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Eine Liebesgeschichte zwischen Berlin und Los Angeles, zwei Menschen, mit denen das Leben nicht immer gnädig war, und das Haifischbecken Hollywood.
War es ein Zufall, der David und Anna zusammenführte? Oder waren da ganz andere Kräfte am Werk? Und hat ihre Liebe unter diesen Vorzeichen eine Chance?
Anna ist noch in tiefer Trauer, als sie widerwillig einen Fremdenführerjob in Berlin annimmt. Dabei lernt sie den Drehbuchautor David kennen, dem es gelingt, sie nach und nach aus dieser Trauer herauszuholen. Sie wagt einen Neuanfang in Los Angeles, doch die Geister der Vergangenheit holen David und Anna immer wieder ein. Wird es ihnen gelingen, ihre Liebe zu retten und ihr gemeinsames Schicksal zu meistern?
"Ein berührender, spannender und sprachlich schöner Roman, den man so schnell nicht mehr aus der Hand legt!"
"Der Roman Weißgold-Flügel ist wunderbar leicht, wie eine beiläufige Begebenheit und schildert, alles andere als belanglos, wie sich auf dem Weg zweier Menschen langsam das Vertrauen und die Liebe ereignen. [...] Sehr lesenswert!"
"Die Autorin beschreibt die Erlebnisse in Berlin und Los Angeles so lebendig, dass man glaubt, vor Ort zu sein."
(Leserstimmen)
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und wurden nicht beabsichtigt. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Von Christine Rhömer sind außerdem erschienen:
Abgetaucht im Paradies (2017)
Wind aus Südwest - Sünde der Väter (2018)
Wind aus Südwest - Vergeltung (2018)
© Christine Rhömer 2017, alle Rechte vorbehalten
„Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und laß dir jeden Tag geschehen
So wie ein Kind im Weitergehen
Von jedem Wehen
Sich viele Blüten schenken läßt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.“
Rainer Maria Rilke
Der Wagen fährt schnell. Die Straße führt schnurgerade durch den Spandauer Forst. Er beschleunigt noch einmal. Es ist früh am Morgen, Nebel zieht einer Schar Geister gleich durch den Wald und über den Asphalt. Das Kind auf dem Rücksitz schläft. Der Fahrer betrachtet das friedliche Gesicht des Mädchens lange durch den Rückspiegel. Dann sieht er wieder auf die Straße und den Nebeldunst.
Vom Berge was kommt dort um Mitternacht spät
Mit Fackeln so prächtig herunter?
Warum nur kommt ihm nun dieses Gedicht aus der Schulzeit in den Sinn, fragt er sich.
Das, was du da siehest, ist Totengeleit,
und was du da hörest, sind Klagen.
Dem König, dem Zauberer, gilt es zu Leid,
sie bringen ihn wieder getragen.
O weh!
So sind es die Geister vom See!
Wie geht es weiter? Wie lange ist es her, dass er das Gedicht auswendig lernen musste? Und ist das überhaupt noch wichtig?
Sie schweben herunter ins Mummelseetal –
Sie haben den See schon betreten –
Mit geschlossenen Augen versucht er, sich zu erinnern. Er spürt, wie der Wagen in der langgezogenen Linkskurve von der Fahrbahn driftet.
Es orgelt im Rohr und es klirret im Schilf;
Nur hurtig, die Flucht nur genommen!
Davon!
Sie wittern, sie haschen mich schon!
In diesem Sommer brannten sich die Sonnenstrahlen schon früh am Tag gnadenlos in die Stadt ein. Bald würde es stickig werden zwischen den Häuserzeilen und die Luft vibrieren. Der glühende Asphalt würde sich in die Schuhsohlen bohren und die Hitze um die Waden züngeln. Dann bereitete das Atmen Schmerzen und das T-Shirt klebte unter den Achseln. Aber noch war es nicht so weit. Sie war früh dran, wie immer. Das Licht, das durch die Altbaufenster ungehindert eindrang, hatte sie von ihrem traumlosen Dämmern erlöst. Mühsam hatte sie sich aus dem zerwühlten Bett erhoben, Sandalen angezogen und das Haus verlassen. Nun setzte sie einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt. Und noch einen Schritt. Jede Bewegung der Beine brachte sie weiter. Nur bewegen, bloß kein Stillstand. Sonst begannen die Gedanken sich ungehindert auf das schwarze Loch zu konzentrieren, das Nichts, das alles aufsog und verschlang. Es schien verlockend, sich in die Dunkelheit zu werfen und zu verlöschen. `Warum bäume ich mich jeden Tag von Neuem dagegen auf?´ Sie blieb stehen und schloss die Augen. Die Sonne in ihrem Gesicht wollte nicht zu der Finsternis in ihrem Inneren passen. Doch die Frage blieb und je länger sie sich ihr hingab, desto unbezwingbarer erschien sie ihr: Warum?
Da rempelte sie ein hagerer Mann mit zotteligen Haaren und zerlumpter Kleidung an. Er torkelte weiter, drehte sich dann aber zu ihr um. „Sorry, wa! Nix für ungut…“
Unwillig öffnete Anna die Augen. Der Mann beäugte sie und kam wieder einen Schritt näher. „Haste´n bisschen Geld für´n Obdachlosen?“
Sein Atem roch abgestanden. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts dabei. „K-Kann s-selber Ge-Geld brauchen“, erwiderte sie. Der Mann wendete sich ab und hob die Hand wie zum Gruß, ehe er weiterzog.
Seufzend begann Anna wieder, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es kostete viel Kraft. Jetzt spürte sie die prickelnden Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, die sich wie Pergament über ihre Knochen spannte, und im nächsten Moment nahm sie das Anschwellen des Verkehrslärms wahr. Gehen, einfach weitergehen. Das grüne Ampelmännchen mit Hut, das so zielstrebig unterwegs zu sein schien, verschwand. Nun starrte sie ein rotes gesichtslos mit ausgebreiteten Armen an, als wollte es sie umarmen. Sie blieb stehen und starrte zurück. Was sollte sie noch hier, wenn ein Teil von ihr sich bereits auf der anderen Seite aufhielt? Sie spürte den Sog dieser dunklen Seite sehr deutlich. Ein weiterer kleiner Schritt jetzt in diesem Moment an dieser Ampel könnte die Erlösung bringen und dem Gedankenkarussell den Strom abdrehen.
Das Geräusch quietschender Bremsen schreckte sie auf. Der Verkehr zwischen den Plattenbauten kam zum Erliegen; die Autos warteten ungeduldig wie Jagdhunde an der Leine. Unwillig ging Anna dem Ampelmännchen entgegen, das sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Also nicht hier und nicht jetzt. Das Frankfurter Tor sollte wohl nicht das Letzte sein, was sie in diesem Leben sah.
Als sie in ihre Wohnung zurückkam, erwachte ihr verstaubtes Telefon aus seinem Dornröschenschlaf. „Ich habe einen Job für dich, Mädchen, du musst mal wieder raus gehen, ein bisschen unter Leute kommen. Und das Geld kannst du doch auch gut gebrauchen, oder?“, platzte Maximilian ohne Begrüßung durch den Hörer. „David Hurst ist ein netter Kerl. Spricht ganz gut Deutsch, ist zweisprachig aufgewachsen, weil er eine deutsche Mutter hat. Aber scheinbar denkt er, dass er alleine nicht gut zurechtkommt. Er hätte gerne eine Begleitung, die ihm die Stadt zeigt.“
„Das, das ist ja w-w-wohl nicht d-dein Ernst. D-Du glaubst doch nicht etwa, dass, dass ich m-m-mich auf so etwas - einlasse?“, erwiderte Anna verärgert.
„Jetzt krieg dich mal wieder ein! Was denkst du denn? Ich leite eine Event Agentur, keinen Escort-Service! Seine Produktionsfirma hat ihm zugesichert, dass er hier recherchieren kann. Er begleitet das Team, das seinen neuen Film promotet. Und sein Anliegen ist halt, dass er …“
„Ich soll d-d-den Touri-Guide für einen Schau_spieler - abgeben, der womöglich von Paparazzi be-be-belagert wird? Sonst geht es dir aber g-g-gut, ja?“
„David Hurst ist nicht Schauspieler! Er hat das Drehbuch geschrieben, Herrgott noch mal. Für den interessiert sich kein Mensch, zumindest kein Klatschreporter. Er ist ein verdammt guter Autor, das kannst du mir glauben und er hat es ganz bestimmt nicht nötig, sich hier eine schnelle Nummer zu kaufen!“, empörte Maximilian sich. „Er möchte nur, dass ihm jemand die Stadt abseits der Touripfade zeigt und du brauchst dringend eine Abwechslung und Geld sowieso. Melde dich bis heute Abend, wenn du bis dahin nicht im Selbstmitleid zerflossen bist, sonst übernimmt Silvana den Job.“ Und damit legte er wutschnaubend auf.
Wieso bot Maximilian ausgerechnet ihr den Job an? Er hatte ja keine Ahnung, wie sie aussah! Dieser Ami wird denken, er habe es mit einem Zombie zu tun. Das musste ihm doch klar sein. Sie rief Silvana an, Maximilians „rechte Hand“ in der Agentur, und fragte sie, was es mit seinem Anruf auf sich hatte. Aber die erklärte ihr nur, dass sich im Büro alle Sorgen um sie machten und bot ihr gleichzeitig Hilfe an.
Natürlich brauchte sie das Geld. Dringend sogar. Und eine Beschäftigung, die sie auf andere Gedanken brachte, auch. Also nahm sie den Job nach langem Zögern widerwillig an.
Sie sollte diesen Schreiberling im Regent Hotel am Gendarmenmarkt treffen. Alles Weitere würde sich dann vor Ort ergeben. So befremdlich die Situation war, sie konnte sich wenigstens auf Deutsch mit ihm verständigen und musste ihre Sprechstörung nicht noch in einer anderen Sprache offenbaren.
Halbherzig näherte sie sich am nächsten Tag dem Hotel mit der unauffälligen Fassade. Lustlos hatte sie ein Kostüm aus dem Schrank gezerrt, das aus ihrem früheren Leben stammte und nun an ihrem abgemagerten Körper hing wie an einem Kleiderbügel. Ihre langen Haare, die schon seit Monaten keine Friseurschere mehr gesehen hatten, waren zu einem Zopf gebunden und hochgesteckt.
Ein trockener Wind wehte durch die Straßen und ihr zu locker sitzendes Kostüm. Eine Haarsträhne löste sich aus dem Knoten. Mechanisch schob Anna sie hinter das Ohr, während sie angestrengt zu dem Gewusel an Reportern und Fotografen vor dem überdachten Eingang sah. Sie war nicht mehr daran gewöhnt, sich zwischen so vielen Menschen zu bewegen. Unbehaglich nestelte sie an dem Presseausweis, den Maximilian ihr besorgt hatte, falls man ihr den Einlass verweigerte, und rieb sich die Gänsehaut von den Unterarmen. Das Promotion-Event war offenbar vorüber und ein unauffälliges Einschleichen in das Hotel schwierig.
Niemand hielt sie auf, als sie sich zwischen die Journalisten mischte. Der Blick des Portiers glitt so beiläufig wie möglich auf ihren Ausweis, dann schnell wieder in ihr Gesicht. Er nickte ihr lächelnd zu und schon war sie aufgenommen im Kreis der Unterhaltungsindustrie. Im Foyer hatten sich die Medienvertreter um den Mahagoni-Tisch mit dem überdimensionierten Blumenarrangement gruppiert wie eine Schar Basstölpel um einen Inselfelsen. Geklapper von Laptop-Tastaturen und in Handys gerufene Wortfetzen hallten vom Marmorfußboden wieder, brachen sich und übertönten die dezente Hintergrundmusik. Wie sollte sie hier David Hurst finden? Sie wusste ja nicht einmal, wie er aussah. Der Salon Gontard, in dem die Werbeveranstaltung stattgefunden hatte, war nahezu leer. Sie musste eine der Damen an der Rezeption fragen und ihn womöglich in seinem Zimmer aufsuchen. Genau so hatte es doch nicht laufen sollen!
„Mister Hurst erwartet Sie schon in Suite 723.“ Die junge Frau lächelte sie verbindlich an, den Telefonhörer noch am Ohr. „Die Aufzüge befinden sich gleich hinter dem Empfangsbereich.“
Sie wies in die genannte Richtung, wo zwei Männer bereits warteten. Sie unterhielten sich lässig auf Englisch mit einem deutlich amerikanischen Akzent. Anna bemühte sich, das Gespräch nicht zu belauschen, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die geschlossenen Holztüren. Aber sie spürte, dass der Ältere der beiden sie fixierte. Endlich öffneten sich die Lifttüren und sie betraten die Kabine, wobei der Ältere ihr den Vortritt ließ. Der Jüngere mit den kantigen Gesichtszügen schlenderte gleichgültig voraus und lehnte sich ungeniert wie ein gelangweilter Teenager an die Holzvertäfelung. Nun hatte sie ihm doch direkt ins Gesicht gesehen und sie erkannte den Mann, der ihr bereits im Foyer von einigen Plakaten mit entschlossener Miene entgegengeblickt hatte.
Im Aufzug erschwerte die Spiegelwand alle Bemühungen, den Blicken des Älteren mit dem Narbengesicht und den falschen Zähnen auszuweichen. Seine Augen fixierten immer wieder ihren Presseausweis und zwischen dem vierten und fünften Stock nahm sie ihn entnervt ab und steckte ihn mit Nachdruck in ihre Jackentasche. Was wollte der?
Endlich kamen sie auf der siebten Etage an und die beiden Männer steuerten zielstrebig auf ihre Zimmer zu, wobei der Ältere ihr zum Abschied zunickte. Gut, den war sie los. Sie blieb stehen, bis sie hintereinander zwei Türen zuklicken hörte. Dann orientierte sie sich und suchte Suite 723 auf. Seufzend hob sie die Hand, um an die Tür zu klopfen, da wurde diese auch schon aufgerissen. Im grellem Gegenlicht erschien eine männliche Silhouette und sie vernahm eine Stimme, die mit starkem Akzent sagte: „Ah, da ist ja die Lady vom Escort Service!“
Schlagartig wich die Farbe aus Annas Wangen. „D-D-Das …“, begann sie.
Sie hörte ein Lachen in der Stimme ohne Gesicht. „Just a joke – kommen Sie herein.“ Und er trat einen Schritt beiseite. Zögernd ging Anna in den Flur, der in das Biedermeier-Wohnzimmer führte. David Hurst folgte ihr und zog die grünen Innen-Vorhänge vor den Fenstern zu, sodass der Französische Dom aus ihrem Blickfeld verschwand und mildes Licht die Einrichtung in zarten Gelbtönen leuchten ließ. „Sorry“, sagte er, „ich bin gerade erst zurückgekommen. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Möchten Sie etwas trinken?“
Haha, und der soll das Gefühl haben, sein Deutsch reiche nicht aus, um sich alleine in Berlin zurechtzufinden? Wer sollte das denn glauben? „Nein danke“, erwiderte sie entschieden.
Er musterte sie aufmerksam. Mit einer unterkühlten Begrüßung hatte er scheinbar nicht gerechnet. Schließlich reichte er ihr die Hand. „Ich bin David“, sagte er.
Sie ergriff seine Rechte. „Anna.“
„Setzen Sie sich doch.“ Er wies auf einen Sessel in der eleganten Sitzgruppe.
Schweigend saßen sie sich gegenüber. Er musterte sie noch immer aufmerksam. Nun erkannte sie, dass sie es mit einem schlanken Mittdreißiger zu tun hatte, dessen Gesicht deutliche Spuren von zuviel Sonnenbestrahlung zeigte. Lachfältchen säumten seine Augenwinkel und schienen den ernsten Ausdruck der blauen Augen Lügen zu strafen. Das Schweigen dehnte sich aus und begann den ohnehin stickigen Raum zu füllen.
„Sie mö_chten sich d-d-die Stadt ansehen?“, erkundigte sich Anna schließlich höflich.
Sein Blick intensivierte sich. `Womöglich fragt er sich gerade, warum man ihm eine humorlose Stotterin für diesen Job geschickt hat. Ich muss mich zusammenreißen´, dachte sie und bemühte sich um ein Lächeln.
„Nein, die City interessiert mich nicht. Ich möchte die Menschen sehen und Geschichten über sie hören. Ich will die Luft schmecken und die Geräusche fühlen. Sehen Sie, John Bruckner hat erworben die Filmrechte für `Höllenfeuer´ und möchte, dass ich schreibe das Drehbuch. Einige Szenen werden in Berlin spielen, so ich muss mir die Oberbaumbrucke – war das richtig? – und Kreuzberg ansehen. Ich habe keine Lust mit dem Taxi die Orte abzufahren und auch nicht mich selber durch das Subway-Netz zu quälen. Dafür brauche ich Sie. Ist das okay für Sie?“
„Ja, na-na-natürlich.“
„Mache ich Sie nervös?“
„N-nein. - Ich ha-habe seit ein p-p-paar Monaten Sprachschwierigkeiten. D-D-Das hat nichts mit Ihnen zu t-t-tun. Entschuldigen Sie bitte.“
„Was ist passiert?“
„Nichts.“
„Nichts?“
„N-na ja. Ein Unfall.“
„Ein Verkehrsunfall? Waren Sie verletzt?“
„Ich m-m-möchte nicht darüber reden.“
Er schwieg einen Moment. „Sind Sie sicher, dass Sie mich begleiten wollen?“, fragte er dann so weich, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. „Es ist okay“, sagte er, sprang auf und verschwand hinter den verspiegelten Schiebetüren. Kurz darauf kam er mit einem Taschentuch zurück, reichte es ihr und setzte sich wieder.
„Ja, ich b-bin mir sicher“, behauptete sie. „Aber m-möchten Sie meine Gesellschaft überhaupt noch?“
Er schien einen Moment nachzudenken. Im Nebenraum klingelte das Telefon. Erneut erhob er sich und sagte, während er nach nebenan verschwand: „Ja, warum nicht?“
Sie hörte ihn gedämpft mit einem Derek sprechen, der offenbar mitkommen wollte. David redete es ihm aus. Es passe gerade nicht so gut.
Nach einer Weile steckte er den Kopf durch die Schiebetür. „Okay, let´s go.“
Anna erhob sich und versuchte, ihre Dankbarkeit zu verbergen, denn natürlich wollte sie ihn nicht merken lassen, dass sie ihn belauscht hatte.
„I like your smile“, sagte er und die Fältchen unter seinen Augen schoben sich ineinander.
„Lassen Sie uns erst ein bisschen zu Fuß gehen. Ich kann etwas Bewegung gebrauchen. Okay?“
„Ja, g-gerne. Ich g-gehe gerne zu Fuß.“ Und das war gar nicht mal gelogen. Ihre stundenlangen Streifzüge durch die Stadt hielten sie schließlich am Leben. Beim Spazieren würde ihr auch das Sprechen leichter fallen und wenn sie sich auf Sachliches beschränkte, erst recht.
Als sie den Gendarmenmarkt betraten, rauschten zwei Doppeldecker-Busse der „Tempelhofer Stadtrundfahrten“ an ihnen vorbei. Sie neigten sich bedenklich zu der Seite, auf der sämtliche Touristen auf dem offenen Dach saßen, während sie dem Tonbandvortrag lauschten. Auf der Treppe des Konzerthauses fand ein Model-Shooting statt, eine Fremdenführerin zeigte einer Reisegruppe den Skulpturen-Brunnen und ergraute Köpfe folgten ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Vereinzelte Spaziergänger flanierten unter den Kastanien und an den Steinbänken vorbei. Ein preußisches Regiment an Straßenlaternen stand Spalier und im Refugium aßen Leute zu Mittag. Die grünen Markisen tanzten im Takt der Musik, die sich aus dem Französischen Dom ergoss. Der warme Wind blies sanft vertrocknete Blätter über das Kopfsteinpflaster. Einen besseren Einstieg in eine Stadtbesichtigung hätte es gar nicht geben können.
Interessiert sah David sich um, schoss ein paar Fotos und machte sich Notizen. „Gehörte dieser Platz zu Ost- oder Westberlin?“, fragte er.
„Zu Ost-Berlin.“
„Sah er zu der Zeit auch schon so aus oder ist hier viel verändert worden?“
„Die N-Neubauten rings herum sind erst nach dem Fall der M-Mauer entstanden.“
„Aha, interessant. Der Ort hat Atmosphäre. Vielleicht kann ich ihn verwenden.“ Er sah in die Ferne und ergänzte seine Notizen. „Ist der Platz beliebt bei den Berlinern, kommen sie gerne hierher, verabreden sie sich hier?“
„Er ist s_o etwas wie ein R-Ruhepol in der Stadt. M-Man kommt hierhin, wenn man seine Ru_he haben möchte. Oder in der M-Mittagspause, zum Erholen.“
„Sind Sie oft hier? Setzen Sie sich schon auf mal eine der Bänke und schauen sich die Gebäude an?“
„N-Nein, eher nicht. M-Möchten Sie auch die Friedrichstadt-P-Passagen sehen?“
„Ja, warum nicht.“
Kurz darauf schlenderten sie über den karierten Steinfußboden vorbei an Edelboutiquen. David betrachtete die gläsernen Rolltreppen im offenen Innenraum und seine Augen folgten der geschwungenen Treppe aus weißem Marmor bis hinunter ins Kellergeschoss, wo vereinzelt Menschen in der schwarzen Lederbestuhlung saßen. Sie unterhielten sich entspannt bei einem Kaffee, rauchten und schienen mit jedem ausgeatmeten Qualmkringel ein „Wir sind anders“ in die Luft zu schreiben. Konzentriert ließ er die Szenerie auf sich wirken. „Ich nehme an, das stammt auch nicht aus DDR-Zeiten?“
Anna lächelte. „Nein, g-ganz sicher nicht.“
„Was verbindet Sie mit diesem Ort?“, fragte er.
„M-Mich? Nichts, gar nichts. Ich g-gehöre nicht hierher.“
„Was bedeutet: `Ich gehöre nicht hierher´?“
Sie erklärte es ihm und fügte hinzu: „Ich bekomme hier B-Beklemmungen.“
Er lächelte. „Ich auch. Lassen Sie uns weitergehen.“
„Bis Kreuzberg ist es z-ziemlich weit. Wir könnten in die R-Richtung gehen, ohne an den typischen T-Touristenattraktionen vorbeizukommen. Die wollten sie ja meiden.“
„Schon okay, ich melde mich, wenn´s langweilig wird. Ich kenne Berlin noch gar nicht, ein bisschen Tourismus wird mir nicht schaden, wenn genug Zeit für das – essential - Wesentliche bleibt.“
`Er bemüht sich, nett zu sein´, dachte Anna und entspannte sich. Sie lotste ihn „Unter den Linden“ vorbei in Richtung Museumsinsel, bis David verkündete, es reiche ihm nun. Mit der U-Bahn fuhren sie dann zur Warschauer Straße und gelangten zur Oberbaum-Brücke, einem roten Backstein-Bau mit zwei Türmen und Arkaden. Unter der U-Bahn führte ein Kreuzgang bis zum May-Ayim-Ufer auf der anderen Seite.
„Was passiert denn hier in der G-Geschichte, zu der Sie das Drehbuch schreiben sollen?“
„Eine Agentenübergabe im Kalten Krieg“, erklärte er bereitwillig. „Natürlich verwoben mit einer dramatischen Liebesgeschichte zwischen Ost und West.“
„K-Klingt ja mächtig spannend.“
„Kennen Sie `Höllenfeuer´ denn gar nicht? Es stand wochenlang in den Bestsellerlisten – auch hier in Germany.“ Seine Augen musterten sie ernst.
„Nein, ich h-habe nicht viel mitbekommen in den letzten Monaten. Gibt es wenigstens ein Happy End?“ Sie bemühte sich, seinen Blick von sich zu lenken.
Doch David betrachtete sie nachdenklich. „Ja vielleicht. Zeigen Sie mir auch die Mauerreste in der Eastside-Gallery?“
„Na-Natürlich, wenn Sie möchten.“
„In welchem Bezirk sind Sie aufgewachsen?“
„In keinem. Ich k-komme nicht aus Berlin. Ich lebe erst seit ein paar Jahren hier.“
„Wo kommen Sie denn her? Und was hat sie hierher verschlagen?“
„Ich bin in einem Dorf bei R-Rosenheim groß geworden, das liegt in Süddeutschland in der Nähe von München. Meine Eltern w-wohnen noch dort. Ich bin meinem Mann hierhin ge-gefolgt.“ Erschrocken hielt sie inne und ärgerte sich darüber, dass ihr das herausgerutscht war.
„Sie sind verheiratet?“
Sie zögerte. „Ja.“
„Sie tragen keinen Ehering.“
Herrgott, entging dem auch mal etwas? „Nein.“
„Haben Sie Kinder?“
Abermals zögerte sie. „Ja. – Nein.“
Wieder dieser intensive Augenausdruck, mit dem er sie musterte, als versuche er, durch die Schale auf den Kern zu schauen. `Seziermesser-Blicke´, dachte sie.
„Und, leben Sie gern hier?“
„Ja, eigentlich schon. Erst recht, seitdem ich die O-Ostbezirke für mich entdeckt habe. Die haben einen m-morbiden Charme. Das mag ich.“
Es gelang ihr endlich, ihn von sich abzulenken. David fotografierte die Brücke aus mehreren Blickwinkeln und schließlich auch ungefragt Anna. „Darf ich Sie zum Essen einladen oder bekomme ich dann Ärger mit Ihrem Mann?“
Sie war sich sicher, dass er sie provozieren wollte, und beschloss, sich darauf nicht einzulassen. „Nein, er wird Ihnen k-k-keinen Ärger machen und ja, Sie dürfen mich g-g-gerne ein anderes Mal zum Essen einladen. Heute Abend habe ich etwas vor.“
„Ich fliege übermorgen zurück nach L.A.“
„Ist dann Ihre Recherche für das D-Drehbuch schon beendet?“
„Nun, wir werden sehen.“
Monika Katuschke telefonierte angestrengt, als Anna ihr Geschäft betrat. Nachdem sie David Hurst losgeworden war und in ein Taxi zurück zum Regent gesetzt hatte, war sie die lange Strecke von Kreuzberg bis Friedrichshain zu Fuß gelaufen. Er war nicht unsympathisch, ganz im Gegenteil, aber er hatte entschieden zu viel Menschenkenntnis.
Wie die Königin von Saba thronte Monika auf einem Barhocker vor dem Computer, an dem sie ihre Bestellungen tätigte. Tief in ein wallendes Gewand gehüllt und mit Modeschmuck behängt, ähnelte sie einem Kunststoff-Christbaum zum Aufspannen. Die Ostberlinerin war Annas beste Freundin. Ihre sprichwörtliche „Berliner Schnauze“ war manchmal ruppig, aber meistens herzlich. Die beiden hatten sich über ihre Kinder kennen gelernt. Monika arbeitete damals noch als Erzieherin. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte sie die Gelegenheit genutzt, in der Krabbelgruppe die Betreuung der Kleinen zu übernehmen und ihr eigenes gleich mit unterzubringen. Als die Lage der Kindergärten sich infolge der Zahlungsunfähigkeit der Stadt verschlechterte, fand Monika keine neue Stelle. Sie mietete sich ein Ladenlokal in Friedrichshain und verkaufte dort Kinderbücher, Spiele, Motorikspielzeug aus Holz, Elternratgeber und alles Mögliche, was mit Kleinkindern zu tun hatte. Außerdem bot sie in einem Nebenraum auch noch Lebenshilfe-Ratgeber, Meditationsmusik, Amulette, Glücksbringer und Ayurveda-Produkte an, um ihrer heimlichen Leidenschaft nachzugehen. Sie wusste, dass das „Mekka“ der Berliner Esoteriker in Kreuzberg lag. Aber zum einen wollte sie im Ostteil bleiben und zum anderen spekulierte sie darauf, dass die Konkurrenz dort nicht vergleichbar groß war. Ihre Rechnung ging auf: Nach einiger Zeit konnte sie von dem leben, was das Geschäft abwarf.
Nun winkte sie Anna zu sich herüber, umarmte sie herzlich und ihr stark geschminktes Gesicht strahlte: „Hallo! Schön, dir zu sehn.“
„Ja, ich freue mich auch, d-dich zu sehen. Wie läuft´s denn so?“
„Icke hab de Woche ordentlich Reibach jemacht. Is schon erstaunlich, wa? Diesa `Regenbogenfisch´ is voll der Renna und diese Armbändchen ooch. Willste n Tee?“
„Ja, gerne.“ Anna wusste, es würde einen der ayurvedischen Tees geben, die Monika gerne ausprobierte. Während Monika im Hinterraum das Teewasser aufkochte, starrte Anna auf das Kinderbuch, das sich im Moment gut verkaufte und musste schlucken. So eines hatte sie auch noch zu Hause, irgendwo. Herrgott, war sie denn nirgends vor ihrer Vergangenheit sicher?
Als Monika zurück in den Ladenraum kam, fand sie eine bleiche Anna vor, die mit leeren Augen in ihrem Bücherregal versank.
„Watt is los?“, fragte sie besorgt und berührte ihre Freundin am Arm. Anna kam langsam zu sich.
„Nichts“, sagte sie tonlos. „Nur das Übliche: Sarah wird nie mehr eines der K-Kinderbücher anschauen, die sie so geliebt hat… Es g-geht schon wieder.“
Monika schob Flyer und Werbeprospekte auf der Theke beiseite, drehte den „Regenbogenfisch“ demonstrativ auf das Gesicht und stellte zwei dampfende Teetassen ab. „Hier trink ditt. Wird dir jut tun.“
„Wogegen hilft d-der?“ Anna ahnte, dass Monika ihr den Tee nicht ohne Hintergedanken zubereitet hatte.
„Der is jut für Menschn, die ne Trauerphase durchleben un sich eensam fühln.“
`… und das Ganze überleben wollen. Die trotz allem am Leben kleben´, ergänzte Anna in Gedanken. Sie tranken eine Weile schweigend den Tee.
„So, und nu erzähl ma! Wie isset jelofen mit dener Stadtführung?“
Anna erzählte ihr von dem Nachmittag mit David Hurst, den forschenden Fragen, die er ihr gestellt hatte und den durchdringenden Blicken. „Und zum Schluss wollte er auch noch mit mir Essen gehen“, schloss sie ihre Schilderung und hob abwehrend die Hände.
Monika ignorierte die Geste. „Und, haste anjenommen?“
„Nein, ich habe ge-gesagt, er k-könne mich gerne ein anderes Mal einladen, weil ich etwas vorhätte.“
„Hier bei mir in Ladn hocken und Tee sofen?! Schlag dir doch of sene Kostn ma schön de Wampe voll!“ Sie klopfte sich auf ihren üppigen Bauch.
„Jetzt ist er weg und übermorgen fliegt er sowieso z-zurück nach Amerika.“ Anna lächelte unsicher.
„Ditt macht nischt. Der meldet sich – kannste dir droof valassn!“
„Ja und dann? Soll ich mich etwa mit ihm t-treffen? Wozu? Der d-durchbohrt mich mit seinen Blicken und guckt sich Stellen an, wo keiner hin soll – außer dir vielleicht.“
Monika berührte sie entschieden und doch sanft am Arm. „Klar triffste dir mit dem Typ. Und gloob mir – der ruft dir an. Wär schön blöd, wenn der det nich täte!“
Sie sollte recht behalten. Anna hatte gerade genügend Zeit, sich einzugestehen, dass sie sich ein bisschen darüber ärgerte, eine Einladung in ein Restaurant mehr oder weniger ausgeschlagen zu haben. Davids sonnengegerbte Lachfältchen noch vor Augen begann sie am nächsten Morgen, sich für einen weiteren einsamen Streifzug durch die Stadt zu rüsten, als das Telefon klingelte und Maximilian wieder ohne Einleitung in den Hörer rief: „Ich weiß nicht, wie du das angestellt oder besser gesagt, was du mit ihm angestellt hast, aber David Hurst möchte dich für eine zweite Stadtführung engagieren!“
„Dann g-g-gib mir mal seine Nummer“, erwiderte Anna so unbeteiligt wie möglich.
„Dann gib mir mal seine Nummer“, wiederholte Maximilan spöttisch, „das ist mal wieder typisch Anna. Als ob ich seine Nummer hätte! Du erreichst ihn über das Regent, was hast du denn gedacht? Viel Spaß bei der Stadtführung.“ Und es klickte in der Leitung. Offen zur Schau gestellte Empathie gehört nicht zu den Eigenschaften, denen er seinen beruflichen Erfolg verdankte.
In der Simon-Dach-Straße schmiegten sich die gemütlichen Lokale aneinander und Anna überließ David die Wahl. Sie war fest entschlossen, mit keiner Silbe zu erwähnen, dass sie in der Nähe wohnte. Ihre Wohnung würde sie ihm ganz sicher nicht zeigen.
David entschied sich zielsicher für den besten Italiener am Platz und gab ihr zu verstehen, dass sie bei der Auswahl ihres Gerichtes keine Hemmungen zu haben brauche. John Bruckner sei nicht knauserig. Anna zögerte einen Moment, dann bestellte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das teuerste Menü und den besten Wein, die es auf der Karte gab, obwohl ihr nach Essen gar nicht zumute war. Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten und Anna entdeckte in David nun auch den Meister des `small talks´. Sie war auf der Hut und fragte sich zum wiederholten Male, was David zu dem Treffen bewogen hatte. Aber ihr Gespräch plätscherte nichtssagend vor sich hin. Ein laues Sommerabendlüftchen kräuselte sich durch die Straßen, zauste Bäume und Frisuren, streichelte nackte Haut. Mit dem Glas Wein floss die Zeit dahin und Anna entspannte sich zunehmend. Der Außenbereich des Restaurants war spärlich gefüllt und sie ließ ihren Blick zu den Passanten schweifen, die in leichten Sommerkleidern vorbeischwebten. So traf es sie unvorbereitet, als er plötzlich zuschlug.
„Erzählen Sie mir von Ihrem Mann“, forderte er sie auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nachdem die Kellnerin die Nachtischreste entfernt hatte.
Der Stromschlag durchfuhr Anna bis in die Fingerspitzen. Gleichzeitig ging ihr nun endlich ein Licht auf. David Hurst witterte bei ihr eine handfeste Geschichte, eine, die er womöglich in sein nächstes Drehbuch einarbeiten konnte. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. `Wie unverschämt und taktlos´, dachte sie und sagte laut: „E-Erzählen Sie m-m-mir d-doch etwas von Ihrer F-Frau!“
„Ich bin nicht verheiratet, ich bin nicht einmal liiert. Da gibt es nichts zu berichten. Eine Frau, die von einem Ehemann spricht, aber keinen Ring trägt und die Frage nach Kindern mit ja und nein beantwortet, hat etwas zu erzählen. Und das möchte ich gerne hören.“
„D-Damit Sie es zu einem D-Drehbuch verw-wursten können?“
„Ja, vielleicht, wer weiß. Was wäre denn daran schlimm? Die interessantesten Geschichten schreibt meistens das Leben.“
Anna starrte ihn eine Zeit lang wütend an. Ihre Finger verkrampften und die Knöchel schimmerten weiß auf dem Rücken der erstarrten Faust. Dann spürte sie, wie mit der Übelkeit ihres Magens noch etwas in ihr hochstieg: ein unbändiges Verlangen danach, sich einem anderen Menschen mitzuteilen. Jemandem diesen unverdauten Erinnerungsbrei vor die Füße zu erbrechen.
„Er ist t-tot“, brach es aus ihr heraus. „Sie sind b-beide tot!“ In ihren Ohren rauschte es, endlose Minuten lang. „B-Befriedigt das ihr B-Bedürfnis nach Tragik?“
Er antwortete nicht und sah sie unverwandt an.
„Sie s-sind b-bei einem Au-Autounfall gestorben“, fuhr sie schließlich fort. „Der Wagen ist auf unge-geklärte Weise von der Straße abge-gekommen und ge-gegen einen Baum geprallt.“ Sie stockte und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen.
Seine klugen Augen, die mehr von der Welt und der menschlichen Seele zu wissen schienen, als einem lieb sein konnte, sahen sie tiefgründig an. Sie wollte nicht weiter erzählen, aber nun war der Damm gebrochen und der Schwall nicht zu bremsen.
„Thomas war sofort t-tot. Sarah lag vier Tage im K-Koma.“
Das Bild ihres Mädchens, das mit einem Herzfehler auf die Welt kam und um sein Leben kämpfte, tauchte vor ihr auf. Sie hatte beharrlich alle Behandlungen und Operationen erduldet, um schließlich erneut an Apparaten und Schläuchen zu hängen.
„Dann habe ich auch sie ver-verloren.“ Ihre rechte Hand, die auf dem Tisch lag, begann zu zittern. Schweigend ergriff David ihre Hand und hielt sie fest.
„Auf der Straße lag kein Glatteis, der Wagen hatte keinen D-Defekt und die R-Reifen waren in Ordnung. Es waren noch nicht einmal B-Bremsspuren auf dem Asphalt zu sehen. Die Polizei sagte, es sei unerklärlich, warum das Auto von der Fahrbahn abgekommen ist.“
David ließ sie eine Weile in ihrer inneren Welt die gewundenen Wege des Erinnerns durchschweifen und hielt dabei fortwährend ihre Hand. Als sie allmählich wieder in die Realität eintauchte, bemerkte sie, dass er bleich geworden war.
„Wie konnte er das tun? Wie konnte er mich alleine lassen und auch das K-K-Kind mitnehmen?“ Ihre Stimme bebte.
David drückte ihre zitternde Hand. „Aber es könnte doch trotzdem ein Unfall gewesen sein.“
Anna wandte den Blick ab. „Ich kann nicht einmal an sein Grab ge-gehen. So eine Wut habe ich!“
„Vielleicht wollte er die Verantwortung für das Kind nicht Ihnen alleine aufbürden“, sagte David.
Anna lachte kurz und bitter. „So kann nur ein Mann d-denken!“
Nach einer Weile sagte er: „Das war so ziemlich das Erschütternste, was mir je irgendjemand erzählt hat.“
Sie war nun wieder klar und wurde sich bewusst, dass er sie festhielt. Das Zittern hatte aufgehört und sie zog langsam ihre Hand zurück. „S-Sie w-wollten es ja hören.“
„Ja, das wollte ich. – Wann ist das passiert?“
„Vor einem Dreivierteljahr.“
„Was haben Sie seitdem gemacht?“
„Was ich gemacht habe? Meine Familie beerdigt, meinen Job geschmissen, die Wohnung g-gekündigt, Teller gegen Wände geworfen und mir jeden Tag gewünscht, ihnen bald folgen zu können. Warum musste es die Kl-Kleine erwischen? Warum nicht mich, gottverdammt!“
Seine Augen bekamen einen merkwürdig abwesenden Ausdruck, als suchten sie einen Anker in der Leere des Raums. Sie saßen sich gegenüber und waren doch allein. Dann schreckten sie beide auf, als jemand hinter David trat, ihm auf die Schulter schlug und auf Englisch dröhnte: „Hier steckst du! Ich habe halb Berlin nach dir abgesucht.“ Dabei sah er Anna neugierig an. Es dauerte einen Moment, bis ihr einfiel, wer dieser Mann war: Der Ältere aus dem Aufzug im Regent, der ständig auf ihren Presseausweis gesehen hatte.
„Derek“, sagte David überrascht und fügte dann hinzu: „Was machst du denn hier?“
„Ich war mit Mick downtown unterwegs. Hatten einen Riesenspaß dabei, die Paparazzi abzuschütteln. Jetzt ist er zurück und brezelt sich für die Nacht auf.“ Er wies mit dem Daumen über die Schulter. „Hat was vor heute Abend, irgendein Gothic Schuppen oder so. Er meldet sich, wenn er soweit ist. Ich hatte Hunger, ein Taxifahrer hat mich hier abgesetzt. Und was sehen meine wunden Augen da? Meinen Freund David mit einer reizenden Dame…“
Abermals beäugte er Anna. David stellte sie einander vor.
„Sie kommen mir bekannt vor“, erklärte Derek und schien angestrengt seine Hirnwindungen zu durchkämmen.
„Ich wüsste nicht, d-dass wir uns schon einmal begegnet sind“, gab Anna vor.
„Setz´ dich doch“, sagte David und schob den Stuhl neben sich ein Stück zurück, damit Derek Platz nehmen konnte. „Das Essen ist gut hier.“
„Störe ich euch denn nicht?“
David sah Anna an, die den Kopf schüttelte. Sie war dankbar für die Ablenkung, auch wenn diese sie wie eine kalte Dusche zurück in die Gegenwart gerissen hatte. Derek ließ sich breitbeinig auf dem Stuhl nieder und schlug die Speisekarte auf. Dann sah er hilfesuchend zu Anna. „Ich verstehe kein Wort.“ Der treuherzige Ausdruck seiner Augen wirkte halb gespielt, halb echt und sie übersetzte ihm ein paar Gerichte, bis er sie unterbrach. „Ha, ich weiß jetzt, woher ich sie kenne: Sie waren gestern im Regent. Sie sind eine Reporterin!“ Triumphierend sah er zu David, als wolle er überprüfen, ob er das wusste oder in eine Falle getappt war. Tatsächlich schien dieser einen Moment irritiert zu sein und Anna sah sich gezwungen, das Missverständnis aufzuklären.
„Mist“, sagte Derek dann, „ich könnte ein bisschen Publicity gebrauchen. Wenn ich Glück habe, schlägt der Thriller mit Mick ein like hell und ich bin wieder im Rampenlicht. Aber wer weiß? Ich war ja schon ein paar Mal tot geglaubt und bin wiedergekommen.“ Er straffte die Schultern und grinste.
David klärte Anna darüber auf, dass Derek Schauspieler sei, und zählte ihr Filme auf, in denen er mitgespielt hatte. Anna kannte keinen Einzigen und sein Gesicht hatte sie definitiv noch nie auf einer Leinwand oder im Fernsehen gesehen. Aus Höflichkeit stellte sie sich interessiert. „Das ist b-bestimmt sehr interessant im Filmgeschäft zu arbeiten.“
Derek lehnte sich zurück. „Ganz cool, ja. Alles halb so wild, eigentlich ist es ein Job wie jeder andere: Solange du tust, was dir gesagt wird, pünktlich und gut vorbereitet beim Dreh und zu den Terminen aufkreuzt, ist es easy. Und wenn die Leute mögen, was du machst, bekommst du dafür scads of money. Doch wenn´s gut läuft, ja?, so wie bei Mick im Moment, wühlt jeder Idiot in deiner Mülltonne. Das ist übel - dann kannst du deinen Hintern kaum noch auf der Straße zeigen. Und wenn du es tust, erscheint deine ungeschminkte Visage am nächsten Tag auf mehreren Titelseiten und du erfährst die besten stories über dich. Aber leider nicht nur du, sondern gleich die halbe Welt. Und das ist nicht mehr cool.“ Er strich sich durch die Haare, ehe er fortfuhr: „Am Set wird man ständig herumkommandiert. Manchmal wird die ganze Nacht durchgedreht, und selbst wenn jemand stirbt, der dir nahe steht, wird darauf keine Rücksicht genommen. Es geht nur ums Geld. Money rules the business.“
„Na, das k-klingt ja nicht so toll“, sagte Anna und dachte, dass sie durch diesen Vortrag wenig Neues erfahren hatte.
„Das kommt darauf an, was man möchte. Wenn man reich und berühmt sein und in den teuersten Restaurants sofort einen Tisch bekommen will, ist es der beste Job.“ Derek ließ seine Zahnkronen blitzen, als sein Teller serviert wurde.
„Nun ja, wenn einem das wichtig ist.“
„Sehr richtig“, schloss er zwinkernd und begann schmatzend zu essen. Mit vollem Mund fuhr er dann fort: „Die Rollen können aber auch heftig sein. Ein Folteropfer oder einen Gewaltverbrecher zu spielen zum Beispiel. Da kommt man so schnell nicht wieder raus.“
„Haben Sie einen solchen Part einmal gespielt?“, fragte Anna. Vielleicht wurde es ja nun ein wenig interessant.
„Nee, Freunde von mir. Mir wurden eine Zeit lang nur Schnulzen angeboten. War okay, aber irgendwie langweilig. Der Action-Film mit Mick, den wir gerade promoten, der war richtig fun!“
„Dabei sind sogenannte Schnulzen wichtig. Sie geben den Menschen ihre Träume zurück“, schaltete sich David versonnen ein. Anna versank in diesen Worten wie in einem weichen Bademantel.
Derek kaute hektisch auf seinem Bissen herum und stieß dann hervor: „Haha, das sagt der Mann, der am liebsten ernste, intellektuelle Dramen schreibt!“ Er sah Anna an und zeigte auf David: „Raten Sie mal, wie viele Schnulzen der geschrieben hat! – richtig: keine. Und an dem Actionstreifen mitzuwirken hat er sich ganz schön geziert. Da musste Bruckner ordentlich was springen lassen, nicht wahr?“ Nun sah er David an.
Der zuckte gelassen die Schultern. Dereks Handy klingelte mit einem albernen Klingelton. „Hi Mick“, rief er dann so laut, dass die Leute am Nachbartisch herübersahen. Anna fühlte sich inzwischen benommen von dem schweren Wein und eine wohlige Gleichgültigkeit breitete sich in ihr aus. Sie versuchte Dereks Telefonat nicht zu belauschen, was bei seiner Lautstärke nahezu unmöglich war. Sie schnappte etwas von einem „düsteren Club“ und „Heine“ auf.
„Kommen Sie mit?“, fragte er sie erwartungsvoll, als er sein Gespräch unüberhörbar beendet hatte. „Mick ist ein cooler Typ. Sie werden ihn mögen.“
„Ach, ich weiß nicht.“
„Es wäre schön, wenn Sie mitkommen würden“, pflichtete David Derek bei und sah sie warm an. Das würde den gemeinsamen Abend ausweiten und er wollte gerne mehr über sie erfahren.
Ihre Knie weichten auf und in ihrem Darm flatterte unerwartet ein nervöses Küken. Worauf lief diese Verabredung noch hinaus?