wie die Auferstehung war: nämlich die Geburt dieses Jesus Christus durch eine Jungfrau.

Alles musste jedenfalls stimmig sein. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie damalige Leser/Hörer auf die »Geschichten« reagierten. In viel späteren Zeiten setzte eine Art Ranking ein, mit der Einschätzung von hartem Wahrheitskern und mythischer Ausschmückung auf einer gleitenden Skala. Der wirklich harte Kern lag dann bei der Auferstehung. Wer daran nicht glaubte, war kein Christ. Aber schon Luther merkte, dass das Buch Jesaja im Alten Testament aus zwei Teilen bestand, dass es also einen Bearbeitungsprozess gegeben hatte. Im Neuen Testament hielt er den Jakobusbrief für eine »stroherne Epistel« und rückte sie ans Ende seiner Bibelübersetzung wie auf eine Strafbank. Später, in Zeiten aufklärerischer Bibelkritik, traf es gerade das Weihnachtsevangelium. Die ganze Szenerie hatte einfach zu viel Phantastisches, die Krippenseligkeit ebenso wie der Engelschor bei den Hirten, vor allem die Jungfrauengeburt. Sehr schön erzählt, aber eben erzählt – also Mythologie, nicht Wahrheit. Kann man das schon für einen Theophilus als Erstleser annehmen? War der mit einer Erfindung zu überzeugen, von der Lukas schließlich ganz genau wusste, dass es eine Erfindung war? Dafür spricht, dass Lukas einiges dafür tut, das Ganze historisch abzustützen: durch die Datierung mit Steuerschätzung und historisch verbürgte Namen wie Augustus und Quirinius zum Beispiel. Reichte das?

Oder ist dies falsch gefragt? War sich Lukas sicher, dass seine Geschichte überzeugen würde, weil es der Sinn von Geschichten ist, die Wahrheit mit Erfindung zu mischen? Und Theophilus vielleicht ein Leser/Hörer war, der die Frage nach der historischen Wahrheit der Geburt überhaupt nicht verstanden hätte, weil er gar nicht wusste, wie man sie anders hätte darstellen sollen als mit einer erfundenen Geschichte? Wie hätte man da Augenzeugen beibringen können? Aber geboren worden war dieser Jesus Christus. Warum dann nicht diese Geburt so darstellen, dass sie »zeigte«, worauf alles ankam. Natürlich nicht in irgendeiner Unsinnsgeschichte à la Zeus und Co., sondern einer wahrscheinlichen. Die auch noch auf einer Voraussage beruhte, nämlich dem Geburtsort Betlehem. Da konnte man sich doch den Rest leicht ausdenken. Wahrscheinlich war es ohnehin so gewesen, jedenfalls so ähnlich. Wie denn sonst? Lukas, der gebildete Jude im 1. Jahrhundert n. Chr., weiß, dass es eine geschichtliche Wahrheit gibt, auf die alles ankommt – und eine Erzählung dieser Wahrheit, die durch Erfundenes gestützt wird.

Was ich noch einmal unterstreichen möchte: Lukas bietet in seinem Evangelium und seiner Apostelgeschichte Grundlagen des christlichen Glaubens. Dazu erzählt er: einerseits historisch Wahres, andererseits mythologisch Wahres. Die Trennlinie, auf die es uns heute oft ankommt, zieht er nicht. Mythologisches und Historisches gehen ineinander über, wie sie (im Alten Testament) schon immer ineinander übergegangen waren. Selbst der für das Judentum so wichtige Auszug aus Ägypten hält historischer Nachprüfung nicht stand, wie der israelische Archäologe Israel Finkelstein mit seinen Ausgrabungen belegt hat: Keine einzige Scherbe im Wüstensand ließ sich finden. Die anschließend in der Bibel genannten Städte existierten erst Jahrhunderte später, die Mauer von Jericho musste nicht durch den Klang von Trompeten zerstört werden, weil Jericho überhaupt keine Mauern besaß. Die biblischen Geschichten sind in der Regel überwiegend (aber eben nicht nur, was die Sache so schwierig macht) mythologisch, was für Finkelstein ihren Wert in nichts schmälert. Denn diese Geschichten dienten dem Glauben an Jahwe und sein auserwähltes Volk. Die Bibel ist kein Geschichtsbuch, sondern enthält anhand historischer Bezüge eine Anweisung für jüdisches Leben, vor allem für das immer wieder verlorene Vertrauen in diesen Jahwe, der dann stets zur Strafe schritt.

Ob nun Lukas selbst Jude war, ob er den mythologischen Charakter der alttestamentlichen Geschichten durchschaute oder nicht: Er trägt selbst die Wahrheit in Form von Geschichten vor, auch neben schlicht Historischem wie den Reisen von Paulus mit ihren vielen Widrigkeiten oder dessen Aufenthalt in einer römischen Mietswohnung. Letztlich gibt es für ihn nur ein Ziel: Er will sagen, dass mit diesem Jesus der Erlöser erschienen ist, Gottes Sohn, dessen Leben und Taten mittlerweile mit Recht verbreitet werden. Wie aber kann man so viel Unglaubliches glauben? Eben, normalerweise überhaupt nicht. Es muss also nachgeholfen werden. Und helfen können gut erdachte Geschichten, sehr gut erdachte. Die am allerbesten erdachte ist die Weihnachtsgeschichte, Lukas’ Meistererzählung, heute vielleicht diejenige biblische Geschichte im Rahmen des Neuen Testaments, die als einzige noch nicht untergegangen ist. Martin Walser hat sie im für ihn typischen Überschwang einmal als die »schönste, beste Geschichte« bezeichnet, »die je von Menschen ersonnen und formuliert wurde«. Und so viel stimmt ja auch: Viele bekommen bei »Es begab sich aber zu der Zeit …« immer noch eine Gänsehaut.

Die Vorgeschichte

Lukas fand in seinen Vorlagen nichts bzw. kaum etwas für die Geburtsgeschichte Verwertbares. Von Markus hat er sie nicht, denn der beginnt sein Evangelium mit dem Heuschreckenesser Johannes, der Jesus »von Nazaret« tauft, worauf dieser in die Wüste geht und unter »wilden Tieren« lebt, bis sein Wirken in Galiläa einsetzt. Matthäus, der ausführlichste aller Evangelisten, hat die Weihnachtsgeschichte auch nicht oder jedenfalls nur in Teilen. Denn Matthäus berichtet zwar von der Geburt in Betlehem, fokussiert aber den Auftritt der Weisen aus dem Morgenland, der den Kindermord durch Herodes auslöst. Und Johannes springt wieder sogleich zur Taufe, als wäre ihm, der ohnehin das intellektuellste Evangelium abliefert (»Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott …«), die allzu »realistisch« ausgemalte Geburt peinlich. Lukas geht also deutlich über das von ihm Vorgefundene – eigentlich nur die beiden Städte Nazaret und Betlehem – hinaus, erfindet eigenständig. Und er fällt dabei nicht mit der Tür ins Haus. Er erzählt nämlich nach der Ankündigung der Geburt durch den Engel Gabriel nicht gleich die erfolgte Geburt Jesu (Lk 1,26–38), sondern wendet sich ausführlich Johannes dem Täufer zu.

Bei dieser Szene verkennt man das mythologische Arrangement vielleicht leichter, weil die Umstände ausgesprochen realistisch ausgeführt sind (und dann doch nicht wirklich »stimmen«). Es gibt also einen Priester namens Zacharias und dessen Ehefrau Elisabet, beide besonders gottesfürchtig, aber trotz inständiger Gebete kinderlos und in einem Alter, in dem eine Empfängnis ausgeschlossen scheint. Da geschieht ein Wunder. Während Zacharias im Tempel mit einem kultischen Opfer beschäftigt ist, erscheint der Engel Gabriel und kündigt ihm an, dass seine Frau einen Sohn gebären werde, den er, bitteschön, Johannes nennen möge. Dieser Sohn werde »groß sein vor dem Herrn«, keinen »Wein und berauschende Getränke« trinken – eine im Alten Testament häufige Bemerkung in Bezug auf herausgehobene Persönlichkeiten. Zacharias hat Nachfragen wegen der Unwahrscheinlichkeit, wird von Gabriel dafür zur Strafe mit Stummheit belegt. Das führt später zur großen Überraschung, weil Elisabet den Sohn vor dem Volk auftragsgemäß Johannes nennt, obwohl kein Verwandter dieses Namens existiert, und der stumme Ehemann dies auf einem Schreibtäfelchen sofort bestätigt. Daran schließt sich ein Lobgesang an, das Benedictus (›Gepriesen sei der Herr‹), das schon deshalb aus der Tradition stammen dürfte, weil es zur Situation schlecht passt, spricht Zacharias doch in düstersten Tönen von all dem Unheil, aus dem Jahwe das Volk Israel erlösen musste.

Sagen wir zuletzt noch, dass Geburtsankündigungen in der antiken Literatur geradezu eine eigene literarische Gattung bilden. Sie kommen in Homers Odyssee (11,248 f.) ebenso vor wie in Euripides’Iphigenie in Aulis (V. 1962 ff.), im Alten Testament sowieso – etwa angesichts der Geburt von Ismael (Gen 16,11 f.), Isaak (Gen 17,15 ff.) oder Simson (Ri 13,3 ff.). Weshalb aber erzählt Lukas diese Geschichte, und was stimmt in ihr nicht? Jeder Kenner des Alten Testaments sieht sofort den Wiederholungscharakter. Ein altes Ehepaar bekommt noch ein Kind – wie der Stammvater Abraham mit 100 Jahren und Sara mit über 90 ihren Sohn Isaak (Gen 21,1 ff.). Eine unfruchtbare Frau wird schwanger – wie Isaaks Frau Rebekka mit den Zwillingen Esau und Jakob (Gen 25,21). Jakobs Frau Rahel ist ebenfalls lange kinderlos, ehe Gott »ihren Mutterschoß« öffnete (Gen 29,31). Und auch Hanna bekommt ihren Samuel erst nach göttlichem Eingreifen. Schließlich folgt der Kommentar der Elisabet auf die Überraschung fast wortgleich dem von Rahel, der die unverhoffte Geburt von Josef (den später seine Brüder verkauften) angekündigt wird (Gen 30,23).

All das kann nur gewollt sein. Der Leser soll denken, dass er sich immer noch im Alten Testament befindet, dass dieses Alte Testament nur fortgesetzt wird – womöglich mit dem Nebengedanken, wie schrecklich doch angesichts von so viel Gemeinsamkeit die Trennung von Juden und Christen ist. Und was stimmt an der Geschichte nicht? Lukas kennt offenbar die Abläufe im Tempel nicht genau, lässt Zacharias ins Innere, hinter den Vorhang, gehen, was nur dem Hohepriester, und zwar einmal im Jahr am Laubhüttenfest, zukam, aber auf Zacharias deshalb nicht zutrifft, weil er mit dem Opfer »an der Reihe« war. Er versah also den normalen Priesterdienst – vor dem Vorhang, so dass die Szenerie mit dem Engel gar nicht möglich gewesen wäre. Wer glaubt, die »Parallele« mit dem Alten Testament sei im Falle von Maria unvollkommen, weil Maria keine alte und deshalb unfruchtbare Frau war, übersieht, dass diese Unvollkommenheit das Geschehen nur steigert. Denn diesmal handelt es sich um eine noch viel unwahrscheinlichere Geburt, weil kein menschlicher Erzeuger nötig ist, sondern das Kind vom Heiligen Geist stammt und von einer Jungfrau geboren werden soll. Der ausdrückliche Hinweis darauf, dass schon Elisabet gegen jede Wahrscheinlichkeit schwanger wurde, zeigt deutlich, dass es um eine Art Überbietung geht.

Und dann toppt Lukas auch dies noch. Maria besucht nämlich Elisabet in der Zeit, als beide schwanger sind, und Elisabet, überrascht davon, dass die »Mutter meines Herrn« kommt, berichtet, dass das Kind in ihrem Leibe vor Freude »hüpfte«, also nach Embryoart strampelte. Worauf Maria jenen Lobgesang anstimmt, der in der späteren Kirche zu einem der wichtigsten überhaupt wurde: dem Magnificat (ich lasse einmal beiseite, dass nach der handschriftlichen Überlieferung unklar ist, ob wirklich Maria und nicht Elisabet singt, was übrigens vom Vatikan 1912 ausdrücklich mit einem Diskussionsverbot belegt wurde). Darin ist nicht nur von der »Niedrigkeit seiner Magd« die Rede, sondern auch von den Mächtigen, die vom Thron gestürzt, von den »Niedrigen«, die »erhöht«, von den »Hungernden«, die »beschenkt« werden, während die »Reichen leer ausgehen« – wieder einmal das ausgesprochene Lieblingsthema von Lukas. Allerdings ähnelt dieser Lobgesang insgesamt einem Vorgänger: nämlich dem Lobgesang der Hanna (1 Sam 2,1 ff.). Abgesehen davon lässt sich diese Umkehrung von Arm und Reich als ein verbreitetes Motiv in der weltlichen Literatur identifizieren, sofern dies ebenso bei Homer in der Ilias (20,242 f.) und der Odyssee (16,211 f.) wie in den OdenPindars oder in den Troerinnen des Euripides (612 f.) vorkommt. Wer nun Lukas vielleicht nicht der Lüge, dafür aber des Plagiats bezichtigt, muss wissen, dass es gerade das »Plagiat« ist, das die Geschichte Christi schon vor seiner Geburt mit der Tradition Israels verknüpft. Das vermeintliche Plagiat ist jedenfalls nichts anderes als eine Form der Beglaubigung. Es gibt nicht nur Vorausdeutungen, es gibt auch aussagekräftige Parallelen.

Veit Stoß: »Englischer Gruß« (Verkündigung an Maria), St. Lorenz, Nürnberg, 1517/18

Dann wird Johannes geboren, um in die Wüste zu entschwinden, wo er sich auf die Ankündigung des Erlösers vorbereitet. Aber Lukas macht nicht beim erwachsenen Johannes und beim ebenfalls längst erwachsenen Jesus weiter, sondern kehrt noch einmal zurück. Er erzählt dessen Geburt: »Es geschah aber in jenen Tagen …« Man fragt sich, weshalb er dies tat, wo doch jeder erkennen musste, dass es sich um eine Erfindung handelte. Wer sollte davon gewusst und es als Augenzeuge weitergegeben haben? Immerhin gibt sich Lukas Mühe, das Ganze als »wahr« hinzustellen. Dazu gehört ein historischer Bezug. Lukas fand ihn in der Volkszählung bzw. im Eintrag in die Steuerlisten unter Kaiser Augustus, die sein Statthalter Quirinius in Syrien organisierte. Die Frage ist natürlich, ob bzw. wann es diese Volkszählung gegeben hat.

Die Historiker haben darauf eine klare Antwort, denn Quirinius ist ihnen gut bekannt. Er war von Augustus protegiert worden, kämpfte erfolgreich in Kleinasien und erhielt anschließend die äußerst einträgliche Statthalterschaft über Syrien als eine der wichtigsten Provinzen des Reiches, bildete sie doch den Puffer gegen die ewig rebellischen Parther. Dabei kam es zur Neuordnung der Region und in diesem Zusammenhang zur Volkszählung, die auch ein unabhängiger Zeuge wie der Historiker Flavius Josephus erwähnt und auf 6/7 n. Chr. datiert. Es ging also um einen Provinzialzensus, nicht (wie Lukas durch den Bezug auf Augustus berichtet) um einen Reichszensus. Einen solchen Reichszensus gab es tatsächlich in den Jahren 28 und 8 v. Chr. sowie 14 n. Chr. (Augustus’ Todesjahr), hatte aber in keinem Fall etwas mit Quirinius zu tun. Nimmt man den Bericht von Lukas für bare Münze, müsste man also Christi Geburt mit dem Provinzialzensus verbinden.

Nur tut sich dann der nächste Widerspruch auf. Dafür ist allerdings nicht Lukas, sondern Matthäus verantwortlich. Denn der berichtet zwar weder über die Geburt noch die Volkszählung, dafür über Herodes und sein perfides Eingreifen. Das kann natürlich nur zu dessen Lebenszeit geschehen sein, also vor 4 v. Chr. Womit sich die Quiriniusgeschichte gut zehn Jahre später in Luft auflöst. Wer die Geburt von Jesus datieren will, muss sich also entweder an Matthäus mit seinem Herodes oder an Lukas mit seinem Quirinius halten – und jeweils die Konkurrenz vergessen. Wie kann man sich diesen Widerspruch erklären und vor allem auflösen?

Es ist völlig klar, dass es Lukas in erster Linie auf die Geburt in Betlehem ankam, weil »Betlehem-Efrata« nun einmal vom Propheten Micha (Mi 5,1) als die Geburtsstadt des Messias »vorausgesagt« war. Lukas spricht von Betlehem als der »Stadt Davids«, ist aber auch hier nicht ganz genau, denn die »Stadt Davids« war eigentlich Jerusalem, Betlehem nur der Ort von Davids Herkunft, wo er als Hirte lebte. Aber die Familie von Jesus stammte eben aus Nazaret, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach auch tatsächlich geboren wurde. Markus sagt es und Matthäus behauptet sogar nicht ohne Dreistigkeit (Mt 2,23), es gebe dazu eine Voraussage im Alten Testament, die er ohne nähere Namensnennung auf »die Propheten« zurückführt – unter denen sich kein einziger als Quelle gefunden hat. Jesus galt jedoch immer als »Nazarener«, für die Juden übrigens ein Grund, ihn nicht als den Messias anzuerkennen, weil der nicht aus Galiläa, sondern aus Judäa mit seiner Hauptstadt Jerusalem stammen musste. Andererseits war die Abstammung aus Nazaret schon deshalb glaubhaft, weil sie so unwahrscheinlich ist – Nazaret muss wirklich ein Kaff gewesen sein.

Es bedurfte also einer schon sehr einleuchtenden Motivation, um die lange und beschwerliche Reise über ungefähr 100 Kilometer anzutreten – mit einer Hochschwangeren. Diese Motivation leistete eben die mit der Volkszählung verbundene Steuerschätzung, die allerdings nicht nur wegen des Quirinius-Herodes-Widerspruchs schwierig ist. Denn dass »jeder in seine Stadt« gehen musste, wie es bei Lukas heißt, ist wieder schlicht unhistorisch, weil Maria