Wellenjahre - Roland Pöllnitz - E-Book

Wellenjahre E-Book

Roland Pöllnitz

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Beschreibung

Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt. Dieses berühmte Goethe-Zitat beschreibt die Gefühle von Stefan, dem Protagonisten dieser Erzählung. Wellenjahre beginnt mit dem Tag des Mauerfalls, sowie der Erschaffung einer neuen Existenz, nicht weit entfernt von der alten Heimat und doch unendlich fern, in einem für ihn fremden System. Voller Offenheit erkundet Stefan diese neue Welt, feiert berufliche Erfolge, reist in aufregende Landschaften und genießt sein familiäres Glück, bis die Gesellschaft ihm die Kehrseite der Medaille zeigt. Eine Seite, die sich seine Fantasie nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausmalen konnte. Jahre voller Gefühle, die ihn wie Wellen in den Himmel hoben und durch die Hölle jagten.

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Das Buch

Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt – dieses berühmte Goethe-Zitat beschreibt die Gefühle von Stefan, dem Protagonisten dieser Erzählung. Wellenjahre beginnt mit dem Tag des Mauerfalls, sowie der Erschaffung einer neuen Existenz, nicht weit entfernt von der alten Heimat und doch unendlich fern, in einem für ihn fremden System. Voller Offenheit erkundet Stefan diese neue Welt, feiert berufliche Erfolge, reist in aufregende Landschaften und genießt sein familiäres Glück, bis die Gesellschaft ihm die Kehrseite der Medaille zeigt. Eine Seite, die sich seine Fantasie nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausmalen konnte. Jahre voller Gefühle, die ihn wie Wellen in den Himmel hoben und durch die Hölle jagten.

Roland Pöllnitz

Zunächst folgte der brave Sohn den beruflichen Vorstellungen seiner Familie und wurde Ingenieur. Erst wurde das Potential seiner Kreativität gefördert, später verlor es sich im Nirvana gesellschaftlicher Dilemmas. Irgendwann folgte ein seelischer und körperlicher Zusammenbruch. Rastlos trieb es ihn vorwärts, vielseitig waren seine Erfahrungen als Bauer, Bauarbeiter, Brauer, Gleisarbeiter, Student, Ingenieur, Forscher, Designer, Gärtner, Fotograf, Programmierer, Unternehmer, Wirt, Ehemann, Vater und Großvater und gesunder Mensch mit einem gesunden Verstand. Ein Drittel seines Lebens hat sich der Autor der Poesie verschrieben, zweit Drittel dem Reisen und der Fotografie und dem Ganzen der Liebe.

Es gibt kein zufälliges Treffen.

Jeder Mensch in unserem Leben ist entweder ein Test, eine

Strafe oder ein Geschenk.

- Theo Lingen -

Ich danke allen Menschen,

die mein Leben

auf ihre Art

bereichert haben

und bitte alle

um Verzeihung,

die ich in meinem Leben

in irgendeiner Form

verletzt habe.

Inhaltsverzeichnis

Wandel

Berge und Meer

Ein Wintermärchen

Das Leben geht seinen Gang

Wenn der Vater mit dem Sohne

Neuorientierung

Kurzschluss

Zurück auf Los

Schiffbruch

Atempause

Vom Regen in die Traufe

Das Ende

Licht

Wandel

Am Abend des 9. November 1989 saß Stefan, wie immer in jenen Tagen, vor dem Fernsehgerät und schaute sich mit gesteigertem Interesse die Pressekonferenz zur Reiseregelung der DDR im Fernsehen an. Günter Schabowski beantwortete die Fragen der internationalen Presse. Die DDR würde ihre Grenzen in Kürze öffnen. So trug er den Text der neuen Reisereglung stammelnd und konfus live im DDR-Fernsehen vor und erklärte, die neue Regelung gelte »ab sofort, unverzüglich«. Schabowskis Information entfaltete unmittelbar danach seine ganze Sprengkraft.

Ungläubig schaute Stefan in die Röhre. Wahnsinn, das konnte doch nicht wahr sein! Wenig später staunte er mit offenem Mund, was sich in Berlin abspielte. Auf einmal war möglich, was vorher undenkbar schien. Er fühlte sich, als würde er schweben, als bekäme er Flügel und könnte einfach so über die Grenze flattern wie ein Schmetterling.

Als seine Frau Martina vom Sport zurückkam, umarmte er sie, lachte und sagte: »Nächste Wochen können wir alle zu Oma fahren!«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Nein, schau dir diese Bilder an!«, sprach er und zog sie vor die Bildröhre, wo gezeigt wurde, wie Menschen in Scharen an die Grenzübergänge strömten. Dem Chef der Passkontrolle an der Bornholmer Straße in Berlin blieb in dieser Nacht nur die verhängnisvolle Wahl: Grenzen öffnen oder schießen lassen. Für ein paar Stunden schienen alle Gesetze außer Kraft zu sein. Es herrschten Improvisation und Spontaneität statt Kontrolle und Gehorsam. Kurz nach Mitternacht standen bereits alle Grenzübergänge in Berlin offen. Die Menschen brachen in Freudentränen aus und lagen sich jubelnd in den Armen. Am Brandenburger Tor stiegen Ost- und Westberliner auf die Mauer, tanzten und feierten stundenlang. Diese Nacht wurde zum größten Freudenfest in der deutschen Geschichte.

Am nächsten Morgen, einem Freitag, erschien ein Großteil seiner Kollegen nicht zur Arbeit. Die große Freude, das Glück und vielleicht auch die Angst, dass alles ein Irrtum gewesen sein könnte, hatte sie umgehauen oder in den Westen getrieben, um das Begrüßungsgeld zu verprassen oder gleich dort zu bleiben. Der Jubel hatte die Ost-West-Grenze überwunden. Ostern und Weihnachten fielen auf einen Tag. Tausende standen an den Polizeirevieren, um sich einen Stempel in den Ausweis drucken lassen, um in den Westen reisen zu können. Fahren war in diesen Tagen eher übertrieben. Eher stehen, denn es gab kilometerlange Staus auf den Autobahn in Richtung Westen, die bereits auf der Magdeburger Tangente begannen. Und wer dann irgendwann die 40 km Autobahn von Magdeburg nach Marienborn geschafft hatte, stand wieder an der Grenze. Jubelnd wurden sie empfangen, hupend erwiderten die Trabbi- und Wartburgfahrer die freundlichen Grüße.

Drei Wochen später reisten Stefan, Martina und ihr Sohn Benjamin mit dem Zug nach Kirchweyhe bei Bremen zur Oma. Was freute sich die weißhaarige Greisin, ihren Enkel nach so kurzer Zeit bereits wiederzusehen.

Stefan hatte aus Jux und Dallerei im Sommer einen Antrag auf eine Besuchsreise gestellt, um seine Oma im Oktober zu ihrem Geburtstag zu besuchen und bekam diese erstaunlicherweise genehmigt. Am Vorabend des Geburtstages seiner Oma verkündete BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreisegenehmigung für Tausende DDR-Flüchtlinge. Damals konnte Stefan überhaupt nicht verstehen, warum all die Menschen in den goldenen Westen wollten. Stefan hatte immer noch die Hoffnung, dass sich die DDR mit Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) nach den Vorschlägen des russischen Politikers Michael Gorbatschow verändern könnte. Er hatte die Bücher Gorbatschows mit großem Interesse gelesen und hoffte, dass sich der Sozialismus in eine völlig neue Richtung bewegen würde, denn er war der festen Überzeugung, dass das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft nur erreicht werden könnte, wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen und offen über alles gesprochen wird. Vor allem sollte es darum gehen, gemeinsam darüber zu reden, welche die wirklich wichtigen Dinge es im Lande gibt und wie man sie angeht. Ein Partei oder einzelne Experten konnten nicht immer richtig liegen, zumal manche Parteiführer nicht mehr wirklich wussten, wie das Volk dachte und lebte.

Stefan hatte Erich Honecker einen Brief geschrieben und ihm einige Fragen gestellt. Er schrieb zum Beispiel: Die persönliche und gesellschaftliche Zeitverschwendung, die durch Anstehen, Warten auf Ämtern und Behörden oder auf der Suche nach Konsumgütern auftritt, nimmt unvertretbare Ausmaße an. Mangelware wird hauptsächlich unter dem Ladentisch verkauft... Wie kommt es, dass nicht nur in volkseigenen Betrieben, sondern auch in Einrichtungen des Handels, der Dienstleistungen und der Medizin sich eine Art Scheu vor der Arbeit ausbreitet, dass das Motto lautet, durch wenig tun, an viel Geld zu gelangen, dass es Geschäftemacher gibt, die sich durch legalen oder illegalen Handel an einem Tag mehr als das Jahresverdienst einer ehrlich arbeitenden Familie ergaunern? Offenheit und sachliche Kritik statt geistiger Onanie müssen in unserer Presse herrschen. Auch in der Politik ist Ehrlichkeit ein Resultat der Stärke, Heuchelei ein Resultat der Schwäche. Im August 1964 erhielt der damalige Industrieminister Kubas, Ernesto Che Guevara, für 240 freiwillige Aufbaustunden im Quartal die Urkunde »Aktivist der kommunistischen Arbeit«. Ob es solche Minister noch gibt? Eine interessante und wichtige Frage ist – machen wir unsere Arbeit richtig? Bei einiger Überlegung kommt darauf, dass die passendere Frage lauten muss: Machen wir die richtige Arbeit? Am 5. Januar 1927 erfolgte die Grundsteinlegung der Magdeburger Stadthalle, die nach dem Willen ihres Schöpfers nahezu 5000 Besuchern Raum bieten sollte. Nach viereinhalb Monaten des gleichen Jahres fand am 29. Mai die Schlüsselübergabe statt. Wie haben die damaligen kapitalistischen Baubetriebe das schaffen können?... Es gab einige, die mir von diesem Brief abgeraten haben. Sie befürchtete für mich und den Betrieb negative Auswirkungen. Es liegt nicht in meiner Absicht, jemanden in die Pfanne zu diffamieren, aber die Partei selbst fordert dazu auf, kritisch und selbstkritisch mit Ursachen für Hemmnisse und Mängel in der Arbeit auseinanderzusetzen und dafür mit Beharrlichkeit zu sorgen, dass unabdingbare Veränderungen mit dem fälligen Resultat herbeigeführt werden. Das versuche ich.

Ein Jahr später, im November 1989, schrieb Stefan in einem weiteren Brief an die Parteiführung: »Vor über einem Jahr schrieb ich einen Brief an das Politbüro mit kritischen Bemerkungen, die heute von jedermann ausgesprochen werden. Die Reaktion darauf war für mich erschütternd. Als Ergebnis gab es ein Gespräch mit führenden Genossen des Zentralkomitees, der Bezirksleitung und der Betriebsleitung. Meine in diesem Brief geäußerten Gedanken wurden in den meisten Fällen als falsch und unvollständig zurückgewiesen. Mir wurde Unkenntnis der politischen Zusammenhänge und Realitäten vorgeworfen. Der Stil meiner Kritik sei gegenüber dem alten Politbüro anmaßend und frech gewesen.

Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung war, dass ich mich in einer produktionsnahen Tätigkeit bewähren sollte. Wenig später eröffnete mir der zuständige Betriebsleiter, dass ich mit sofortiger Wirkung zum Schichtleiter befördert sei. Er versuchte mir einzureden, wie wichtig diese Tätigkeit sei und dass bei meiner Weigerung ein Parteiauftrag ausgesprochen werden könnte. So willigte ich nach langem hin und her ein. Vom ehemaligen, durch die Bezirksleitung bestätigten, Nachwuchskader zum Nachtwächter der Produktion ging es sehr schnell. Die mit meinem Brief in Zusammenhang stehenden Diffamierungen breiteten sich rasend schnell über den ganzen Betrieb aus. Weil mein vertrauensvoller Brief an das Politbüro auf Dienstbesprechungen von verschiedenen Abteilungen des Betriebes zerrissen wurde und böswillige Gerüchte über mich im Betrieb verbreitet wurden, verließ ich den Betrieb letztendlich.

Heute bin ich Abteilungsleiter für Planung von Wissenschaft und Technik in einem anderen Magdeburger Betrieb. Nicht mehr lange werde ich diese Funktion ausüben können, denn einige Tätigkeiten meiner Abteilung konnten durch die Nutzung moderner PC-Technik rationalisiert werden. Ich denke, durch die Wirtschaftsreformen werden viele statistische Tätigkeiten wegfallen. Deshalb werde ich mich bemühen, meine jetzigen Kenntnisse auf dem Gebiet der Rechentechnik zu vertiefen. Das soll mein Beitrag zur Effektivitätssteigerung des Betriebes sein.«

Da nach der Grenzöffnung in jenem Betrieb Gerüchte aufkamen, dass ein großer westlicher Konzern dieses Produktionsstätte kaufen wollte und die kleine Forschung, wo er wirkte, schließen sollte und die Produktion auf Ersatzteile beschränkt werden sollte, war Stefan fest entschlossen, sich neu orientieren.

So freuten sich die Besucher nicht nur über die Oma und ihre Liebenswürdigkeiten, sondern auch über die Chance, Auskünfte zu einer Übersiedlung einzuholen. Stefan würde erst alles auskundschaften, eine Arbeit und eine Wohnung suchen. Wenn das alles umgesetzt wäre, wie sie sich das vorstellten, könnte die Familie im Sommer nachkommen. Mit einem eingetragenen Wohnsitz bei seiner Oma, könnte er sofort auf Arbeitssuche gehen. Er müsste sich also nur im Rathaus anmelden.

So ließen sich die drei Besucher ein langes Wochenende von der herzensguten und großzügigen Oma verwöhnen, besuchten die Tante in Minden und fuhren mit Taschen voller Geschenke zurück nach Magdeburg.

Voller Enthusiasmus wurden die nächsten Wochen zur Planung genutzt und die Papiere und Zeugnisse zusammengesucht und Gespräche geführt, denn im Januar sollte seine Übersiedlung stattfinden.

Fast jeder Mensch verspürt den Wunsch, seiner inneren Stimme zu folgen, sich zu entwickeln, um etwas aus seinem Leben zu machen. Stefan wünschte sich Klarheit und Mut. In der Vergangenheit gab es oft diese dämonische innere Stimme, die ihm aus Angst oder aus Bequemlichkeit zurückhielt. Diesen lähmenden Teil seiner Persönlichkeit, der lieber an fälschlichen Sicherheiten, an der vertrauten Situation festhielt und litt, hatte sich in diesen Tagen von ihm verabschiedet. In seinem inneren Kampf zwischen der Sehnsucht nach Veränderung hatte die Sehnsucht gesiegt. Seine Vorfreude war grenzenlos und seine Lebensenergie unerschöpflich.

Zwei Tage vor der Abfahrt eröffnete ihm sein Bruder Christian, dass er ihn in das neue Leben begleiten wollte. Großartig! Er hatte einen Trabbi. Aufgeregt packten sie am Vorabend des 5. Februar die notwendigsten Sachen und wichtigsten Papiere ein. Was fühlt man, wenn man ins Unbekannte aufbricht?

Neugierde? Zuversicht? Mut? Alles - gepaart mit ein wenig Ängstlichkeit.

Es war ein Montag, als sein Bruder den Motor anließ und dieser einmalige Klang ertönte, denn durch die Luftkühlung konnten die Motorgeräusche seines Trabbis, ohne von einem Wassermantel gebremst zu werden, nach außen gelangen. Dort vermischen sie sich mit dem Pfeifen des Lüfters. Die beiden tuckerten los über Tangente zur Autobahn nach Helmstedt. Der charakteristisch knatternde Zweitakter war nicht zu überhören und erreichte mit seinen 26 PS eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h. Es war, als folgten die beiden Reisenden einer ewig langen Karawane, die aufgehende Sonne im Rückspiegel. Ohne Probleme passierten sie die bis vor kurzem streng bewachte Grenze in Marienborn. Dort konnten sie das mulmiges Gefühl nicht auslöschen, vielleicht doch heraus gewunken, durchsucht oder verhaftet zu werden. Dieser Grenzübergang hatte eine lange Geschichte. Was zunächst ein normaler Grenzübergang war, wurde nach und nach zu einem Bollwerk ausgebaut. Spätestens Anfang der 70er-Jahre entstand eine regelrechte Festung aus Beton-Sperren, Schranken und Stacheldraht. Die beiden waren froh, als sie diese Festung passiert hatten.

Die Zwei schnurrten weiter über die Autobahn nach Hannover, bogen dort nach Norden ab und folgten ab dem Walsroder Dreieck der Bahn nach Bremen. Nach knapp drei Stunden standen sie im Eingang der Veranda ihrer Oma, die dort saß und Zeitung las. Ihr verdutztes Gesicht ist Stefan noch heute in Erinnerung. Die Oma freute sich wie verrückt über ihre Jungs, sprang auf und kochte den beiden einen Kaffee.

Noch vor dem Mittagessen fuhren die beiden zum Rathaus nach Leeste, um sich dort anzumelden. Stefan telefonierte mit Herrn Schulz, einem Mitarbeiter des Arbeitsamtes, in Syke. Dieser lud die beiden sofort zu sich ein, nahm ihre Daten in den Computer auf und übergab ihnen den Antrag auf Arbeitslosengeld. Christian bekam gleich drei Stellenangebote als Lkw-Fahrer. Herr Schulz bedauerte ihnen mitteilen zu müssen, dass die beiden trotz allem nach Hannover müssten, um dort das Eingliederungsverfahren einzuleiten. Das wäre Bedingung für das Leben im Westen. Außerdem benötigte Stefan noch die Anerkennung seines Diploms vom Niedersächsischen Kultusministerium. Der Arbeitsvermittler war so freundlich wie optimistisch und er bot den beiden an, beim Antrag auf Arbeitslosengeld behilflich zu sein, und sagte ihnen, welche Unterlagen notwendig wären.

Am gleichen Tag ließen die beiden noch Passbilder machen, besorgten ausreichend Schreibpapier und eine Schreibmaschine vom Schwager der Oma und machten Kopien von den wichtigsten Papieren, um sofort beim Minister für Wissenschaft und Kunst die Anerkennung des Diploms zu beantragen. Für das Eingliederungsverfahren bekamen sie einen Termin Ende Februar. Stefan schrieb am selben Tag noch zwei Bewerbungen. Christian konnte sich am gleichen Tag vorstellen.

Gut, dass die Oma noch ein Zimmerchen mit zwei Betten hatte. So kamen die beiden Enkel gut unter. Abends im Bett verspürte er eine tiefe Sehnsucht nach seinen Lieben, denn zum ersten Mal war Stefan von seiner Familie getrennt. Ein eigenartiges Gefühl von Leere machte sich in seinen Nächten breit, am Tage dagegen gab es genügend zu tun. Bereits am ersten Wochenende renovierten die beiden Brüder den Korridor von Omas Wohnung. Die Oma selbst expedierten sie zur Freundin zu Kaffee und Würfelspiel.

Am Montag danach eröffneten die beiden bei der Bank ein Konto. Sie hatten zwar nichts zum Einzahlen. Aber Haben war besser als Brauchen. Christian begann zwei Tage später seine Tätigkeit als Lkw-Fahrer.

Hellhörig verfolgten viele Bundesbürger die öffentliche Debatte darüber, wie der Zustrom aus der DDR vermindert werden könne. Sorgenvoll wurden die Zuzugszahlen addiert und hochgerechnet. 1989 kamen knapp 343.854 Übersiedler aus der DDR, dazu Aussiedler aus Osteuropa und Asylbewerber aus aller Welt.

Der Bremer Senator Henning Scherf fürchtete bereits, dass es in Deutschland bald Großstadtkriege wie in den USA geben würde. Selbst führende Unionspolitiker, die bislang standhaft in Verwandtenliebe machten, begannen sich zu sorgen. Bei einem anhaltenden Massenzuzug breche nicht nur in der DDR alles zusammen, auch im Westen drohe das schönste Chaos.

An so manchen Abend trieb Stefan die Sehnsucht nach seinen Lieben ans Telefon. Dann durfte er die Wählscheibe des Telefons wiederholt und mehrfach drehen. Das Tastentelefon, obwohl es bereits 1955 entwickelt wurde, stand noch nicht zur Verfügung und eine Wahlwiederholung gab es auch nicht. Vom vielen Wählen taten ihm die Finger erheblich weh, abgesehen vom Zeitaufwand. Oft waren die Leitungen wegen Überlastung besetzt. Was hatte er sich bemüht, um endlich eine Verbindung zu bekommen, und dann brach sie öfter einmal zusammen. Man konnte auch mitten in einem anderen Telefonat landen und vielleicht als Dritter an dem Gespräch teilnehmen. Oder man hatte selbst noch einen anderen stillen Mithörer. Manchmal erkannte man das an einem plötzlichen Knacken. Dass abgehört wurde, wussten Stefan. Nach zwei, drei Stunden brachte er dann doch eine Verbindung zustande.

Knapp einem Monat später war Routine eingekehrt. Christian erfreute sich daran, einen Lkw zu fahren. Die Oma ging ihrer Beschäftigung nach: Treffen mit Freunden, Kaffee trinken, spielen, kochen, Physiotherapie. Gut, dass Stefan ein ruhiger Zeitgenosse war, denn manchmal hätte auch er seine Oma nach ihren Gängelungen zum Mond schießen können. Er und sein Bruder waren keine kleinen Kinder mehr. Grundsätzlich waren der Oma andere Meinungen verpönt. Sie schnappte sofort ein wie ein kleines Kind. Besuch ist Besuch, da lässt sich alle viel einfacher ertragen. Man sagt nicht umsonst: Dreitägiger Fisch taugt auf keinem Tisch. Und dreitägiger Gast wird einem oft zur Last. Und die beiden waren nun schon einen Monat bei Oma zu Gast. Stefan fehlte es, unter Menschen zu sein. Er hatte das Gefühl, allein etwas zu verblöden. Stillen Tage folgten schlaflose Nächte mit dem Gefühle der inneren Leere und fehlender Liebe. Es machte ihn zudem sehr traurig, nicht beim Geburtstag seiner Liebsten zu sein.

Mitte März stand Martina überraschend in der Tür. Stefans Freude war überwältigend. Damit hätte er nie gerechnet. Es war ein wunderschöner Nachmittag zu zweit und das Wetter verschönerte diesen noch mehr. Es war traumhaft, Hand in Hand wie ein jung verliebtes Paar, spazieren zu gehen. Und waren sie nicht auch jung und verliebt? Durch ihre Trennung schien die Liebe zu wachsen, nahezu aufzublühen. Ging es nur ihm so? Oder auch ihr?

Als er sich am Abend bei einem Glas Wein an sie kuschelte, wünschte er sich sehr, allein mit ihr zu sein. Doch kaum hatte ihre Begegnung begonnen, war sie auch schon wieder vorbei. Er konnte ihr Zusammensein noch um ein paar Augenblicke verlängern, in dem er seine Liebste bis Bremen begleitete, doch dann trennten sich erneut ihre Wege.

Zu Beginn der Aprils brachte Stefan Omas Garten auf Vordermann. Er grub um, hackte und harkte, säte Petersilie, Erbsen, Möhren, Radieschen, Salat und Blumen. Die restlichen Beete bereitete er für Gurken, Bohnen und Kartoffeln vor.

In der Woche darauf hatte Stefan zwei Vorstellungsgespräche. Eines verlief außerordentlich vielversprechend. Nachdem der Geschäftsführer mit Stefan gesprochen hatte, stellte er ihn bei Mercedes Benz dem Leiter der Einrichtungsplanung vor. Hier sollte er wirken und dem Team behilflich sein, alle anstehenden Aufgaben umzusetzen. Nachdem alle mit der Qualifikation und der Person Stefans zufrieden waren, wurden Nägel mit Köpfen gemacht.

Sicherlich hörte Martina den Stein, der ihm vom Herzen fiel, auch in Magdeburg plumpsen. Seine Stimmung auf der Heimfahrt war so himmelhochjauchzend. Er wurde derartig von freudigen Emotionen überrollt, dass ihm die Tränen kamen. Er konnte es kaum fassen. Ab dem 2. Mai würde er nun sein Wissen und Können Mercedes Benz zur Verfügung stellen. Mit dem Vertrag in der Hand, konnte er nun die nächsten Schritte wagen: ein Auto und eine Wohnung.

Anfang Mai fuhr Stefan zunächst mit der Bahn von Kirchweyhe etwa eine halbe Stunde nach Bremen Hemelingen und ging dann zu Fuß noch einmal eine halbe Stunde vom Bahnhof bis zum Werk. Noch stand sein fabelhaft gebrauchter Ford Escort in der Föhrenstraße und wartete auf seine Abholung.

Am ersten Tag stellten Stefans Geschäftsführer und der Leiter der Einrichtungsplanung ihn allen Kollegen vor. Sein erster Ansprechpartner war Helmut Petersen. Er meinte sofort, Stefan könne Helmut sagen. Helmut nahm Stefan mit in die Halle der Endmontage der C-Klasse, einem Mittelklassemodell dieses Hauses. Gemeinsam marschierten sie durch die Halle, wo auf die Fahrgestelle die Karosserie montiert wurde, die gesamte Elektrik eingebaut, der Motor, die Sitze bis zum fertigen Fahrzeug. Alles war für Stefan Neuland und hochinteressant. Helmut stellte ihm die zuständigen Meister vor und sagte dann zu ihnen, dass sie sich getrost an Stefan wenden könnten, wenn es irgendwelche Anliegen gäbe. Bei dieser Gelegenheit trafen die beiden auch auf den ein oder anderen Zulieferer, der die Lösungen für die Anliegen der Mitarbeiter bereitstellten. Alles war sehr kommunikativ, so wie Stefan es aus seinem alten Arbeitsumfeld kannte.

Am Nachmittag saßen die beiden zusammen und besprachen, wie es in den nächsten Tagen weitergehen sollte.

»Wenn du morgen etwas früher hier bist, dann können wir als erstes durch die Halle gehen und abfragen, welche Probleme es an den einzelnen Bändern gibt«, sagte Helmut zu Stefan.

»Was heißt für dich früher?«

»Um kurz vor sechs mache ich die Kaffeemaschine an, während sie blubbert, gehe ich in die Halle.«

»Das passt mir gut. Ich habe in Magdeburg auch gern vor allen anderen mit der Arbeit angefangen. Da schafft man oft mehr als den ganzen Tag. Wenn ich eine Bahn eher fahre, bin ich kurz vor sechs hier«, antwortete Stefan.

»Hast du kein Auto?«

»Das Auto kann ich am Freitag abholen. Bis dahin nutze ich die Bahn. Ich hoffe, sie ist pünktlich!«

Helmut lachte: »Der norddeutsche Winter ist vorbei.«

»Gut, dann sehen wir uns morgen um sechs.«

»Und denke daran, wir haben hier Gleitzeit. Das heißt, wenn wir ums sechs beginnen, haben wir umso früher Feierabend.

Da hat man noch etwas vom Tag«, zwinkert Helmut ihm zu.

Am nächsten Tag lernte Stefan die Montage noch näher kennen. Ganz am Anfang wurden die leeren Karossen automatisch an einzelne Arbeitsplätze gefahren, wo man die die Kabelbäume und die Verkabelung je nach Bestellung einbaute. Dann der Cockpiteinbau. Oder war es umgekehrt?

Danach folgte die Innenausstattung. Später wurden die Achsen montiert. Darauf erfolgte die Hochzeit des Motors mit der Karosserie. Nun fehlten noch die Scheiben, Spiegel und ein paar Extras, bevor das Finish erfolgte. Stefan lief staunend die Bänder entlang und hörte Helmuts Erklärungen wissbegierig zu. Die ersten Stunden und Tage waren so mit Informationen zugepackt, dass es Stefan nahezu schwindlig wurde.

Stefan war so aufgeregt und ein bisschen ängstlich, als er sein Auto am Mittag des 4. Mai abholen wollte. Er hatte ein wenig Bammel wegen des Berufsverkehrs, denn er war seit einigen Jahren nicht mehr gefahren. Als er beim Autohändler ankam, wurde ihm offenbart, dass es noch dauern würde und er am Samstagvormittag noch einmal kommen müsste. Am Samstag hatte Christian Zeit, ihn zum Autohändler zu fahren. Dort waren alle Papiere fertig. Stefan fuhr zur Sicherheit vorneweg nach Kirchweyhe, sein Bruder hinterher. Alles lief großartig.

Die folgende Woche war angefüllt mit Arbeit. Stefan fuhr nun mit dem Auto zum Werk, kurz nachdem die Frühschicht von den Straßen war. Da klappte hervorragend. Helmut war immer der Erste. Er hatte grad die Kaffeemaschine angemacht. Dann radelten die beiden zur Halle, sahen nach dem Rechten und nahmen Aufträge von den Meistern entgegen. Zurück aus der Halle gab es erst einmal Kaffee. Danach wurde mit den Zulieferern besprochen, wie das, was die Meister haben wollten, auszusehen hätte und was es kosten sollte.

Nach Feierabend hat Stefan eine Wohnungsanzeige im Heißen Draht veröffentlicht und beim Finanzamt die Steuereinstufung korrigiert. Da die Mieter in Omas Haus die Tageszeitung bekamen, bat Stefan darum, jeden Morgen kurz in den Anzeigenteil zu schauen. Dort selbst eine zu veröffentlichen, war ihm zu teuer.

Nach dem Motto »Freitag ab eins macht jeder Seins« fuhr er direkt vom Werk auf die Autobahn in Richtung Magdeburg. Noch fehlte Stefan die nötige Lockerheit beim Fahren, so dass er sich sehr konzentrieren musste. Als es etwas ruhiger war auf der Bahn, fiel ihm Jack Kerouacs »On the road ein«. Und er wünschte sich, wie der Romanheld, Dean Moriarty, im Rausch über lange, weite, verkehrsarme Straßen quer durch die Welt zu fahren und stundenlang Genesis und Yes zu hören, zu lachen, das Leben in allen Facetten einzusaugen und wie ein Adler in den Lüften frei zu sein.

In jenen Jahr nutzten viele Fahrzeuge die A2, um von West nach Ost und Ost nach West zu gelangen. Baustellen waren in dieser Zeit gang und gäbe, was zu zahlreichen Staus führte. Auf der A2 hatte der Güterverkehr zudem stark zugenommen, was zur Bildung von Staus nicht nur am Wochenende, sondern auch unter der Woche beitrug. Stefan hatte Glück, er erreichte dieses eine Mal ohne Stau die alte Heimat.

»Hallo, Papa, das neue Auto sieht toll aus«, freute sich Benjamin, »Darf ich mich einmal hineinsetzen?«

»Komm her, mein Großer, erst einmal umarmen, dann probesitzen. Das ist ein Escort 1.3 C 5-Türer, sparsam und mit einem Hauch von sportlichem Komfort, Grün Metallic mit Heckspoiler. Der geht ab wie Luzi», lachte Stefan und umarmte erst seinen Sohn dann seine Liebste.

»Endlich!«, flüsterte sie: »Endlich bist du da, mein Schatz!

Schön grün sieht er aus und auch noch mit Heckspoiler!«

»Papa, fahren wir eine Runde?«, bettelte Benjamin.

»Nachher, mein Lieber, lass mich erst einmal ankommen. Ich habe euch auch etwas mitgebracht«, lachte der Vater.

Während Stefan die Taschen nach oben trug, erzählte er, wie er die letzte Woche auf der Arbeit verbracht hatte.

»Mama hat etwas Leckeres gekocht«, verriet Benjamin.

»Da bin ich aber neugierig, mein Schatz!«, sagte Stefan. »Das riecht aber gut. Was gibt es denn?«

»Spargel und Schnitzel«, lächelte Martina.

»Soll ich dir was sagen? Ich könnte ein ganze Pferd verschlingen!«, lachte Stefan und wieherte fröhlich.

»Ihr beiden könnt schon einmal den Tisch decken. Ihr habt sicher viel zu erzählen, während ich das Essen koche«, sagte sie und bereitete in der Küche das Essen.

»Schau einmal, was ich dir mitgebracht habe«, rief Stefan und übergab seinem Jungen eine Schachtel.

Aufgeregt packte Benjamin das Päckchen aus. »Sind das alles Mercedes?«, fragte er seinen Vater.