Wenn die Angst überwunden ist - Patricia Vandenberg - E-Book

Wenn die Angst überwunden ist E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Henrike Dreskow war das blonde Mädchen schon auf dem Airport in New York aufgefallen, obwohl es dort beinahe wild zuging. Henrike war Reporterin und hatte einen Blick für besondere Gesichter, und dieses Mädchen hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht, obgleich es noch blutjung sein mußte. Schmal wie ein halbwüchsiger Junge, in verwaschenen Jeans, einem überweiten Pulli, Tennisschuhen und einer Leinentasche über der Schulter hängend, sah sie aus, als wäre sie überstürzt irgendwo weggelaufen. Jedenfalls dachte Henrike das, denn sie machte sich immer Gedanken über junge Menschen, die in der Masse so verloren wirkten. Dabei war sie selbst noch nicht einmal dreißig, aber geprägt von einem bewegten und nicht gerade leichten Leben. Sie ging mit offenen Augen durch die Welt, aber manchmal, wenn sie warten mußte, dachte sie sich auch Geschichten aus über einen Menschen, der ihr besonders auffiel, und dieses blonde Mädchen ging ihr auch nicht aus dem Sinn, als es plötzlich von der Menge verschluckt zu sein schien. Und dann sah sie es wieder in dem Jumbo-Jet, der nach Frankfurt fliegen sollte, und mit dem auch sie flog. Henrike bekam sogar einen Platz neben diesem Mädchen, das still und in sich versunken zum Fenster hinausblickte. Henrike konnte sich eine Geschichte ausdenken, als die Maschine schon hoch in der Luft schwebte, denn das Mädchen schien zu schlafen, und so war Henrike auch nicht, daß sie gleich in den ersten Minuten ein Gespräch begonnen hätte, obgleich sie das manchmal reizte, und auch in diesem Fall. Wie für einen Überseeflug war das Mädchen nicht gekleidet, aber diese jungen Leute liebten es ja lässig, und Henrike hatte nichts dagegen. Aber meist reisten sie nicht allein, wenn ihr Gepäck so bescheiden war, und eigentlich wirkte die junge Fremde nicht so, als wäre sie ein Wandervogel. Was Henrike aber selten passierte, war diesmal der Fall. Sie wußte nicht, wo sie dieses Mädchen einordnen sollte, sie konnte nicht mal eine Story erfinden, die vielleicht der Wirklichkeit nahekam, und somit wuchs ihr Interesse. Dann vernahm sie plötzlich ein leises, schmerzliches Stöhnen, und es war, als würde das Mädchen von einem lautlosen Schluchzen geschüttelt. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Henrike, leicht den Arm des Mädchens umfassend, das nun zusammenzuckte und Henrike dann angstvoll anblickte. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, fuhr Henrike fort, »ich dachte nur, daß es Ihnen vielleicht nicht gut wäre.« »O doch, mir fehlt nichts.« Dann wurde Essen serviert, und da schienen die Lebensgeister des Mädchens geweckt zu sein.

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Dr. Norden Bestseller – 289 –

Wenn die Angst überwunden ist

Patricia Vandenberg

Henrike Dreskow war das blonde Mädchen schon auf dem Airport in New York aufgefallen, obwohl es dort beinahe wild zuging.

Henrike war Reporterin und hatte einen Blick für besondere Gesichter, und dieses Mädchen hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht, obgleich es noch blutjung sein mußte.

Schmal wie ein halbwüchsiger Junge, in verwaschenen Jeans, einem überweiten Pulli, Tennisschuhen und einer Leinentasche über der Schulter hängend, sah sie aus, als wäre sie überstürzt irgendwo weggelaufen. Jedenfalls dachte Henrike das, denn sie machte sich immer Gedanken über junge Menschen, die in der Masse so verloren wirkten.

Dabei war sie selbst noch nicht einmal dreißig, aber geprägt von einem bewegten und nicht gerade leichten Leben. Sie ging mit offenen Augen durch die Welt, aber manchmal, wenn sie warten mußte, dachte sie sich auch Geschichten aus über einen Menschen, der ihr besonders auffiel, und dieses blonde Mädchen ging ihr auch nicht aus dem Sinn, als es plötzlich von der Menge verschluckt zu sein schien.

Und dann sah sie es wieder in dem Jumbo-Jet, der nach Frankfurt fliegen sollte, und mit dem auch sie flog. Henrike bekam sogar einen Platz neben diesem Mädchen, das still und in sich versunken zum Fenster hinausblickte.

Henrike konnte sich eine Geschichte ausdenken, als die Maschine schon hoch in der Luft schwebte, denn das Mädchen schien zu schlafen, und so war Henrike auch nicht, daß sie gleich in den ersten Minuten ein Gespräch begonnen hätte, obgleich sie das manchmal reizte, und auch in diesem Fall.

Wie für einen Überseeflug war das Mädchen nicht gekleidet, aber diese jungen Leute liebten es ja lässig, und Henrike hatte nichts dagegen. Aber meist reisten sie nicht allein, wenn ihr Gepäck so bescheiden war, und eigentlich wirkte die junge Fremde nicht so, als wäre sie ein Wandervogel.

Was Henrike aber selten passierte, war diesmal der Fall. Sie wußte nicht, wo sie dieses Mädchen einordnen sollte, sie konnte nicht mal eine Story erfinden, die vielleicht der Wirklichkeit nahekam, und somit wuchs ihr Interesse.

Dann vernahm sie plötzlich ein leises, schmerzliches Stöhnen, und es war, als würde das Mädchen von einem lautlosen Schluchzen geschüttelt.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte Henrike, leicht den Arm des Mädchens umfassend, das nun zusammenzuckte und Henrike dann angstvoll anblickte.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, fuhr Henrike fort, »ich dachte nur, daß es Ihnen vielleicht nicht gut wäre.«

»O doch, mir fehlt nichts.«

Dann wurde Essen serviert, und da schienen die Lebensgeister des Mädchens geweckt zu sein. Sie aß, als wäre sie halb verhungert.

Henrike konnte sich noch immer nicht ausdenken, was mit diesem halben Kind los sein könnte. Unsicher schien sie jedenfalls nicht zu sein.

»Ich heiße Henrike«, sagte sie ganz spontan. »Möchten Sie mein Dessert? Ich esse nämlich keine Süßigkeiten.«

»Ja, gern, vielen Dank. Ich heiße Jennifer.« Henrike atmete auf. Sie hätte aber nicht sagen können, warum ihr Interesse an dem Mädchen Jennifer eigentlich so groß war. Doch sie hoffte, nun noch mehr zu erfahren.

Mitteilsam war Jennifer aber nicht. Jedenfalls redete sie nicht von selbst. Wenn Henrike aber etwas fragte, gab sie höfliche Antworten. Langsam konnte sich Henrike ein Bild machen.

Das Mädchen Jennifer war gebildet und hatte wohl auch eine sehr gute Erziehung genossen, was aus ihrem Benehmen und manchen Redewendungen hervorging.

Dann fiel ihr auch sehr angenehm auf, daß Jennifer sehr schöne und gepflegte Hände hatte, daß sie auch sonst, trotz der unscheinbaren Kleidung, sehr gepflegt war.

»Sie besuchen Deutschland, Jennifer?« wagte sich Henrike etwas weiter vor, nachdem ein langes Schweigen zwischen ihnen gewesen war, weil sie vor sich hin dösten. Die Zeitverschiebung machte sich doch in Ermüdung bemerkbar.

»Ja, ich will nach München«, erwiderte Jennifer.

»Das trifft sich gut, dann fliegen wir von Frankfurt aus ja noch ein Stück zusammen«, sagte Henrike. »Ich wohne und arbeite in München.«

»Was arbeiten Sie?« fragte Jennifer zum ersten Male interessiert.

»Ich arbeite bei einer Zeitung. Ich bin Reporterin.«

Jennifers Gesicht überschattete sich. »Ich lasse mich nicht ausfragen«, sagte sie trotzig.

Henrike war überrascht, sogar ein wenig erschrocken. »Aber ich will Sie doch nicht ausfragen«, sagte sie, »das dürfen Sie nicht denken. Ich mag junge Menschen, und ich dachte nur, daß wir uns auf dem Flug mit einer Unterhaltung die Langeweile vertreiben könnten.«

»Ich wollte nicht unhöflich sein«, sagte Jennifer sogleich wieder verlegen. »Ich mag Zeitungsleute eigentlich nicht.«

»Haben Sie schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Ja.«

»Das tut mir leid, Jennifer. Ich weiß, daß manche Reporter sehr taktlos sind.«

»Und manche lassen sich kaufen«, sagte Jennifer hart.

Henrike warf ihr einen Seitenblick zu. Wenn sie doch nur ein bißchen mehr aus sich herausgehen würde, dachte sie. Vielleicht braucht sie Hilfe. Den Gedanken, daß sie möglicherweise in eine Drogengeschichte verwickelt sein könnte, verwarf Henrike sofort wieder. Sie hatte in letzter Zeit, gerade in den Staaten, kaum ein Mädchen gesehen, das so sauber, so unschuldig und anständig wirkte wie Jennifer.

»Ich habe sehr nette Kollegen, da kann ich von Glück sagen. Bei uns gibt es auch keinen Futterneid, Jennifer«, erklärte sie.

»Was ist Futterneid?« fragte das Mädchen, und jetzt schien sie wirklich ein bißchen mehr aufzutauen.

»Konkurrenzneid«, erklärte Henrike.

»Für Geld sind viele Menschen zu allem fähig, und sie töten sogar Menschen, die ihnen blind vertrauen.«

Diese Bemerkung regte Henrike erst recht zum Nachdenken an, aber Jennifer schien nicht bereit zu sein, sich näher darüber auszulassen.

*

In dem zu dieser Zeit noch weit entfernten München, von dem sich Jennifer noch keine rechte Vorstellung machen konnte, obgleich sie viel davon gehört hatte und nun auch Henrike bat, ihr mehr zu erzählen, gab es einen Dr. Daniel Norden, dem als Arzt wie auch als Mensch größte Anerkennung und Bewunderung zuteil wurde.

Er bemühte sich auch um ein junges Mädchen, das etwa im Alter von Jennifer war und seit sechs Monaten an den Folgen eines schweren Autounfalls litt, bei dem ihr Freund ums Leben gekommen war. Daß es Peter Breuers Leichtsinn gewesen war, der diese Tragödie herausgefordert hatte, wollte Carola Wilkens lange nicht wahrhaben. Allerdings hatte sie auch fast drei Wochen im Koma gelegen, und es hatte wenig Hoffnung bestanden, daß sie überhaupt wieder aufwachen würde.

Es war der nimmermüden Betreuung der Ärzte, Dr. Dieter und Dr. Jenny Benisch und Dr. Daniel Norden zu verdanken, daß Carolas junges Leben dann doch gerettet worden war, und sie hatten auch den verzweifelten Eltern immer wieder Mut gemacht, die zu allem Unglück, das ihr Kind getroffen hatte, auch noch Vorwürfe und Angriffe von Peter Breuers Eltern abwehren mußten, die behaupteten, daß Carola an allem schuld sei, weil sie immer von Peter Beweise seines Muts verlangt hätte.

Ja, sie hatten sogar behauptet, daß Carola am Steuer gesessen hätte, obgleich es außer Frage stand, daß Peter Breuer den Wagen gefahren hatte.

Es lagen wahrhaft schlimme Monate hinter der Familie Wilkens, und nur der fünfundzwanzigjährige Sohn Tonio hatte einigermaßen die Nerven behalten. Er hatte dann sogar die Geschäfte in die Hand genommen, denn die Hoch- und Tiefbauunternehmung hatte ja auch die Verantwortung für eine beträchtliche Anzahl Arbeitnehmer, und Theo Wilkens hatte durch das Unglück den Überblick verloren. Die Angriffe von den Breuers, die Hetzkampagne, die sie auch gegen sein Unternehmen gestartet hatten, brachte ihn aus dem Gleichgewicht, weil ihm nun auch klar wurde, daß Peter aus rein materiellen Erwägungen der naiven Carola den Kopf verdreht hatte. Carola mußte das verschwiegen werden, denn sie kehrte nur ganz langsam ins Leben zurück und mußte in jeder Beziehung geschont werden.

Nun hatten die Eltern sie zwar heimholen dürfen, aber Carola war noch schwer behindert, konnte sich nur mühsam auf Krücken fortbewegen oder gar im Rollstuhl, der für sie auch gekauft worden war, und sie war schwermütig geworden. Dies, so sagte Dr. Norden mit großem Nachdruck, mußte sich ändern, da sie sonst ein Pflegefall bleiben würde. Wenn sie nicht mithalf. Wenn sie weiter dahinvegetierte, war an eine völlige Genesung gar nicht zu denken.

Wenigstens auf ihn hörte Carola, und jetzt war sie auch schon soweit, Peter nicht mehr nachzutrauern, da sie zufällig mitbekommen hatte, wie sein Vater ihrem Vater zusetzte und kein gutes Haar an ihr gelassen hatte.

Freilich war das schlimm für sie gewesen, aber in gewisser Weise doch heilsam, denn sie erinnerte sich noch gut daran, wie oft seine Mutter doch zu ihr gesagt hatte, daß sie nahezu die ideale Frau für Peter sein würde und wie glücklich sie wären, sie zur Schwiegertochter zu bekommen. Und nun sollte sie an allem schuld sein? Mit ihren Eltern wollte sie darüber nicht sprechen, aber mit Dr. Norden war sie vertraut, und ihm sagte sie, was sie nun quälte.

Er hatte ihr ernst und eindringlich gesagt, daß Peter eindeutig an dem Unfall Schuld hatte und seine Eltern auf sehr unschöne Weise alles umdrehen wollten, und daß sie auch verbreitet hätten, daß Peter sich längst von ihr hätte trennen wollen, daß sie ihm aber immer wieder nachgelaufen wäre.

Ja, es war eine bittere Erkenntnis für Carola zu all den anderen Schmerzen und den Narben, die ihr bleiben würden. Auch ihr Gesicht war gezeichnet, wenn auch nicht so schlimm, wie es anfangs ausgeschaut hatte. Es würde sich auch noch bessern, und außerdem gab es kosmetische Korrekturen, die gar nicht schwierig auszuführen waren.

Der seelische Bereich war jedoch tief erschüttert. Mit ihren alten Bekannten wollte Carola nichts mehr zu tun haben. Gekümmert hatte sich eigentlich auch nur ihre Freundin Tilly um sie, aber die war zum Studium nach Hamburg gegangen.

»Carola braucht junge Gesellschaft«, erklärte Dr. Norden Vicky Wilkens, die bereit war, alles für ihre Tochter zu tun.

»Aber sie will doch niemanden sehen«, erwiderte Frau Wilkens be­küm­mert.

»Nehmen Sie einfach ein Mädchen ins Haus. Ich denke da an ein au-pair-Mädchen, eine Ausländerin, die Carola ganz neue Eindrücke vermitteln könnte. Und außerdem könnte sie Ihnen auch zur Hand gehen, Frau Wilkens. Sie könnten auch ab und zu Ruhe brauchen.«

»Ich bin so mißtrauisch geworden, Dr. Norden«, sagte Vicky Wilkens. »Verstehen Sie das bitte. Ich hätte wirklich nichts dagegen, und Platz genug haben wir auch, aber wenn es eine Enttäuschung für uns alles wird, besonders auch für Carry, wäre alles noch schlimmer. Ja, wenn Sie es vermitteln? Sie haben eine gute Menschenkenntnis.«

»Ich bin bereit. Geben Sie eine Annonce auf mit Chiffre. Treffen Sie eine Vorauswahl und dann kommen Sie zu mir. Ich werde mir das Mädchen dann zuerst ansehen.«

»Wenn wir Sie nicht hätten, Dr. Norden«, sagte Vicky Wilkens leise. Und sie hatte dabei Tränen in den Augen.

Es wird Zeit, daß wieder Frohsinn in dem Haus herrscht, sonst werden sie alle noch melancholisch, dachte Daniel Norden, als er sich verabschiedete.

Es war ein schönes, behagliches Haus, und die Wilkens waren eine lebensfrohe Familie gewesen. Eine harmonische Ehe, die siebenundzwanzig Jahre konfliktlos überdauert hatte, zwei wohlgeratene Kinder, die ihren Eltern viel Freude und wenig Sorgen bereitet hatten. Dann aber war es knüppeldick über sie hereingebrochen, als Carola sich ausgerechnet in Peter Breuer verliebte, der ziemlich bekannt war als Möchtegernplayboy, der gern angab und auch Schulden machte, was die Eltern aber immer wieder vertuschten.

Sie hatten eine gutgehende Groß­bäckerei, aber auch einen so aufwendigen Lebensstil, daß sie immer wieder in die roten Zahlen gerieten, denn neue und teure Maschinen mußten angeschafft werden, aber ebenso neue und teure Autos, und Peter mußte natürlich auch Mitglied im besten Tennisclub sein, er brauchte ein edles Reitpferd, und dann war er auch noch für eine sehr beträchtliche Summe Mitglied im Golfclub geworden, bevor der Unfall geschah. Es war natürlich auch ein neues und teures Auto gewesen, das noch nicht mal bezahlt war, und es war den Breuers dann auch nicht geglückt, es so zu drehen, daß Carola am Steuer gesessen hätte, die erst kürzlich ihren Führerschein gemacht hatte. Weil Peter ja so ein erstklassiger Fahrer gewesen sei, daß ihm so etwas niemals passiert wäre, war das Argument der Breuers. Aber dann kam heraus, daß er schon drei beträchtliche Unfälle gebaut hatte, wobei immer er schuld gewesen war.

Dr. Norden wußte sehr gut über die Breuers Bescheid, aber er mußte ja schweigen über das, was auch in den medizinischen Bereich fiel. Seit dem Unfall blieb er jedoch von den Breuers verschont, worüber er gewiß nicht betrübt war.

Der Familie Wilkens fühlte er sich jetzt sehr verbunden. Er hatte mit ihnen um Carolas Leben gebangt, er hatte Theo und Vicky Wilkens über die schlimmsten Tage hinweggeholfen, und er hatte Tonio Mut zum Durchhalten gemacht, denn für den jungen Mann hatte sich plötzlich auch vieles verändert. Kein sorgloses Studium mehr, sondern mitten hinein in die Arbeit springen und auch Verantwortung zu übernehmen, war nicht so einfach gewesen. Aber Theo Wilkens konnte stolz auf seinen Sohn sein.

*

Fee Norden konnte ihrem Mann nach dem Abendessen eine Neuigkeit unterbreiten.

»Es wird gemunkelt, daß Breuer am Ende ist«, sagte sie. »Die Gesundheitspolizei war im Betrieb und hat allerhand zu bemängeln gehabt.«

»Guter Gott, ist das nicht nur ein Gerücht? Ich denke, es soll alles hochmodern sein.«

»Aber der Gerichtsvollzieher war schon da und hat Maschinen be­schlag­nahmt, und daß er Personal entlassen mußte, ist ja schon länger bekannt. Mir kommt es tatsächlich so vor, als hätte der Sohn durch eine Heirat mit Carola die Firma sanieren sollen.«

»So schnell wäre es mit der Heirat auch nicht gegangen, und Wilkens wirft das Geld nicht zum Fenster hinaus. Er hätte sich da schon genauestens informiert. Außerdem hätte er wohl auch allerhand unternommen, um seiner Tochter diesen Hallodri auszureden. Nun hat sie für diesen Ausrutscher einen hohen Preis bezahlen müssen, Fee. Es geht gar nicht voran.«

»Sie tut mir leid, Daniel. Man macht halt Dummheiten, wenn man jung ist, und sie ist doch so ein nettes Mädchen.«

Daniel erzählte Fee dann von seinem Vorschlag mit einer jungen Haus­tochter, und das fand Fee gut. Aber als Daniel auch sagte, daß er dann eine Empfehlung geben sollte, meinte Fee, daß er sich da in die Nesseln setzen könnte.

»Und wenn ich dich bitte, Feelein? Du hast doch so ein Fingerspitzengefühl.«

»Wenn ich die Menschen persönlich kenne«, räumte sie ein.

»Wir werden eine Bewerberin dann ja kennenlernen.«

»Da werden sich mehrere melden.«

»Nicht viele, denke ich, weil in der Annonce ausdrücklich stehen wird, daß die Betreuung einer behinderten Tochter übernommen werden soll. Da findet sich so rasch keine.«

»Hoffentlich überhaupt eine, damit du mit deinem Vorschlag nicht baden gehst«, meinte Fee neckend.

»Wir werden sehen. Jetzt schaue ich noch mal nach den Kindern.«

Er hatte sie nur kurz gesehen, weil er spät gekommen war. Die Kinder waren müde von der frischen Herbstluft, die nun schon wehte, aber die war gesund, und Fee war lange mit ihnen draußen gewesen.

Danny und Felix schliefen noch nicht. Sie waren schon richtige Lausbuben, und da sie einen gemeinsamem Schlafraum hatten, redeten sie oft noch ziemlich lange miteinander, auch wenn sie müde waren.

»Du warst wieder lange weg«, murrte Felix.

»Hausbesuche, mein Sohn. Da kann man nichts machen.«

»Damit muß man leben, wenn man Arzt ist«, gab Danny seinen Senf dazu.

Anneka schlief. Sie hatte rote Bäckchen. Ihre zarte Haut litt leicht unter rauher Luft, wie die von Fee. Sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Bei den kleinen Zwillingen konnte man jetzt aber schon genau unterscheiden, wer der Bub und wer das Mädchen war, wenn man auch nicht ganz genau hinschaute.

Auch sie schliefen, und eigentlich hatten sie ihnen kaum schlaflose Nächte bereitet.

Daniel Norden war ein glücklicher Vater, und er war dankbar, wenn auch die nicht zu vermeidenden Kinderkrankheiten glimpflich vorbeigingen.

Und weil er so dankbar war, daß ihnen das Schicksal so gnädig war, half er doppelt gern denen, die schwere Prüfungen auferlegt bekamen.

*

Auch Henrike Dreskow gehörte zu den Menschen, die gern halfen, aber in bezug auf Jennifer spürte sie, daß diese sich nicht helfen lassen wollte, sie spürte aber auch, daß sich das Mädchen in einer Konfliktsituation befand.

Auf dem Flug von Frankfurt nach München wagte Henrike einen zweiten Vorstoß. Sie gab Jennifer ihre Karte.

»Wenn Sie Lust haben, können Sie mich doch mal besuchen, Jennifer, auch in der Redaktion. Privat wohne ich etwas außerhalb von München, aber sehr hübsch, und ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen könnten.«

»Ich auch«, erwiderte Jennifer stockend, »aber ich weiß noch nicht, wie es bei mir läuft. Auch nicht, ob ich länger in München bleiben werde. Sie sind sehr nett, Henrike. Leben Sie auch allein?«

Das auch allein ließ Henrike aufhorchen. »Ja, ich lebe allein«, erwiderte sie. »Ich habe einige schwere Schicksalschläge hinnehmen müssen, meine Eltern leben drüben im anderen Deutschland, und ich konnte sie noch nicht herüberholen.«

»Ich habe davon gehört, auch von dieser Mauer«, sagte Jennifer, »aber ich kann mir das nicht vorstellen. Es tut mir sehr leid für Sie, und auch für die anderen Menschen.«

Vergeblich hatte Henrike gehofft, daß Jennifer nun auch von ihrer Familie sprechen würde. Sie war diesbezüglich verschlossen wie eine Auster.

Jennifer, neunzehn Jahre, Berufsziel Dolmetscherin, das war alles, was Henrike von ihr wußte, als sie sich in München-Riem voneinander verabschiedeten.

»Sollten Sie einmal irgendwie Hilfe brauchen, Jennifer, Sie haben meine Karte«, sagte Henrike mit ernstem Nachdruck aus einem plötzlichen Gefühl heraus, als Jennifer sich ängstlich umschaute, als fürchte sie, verfolgt zu werden.

»Danke, herzlichen Dank«, flüsterte Jennifer, dann griff sie nach ihrer Reisetasche, die auf dem laufenden Band angerollt kam und lief davon. Ja, sie lief, und Henrike hatte mit einem raschen Blick gerade noch feststellen können, daß diese Reisetasche bestimmt nicht billig gewesen war, denn sie kannte die Firma und das Material.

Schade, dachte Henrike, hoffentlich passiert ihr nichts.

Jennifer fuhr mit dem Bus bis zum Hauptbahnhof. Dort stieg sie in ein Taxi, das sie nach Pullach brachte. Dort kam sie vor einer vornehmen Villa an.

Auf ihr Läuten öffnete ihr eine ältere Frau, die sie von oben bis unten musterte, nicht unfreundlich, aber etwas erstaunt.