Wenn das Volk sich erhebt - Gero von Randow - E-Book

Wenn das Volk sich erhebt E-Book

Gero von Randow

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Beschreibung

Die Zeit der Revolutionen ist nicht vorbei Warum ist es so ein besonderer, geradezu erhabener Moment, wenn das Volk sich erhebt, auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder auf dem Maidan in Kiew? Warum begeistern wir uns für Revolutionen, auch wenn wir wissen, dass sie ihre eigentlichen Ziele nicht erreichen, niedergeschlagen oder verraten werden – meist von den Revolutionären selbst? In seinem packend geschriebenen, sehr persönlichen Buch schildert von Randow sein Erleben von Revolutionen und geht der Frage nach, ob sie noch ein Zukunftsmodell sind. Seine Antworten sind hochaktuell und überraschend. Vor 100 Jahren siegte die russische Oktoberrevolution. Und vor 50 Jahren glaubte eine ganze Generation junger Leute, es sei wieder die Zeit der Revolutionen gekommen. Was blieb davon? Nur Resignation? Und was ist das überhaupt – eine Revolution? Dem Autor wurde im Jahr 2011 Anschauungsunterricht erteilt, als er Augenzeuge der tunesischen Revolution wurde. Seine These: Revolutionen kommen unversehens. Und doch lassen sich Muster erkennen. Der Blick des Autors richtet sich auf den amerikanischen Kontinent, auf West- und Osteuropa, Afrika und Asien. Er durchstreift die Jahrhunderte, von den aufständischen Sklaven des Altertums über die Revolutionäre von 1789 und die kommunistische Weltbewegung bis zu den Rebellen der Gegenwart, immer auf der Suche nach Tatsachen und Ideen, die das ungewöhnlichste, facettenreichste Phänomen der Geschichte erhellen können, die Revolution.

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Seitenzahl: 326

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GERO VON RANDOW

WENN DAS VOLK SICH ERHEBT

SCHÖNHEIT UND SCHRECKEN DER REVOLUTION

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über GERO VON RANDOW

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortKapitel 1 Ein persönliches Kapitel: Warum ich dieses Buch geschrieben habeDas Parfüm der RevolteIrreale RealpolitikWidersprüche und wie man sie verdrängtKein Thema von gesternUnd deshalb dieses BuchKapitel 2 Annäherung an einen BegriffDas Gegenteil der LangeweileDie Letzten werden die Ersten seinAlgerische MelancholieNicaraguanische MelancholieFührer und GeführteEin vorläufiger RevolutionsbegriffKapitel 3 Pantheon der Revolutionäre I: Weltbürger, Jugendliche, AktivistinnenVictor Serge, der tragische WeltbürgerSchießübungen und Machtfantasien»Wir sind noch neu«Mein afghanischer FreundWie Olfa eine Revolutionärin wurdePussy Riot rules!Die Gazelle, die eine Löwin istKapitel 4 Pantheon der Revolutionäre II: Berufsrevolutionäre, Banditen, AnarchistenLouise Michel, genannt die »rote Witwe«Bakunin, der rastlose RieseChe Guevara, tragische FigurAbdel Hafed Benotman, Verbrecher, Rebell und SchriftstellerStehlen, plündern, Banken überfallenRevolutionskommunenVon der Zarenmörderin Sofja Perowskaja bis zu Ulrike MeinhofErich Mühsam, der zartfühlende AnarchistKapitel 5 Ideen, Motive und VorwändeDie Revolution der WürdeDie maoistische KulturrevolutionDie leuchtende ZukunftDie Welt verbessern – oder sie retten?Kapitel 6 Die Revolution sprichtLosungen, Parolen, SlogansKapitel 7 Masse und KlasseRevolutionäre KlassenDer MobDas Land kreist die Stadt einGesucht: das revolutionäre Subjekt»Besorgte Bürger«Kapitel 8 DetonationAufstand in der UkraineSturm auf die BastilleKapitel 9 DramaturgieDeutsche Revolution 1918/1919»In Hamburg fiel der erste Schuss«Ein Revolutionär wider WillenDer Pariser Mai 1968Wie soll man die revolutionäre Macht sichern?RäterepublikenDen alten Staatsapparat zerschlagen?Die Revolution frisst ihre KinderThermidorNoch ein Sonderfall: die deutsche Revolution von 1989Kapitel 10 KonterrevolutionRevolutionärer Völkermord?Kapitel 11 Weltrevolution»We Shall Fight, We Will Win. Paris, London, Rome, Berlin«Winnetou ist ChristWidersprüche revolutionärer AußenpolitikKapitel 12 Kain und Abel»Schafft zwei, drei, viele Vietnam!«»Mit dem Feuer, mit dem Gift, mit dem Dolch«Der bluttriefende neue MenschJean Paul Marat: Größenwahn und NützlichkeitKapitel 13 War es das wert?Gibt es ein Vorwärts?»… würdig bis zum Ende!«Kapitel 14 Und sie bewegt sich doch: Über die Aktualität der RevolutionViva Zapata!Ein prozessualer RevolutionsbegriffDer große Treck von BudapestDie neue reaktionäre Internationale»Der kommende Aufstand« – wirklich? Und wo?Epilog: Im PuppenkabinettDie revolutionäre MumieSkizze für ein anderes Buch
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Für Sigrid

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Vorwort

Vor 100 Jahren, im Jahr 1917, siegte die russische Oktoberrevolution.

Die Revolution! Ein großes Wort. Es hat seine Anziehungskraft nicht verloren. Es gehört zu den meistbenutzten politischen Begriffen. Im Sommer 2016 hat es gar ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat zu seinem Schlüsselwort gemacht, und zwar allen Ernstes: der US-Senator Bernie Sanders, mit 75 Jahren, umjubelt von jungen Leuten.

Anders als Wörter wie »Kaiser« oder »Proletariat« zeigt das Wort »Revolution« nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Auf ungewisse, womöglich turbulente Zeiten, die noch kommen werden.

Ist das jetzt Optimismus oder Pessimismus? Es ist Realismus. Die Revolution ist schon so oft für tot erklärt worden, dass man mit ihrem Weiterleben rechnen sollte.

Revolutionen sind erhabene Ereignisse. Menschenmassen ziehen durch die Straßen, füllen Plätze, stürmen Gebäude, stürzen Machthaber, machen Geschichte. Das ist noch keine Definition, sondern nur eine Beschreibung, die aber auf einen Wesenszug hinweist: Revolutionen sind Gefühlsereignisse (weshalb dieses Buch auch ein emotionales Buch ist). Die revolutionären Massen empfinden Hass und Liebe zugleich. Und je größer der Widerstand gegen die Revolution, desto tiefer empfinden die Revolutionäre Hass und Liebe. In Revolutionen bewegen sich nicht nur die Gedanken, sondern auch die Körper, deswegen sind, ja deswegen müssen sie emotional sein. Sie sind konkret und nicht abstrakt. »Strukturen gehen nicht auf die Straße«, lautete ein geflügeltes Wort der Rebellen im Pariser Mai 1968, ein anderes: »Revolutionen sind Feste oder sie sind nicht«.

Die anstürmende Revolution ist ein Gefühlserlebnis, ihr Scheitern ist es allerdings auch. Wie der »arabische Frühling«. Weitere Wechselbäder von Euphorie und Depression stehen bevor, da bin ich mir sicher. Erst Enthusiasmus, dann Katzenjammer. Zwei sehr unterschiedliche Emotionen, nicht nur wegen des positiven und des negativen Gehalts, sondern weil die Begeisterung stets ein kurzlebigeres und intensiveres Gefühl ist als die Enttäuschung. Begeisterung reißt mit, Enttäuschung zieht herab.

Berühmt geworden sind die Worte, mit denen Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Wirkungen der Französischen Revolution von 1789 auf die Gemüter der Zeitgenossen beschrieb: »Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.«[1] Danach landeten die Schwärmer wieder auf der Erde.

 

Diese emotionale Eigenschaft von Revolutionen hat eine weitreichende Folge: Sie bleiben lebendig. Romane, Gedichte, Lieder, Bilder, Filme geben die Gefühlserlebnisse über Generationen weiter, mehr noch, diese hochemotionalen Erlebnisse werden wiederholt, aktualisiert, noch einmal empfunden.

Revolutionen sind Gemeinschaftserlebnisse. Gemeinschaftliche Befreiungsakte und, leider, oft auch gemeinschaftlich begangene Grausamkeiten.

Ihre Schönheit: Das ist der dramatische Moment der Befreiung. Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse, Vaterfigur rebellierender Studenten, schrieb im Jahr 1969 in seinem »Versuch über die Befreiung«, sie sei »nur als die Weise denkbar, in der freie Menschen (oder vielmehr Menschen, die praktisch dabei sind, sich selbst zu befreien) ihr Leben solidarisch gestalten und eine Welt aufbauen, in welcher der Kampf ums Dasein seine häßlichen und aggressiven Züge verliert«.[2]

Eine umfassende Transformation der Gefühle. An die Stelle individuell empfundener Verzweiflung tritt das Erleben gemeinschaftlicher Stärke; »alle kämpfenden Kollektive kennen diesen Moment der katastrophischen Erregung, des intensiven Glücks, mag es auch vergänglich sein, das der Entdeckung der eigenen Kraft nachfolgt, einer Kraft, derer man sich zuvor nicht fähig fühlte«, schreibt ein anderer Sozialphilosoph: Frédéric Lordon, einer der intellektuellen Wortführer der französischen Alternativbewegung »nuit debout«.[3]

So schön die Befreiung, so schrecklich die Gewalt. Revolutionäre Massen können im Nu zu Täterkollektiven werden, die gemeinschaftlich zu Handlungen fähig sind, die ein Einzelner niemals verüben würde. Die Anwesenheit der anderen Wütenden senkt den Rechtfertigungsaufwand für Gewalttaten.

Man höre genau hin bei den Revolutionsliedern, die bis heute gesungen werden: Viele von ihnen singen das Lob der Lynchjustiz. »Die Aristokraten an die Laterne!«, heißt es im Sansculottenchanson »Ça ira«, und Hanns Eisler vertonte den »Roten Wedding«, den der Dichter Erich Weinert mit folgendem Text versah:

»Hier wird nicht gemeckert, hier gibt es Dampf,

denn unsre Parole heißt Klassenkampf,

nach blutiger Melodie!«

Nach blutiger Melodie also. Sagen wir es so: Wäre die Welt so beschaffen, dass sie Revolutionen überflüssig machte, sie wäre glücklicher. Doch sie ist schreiend ungerecht.

Und das Unrecht ist sichtbarer als je zuvor, nicht nur das, seine Darstellung wird auf erschütternde Weise bildlicher. Erst kam die Druckerpresse, dann das Radio, das Fernsehen, und heute erzeugt das Internet das Bild der Welt: Die Medien werden heißer, um einen Begriff des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan (1911–1980) zu verwenden, sie werden emotionaler, schneller, erregender. Sie gehen unter die Haut.

Revolutionen kämpfen um die Körper und um die Sprache, sie sind kommunikative Ereignisse. Die Machthaber ebenso wie die Rebellen organisieren und verabreden sich, verbreiten praktische Informationen sowie Aufrufe und Ideen, stören die Kanäle der anderen Seite. Zu den traditionellen taktischen Zielen eines Aufstandes gehören Rundfunk- und Fernsehstationen. Dieser mediale Wesenszug der Revolution wird durch das mobile Internet noch radikalisiert, wie sich während des sogenannten arabischen Frühlings erwies. Zwar scheiterte dieser beinahe überall (bis auf Wiedervorlage), es bleibt aber dennoch richtig, dass die digitale Technologie wegen ihrer Internationalität, Flexibilität und ihres Massencharakters den sich erhebenden Völkern letztlich mehr als ihren Unterdrückern nützt.

Wir werden das noch etliche Male erleben. Zwei tektonische Platten, die eine heißt Möglichkeit und die andere Wirklichkeit, reiben sich im Untergrund unserer Welt aneinander, bauen eine tellurische Spannung auf. In welchen Formen wird sie sich entladen?

Die Zeit der Erhebungen, Rebellionen, Aufstände und Revolutionen ist jedenfalls nicht vorüber. Sosehr dieses Buch daher auf vergangene Revolutionen zurückblickt, soll es doch auch das Potenzial zukünftiger Erschütterungen erahnen lassen.

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Kapitel 1Ein persönliches Kapitel: Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Vor 50 Jahren, am 2. Juni 1967, wurde der 26-jährige Student Benno Ohnesorg erschossen.

Aus nächster Nähe. Von hinten. Er hatte in Berlin an einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien teilgenommen. Der Täter hieß Karl-Heinz Kurras und war damals Kriminalobermeister.

Tags darauf besuchte der Schah meine Heimatstadt Hamburg, mein Vater hängte aus Protest ein schwarzes Leintuch über den Balkon. Wieder wurde demonstriert, wieder prügelten deutsche Polizeibeamte und persische Geheimdienstler auf Demonstranten ein, es floss Blut.

Ich war damals 14 Jahre alt und schockiert. Nur drei Jahre später sollte ich mich bereits als Kommunist verstehen. Sehr viel später dann würde sich herausstellen, dass Benno Ohnesorgs Mörder ein Stasi-Agent war. Die Stasi behauptete von sich, ein Abkömmling der kommunistischen Tscheka zu sein: So hieß die nach der Oktoberrevolution gegründete Geheimpolizei. Wie merkwürdig die Dinge doch manchmal zusammenhängen.

Damals, vor 50 Jahren, existierte zwar kein Internet, aber dennoch war die Informationsdichte hoch, erzeugt vom Fernsehen und von der Massenpresse. Die deutsche Bundesrepublik war eine informierte Gesellschaft. Im Spiegel las ich damals von alten Nazis in Spitzenstellungen von Justiz, Militär, Wirtschaft und Politik (dass sie auch in der Redaktion des Spiegel saßen, erfuhr ich erst später). Und ich sah im Fernsehen die Bilder vom Krieg in Vietnam. Mein Vater war amerikabegeistert, ich war es eigentlich auch, aber dieser Krieg nahm mir das Vertrauen in die USA. Ich dachte pazifistisch und lief beim Ostermarsch mit; dort allerdings lernte ich Leute kennen, denen die Losung »Frieden in Vietnam« zu unpolitisch war. Sie skandierten den Slogan »Bürger, runter vom Balkon  / Alle Macht dem Vietcong«, den ich damals nicht gaga fand, und erklärten mir: Nur wenn der Vietcong, die von den Kommunisten geführte Nationale Befreiungsfront, die Amerikaner aus Südvietnam vertreibt, kann es Frieden geben. Ich hatte viel über Vietnam gelesen, wieder im Spiegel, und mir leuchtete das Argument ein. Als ich es im Schulunterricht vorbrachte, erhielt ich vom Lehrer die Antwort: »Dann müssen Sie aber auch für den Kommunismus sein.« Was hätte ich darauf sagen sollen? Etwa: »Ach so, dann lieber doch nicht«? Nein, ich entgegnete: »Gut, dann bin ich eben für den Kommunismus.«

Also für die Revolution.

Warum entscheidet sich jemand für die Revolution, und was ist das überhaupt?

Das ist das Thema dieses Buches, und ich beginne mit einem persönlichen Zugang, weil ich hoffe, auf diese Weise meinem Gegenstand näherzukommen. Persönlich ist vor allem dieses Kapitel. Sollte Sie dieser Aspekt nicht interessieren, dann überspringen Sie es einfach.

Zugegeben, meine Antwort im Schulunterricht hatte mir selbst ein bisschen Angst eingeflößt. Ich hatte da mehr gesagt, als ich eigentlich dachte. Zugleich kam es mir vor, als hätte ich an etwas gerüttelt, das nur so tut, als sei es selbstverständlich.

Zu jener Zeit gaben die Beatles in Hamburg zwei Konzerte, und auf der Pressekonferenz stellten die Journalisten unfassbar dumme Fragen. Die Antworten der Band waren frech und cool. So wollte ich auch sein. Egal, was die Erwachsenen sagten. Meine kriegsversehrten Deutsch- und Lateinlehrer zum Beispiel, die über den Krieg nicht sprachen, und auch nicht über die Nazis. Oder der Religionslehrer, der prahlte, wie er im Krieg die von den Russen besetzte Höhe Nummer Sowieso genommen hatte – nun gut, der Mann war mir eh egal, weil ich mit Religion schon vorher in einer Waldorfschule abgeschlossen hatte. Dort wurde eine sanfte Sprache gepflegt, die Schule war aber autoritär wie alle anderen auch, und man wurde abwechselnd über verlorene Ostgebiete, arische Seelen oder spiritistische Erfahrungen unterrichtet.

Das war die Welt, mit der meine Freunde und ich im Jahr 1967 brechen wollten. Die Welt der sogenannten Schlagermusik und der Landserhefte. In jenem Jahr entdeckte ich auf Frank Zappas LP »Freak Out!« einen Song über »Gehirnpolizei«. John Coltranes radikale Freejazz-Hymne »Ascension« erschien, sie sprengte die Konventionen. Und Jimi Hendrix sang die Zeilen:

»Will I live tomorrow?

Well I just can’t say.

Will I live tomorrow?

Well, I just can’t say.

But I know for sure

I don’t live today.«

Auch dieses Stück kam 1967 heraus, vor 50 Jahren. In jenem Jahr malte ich eines Nachts an die Schulmauer das Wort »Untertanenfabrik«. Für mich traf zu, was Robert Musil in seinem »Mann ohne Eigenschaften« geschrieben hatte: »wenn wir damals Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaupten!«

Und ich erstand ein frisch erschienenes Taschenbuch: Es hieß »Lenin. Aus den Schriften 1895–1923«.[4] Denn nach meinem etwas kühnen Wortwechsel im Unterricht wollte ich nun aus erster Hand erfahren, was es denn wirklich heißt, Kommunist zu sein. In dem Buch fand ich zum Beispiel einen Auszug aus Lenins Aufsatz »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten«, den er 1897 in der Verbannung geschrieben hatte[5], 20 Jahre vor der Oktoberrevolution. Er erklärt darin, warum sozialistische Revolutionäre unbedingt für die konsequenteste Demokratie kämpfen müssten. Das gefiel mir. Ich las den Wortlaut naiv und ohne den historischen und ideologischen Kontext, so wie andere Textgläubige die Bibel oder den Koran. Dass es sich nur um die Phase des Kampfes gegen den Zarismus handelte und Lenin im Übrigen ein instrumentelles Verhältnis zur Demokratie hatte, fiel mir nicht auf.

Die Revolution der Bolschewiki vor 100 Jahren war ein Ereignis, in das Millionen Menschen Hoffnung setzten. Es folgten Terror, Krieg, Hungersnöte, Stalinismus, Gulag, Zerfall. Millionen hofften, Millionen starben. Eine schlimmere Enttäuschung war kaum denkbar. Es gibt zwar Leute, die behaupten, ohne die Oktoberrevolution wäre letztlich der Nationalsozialismus nicht zerschlagen worden. Aber das ist hypothetische Geschichtsbetrachtung und ändert außerdem nichts an der entsetzlichen Wirklichkeit des Sowjetkommunismus.

Die sowjetische Enttäuschung war nicht die letzte ihrer Art. Viele aus meiner Generation, die an die Revolution in Kuba oder Nicaragua, China oder Venezuela glaubten, wurden ebenfalls enttäuscht.

Das Parfüm der Revolte

Der Gedanke an eine Revolution veränderte 1967 meine Vorstellungswelt. Und meinen Alltag. Ich sah die Umgebung auf einmal mit anderen Augen. Die Gegenwart kam mir nur noch als Übergangszeit vor, als vorläufig. Jeden Konflikt mit Autoritäten verstand ich als Kampf gegen Verhältnisse, die nicht nur im Detail, sondern als Ganzes ungerecht waren. Die im Widerspruch standen zu den Idealen, von denen man mir in der Schule erzählt hatte. Ich vermeinte, hinter die Kulissen zu sehen, die mich umgaben. Es war das Bewusstsein, alles besser zu wissen. Was ja nur altersgemäß war.

Ich erinnere mich an den Moment, als ich im Mai 1968 den unbeholfenen Satz von Rudi Dutschke las: »Heute hält uns nicht eine abstrakte Theorie der Geschichte zusammen, sondern der existenzielle Ekel vor einer Gesellschaft, die von Freiheit schwätzt und die unmittelbaren Interessen und Bedürfnisse der Individuen und der um ihre sozial-ökonomische Emanzipation kämpfenden Völker subtil und brutal unterdrückt«[6] – angestrichen hatte ich mir die Wendung »der existenzielle Ekel vor einer Gesellschaft, die von Freiheit schwätzt«. Diesen Ekel hatte ich auch.

Letztlich also waren 1967 und 1968 für mich und viele andere die Jahre der Verneinung. Von ihr rührte die Attraktivität des Begriffs Revolution her, von der Negativität. Die Vorstellung von etwas Besserem war nur die notwendige Ergänzung, ohne die sich die Verneinung in Depression verwandelt hätte.

Im Jahr 1968 blockierten wir die Auslieferung der Bild-Zeitung (»Osterunruhen«), weil ihre Hetze gegen die linken Studenten in Berlin maßgeblich ein Klima erzeugt hatte, in dem sich schließlich jemand fand, der Rudi Dutschke mit den Worten »Du dreckiges Kommunistenschwein!« niederschoss. Zum ersten Mal bekam ich Tränengas in die Augen; wenn ich heute das Wort »Revolution« höre, erinnere ich mich an seinen stechenden Geruch. In kleiner Dosierung wirkt es sogar belebend. Es ist das Parfüm der Revolte. Ich habe es seit 1968 oft gerochen.

Eines Tages lud mich die Polizei vor. Angeblich hatte ich während einer Demonstration ein Schaufenster eingeschlagen. Das stimmte nicht, wie ich den freundlich-strengen Beamten ein wenig bekifft erklärte. Ich habe allerdings wenig später – mit anderen – die großen Glasscheiben des Hamburger Amerika-Hauses zerdeppert. Ein paar Jahre zuvor noch hatte mich mein Vater dorthin mitgenommen, um mit mir Gospels, Spirituals und Blues zu hören, nun aber saß in dem Gebäude der Feind, wie ich dachte. Wir riefen »USA – SA – SS«, wir deutschen Kinder einer Demokratie, für die auch amerikanische Soldaten gestorben waren, im Kampf gegen den SS-Staat.

Es gab erste Diskussionen über die Anwendung revolutionärer Gewalt. Auf meinem Plattenspieler lief jetzt nicht mehr das Spiritual »All God’s Children got Shoes«, sondern »Street Fighting Man« von den Stones:

»Everywhere I hear the sound of marching, charging feet, boy,

’Cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, boy«.

Doch im August 1968 wird auf einmal wirklich auf den Straßen gekämpft. Nicht in Hamburg, Berlin oder Paris, sondern in Prag. Sowjetische Panzer fahren gegen tschechische Demonstranten auf. Sofort finden sich zwei Dutzend oder mehr Schüler und Studenten im Zentrum des Hamburger SDS ein, des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds, um zu diskutieren: Was bedeutet der Einmarsch? Was tun wir jetzt?

Solidarität! Das ist die eine Position. Also demonstrieren. Die andere: Die UdSSR sichert den Sozialismus. Also nicht demonstrieren. Die dritte: Die Prager Reformkommunisten sind vom Westen unterstützte Sozialdemokraten, folglich bäh; der Sowjetimperialismus ist das große Hindernis der Weltrevolution, auch bäh. Das ist die maoistische Position.

Und nun? Meine Freunde und ich beschließen, an der Demonstration gegen den Einmarsch teilzunehmen, mit Che-Guevara-Plakaten. Schließlich wissen wir, dass Guevara Streit mit der KPdSU hatte, die seiner Meinung nach nicht weltrevolutionär genug war. Fidel Castro, den wir zu jenem Zeitpunkt ebenfalls verehren, sollte den Einmarsch später freilich als »bittere Notwendigkeit« bezeichnen.

Wir ziehen also los. Sprechchöre haben wir diesmal keine. Einer ruft »Weg mit den Panzern, weg mit Dubˇceks SPD!«, aber das will nicht richtig zünden. Was nicht nur am verunglückten Versmaß liegt.

Ein Teil der Linken hat damals also den tschechischen Demokraten die Solidarität verweigert. Diesem schmählichen Verhalten lag allerdings eine Wahrheit zugrunde: 1968 in Westeuropa war von anderer Qualität als 1968 im Osten. »Der Pariser Mai, initiiert von den Jungen, war geprägt vom revolutionslyrischen Denken, der Prager Frühling hingegen war inspiriert vom postrevolutionären Skeptizismus der Erwachsenen«, wie Milan Kundera später treffend schrieb.[7] Wir ahnten das, setzten nur die Vorzeichen anders als er, der seine Enttäuschung bereits hinter sich hatte. Wir hingegen waren selbst revolutionslyrisch und jung, und wir lehnten den Skeptizismus der Liberalen ab. Eigentlich lehnten wir so ziemlich alles ab, den liberalisierten wie den autoritären Kommunismus.

Aber wir fühlten uns mehr und mehr vor eine Entscheidung gestellt.

Irreale Realpolitik

Nachdem der Ansturm der 68er vorüber war, landete ich im linken Sektenwesen, weil ich glaubte, an die Stelle der Spielerei müsse nun Entschlossenheit treten, und an die Stelle spontaner Rebellion systematische Machtpolitik. Ernsthaftes Arbeiten an einer Revolution. Und wir wünschten uns, wieder in den Worten Musils, eine »unzerreißbare Weltanschauung«.

Wir, meine Freunde und ich, blickten uns um und sahen nur eine einzige Macht, die auf der Seite des vietnamesischen Volks und des revolutionären Kubas zu stehen schien: die Sowjetunion. Und mit ihr das sozialistische Lager, die DDR eingeschlossen.

Klar war dieses Ostdeutschland nicht so wirklich attraktiv. Dass die Floskel vom »real existierenden Sozialismus« einen resignativen Unterton hatte, registrierten wir sehr wohl. Aber man kann sich die Umstände nicht aussuchen, meinten wir. Und auch nicht die Arbeiterklasse und die kommunistische Partei; sie sind so, wie sie nun mal sind, und wer die Revolution will, muss sich mit ihnen vereinigen – so dachten wir und nahmen Kontakt zur 1968 gegründeten DKP auf. Die war nichts anderes als die legalisierte Form der verbotenen KPD. Damals wurden viele gedrechselte Worte in den Raum gestellt, »Neukonstituierung« und so weiter, aber es war dieselbe Partei.

Nun lernten wir also Hamburger Hafenarbeiter kennen, die im Widerstand gegen die Nazis gekämpft und bis 1968 der illegalen KPD angehört hatten. Vorbilder. Enttäuscht waren wir dagegen vom Niveau der Schulungsarbeit. Kaum Originaltexte der sogenannten Klassiker (Marx, Engels, Lenin), dagegen hölzerne Abhandlungen aus der DDR. Wir hatten noch nicht begriffen, dass die Parteischulung auf Gehirnwäsche hinauslief, und dachten, wir könnten den ganzen ziemlich spießigen Laden mal kritisch auffrischen und auf Zack bringen – »die Partei bolschewisieren«, so nannten wir das, eine Floskel aus den Zwanzigerjahren benutzend, im Unwissen über deren wahren Gehalt, nämlich Stalinisierung.

Später erfuhr ich, dass es unter den Altkommunisten ziemliche Vorbehalte dagegen gegeben hatte, uns Verrückte in die Partei aufzunehmen. Junge Typen mit seltsamem Vokabular, die auf Parteiversammlungen mitschrieben und alles Mögliche zu kritisieren wagten. Doch eine flexiblere Funktionärsgruppe um Wolfgang Gehrcke, heute Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke, setzte sich durch. Sie argumentierte, erstens würden sich die Neuankömmlinge schon anpassen, und zweitens würde die Partei dadurch attraktiver für andere junge Leute werden. Diese Funktionäre sollte in beiden Punkten recht behalten, besonders im ersten.

Auftragsgemäß absolvierte ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr, weil die Losung galt, man müsse sich dort aufhalten, wo die Arbeiterjugend ist, also nicht unter den Kriegsdienstverweigerern, die ja überwiegend Gymnasiasten seien. Folglich übte ich mich als Panzergrenadier im Schießen mit der Panzerfaust sowie im Eingraben in die schleswig-holsteinische Landschaft für den Fall, dass die Russen kämen. Die Rote Armee. Also meine Genossen. Angst vor den Vorgesetzten hatte ich nicht, ich war ja auf revolutionärer Mission: »antimilitaristische Soldatengruppen« zu gründen. Und hatte uns nicht auch der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt agitiert? Er sang:

»Aber wenn du mich fragst, Junge,

soll ich gehen in die Armee?

Kann ich dir nur raten, Junge,

wenn du stark genug bist, geh. (…)

Lern mit ihren Waffen kämpfen,

wir gebrauchen sie einmal.

Lerne ihre Schwächen kennen.

Schwäche ihre Kampfmoral.«

Und wieder kam ich mir großartig vor. Wie lächerlich. Trotz mancher Schikanen und zuweilen auch entwürdigender Behandlung von Untergebenen handelte es sich schon damals, in den frühen Siebzigerjahren, um die Armee eines Rechtsstaats. Auch wenn hier und dort noch Nazitraditionen gepflegt und Nazisprüche gekloppt wurden. Mit meinen Beschwerden – etwa darüber, dass ein Vorgesetzter gesagt hatte, wir stünden unordentlich herum »wie in einer Judenschule« – konnte ich sehr wohl etwas ausrichten, aber das verbuchte ich auf meinem persönlichen Revolutionskonto und nicht auf dem des Rechtsstaats.

In den Folgejahren begegnete ich mutigeren Leuten, die sich mit Recht Revolutionäre nannten, sie kamen aus El Salvador oder Angola, Vietnam oder Chile, und sie beeindruckten mich. Wie die Philosophin und Bürgerrechtlerin Angela Davis, Schülerin von Herbert Marcuse. In Ronald Reagans Kalifornien drohte ihr die Todesstrafe, wegen »Unterstützung des Terrorismus«; sie wurde 1972 freigesprochen. Später erlebte ich Angela Davis bei einem fundraising dinner in New York; dass diese meine Heldin Mitglied der kommunistischen Partei war – ausgerechnet jener amerikanischen KP, die sich dogmatischer als alle anderen gebärdete –, bestärkte mich nur. Und sympathisierte nicht auch der Sänger und Bürgerrechtler Harry Belafonte mit dieser seltsamen Truppe? Er hat es mir selbst einmal erzählt. Amerikas Kommunisten konnte man viel vorhalten, aber nicht, dass sie jemals im Kampf für die Rechte der Afroamerikaner nachgelassen hätten. Der war eine gute Sache. Ich wähnte mich bei den Guten.

Widersprüche und wie man sie verdrängt

Wenig später hatte ich in London Kontakt mit der südafrikanischen Befreiungsbewegung ANC, die erwogen hatte, mich und einen anderen Genossen durch Südafrika reisen zu lassen, damit wir zwei Weißen, als Touristen getarnt, Bahnhöfe, Gleise und Brücken fotografierten. Und zwar für den bewaffneten Arm des ANC, die Organisation Umkhonto we Sizwe, die derartige Anlagen sowie Raffinerien und Militärstützpunkte angriff.

Das Treffen fand unter spionagefilmreifen Umständen statt. Verabredung in einer U-Bahn-Station, Erkennungszeichen: eine bestimmte Ausgabe einer Illustrierten. Anschließend kreuz und quer durch London in verschiedenen Autos, bis ich die Übersicht verlor, dann ein Treffen unter einem großen Baum im Hyde Park. Es verlief enttäuschend belanglos. Anschließend kaufte ich zusammen mit meinem deutschen Genossen ein paar Punk-T-Shirts. Wir besuchten ein Straßencafé, mir fielen die kurzen weiten Röckchen der Mädels auf, ihm die engen Hosen der Jungs.

Doch aus unserem südafrikanischen Abenteuer wurde nichts. Entweder hatte meine strikt auf Legalität bedachte Parteiführung Einwände gehabt – oder es gab Bedenken, weil mein Genosse schwul war. Das galt damals in der Partei als Sicherheitsrisiko, was aber nur eine Rationalisierung ihrer Schwulenangst war. Mir war das nicht ganz klar damals. Zwar hatte ich als antiautoritärer Schüler noch Kampagnen für Sexualaufklärung mitorganisiert, aber alles blieb rein hetero, und ich erinnere mich an Diskussionen mit meinen kommunistischen Genossen, in denen wir uns darüber stritten, ob Homosexualität »unnatürlich« sei.

Ende August 1980 besuchte ich Polen. Dort erlebte ich den großen, historischen Besetzungsstreik auf der Danziger Werft und war sehr irritiert: Das war ja eine richtiggehende Arbeiterbewegung! Mit allen typischen Kennzeichen einer Revolution. Mit Streikkomitees, die Rätecharakter trugen, und alledem – bis hin zu dem Alkoholverbot, das der Arbeiterführer Lech Walesa und seine Mitstreiter über ganz Danzig verhängten. Es wurde überall und strikt befolgt. Echte Arbeitergegenmacht eben. Aber unterstützt von Ronald Reagan und vom Papst. Ich verstand die Welt nicht mehr. Und machte mir Notizen. Die besitze ich immer noch, ebenso wie den Streikausweis. In einem meiner Hefte heißt es beispielsweise:

Tja, warum bloß. Ich legte mir eine Theorie zurecht: In Polen habe es nicht zu viel, sondern zu wenig Sozialismus gegeben. Sogar ein peinlich stalinistisches Buch verfasste ich darüber, das mit Kritik an der regierenden, sogenannten Arbeiterpartei nicht sparte (was der DKP-Führung Ärger mit den polnischen Genossen eintrug) – doch nur, um noch rigoroser die Sicherung der »Arbeiterherrschaft« und des Sozialismus zu verlangen. Tiefer konnte jemand nicht sinken, der als Antiautoritärer begonnen hatte.

Es war auch nicht der Freiheitsgedanke, der mich schließlich umdenken ließ. Vielmehr war es die Friedensbewegung. Meinem Parteiauftrag entsprechend mühte ich mich in den frühen Achtzigerjahren ab, sowjetische Raketen als defensive Rüstung zu verteidigen und amerikanische als Aggression anzuprangern. Damit hatte ich weniger Probleme als mit einer anderen Frage: Ist die Revolution wirklich oberstes Ziel – oder nicht doch die Erhaltung des Friedens? Eine rein ideologische Frage, sollte man meinen. Aber sie rührte an mein Selbstverständnis und das einiger Freunde. Wir lasen irgendwann im Jahr 1983, dass der einstige Stalinist Juri Andropow, Kommandeur der Sowjettruppen, die 1956 in Ungarn einmarschierten, noch später KGB-Chef und nunmehr Generalsekretär der KPdSU – dass also ausgerechnet dieser bewährte Genosse den Kampf für den Frieden als Hauptaufgabe der Kommunisten bezeichnete: und nicht den Klassenkampf, nicht die Revolution. Die landete plötzlich auf Platz zwei.

Empörung bei den älteren Genossen. Und Fragezeichen bei uns.

Musste womöglich alles auf den Prüfstand? Das war der Ausgangspunkt, und weil unsere konspirativ vorgehende Suchbewegung vom Parteiapparat sofort identifiziert und bekämpft wurde, entdeckten wir auch das Freiheitsproblem neu. Erst nur als unser eigenes Problem, dann als das des ganzen Kommunismus.

Als sich 1985 mit Michail Gorbatschow ein Umbruch im Osten andeutete, nahm in vielen kommunistischen Parteien die Kritik Fahrt auf. Unsere »Erneuerer«-Fraktion unternahm den Versuch, die DKP zu reformieren, zu demokratisieren – ein Versuch am untauglichen Objekt. Schließlich verließ ich die Partei; die gleichzeitig einsetzende ostdeutsche Revolution blieb mir dennoch für einige Zeit fremd. Es dauerte noch, bis ich mir die Wahrheit eingestand: Ich hatte mich nicht bloß geirrt, ich hatte den Freiheitsgedanken verraten.

Allmählich begriff ich, dass die Wende in der DDR tatsächlich eine Revolution war. Die Massen strömten auf die Straße, die Staatsmacht schwankte, gab nach – bis das Gehäuse gesprengt und die Mauer gefallen war. Auf einmal entstand ein Freiraum. So etwas nennt man Revolution, auch wenn das Ergebnis einigen der Beteiligten im Nachhinein nicht gefallen mochte; ein Phänomen, das für Revolutionen ja nicht untypisch ist.

Besuche auf Kuba waren weitere Gelegenheiten, über die revolutionären Ideologien des 20. Jahrhunderts nachzudenken. Ich traf dort auf Dissidenten, deren Habitus und Argumentation mich an das erinnerten, was ich 1967 an den rebellierenden Studenten so bewunderte: den unbedingten Willen, gegen die Arroganz der Autoritäten anzurennen. Den Wunsch, anders zu leben, »in der Wahrheit« zu leben, wie Vaclav Havel es genannt hatte, der tschechische Dissident und Revolutionär, übrigens ein Freund meines Idols Frank Zappa, des großen Komponisten und Freidenkers. Wieder schloss sich ein Kreis.

Im Januar 2011 wurde ich dann Augenzeuge einer Revolution mit weltgeschichtlicher Bedeutung: des Umsturzes in Tunesien, Auslöser des »arabischen Frühlings«. Als ich in Tunis eintraf, war der Diktator Ben Ali noch an der Macht. Diesmal roch ich nicht nur Tränengas, sondern ich musste auch vor scharfen Schüssen fliehen. Und als Ben Ali das Land verlassen hatte, wurde einige Nächte lang immer noch geschossen. Ich hörte von Rollkommandos der Konterrevolution, die angeblich Journalisten aus ihren Hotels zerren würden, und packte eine Nottasche. Das war dann doch falscher Alarm. Trotzdem – hier wurde nicht Revolution gespielt, hier war Revolution.

Sie wird nicht die letzte ihrer Art gewesen sein.

Kein Thema von gestern

In vielen, sehr unterschiedlichen Weltgegenden knirscht der Boden unter den gesellschaftlichen und politischen Gebäuden, auch in den reichen Ländern. In ihnen macht sich Misstrauen der Bevölkerung gegen die kleine Schicht der bestens in der Welt Eingerichteten breit, das sich beispielsweise in Wahlergebnissen für Parteien vom rechten Rand des politischen Spektrums ausdrückt, außerdem in Volksabstimmungen. Können daraus Erdbeben entstehen? Und wenn ja, welcher Art könnten die sein? Mir vorzustellen, da reife etwas Umstürzendes heran, flößt mir nicht nur Hoffnung ein – zu ungewiss ist das Kommende.

Jedenfalls ist irgendetwas im Begriff zu werden. Die politischen Umbrüche in den Vereinigten Staaten und in Europa, die Internationalisierung einer terroristischen Kalifat-Utopie, die Erosion der politischen Formen – aber auch das Phänomen, dass junge Aktivisten weltweit, und weltweit vernetzt, auf Tage oder Nächte währenden Versammlungen miteinander darüber diskutieren, wie das Kommende aussehen könnte, alles das lässt an jene berühmte Passage in Hegels »Phänomenologie des Geistes« denken, in der er schreibt, »daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist«. Hegel konstatiert »das allmähliche Zerbröckeln« seiner Welt, Teilchen für Teilchen; »ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist«.[8]

Für den deutschen Philosophen ging es grosso modo in der Geschichte immer voran, doch auch für ihn musste sie durch Phasen des Chaos und des Unheils; wie für alle Deutschen war ihm damals der Dreißigjährige Krieg nicht weiter weg als uns Heutigen die napoleonische Zeit. Und beschreibt er nicht mit diesen Sätzen eine Stimmung, die sich auch beim Lesen der Nachrichten von heute einstellt? Gegen Ende des Buches komme ich auf dieses Thema zurück.

Und deshalb dieses Buch

Ich habe zwei Soundtracks im Ohr. Der erste stammt aus der Osternacht 1968 in Hamburg: Hundertschaften von Polizisten hetzen mit ihren bellenden Hunden hinter uns her. Der zweite, aus Tunis, besteht aus dem abendlichen Singsang der Muezzins, dazwischen einzelne Gewehrsalven.

Auf die tunesische Revolution kommt dieses Buch immer wieder zu sprechen – schließlich habe ich sie miterlebt und das Land unzählige Male besucht, im Auftrag der Wochenzeitung Die Zeit, der ich dafür dankbar bin. Ansonsten bewegt sich das Buch auf dem nord- und südamerikanischen Kontinent, in West- und Osteuropa sowie in Asien. Es durchstreift die Geschichte der Revolten und Revolutionen vom Spartacus-Aufstand bis zum Kiewer Maidan, geht aber nicht chronologisch vor, ordnet seinen Gegenstand auch nicht nach Ländern, sondern nach Aspekten, Motiven, Ideen, weshalb es frohgemut und vielleicht etwas gewagt für manchen Geschmack durch Zeit und Raum springt. Einige der Revolutionen werden mehrfach vorkommen, eben weil es sich um facettenreiche Vorgänge handelt und weil dies kein Geschichtsbuch ist, das die Ereignisse entlang des Zeitstrahls aufreiht.

Es werden Praktiker und Theoretiker der Revolution vorgestellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Den Lesern wird auffallen, dass besonders die französische Literatur zum Thema rezipiert wurde. Es liegt daran, dass sie die reichhaltigste ist, denn Frankreich hat die reichhaltigste Revolutionsgeschichte durchlebt. Und seine Revolution von 1789 ist die »Modellrevolution der Neuzeit«, wie der Historiker und Romanist Rolf E. Reichardt treffend schreibt.[9]

Namentlich in der französischen Literatur tobt der Streit um die Bewertung dieser Revolution bis heute. Zu nennen sind – neben vielen anderen – die Werke von Albert Soboul und François Furet. Doch auch die anderen Revolutionen, eigentlich alle, bieten Stoff für Historikerstreit. Die Schlachten von damals werden immer noch geschlagen.

Fertig geworden bin ich mit der Revolution bis heute nicht. Das ist das Motiv dieses Essays. Die Beschäftigung mit Revolutionen hat mich immer wieder verändert, mal so und mal anders. Geblieben ist eine Art Respekt. Revolutionen sind herrlich, schrecklich, sind groß im Guten wie im Bösen.

Und für alle Revolutionen gilt: Sie erzeugen Unwiderrufliches. Selbst dann, wenn die Konterrevolution siegt. Denn die Erinnerung bleibt. Nicht nur an die Ideen der Revolution, an die Utopien, die großen Hoffnungen. Sondern auch an die Kämpfe selbst, die Einmischung der von diesen Hoffnungen bewegten Massen in die Politik.

Revolutionen halten das Gedächtnis an etwas Allgemeingültiges lebendig, an eine überhistorische Botschaft, die Bertolt Brecht in seinem »Arbeitereinheitsfrontlied« so ausdrückte:

»Und weil der Mensch ein Mensch ist,

hat er Stiefel im Gesicht nicht gern.

Er will unter sich keinen Sklaven sehen

und über sich keinen Herrn.«

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Kapitel 2Annäherung an einen Begriff

Legendär, wenngleich nicht belegt, ist der Wortwechsel zwischen Ludwig XVI. und dem Herzog de La Rochefoucauld-Liancourt am Abend des 14. Juli 1789, des Tags, an dem in Paris die Bastille gestürmt wurde. Der König soll konsterniert gesagt haben. »Aber das ist eine Revolte!« Daraufhin der Höfling: »Nein, Sire, das ist eine Revolution.«

Aber was ist eine Revolution? Versuchen wir zunächst eine Skizze. Sie wird unscharf bleiben. Am Ende des Buches sind die Konturen vielleicht deutlicher, aber so viel steht fest: »Revolution« ist einer jener Begriffe, deren Ränder nicht begrenzt sind, sondern verlaufen. Es ist wie mit dem Begriff des Menschen: Ich bin einer, ein Stein ist keiner, aber es gibt problematische Fälle (Neandertaler, Embryonen im Vierzellstadium, Leichen).

Revolution heißt Umwälzung. Und um den Begriff einzuschränken, schließen wir von vornherein bestimmte Vorgänge aus, wie zum Beispiel Revolutionen der Industrie, der Technik, der Mode, der Sexualität und so weiter, obgleich derartige Umwälzungen durchaus mit Revolutionen in unserem Sinne zu tun haben können: Die industrielle Revolution brachte die Arbeiterklasse hervor, die technischen Revolutionen trugen mit Druckerpresse oder Internet zur Verbreitung revolutionärer Bewegungen bei; die Art und Weise wiederum, sich zu kleiden, wandelt sich mit den Revolutionen – denken wir nur an die phrygischen Mützen der Französischen Revolution, die Kossuth-Bärte der revolutionär gesinnten Ungarn im 19. Jahrhundert, den Mao-Look der Siebzigerjahre oder an die Che-Guevara-T-Shirts; sogar die »sexuelle Revolution« ist auf mehr als eine Weise mit den revolutionären Aspirationen der 68er verwoben.

Der Feminismus ließe sich ebenfalls als Revolution bezeichnen. Er erschüttert das Patriarchat, verändert also die Machtverhältnisse, und zwar durchaus unter Massenbeteiligung. Der Feminismus ist außerdem mit einigen klassischen Revolutionen eng verwoben. Die Französische Revolution wurde zwar lange Zeit von Männern als ausschließliches Werk von Männern beschrieben, aber in Wahrheit spielten Frauen in mehreren Episoden der Revolution eine entscheidende Rolle. Es gab damals auch Publizistinnen, die den logischen Schluss zogen: Menschenrechte für alle bedeuten das Ende der Männervorrechte. Doch noch ehe die Revolution endete, war diese Stimme schon wieder erstickt. Frauen durften in der Spätphase der Jakobinerherrschaft keine Revolutionssymbole mehr tragen, sich auch nicht in Klubs versammeln, und die Frauenrechtlerin Olympe de Gouges endete 1793 unter der Guillotine.

Der Kampf für Frauenrechte war auch Element der Russischen Revolution – und definitiv der tunesischen. Gleichwohl zählt der Feminismus nicht zu den Revolutionen, die ich mit diesem Buch meine. Ebenso wenig wie die Aktivitäten kalifornischer Hightech-Unternehmen, die mithilfe radikal neuer Technologien die Gesellschaften umkrempeln wollen. Beide sind sehr wohl politisch und zielen auf eine Neuverteilung von Macht, dennoch geht es in diesem Buch um einen andersartigen Vorgang: Veränderungen der Staatsmacht, die sich als mehr oder weniger auseinandergezogene Kette von Explosionen vollziehen, ohne spektakuläre Massenaktionen undenkbar wären und eine veränderte gesellschaftliche Landschaft hinterlassen. Was zugegebenermaßen eine sehr vorläufige Annäherung an den Revolutionsbegriff ist, eine Hilfskonstruktion, wenn man so will, die wir später wieder vergessen können, wenn wir unseren Gegenstand gründlicher beleuchtet haben.

In der Geschichte kommt es auch hin und wieder zu Revolutionen der Herrschenden – doch das sind Revolutionen nur im übertragenen Sinn: radikale Weichenstellungen, vorgenommen von den Mächtigen, die ein Land modernisieren. »Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber selber machen als erleiden«, äußerte sich Bismarck, und er meinte damit den Krieg gegen Österreich im Jahre 1866, dessen Ergebnis ein preußisch geführter deutscher Nationalstaat war; damals ging der Begriff einer »Revolution von oben«[10] um, später sollte auch der revolutionstheoretisch beschlagene Friedrich Engels den Ausdruck für die Ereignisse des Jahres 1866 übernehmen. Der amerikanische Revolutionshistoriker Crane Brinton nennt als weitere Beispiele für Revolutionen von oben die kemalistischen Reformen in der Türkei, die Meiji-Restauration in Japan oder die vom amerikanischen General Douglas MacArthur nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan durchgeführten Reformen – die gesellschaftliche Wirkung aller dieser Umwälzungen reichte Crane Brinton zufolge weiter als diejenige der großen Revolutionen von unten, die er untersucht hatte.[11]

Als Revolution von oben lassen sich wohl auch die Reformen Peters des Großen im frühen 18. Jahrhundert bezeichnen, und mit Sicherheit zählt das brutale Modernisierungs- und Kollektivierungsprogramm zu ihnen, das die sowjetischen Kommunisten Ende der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts durchsetzten. Es sollte die im Oktober 1917 revolutionär errungene Macht für alle Zukunft sichern; man darf nicht vergessen, dass für die sehr geschichtsbewussten Bolschewiki die Französische Revolution, auf die sich gerade Lenin immer wieder argumentativ bezog – und mit ihr auf die Niederlage der Jakobiner –, nicht viel länger her war als für unsereins die deutsche Novemberrevolution von 1919.[12] Die Bolschewiki stellten sich immer wieder die Frage, wie die Macht behauptet werden konnte. Insofern hat auch die stalinistische Revolution von oben mit dem Thema dieses Buches zu tun, eben als Folge einer Revolution von unten.

Aber in den folgenden Kapiteln soll es dann doch fast ausschließlich um die Momente gehen, in denen das Volk sich erhebt und Geschichte macht.

Das Gegenteil der Langeweile

Was fällt noch auf? Zunächst, dass das Wort Revolution sich ganz gut mit einem Ausrufezeichen macht: Revolution!

Sie ist immer aufregend. Eine Verdichtung auf dem Zeitstrahl. Sie ist das Gegenteil der Langeweile.

Am 15. März 1968 erschien ein Artikel in der französischen Tageszeitung Le Monde unter der Überschrift »Wenn Frankreich sich langweilt«. Der Autor beklagte die politische Windstille angesichts empörender Verhältnisse in der Welt und im Lande selbst. Wenig später revoltierten die Schüler und Studenten, sodann die Arbeiter, und für einen historischen Moment war die Staatsmacht regelrecht paralysiert – so schnell kann es manchmal gehen.

Doch war der Pariser Mai von 1968, mit seinen Massendemonstrationen und dem wochenlangen Generalstreik, nun eine Revolte oder eine Revolution? Sosehr er die Macht erschütterte, er konnte sie nicht zum Einsturz bringen. Die aufbegehrenden Studenten und Arbeiter stellten die Machtfrage nicht. Die Studenten, weil sie nicht konnten, und die Arbeiter, weil sie nicht wollten.