Weihnachtstod - Dana Kilborne - E-Book
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Weihnachtstod E-Book

DANA KILBORNE

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Beschreibung

Fest der Liebe – Fest des Todes!
Vier Jahre ist es her, seit Scarlett von einem Wintertag auf den anderen spurlos verschwand und erst zwei Monate später wieder auftauchte. Heute weiß sie nur noch, dass sie damals als Weihnachtswichtel verkleidet war. Und dass sie in der Vorweihnachtszeit immer eine entsetzliche Angst beschleicht – zu Recht! Denn plötzlich erhalten sie und ihre Freunde an der Uni makabre Weihnachtspäckchen. Scarlett ist sicher: Der Schlüssel zu dem Psychoterror liegt in ihrer Vergangenheit. Doch bevor sie das Rätsel lösen kann, geschieht ein Mord ...

Neuauflage des Bestsellers "Morgen kommt der Weihnachtsmörder" von Dana Kilborne – Spannung pur!

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Dana Kilborne

  Weihnachtstod

 

 

 

 

  Inhaltsverzeichnis

 

Weihnachtstod

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Epilog

Leseprobe

Impressum

 

 

 

 

  Prolog

 

Jingle Bells, jingle Bells, jingle all the way … Oh, what fun it is to ride in a one horse open sleigh …

Die Melodie des bekannten Weihnachtslieds drang plärrend aus dem Autoradio eines silbergrauen Kombis, der mit offener Kofferraumklappe am Straßenrand parkte.

Johnny, der sich sein Winterquartier in einer Baumhöhle – dem ausgehöhlten Stamm einer riesigen alten Eiche – eingerichtet hatte, blickte nur kurz hinter der Wand aus Pappkartons hervor, die er als Windschutz vor dem Zugang seines Unterschlupfes aufgestellt hatte, um sich das Kennzeichen zu notieren.

Es war einen Tag vor Weihnachten, und ständig kamen irgendwelche Leute mit Axt und Plastikplane bewaffnet in den Wald, um sich einen frischen Christbaum zu schlagen. Das war zwar nicht erlaubt, aber Johnnys Erfahrung nach interessierte das die meisten Menschen herzlich wenig, solange sie nicht erwischt wurden. Und wenn es dann doch passierte, folgte der große Katzenjammer.

Wenn es nach Johnny ginge, gehörten diese Leute allesamt streng bestraft. Keiner von ihnen dachte auch nur eine Sekunde daran, welchen Schaden sie dem empfindlichen Ökosystem Wald mit ihrem Verhalten zufügten! Nicht nur, dass sie den Tieren ihren Lebensraum nahmen, sie trampelten auch blindlings alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Manchmal dachte Johnny, dass es für Mutter Natur wahrscheinlich besser gewesen wäre, sie hätte die Gattung Mensch niemals hervorgebracht.

Nun, zumindest diese rücksichtslosen Umweltrüpel, die zu geizig waren, Geld für eigens für das große Weihnachtsgeschäft gezogene Fichten und Tannen auszugeben, würden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen. Jeden Tag ging Johnny mit einer langen Liste von Kennzeichen zum Büro des Bezirkssheriffs, um dort Anzeige zu erstatten.

Zuerst hatte man ihn nicht ganz ernstnehmen wollen – ein Landstreicher als Robin-Wood-Verschnitt –, aber inzwischen …

Der Besitzer des silbergrauen Kombis hatte seine »Beute« inzwischen in den Wagen geladen, ließ den Motor an und brauste davon. Johnny lächelte still in sich hinein, als er daran dachte, welche unerwartete Überraschung er nach den Feiertagen in seinem Briefkasten vorfinden würde.

Und schon hörte er, wie sich das nächste Auto näherte.

Er schaute hinter seiner Pappwand hervor und blinzelte überrascht.

Das war jetzt ungewöhnlich.

Obwohl es schon ziemlich dunkel war, fuhr der Wagen, der den Waldweg hinunterkam, ohne Licht. Abgesehen vom leisen Brummen des Motors und dem Geräusch von Reifen auf sandigem Untergrund war es still.

Zu still für Johnnys Geschmack.

Normalerweise dudelte immer ein Autoradio, oder man hörte Kinder miteinander zanken.

Johnny runzelte die Stirn.Und dann schwang plötzlich, mitten in der Fahrt, die Beifahrertür des Wagens auf, und ein Bündel fiel mit einem vernehmlichen Plumps zu Boden.

Im nächsten Augenblick gab der Fahrer Vollgas und raste in einer Wolke aus aufsteigendem Staub davon.

Sofort schob Johnny seinen Windschutz zur Seite und lief zur Straße hinüber. Er hatte einmal einen zugeknoteten Jutesack im Wald gefunden, in dem irgendein Tierquäler einen Wurf junger Kätzchen »entsorgt« hatte. Die Würmchen waren noch am Leben gewesen, als er sie entdeckte, doch nur zwei von einem guten halben Dutzend hatten die folgende Nacht überstanden.

Leute, die so etwas taten, waren in Johnnys Augen Verbrecher.

Rasch eilte er zu dem Bündel hinüber, das in den niedrigen Straßengraben gerollt war. Vielleicht steckte ja auch nur ein alter Teppich darin, oder irgendein anderer Schrott. Johnny hoffte es sehr, denn um was auch immer es sich handelte – es rührte sich nicht.

Doch da!

Johnny stieß einen erstickten Schrei aus, als er sah, wie sich etwas im Inneren des Stoffsacks bewegte. Er rutschte auf dem Hosenboden die Böschung hinunter und schnitt mit dem Taschenmesser, mit dem er sonst Konservendosen öffnete, das Tau auf, mit dem der Sack verknotet war.

Mit zitternden Fingern schob er den Stoff zur Seite – und erstarrte.

In dem Bündel befand sich kein Müll, und auch keine halb toten Katzenbabys waren darin.

In dem Bündel steckte ein Mensch.

Ein junges Mädchen lag reglos da. Es war als Weihnachtself kostümiert, als kleiner fleißiger Helfer von Santa Claus!

War es etwa … tot?

Nein, er konnte noch einen Puls fühlen. Ganz schwach zwar, aber doch vorhanden.

Hastig kletterte Johnny die Böschung wieder hinauf und lief in Richtung der Häuser, die sich etwa eine halbe Meile entfernt jenseits des Waldes befanden, um Hilfe zu holen.

In seinem ganzen Leben war er nie so schnell gerannt wie in jener Nacht kurz vor Weihnachten.

 

 

  1.

 

Vier Jahre später.

 

»Hast du eigentlich je wieder etwas von diesem Stadtstreicher, der dich gefunden hat, gehört?« Darcy McGuire saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, in der einen Hand einen Kugelschreiber, in der anderen ein Notizbuch. Jetzt legte sie den Stift auf dem Buch ab und rückte sich mit dem Zeigefinger die rahmenlose Brille zurecht, die ihrem Gesicht zusammen mit dem rotbraunen Haar, das sie zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengefasst trug, etwas Seriöses verlieh, sie aber auch erheblich älter als achtundzwanzig erscheinen ließ. »Wie hieß er noch gleich? Johnny, nicht wahr?« Die Stimme der Psychologin klang ruhig und freundschaftlich, gleichzeitig war aber auch professionelles Interesse herauszuhören.

»Johnny, ja, er heißt Johnny.« Scarlett Davenport schüttelte den Kopf, wobei ihr eine blonde Strähne ins Gesicht fiel, die sie mit einer raschen Bewegung zurückstrich. »Er hat wohl, nachdem er mich fand, Hilfe geholt und wurde dann nie mehr gesehen. Ich schätze, er wollte einfach nichts mit der Polizei zu tun haben. Verständlich, wenn man bedenkt, dass die ihn sogar eine Weile lang verdächtigt hat, etwas mit meinem Verschwinden zu tun zu haben.«

»Deinem Verschwinden …« Darcy runzelte die Stirn. »Du meinst deine Entführung.«

»Ja, sicher, das weißt du doch.« Scarlett verzog das Gesicht. »Und irgendwie ist das doch dasselbe, oder nicht?«

Sie ließ ihren Blick durch das schlicht eingerichtete, winzige Büro schweifen. Während auf dem Campus und im Ort schon längst alles weihnachtlich geschmückt war, hatte Darcy völlig auf festliche Dekoration verzichtet. Es hätte genauso gut Mitte Oktober sein können statt Mitte Dezember, man merkte überhaupt nicht, dass Weihnachten praktisch schon vor der Tür stand.

»Ansichtssache«, entgegnete Darcy, nahm ihren Kugelschreiber wieder auf und drehte ihn, während sie sprach, gedankenverloren zwischen den Fingern. »Mir ist nur schon öfter aufgefallen, dass du das Wort nicht so gern auszusprechen scheinst. Aber zurück zum Thema: Was denkst du über diesen Johnny?«

Wieder dieses Thema. Scarlett seufzte. »Ich nehme an, er war vermutlich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort – oder zum richtigen, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet.« Sie zuckte mit den Schultern. »Was willst du hören? Ob ich denke, dass er etwas mit meinem Verschw… ähm, mit meiner Entführung zu tun hat?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, der Kerl ist harmlos. Ein ganz normaler Stadtstreicher, der nie jemanden etwas getan hat. Sicher, ein wenig wunderlich war er schon, mehr aber auch nicht.«

»Kannst du das mit hundertprozentiger Sicherheit sagen?«

»Mit …?« Scarlett hob beide Hände. »Nein, natürlich nicht! Wie sollte ich auch? Ich war fast zwei Monate spurlos verschwunden – vierundfünfzig Tage, um genau zu sein. Weißt du, wie viele Minuten das sind? Fast einhunderttausend! Und ich kann mich nicht an eine einzige davon erinnern. Wie also sollte ich mir überhaupt noch in irgendeiner Hinsicht sicher sein können?« Sie holte tief Luft. »Ich glaube, es kann sich kein Mensch vorstellen, wie das wirklich ist, zwei Monate seines Lebens einfach so zu verlieren. Da, wo die Erinnerungen sein sollten, ist einfach nur ein schwarzes Loch. Ich meine, das ist doch nicht normal!«

»Gedächtnisverlust nach psychischem Trauma.« Darcy nickte wissend. »Das ist nichts Ungewöhnliches. Es kommt oft vor, dass Menschen nach traumatischen Erlebnissen mit Gedächtnislücken zu kämpfen haben. Manche erinnern sich danach an gar nichts mehr aus ihrem Leben, kennen nicht einmal mehr ihren Namen, und bei anderen bestehen lediglich Lücken.«

Scarlett seufzte. »Irgendwie begreife ich das Ganze noch immer nicht. Ich meine, ich würde ja noch verstehen, wenn ich diese Zeit einfach verdrängen würde, weil ich mich nicht mehr daran erinnern möchte. Das Problem ist nur, dass ich mich ja erinnern will. Diese Ungewissheit, was in den fast zwei Monaten mit mir passiert ist, ist einfach unerträglich. Warum also fällt mir nichts ein, obwohl ich mich so sehr bemühe?«

»Das liegt am Aufbau des menschlichen Gehirns. Sieh mal, du musst es dir wie einen riesengroßen Schrank vorstellen, mit ganz vielen Fächern. Auf die wichtigsten von denen hast du ganz einfach Zugriff, ohne dass du dich bemühen musst. Das ist der Fall, wenn du zum Beispiel deine Hand heben oder ein Stück gehen willst. Bei Erinnerungen sieht das schon wieder etwas komplizierter aus. Da gibt es verschiedene Abteilungen: Das Kurzzeitgedächtnis nimmt Dinge auf, die gerade um dich herum geschehen. Hier ist nur Platz für eine kleine Zahl von Gedanken, die meisten vergisst du also gleich wieder, ganz einfach, weil du sie nicht brauchst. Nur solche Dinge, die dein Gehirn für dauerhaft relevant erachtet, werden in das Langzeitgedächtnis übernommen.

»Okay, aber …« Scarlett runzelte die Stirn. »Wenn das so ist, warum erinnere ich mich dann nicht an diese speziellen zwei Monate? Etwa, weil mein Gehirn sie für unwichtig hält?«

»Nein, das nicht.« Darcy lächelte. »Hier kommt etwas ins Spiel, das man Verdrängung nennt. Du verfügst nach wie vor über diese Erinnerungen, sie befinden sich in einer der unzähligen Schubladen deines Gedächtnisses. Doch bei negativen Erinnerungen versucht das Gehirn, dich zu schützen, indem es den Zugang zu diesen Gedächtnisinhalten verhindert. Man nennt diese Form der Amnesie auch hysterische Amnesie, weil dadurch ein unangenehmes, qualvolles Erlebnis beiseitegeschoben wird.«

Scarlett lächelte. Sie mochte Darcys Art, solche Dinge zu erklären. Sie tat dies so plastisch, dass man alles problemlos verstehen konnte.

Eine Fähigkeit, die die anderen Psychologen, die Scarlett in den vergangenen vier Jahren aufgesucht hatte, weiß Gott nicht besaßen.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Dass sie überhaupt versucht hatte, derartige Hilfe in Anspruch zu nehmen, war im Grunde der Verdienst ihrer Eltern. Sie selbst hatte, nachdem ihr Leben durch dieses unfassbare Ereignis völlig aus den Fugen geraten war, zunächst mit gar niemandem darüber sprechen wollen. Am liebsten hätte sie sich eingeigelt und das alles mit sich selbst ausgemacht. Aber ihre Eltern hatten einfach keine Ruhe gegeben. Sie waren fest davon überzeugt gewesen, dass ihre Tochter nur so jemals über dies Geschichte hinwegkommen konnte.

Nur ihnen zuliebe (und auch, weil sie im Grunde schon wusste, dass sie irgendwie recht hatten), hatte sie sich die Adressen von mehreren Psychologen herausgesucht. Der erste, Dr. Andrews, ein älterer Mann mit Halbglatze und Hornbrille, hatte sie gleich mit harten Psychopharmaka behandeln wollen, deshalb war sie nicht wieder zu ihm gegangen. Und auch bei Nummer zwei, Dr. Hathaway, hatte sie sich nicht wirklich wohl gefühlt. Er war zwar nett gewesen, aber irgendwie hatte sie bei ihm den Eindruck gehabt, nur eine anonyme Nummer auf der Liste seiner Patienten zu sein. Es war ihr einfach nicht gelungen, Vertrauen zu ihm aufzubauen. Beim dritten Mal hatte sie es schließlich bei einer Frau versucht. Dr. Elaine Fisher. Doch auch dieser Versuch war gescheitert, was vorwiegend daran lag, dass Dr. Fisher viel zu ungeduldig war und vorschnelle Schlüsse zog, statt richtig zuzuhören.

Danach hatte Scarlett es schließlich aufgegeben und sich fest vorgenommen, die Sache jetzt allein durchzustehen. Ohne professionelle Hilfe. Und auch ohne die besorgten Blicke ihrer Eltern und die tägliche Frage: »Wie geht es dir heute, Schatz?«

Deshalb war sie vor einem halben Jahr aus dem kleinen Ort Ilwaco, Washington, in dem sie aufgewachsen war, hierher nach Pullman an die Washington State University gekommen. Um hier Kunstgeschichte zu studieren und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hier kannte niemand ihre Geschichte, hier konnte sie noch einmal ganz von vorn anfangen.

Das hatte sie zumindest geglaubt – doch seit einiger Zeit kehrten die Geister der Vergangenheit in immer kürzer werdenden Abständen zurück und ließen ihr in manchen Momenten kaum Luft zum Atmen.

»Nehmen wir mal ein Beispiel«, riss Darcy sie aus ihren Gedanken. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns kennengelernt haben?«

Scarlett lachte. Natürlich erinnerte sie sich daran, und wie! »Ich wollte ins Verwaltungsgebäude, und du kamst gerade raus, um in dein neues Büro zu ziehen. Du hast mich über den Haufen gerannt, weil die Umzugskiste, die du getragen hast, so groß war, dass du gar nicht darüber hinwegschauen konntest. Danach habe ich dir geholfen, deine Sachen wieder zusammenzusammeln, dabei sind wir ins Gespräch gekommen. Als ich erfuhr, dass du die neue Uni-Psychologin bist, konnte ich es erst gar nicht glauben. Ich meine, du wirkst nicht viel älter als ich, und bist ja auch gerade einmal achtundzwanzig. Das sind sieben Jahre Unterschied! Und während ich gerade erst mein Studium begonnen habe, bist du schon so weit gekommen.«

Darcy lachte. »Nur keine Bange. In der Zeit wirst du auch viel erreicht haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und außerdem … Ich war halt immer schon eine Streberin, dieser Ruf verfolgt mich schon seit der Junior High. Aber mal ehrlich, ist es so verkehrt, wenn man sich zu hundert Prozent für etwas reinhängt, das man wirklich erreichen will? Ich finde nicht – und deshalb habe ich auch während meiner Zeit als Studentin vor allem eines gemacht: gepaukt, gepaukt und noch mal gepaukt. Während meine Kommilitoninnen feiern gingen, steckte ich die Nase in meine Bücher. Ich kann dir sagen, ich bin nicht selten für meinen Ehrgeiz belächelt worden. Aber wenn ich heute sehe, dass ich meinen absoluten Traumjob bekommen habe, während ein paar von meinen Mitstudentinnen immer noch an ihrem Studium herumbasteln … Die Umstände waren allerdings alles andere als erfreulich.«

»Wie meinst du das?«

»Wusstest du das denn nicht? Ich habe die Stelle ganz überraschend kurzfristig bekommen, weil mein Vorgänger unerwartet an einem Herzanfall verstorben ist. Tragische Geschichte. Ich habe vorher in Tacoma gearbeitet, wollte aber schon länger hierhin, weil meine Großmutter in der Nähe wohnt und inzwischen regelmäßige Betreuung braucht. Altersdemenz.«

»Oh, das tut mir sehr leid«, sagte Scarlett, und sie meinte es ehrlich. Irgendwie wurde ihr in diesem Moment zum ersten Mal bewusst, dass auch die Psychologin eine ganz normale Frau war, mit Sorgen und Problemen wie jeder andere.

Darcy winkte ab. »Aber lassen wir das. Wir haben uns schließlich nicht getroffen, um über mich oder einen Werdegang zu sprechen.«

Scarlett seufzte. »Stimmt leider.« Damals, als sie und Darcy sich zum ersten Mal begegnet waren, wäre sie nicht einmal im Traum darauf gekommen, dass sie sich der Schulpsychologin einmal anvertrauen würde.

Doch nach allem, was dann passiert war …

Nun saß sie ihr schon zum dritten Mal in ihrem Büro in der Schule gegenüber und bereute ihre Entscheidung überhaupt nicht. Darcy war genau die Art von Psychologin, nach der sie im Grunde die ganze Zeit gesucht hatte. Sie war eine gute Zuhörerin, verständnisvoll und klug. Und bei ihr hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, wirklich ernstgenommen zu werden.

»Aber ich würde sagen, das reicht auch für heute.« Darcy legte Stift und Notizbuch zur Seite und erhob sich. »Du kennst ja meine Devise: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Und Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Außerdem musst du doch noch zur Probe für dieses Weihnachtstheaterstück, das sich der Leiter eures Theaterkurses ausgedacht hat, oder nicht?«

Scarlett nickte. »Schon klar, aber …«

»Ja?«

»Also, es ist … wegen meinen Blackouts, du weißt schon. Ich hab das Gefühl, dass die Tabletten überhaupt nicht wirken.«

Darcy seufzte. »Du musst ein bisschen Geduld haben, Scarlett. Das Präparat, das du von mir bekommst, ist rein pflanzlich. Es kann manchmal ein wenig dauern, bis wirklich eine merkliche Besserung eintrifft. Wenn du möchtest, kann ich dir auch Psychopharmaka verschreiben, aber …«

»Nein, nein«, lenkte Scarlett sofort ein. Sie war ganz froh, dass Darcy es auf die weniger harte Tour mit ihr probierte. »Schon gut, ich warte einfach noch ein bisschen ab.«

»Hast du denn noch genug von den Tabletten?«

»Keine Ahnung … Ein paar sind es bestimmt noch.«

»Warte kurz.« Darcy trat hinter ihren Schreibtisch und zog eine Schublade auf. »Hier, nimm die noch mit. Auch ein Vorteil von den pflanzlichen Mitteln: Die darf ich dir so geben und muss sie nicht extra verschreiben. Also, wir sehen uns dann spätestens nächste Woche wieder hier?«

»Klar doch.« Scarlett nickte und verließ Darcys Büro. Vom Campus aus war es nicht weit bis zu ihrer Wohnung, die sie sich mit ihrer Freundin Emily teilte. Sie genoss den kleinen Spaziergang und sog die klare frische Luft tief in ihre Lunge.

Es hatte noch nicht geschneit, aber die Meteorologen sagten für die Feiertage Schnee voraus. Im Moment war es nur bitterkalt, aber sonnig.

Die Fenster der Fakultätsgebäude und Wohnheime waren mit Sprühschneebildern und Lichterketten geschmückt. Künstliches, mit roten Christbaumkugeln und Schleifen geschmücktes Tannengrün rankte die dorischen Säulen vor den Eingangstüren empor und wand sich um Balkongeländer und Fensterrahmen. Man sah Figuren von Santa Claus in allen nur erdenklichen Größen und Formen, Plastikschneemänner und aufblasbare Rentiere. Und auf dem großen Platz mitten auf dem Campus wurde gerade der große Tannenbaum aufgestellt, der schon bald in voller Pracht erstrahlen würde.

Scarlett hatte Weihnachten immer geliebt, sehr sogar. Doch heute verband sie stets auch ein leichtes Unbehagen damit.

Nach allem, was damals passiert war …

Rasch verdrängte sie den Gedanken an die Vergangenheit. Wie immer, wenn sie von einer Sitzung bei Darcy kam, fühlte sie sich ein wenig besser.

Es half ihr einfach, mit jemandem zu sprechen, der verstehen konnte, was in ihr vorging.

Leider hielt dieses Gefühl nie allzu lange vor. Scarlett seufzte. Sie wusste nicht, woran es lag, aber obwohl sie sich so sehr bemüht hatte, alles zu vergessen und nur noch nach vorn zu blicken, hatte die Vergangenheit sie fest im Griff. Fast schien es, als würde ihre Psyche es ihr übelnehmen, dass sie vor der Vergangenheit davonlaufen wollte.

Oder wie sonst waren diese Blackouts zu erklären, die … Scarlett schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken.

Sie legte einen Schritt zu und ging durch eine kleine Straße, die sie schließlich zu der führte, in der sie wohnte. Das Schaufenster der Schneiderei, an der sie vorbei musste, ignorierte sie, so gut sie konnte. Der Anblick der Schaufensterpuppe im Kostüm eines Weihnachtselfen rief eine Erinnerung in ihr wach, an die sie lieber nicht denken wollte.

Die Erinnerung an vierundfünfzig Tage, die ihr von ihrem Leben fehlten.

 

»Eines muss zu mir mal erklären«, sagte Scarlett eine Stunde später und blickte ihre Freundin und Mitbewohnerin Emily Cunningham kopfschüttelnd an. »Wozu, um alles in der Welt, braucht man ständig andere Augenfarben?«

Emily zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich mag halt farbige Kontaktlinsen, das ist alles. Und es fällt auf.«

»Wenn du meinst …« Die beiden jungen Frauen saßen in der Küche des kleinen Appartements, das sie gemeinsam bewohnten. Sie hatten sich an ihrem ersten Tag an der Uni kennengelernt und gleich festgestellt, dass sie auf derselben Wellenlänge lagen. Da sie beide nicht in irgendeinem Studentenwohnheim leben wollten, waren sie auf die Idee gekommen, sich eine Wohnung zu teilen.

Während Emily an drei Abenden die Woche in einer kleinen Bar kellnerte, finanzierte Scarlett sich die Miete, in dem sie am Wochenende als Pizzabäckerin jobbte. Zudem wurden sie auch noch ein bisschen von ihren Eltern unterstützt.

Dass Emily beinahe täglich eine andere Augenfarbe hatte, war Scarlett anfangs gar nicht aufgefallen – erst die riesige Sammlung der kleinen Kontaktlinsenbehälter im Bad hatte sie drauf gebracht.

»Ich weiß, ich weiß.« Emily verdrehte die – heute türkisblauen – Augen. »So auffällig kann das nicht sein, da nicht mal du es gemerkt hast. Aber du bist auch kein Typ. Denen fällt so was nämlich sehr wohl auf.«

»Glaubst du«, erwiderte Scarlett. »Wenn du mich fragst, sind die Augen das Letzte, das denen auffällt. Die gucken doch auf ganz anderes.«

»Tja, und genau da hab ich nicht gerade viel zu bieten«, entgegnete Emily seufzend.

Ihre Selbstkritik war nicht ganz unbegründet. Im Gegensatz zu Scarlett mit ihren weiblichen Formen wirkte die spindeldünne Emily beinahe jungenhaft. Ein Effekt, den sie durch ihren Kurzhaarschnitt noch verstärkte.

Scarlett warf einen Blick auf die Uhr. »Hör mal, wenn du wirklich noch beim Optiker vorbei willst, müssen wir aber los. Die Proben fangen heute schon früher an, wie du weißt.«

»Klar, von mir aus können wir. Bist du denn soweit?«

»Ich bin startklar!« Scarlett hatte sich vorhin schon umgezogen und schnappte sich jetzt ihre große Umhängetasche, in der sie ihre Sachen verstaut hatte, die sie bei der Aufführung tragen würde.

Die Proben für das Theaterstück machten ihr wirklich Spaß. Und sie war auch durchaus ein wenig stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, die Hauptrolle zu bekommen.

Sie führten eine weihnachtliche Version von Shakespeares Romeo und Julia auf – natürlich eine, bei der es am Ende ein Happy End für die beiden Hauptfiguren gab. Zuerst war Scarlett deswegen ein bisschen skeptisch – durfte man einen Klassiker des Welttheaters einfach so verfremden? –, doch inzwischen machte sie sich deshalb gar keine Gedanken mehr. Wer an Weihnachten ins Theater ging, der wollte sich keine Tragödie ansehen. Und wenn man auf diese Weise wenigstens einen Zuschauer dazu brachte, sich für Shakespeares Stücke zu interessieren, dann war Scarletts Meinung nach schon eine Menge gewonnen.

Abgesehen davon hatte die Teilnahme an dieser besonderen Aufführung für sie noch eine weitere, ganz private Bedeutung: Sie hoffte, dass es ihr auf diese Weise gelang, ihre gespaltene Beziehung zur Weihnachtszeit in den Griff zu bekommen. Sie wollte die schönste Zeit des Jahres endlich wieder genießen können, ohne ständig an das denken zu müssen, was ihr vor vier Jahren zugestoßen war.

Sie fuhren mit dem Bus in die Innenstadt, wo sich Emilys bevorzugter Optiker befand. Bevorzugt deshalb, weil er ein großes Sortiment an farbigen Kontaktlinsen führte, was ja normalerweise eher ungewöhnlich war.

Mit einem Linsenset in einem zarten Veilchenviolett als Ausbeute ging es dann zurück zum Campus. Sie waren kaum ausgestiegen, da spürte Scarlett, wie ein leichtes Schwindelgefühl von ihr Besitz ergriff.

Sie fuhr sich mit der Hand über die Lider. Doch als sie sie wieder hob, war es noch schlimmer geworden, und bunte Flecken tanzten vor ihren Augen.

»Alles okay mit dir?

---ENDE DER LESEPROBE---