Wenn Rache nicht genügt - Wolfgang Burger - E-Book
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Wenn Rache nicht genügt E-Book

Wolfgang Burger

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

»Wolfgang Burger schreibt spannende Psychoklassiker, randvoll von subtiler Ironie« Der Kurier

Viele Jahre ist es her, dass Gustaf, der jüngste Sohn der wohlhabenden Heidelberger Familie Cordes, wegen Mordes verurteilt wurde. Das Opfer: sein eigener Halbbruder. Gustaf beteuert seine Unschuld auch noch nach seiner Entlassung aus der Haft, und bittet Alexander Gerlach, den Fall neu aufzurollen.

Der Kripochef ist skeptisch, doch bei der Befragung der Familienmitglieder stößt er auf ein Netz aus Lügen und Intrigen. Was geschah wirklich in der Nacht, in der Oliver Cordes erschlagen wurde? Warum ist dessen Schwester seither spurlos verschwunden? Und wieso ist Gustafs Mutter von der Schuld ihres Sohnes überzeugt? Gerlach wird klar: In dieser Familie hatte jedes Mitglied Grund, Oliver den Tod zu wünschen …

Preisgekrönte Spannung in Krimiserie! 

Mit »Heidelberger Requiem« legte Wolfgang Burger 2005 ein fulminantes Krimi-Debüt vor, das sich aus dem Stand zur neuen Obsession der Fans des Ermittlerkrimis mauserte. Seine Bücher waren bereits mehrfach für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

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Inhalt

Cover & Impressum

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»Kein Zweifel?«

»Kein Zweifel«, wiederholte Laila Khatari, die in meinem Auftrag die bisherigen Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen gesichtet hatte. Die junge, aufgeweckte Kollegin war im Irak geboren, aber schon im Alter von zwei Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Als Jesiden hätten sie im Irak auf Dauer keine Überlebenschance gehabt. Laila zeichnete sich durch sehr dunkle Augen aus, die bei Bedarf sehr unschuldig gucken konnten, und durch ihr schier unverwüstliches, herzerwärmendes Lächeln. Sie war die jüngste Mitarbeiterin im Team, und ich sagte ihr eine steile Karriere voraus. Wenn sie sich in einen Fall verbissen hatte, dann standen die Chancen für den Täter schlecht, ungeschoren davonzukommen.

»Es ist definitiv sein Blut. Und am Kerzenständer kleben auch Haare von ihm. Logisch haben wir noch keine endgültige Sicherheit, weil die DNA-Ergebnisse aus Stuttgart erst in ein paar Tagen kommen. Aber die Blutgruppe stimmt, die Haarfarbe stimmt, bisher stimmt einfach alles.«

Inzwischen war früher Nachmittag. Der Tag hatte mit Regen begonnen, dann hatte es kurz aufgeklart, aber inzwischen schüttete es draußen schon wieder, als wollte es kein Ende nehmen.

»Was ist mit den Fußspuren?«

»Vier verschiedene haben wir bisher identifizieren können. Die meisten sind ziemlich deutlich, weil’s da so furchtbar dreckig ist.« Laila nickte eifrig, als müsste das Gesagte noch verstärkt werden. »Alle sind von Männern, bis auf eine vielleicht.«

Gestern Nachmittag waren die Handwerker zum letzten Mal im Haus gewesen und hatten frischen Staub produziert.

»Drum war’s einfach, alte Spuren von neuen zu unterscheiden. Wie der erste die Treppe rauf und wieder runter ist, war noch kein Blut auf den Stufen.«

»Ein Mann also …« Ich versuchte ein wenig Struktur in die Sache zu bringen.

Die junge, fast knabenhaft schlanke Kollegin, heute nach Vanille duftend, trug einen sandfarbenen Rock zu einer azurblauen Bluse. An den Ohren funkelten bunte Glitzersteinchen, um den Hals hing ein dünnes, goldenes Kettchen. Den daran vermutlich baumelnden Anhänger konnte ich nicht sehen, da die Bluse ihn verdeckte. Im Moment blätterte sie hektisch in ihren Notizen hin und her und schien ein wenig den Überblick verloren zu haben. Aber dann ging es weiter:

»Wir sprechen von einem Herrenschuh, Größe vierundvierzig oder fünfundvierzig, glatte Ledersohle. Der zweite hat Sneakers getragen, eine bis zwei Nummern kleiner als der erste, wahrscheinlich Made in China, das wird momentan noch abgeklärt.« Kopfschüttelnd blätterte sie noch einmal zurück, schien das Gesuchte immer noch nicht zu finden. »Jedenfalls, das Sohlenprofil haben wir nicht im Computer. Der käme als Täter infrage. Er ist als Zweiter oder vielleicht auch als Erster rauf und definitiv als Letzter wieder runter.«

Die dritte Spur, meinte sie, könne von einer Frau stammen.

»Größe achtunddreißig bis vierzig, auch wieder Sneakers, von Nike diesmal und noch relativ neu. Der oder die ist aber bloß bis in den Flur gekommen, hat dort kehrtgemacht und ist wie der Blitz die Treppe wieder runter. So schnell, dass es ihn oder sie auf dem Treppenabsatz voll hingehauen hat.«

»War der Erste auch in der Wohnung?«

»Das ist noch nicht geklärt. Im Flur ist ein solches Durcheinander am Boden, dass wir die Spuren teilweise nicht mehr auseinandersortiert kriegen.«

»Noch mal der Reihe nach, damit ich es verstehe.«

»Also.« Sie holte Atem. »Nummer eins, der mit den glatten Sohlen, ist rauf und wieder runter. Zu dem Zeitpunkt war noch kein Blut auf der Treppe. Nummer zwei ist in der Wohnung gewesen und war als Einziger auch am Tatort. Er ist als Letzter wieder gegangen. Nummer drei, der auch ein Mädchen sein könnte, ist nach den ersten beiden gekommen und definitiv nach Nummer eins wieder gegangen.«

»Und Nummer vier? Sie haben von vier Spuren gesprochen.«

»Die sind vom Opfer, auch Sneakers. In der Wohnung haben wir seine Abdrücke überall gefunden. Auf der Treppe fangen sie erst nach ein paar Stufen an. Da, wo die Schleifspuren aufhören.«

Erneut blätterte sie, überflog noch einmal ihre Notizen. »Ansonsten haben wir noch massenhaft unausgewertetes Material. Das Blut auf der Treppe, Schmierspuren am Geländer, Faser- und Fingerspuren überall. Das wird noch ein bisschen dauern, bis wir damit durch sind.«

Laila blickte auf und sah mir erwartungsvoll ins Gesicht.

»Saubere Arbeit«, sagte ich. »Und Komplimente ans Labor. Das ging ja diesmal wie der Blitz.«

Sie strahlte.

»Wenn ich alles richtig verstanden habe«, rekapitulierte ich sicherheitshalber noch einmal, »dann war das Opfer zwar verletzt, konnte sich aber bald wieder aus eigener Kraft fortbewegen.«

»Und als er wieder auf den Beinen war, hat er sein eigenes Blut an der Hand gehabt«, führte sie meinen Gedankengang fort. »Wahrscheinlich hat er sich an die Wunde gefasst. Daher das Blut am Geländer.«

Vor den Fenstern wurde es noch dunkler, und der Regen wurde stärker. Ich knipste meine Schreibtischlampe an.

»Und anschließend sind die zwei einträchtig zusammen die Treppe runter?«, fragte ich verwundert.

Lailas dunkle Augen wurden noch ein wenig größer. »Vielleicht hat der Täter ihn gezwungen mitzugehen? Mit einer Waffe bedroht oder so?«

»Wer ist vorne gegangen und wer hinten?«

»Mal der eine, mal der andere.«

»Und das Opfer hat keinen Versuch gemacht, den anderen loszuwerden? Davonzulaufen oder zu kämpfen?«

Ratloses Kopfschütteln.

»Klingt irgendwie nicht danach«, folgerte ich, »als hätte der Täter eine Waffe in der Hand gehabt.«

»Ich versteh’s auch nicht, Herr Gerlach«, gestand Laila Khatari mit treuherzigem Blick.

 

»Ich schon wieder.« Als Strohschneider mich zum zweiten Mal an diesem Dienstag anrief, war es schon später Nachmittag. »Da ist noch was, das müssen Sie wissen.«

Gustaf Cordes hatte in den Monaten vor seiner Tat Drogen nicht nur konsumiert.

»Er hat auch gedealt, hat mir grad jemand erzählt. Geschnappt worden ist er aber nie.«

»Eine Akte dazu finde ich auch nicht«, sagte ich nach einer kurzen Anfrage in unserem Intranet.

»Er hat sich seinerzeit hauptsächlich in Mannheim rumgetrieben.«

»Denken Sie, der Anschlag auf ihn hat etwas mit seinen Drogengeschäften zu tun?«

»Möglich wär’s. Alte Schulden, eine offene Rechnung? Solange er im Knast war, konnten sie ja nicht an ihn ran …«

»Klingt nicht ganz unplausibel«, gab ich zu.

Der Drogenhandel war in Mannheim seinerzeit in den Händen von Russen und Tschetschenen gewesen, die sich mehr oder weniger bekriegten und nicht gerade durch übertriebene Nächstenliebe auszeichneten.

»Ein paar Tage bevor der Gusti verhaftet worden ist wegen der Sache mit seinem Bruder, ist einer von den Tschetschenen halb totgeschlagen und dann auch noch mit dem Auto überfahren worden.«

»Und Sie denken jetzt …?«

»Das Denken überlass ich lieber Ihnen, Herr Gerlach. Aber vielleicht wär’s nicht verkehrt, mal ein paar Takte mit Gustis Kumpels aus der Zeit zu reden?«

»Kennen Sie Namen?«

Strohschneider zögerte kurz mit der Antwort. »Der Gusti und ich haben während seiner Haftzeit ein recht gutes Verhältnis gehabt«, sagte er dann. »Er hat mir vertraut, und außer mir hat er keinen gehabt, der sich um ihn gekümmert hätte. Seine Familie hat ihn ja voll hängen lassen. Irgendwann haben wir auch über seine Drogengeschichten geredet. Eigentlich dürfte ich Ihnen das alles gar nicht verraten, aber ich tu’s trotzdem, weil’s ihm vielleicht hilft. Cornelius Neberger und Stefan Grosser, das waren damals seine Kumpels.«

Ich notierte mir die Namen.

»Der Neberger ist tot, soweit ich weiß«, fuhr Strohschneider fort. »Den haben sie eines Morgens am Neckarufer gefunden. Überdosis, das Übliche. Aber der Grosser, der hat die Kurve gekriegt, hat der Gusti behauptet. Und er hat seinen alten Kumpel sogar hin und wieder im Knast besucht.«

Er hatte nebenbei schon ein wenig gegoogelt: Der ehemalige Junkie und Kleindealer arbeitete heute bei einer Baufirma in Ilvesheim.

»Um welche Drogen ist es damals gegangen?«

»Hauptsächlich Shit und Partyzeugs. Von den harten Sachen haben sie die Finger gelassen, das war das Geschäft der Russen und so weiter. Der Neberger ist dann später leider Gottes ans Heroin geraten und hängen geblieben.«

Den größten Teil des Tages hatte ich sitzend in Besprechungen oder am Schreibtisch verbracht. In meinem Kalender standen keine weiteren Termine, und ich war am Morgen wegen des Regens mit dem Wagen zur Arbeit gekommen. So beschloss ich, dem Ex-Junkie Grosser einen Besuch abzustatten. Auf diese Weise kam ich aus dem Büro, hoffentlich auf andere Gedanken und außerdem an die frische Luft.

 

Die Großbaustelle im Wieblinger Industriegebiet, deren Leiter Grosser war, wie ich von seinem Arbeitgeber erfahren hatte, glich einem See. Schmutziges, schlammiges Wasser bedeckte fast die ganze Fläche von vielleicht zweitausend Quadratmetern. Schon als ich die Polizeidirektion durch den Hinterausgang verließ, hatte es so gekübelt, dass ich auf den wenigen Metern bis zu meinem Wagen triefnass wurde.

Als ich meinen bejahrten Peugeot-Kombi zwanzig Minuten später vor dem hohen Bauzaun abstellte, schien der Regen noch stärker geworden zu sein. Einige Männer in gelben Mänteln wateten mit ebensolchen Stiefeln in den Fluten herum und versuchten offenkundig, etwas gegen die Wassermassen zu unternehmen, was jedoch – aus ihren Gesten und Flüchen zu schließen – nicht klappen wollte. Ich nahm meinen großen Schirm vom Rücksitz, sprang aus dem Wagen in die Sintflut, spannte den Schirm auf und trat gleichzeitig in eine knöcheltiefe Pfütze.

»Herr Grosser?«, rief ich in das Rauschen und Tosen, während ich versuchte, mich auf halbwegs trockenes Gelände zu retten. Aber der matschige See wurde mit jedem Schritt nur tiefer. Ich kämpfte mich näher an den Zaun heran, schrie ein zweites und drittes Mal den Namen von Gustaf Cordes’ angeblichem Freund.

Endlich hob eine der traurigen Gestalten den Kopf und brüllte durch das Wasserfallgetöse etwas, das wie »Büro« klang.

Wenige Meter hinter einem halb offen stehenden Gittertor befand sich ein Bürocontainer, in dem Licht brannte. Ich stapfte los. Je näher ich dem Container kam, desto feindseliger schienen die Naturgewalten zu werden. Als wollten sie mein Gespräch mit Stefan Grosser unter allen Umständen verhindern. Inzwischen war auch Wind aufgekommen, sodass mir der Schirm mehrfach fast aus der Hand gerissen wurde. Lauthals verfluchte ich meinen Entschluss, bei diesem Katastrophenwetter selbst nach Wieblingen zu fahren, statt den Job jemand anderem aufs Auge zu drücken. Schließlich erreichte ich das Stahlgitter-Podest vor der Tür des Containers, trat unter ein erbärmlich kleines Vordach, hämmerte gegen die Blechtür.

»Herein!«, hörte ich innen eine grobe Männerstimme rufen. Ich folgte der Einladung, zog jedoch zuvor die Schuhe aus, um sie zu leeren.

Auf nassen Strümpfen und mit den Schuhen in der Hand betrat ich das provisorische Büro, das kaum größer als mein Badezimmer war. In den länglichen Raum waren nicht weniger als vier Schreibtische gequetscht. Drei davon waren unbesetzt, über den hintersten gebeugt saß ein Riese mit dem Rücken zu mir und einem großen Handy am Ohr, in das er hineinschimpfte. Er wandte sich nicht um, als er mich eintreten hörte, sondern nahm nur das Handy kurz ein wenig vom Ohr.

»Was?«, fragte er entnervt. »Was habt ihr Pappnasen denn jetzt wieder für ein Problem?«

Auf das Dach der Blechkiste trommelte der Regen wie der verrückt gewordene Medizinmann eines bislang unentdeckten Buschvölkchens.

»Ich würde gerne mit Ihnen reden«, sagte ich zu dem breiten Rücken. »Es geht um Gustaf Cordes.«

Ruckartig hob Grosser den Kopf, machte auf seinem Stuhl mit überraschender Behändigkeit eine 180-Grad-Drehung, starrte mich finster an.

»Und Sie sind …?«

»Gerlach, Kripo Heidelberg.« Ich wedelte kurz mit meinem Dienstausweis. Es roch nach feuchten Klamotten, längst kalt gewordenem Kaffee und Männerschweiß.

»Was ist mit Gusti? Hat er schon wieder was angestellt?«

Auf die Idee, mir einen Stuhl anzubieten, kam Grosser nicht. So setzte ich mich einfach auf den Schreibtischsessel, der ihm gegenüberstand. Er bellte noch einige unfreundliche Worte ins Handy – offenbar ging es um eine verspätete Lieferung von Isolationsmaterial – und pfefferte es dann auf den Tisch.

»Sie haben ihn manchmal im Gefängnis besucht, habe ich gehört.«

»Stimmt«, erwiderte der andere, jetzt ruhiger, aber immer noch misstrauisch. »Nicht oft, allerdings. Und viel Zeit hab ich nicht für Sie, das muss ich Ihnen gleich sagen. Wenn meine Clowns da draußen die Pumpen nicht bald ans Laufen kriegen, dann saufen wir hier ab und können morgen wahrscheinlich wieder von vorne anfangen. Dabei sind wir jetzt schon drei Wochen im Verzug.«

Infolge der Überschwemmung hatte es einen Kurzschluss gegeben, erzählte er mir, sodass der größte Teil seiner Baustelle zurzeit stromlos war.

»Die Kiste hier hängt zum Glück an einer anderen Sicherung. Und was genau wollen Sie jetzt von mir hören?«

»Anscheinend sind Sie der einzige Mensch, der ein bisschen mehr über Gustaf weiß als das, was in den Polizeiakten steht.«

Ich erzählte ihm von dem nächtlichen Überfall auf seinen früheren Freund.

»Meine Antwort ist einfach.« Der Bauleiter lehnte sich entspannt zurück, was sein Stuhl zu empörtem Quietschen veranlasste. »Ich habe keinen blassen Dunst, was da passiert sein könnte. Die letzten Jahre haben wir keinen Kontakt mehr gehabt.«

»Darf ich fragen, warum nicht?«

»Weil er mir am Ende bloß noch auf den Geist gegangen ist, der Gusti, darum.«

Von draußen war mit einem Mal ein Brummen zu hören, und in Grossers linkem Mundwinkel erschien die Andeutung eines Lächelns. Sekunden später begannen noch eine zweite und schließlich eine dritte Pumpe zu arbeiten.

»Gott sei Dank«, grunzte er befriedigt. »Scheiße aber auch!«

»Wissen Sie etwas über seine Pläne?«

»Pläne?« Grosser lachte kurz und gallig. »Gusti und Pläne? Soll das ein Witz sein?«

»Er muss sich doch Gedanken gemacht haben, was er nach seiner Entlassung anfängt.«

»Überhaupt nichts wollte er anfangen. Erst mal raus aus dem Bunker und dann mal gucken. Das war O-Ton Gusti: ›mal gucken‹ hat er jeden Tag zehnmal gesagt.«

»Er behauptet, er sei unschuldig.«

Seufzend rollte Grosser die ein wenig vorstehenden Augen zur Decke. »Angeblich hat er den totalen Filmriss gehabt, wie er seinen Bruder umgehauen hat, weiß schon. Das Theater war übrigens seinerzeit ein Grund für mich, mit dem Drogenscheiß aufzuhören. Drum hab ich mich später auch ein bisschen um Gusti gekümmert. Mir war klar geworden, dass genauso gut ich irgend so einen Mist hätte bauen können, der mich in den Knast gebracht hätte.«

Auf das Dach der Blechkiste trommelte mit unvermindertem Eifer der Regen. Hier drinnen war es feucht und stickig. Grosser lief der Schweiß übers Gesicht, obwohl er sich kaum bewegte.

»Ich brauche Sie vermutlich nicht zu fragen, wer Ihren Freund niedergeschlagen haben könnte.«

Abwehrend schüttelte Grosser seinen schweren, fast völlig haarlosen Schädel. »Gusti ist schon lange nicht mehr mein Freund. Bei meinem letzten Besuch haben wir uns ziemlich in die Wolle gekriegt. Und das brauch ich nicht, ehrlich gesagt, mich von jemandem anscheißen zu lassen, dem ich helfen will.«

»Vielleicht eine kleine Andeutung, worum es ging bei dem Streit? Hatte es etwas mit Ihrer gemeinsamen Drogenvergangenheit zu tun?«

Grosser zögerte. Schien mit sich zu kämpfen.

»Ich bin so verschwiegen wie Ihr Beichtvater.«

Jetzt lachte er, dass die Scheiben klirrten. »Mein letzter Beichtvater ist zwar vor zwanzig Jahren gestorben, aber okay, um Conny ist es gegangen.«

»Cornelius Neberger?«

»Der Spinner ist fast mal draufgegangen, wissen Sie wahrscheinlich.«

»Ich dachte …«

»Sie haben gedacht, er ist wirklich tot? Vielleicht ist er das inzwischen auch, wer weiß. Wie Gusti eingefahren ist, war Conny aber noch am Leben. Und auf einmal hat Gusti behauptet, ich hätte Conny zu starken Stoff gegeben, und zwar mit voller Absicht. Ein bisschen was war sogar dran an der Geschichte, muss ich zugeben. Ich war günstig an ein bisschen Eitsch gekommen, richtig guten Stoff, nicht so’n dreimal gestreckter Dreck, wie er sonst auf dem Markt ist. Gusti und ich haben nur ganz wenig genommen, weil wir diesen Heroinscheiß nicht so gewöhnt waren, zum Glück. Aber Conny, dieser Vollpfosten, hat sich um ein Haar den goldenen Schuss gesetzt.«

Da hatte Strohschneider offenbar nicht richtig zugehört, als Cordes vom Schicksal seines zweiten Freunds erzählte. Oder er hatte seine Notizen falsch entziffert.

»Und Gustaf hat also behauptet, Sie hätten Neberger absichtlich …?«

»Ich hätte es mir denken können, hat er gemeint, dass Conny mit dem Zeug nicht klarkommt. Ich fand, er hätte sich auch was denken können. Letztlich haben wir beide nichts dafür gekonnt, dass dieser Irre sich nicht unter Kontrolle hatte. Wir waren alle drei nicht mehr zurechnungsfähig und haben jeden Tag einen anderen Mist gebaut.«

»Halten Sie es für denkbar, dass diese Geschichte hinter dem Angriff auf Gustaf steckt?«

»Keine Ahnung.« Grosser hob die mächtigen Schultern, ließ sie wieder sinken. Auch sein T-Shirt war schweißnass. »Vielleicht Conny selber? Der ist damals schon hohl im Kopf gewesen und dürfte über die Jahre nicht schlauer geworden sein.«

Von einer Sekunde zur nächsten endete das Geprassel auf dem Dach. Die Pumpen waren jetzt deutlicher zu hören. Dazu Männerstimmen, Männerlachen, als gäbe es einen Sieg zu feiern.

»Sie haben seither nichts mehr von Neberger gehört?«

»Wir haben erst später, im Lauf des Tages, erfahren, dass Conny fast über den Jordan gesegelt wäre. Wie sie ihn am nächsten Morgen gefunden haben, war er praktisch schon am anderen Ufer, aber irgendwie haben sie ihn wieder auf die Beine gekriegt. War ein mächtiger Schock für uns und übrigens der zweite Grund für mich, mit dem Mist endlich aufzuhören.«

Ich wiederholte meine Frage.

Kopfschütteln. »Keine Ahnung, was aus dem Hohlkopf geworden ist.«

»Eine Idee, wo er jetzt stecken könnte?«

Wieder Kopfschütteln.

»Wer etwas über ihn wissen könnte?«

Achselzucken.

»Ich habe gehört, es hätte damals Stress mit irgendwelchen Russen gegeben und ein Tschetschene sei ermordet worden.«

»Mit denen hatten wir nichts zu tun. Die Russen haben ihr Revier um den Bahnhof herum gehabt, die Tschetschenen am Marktplatz und in Klein-Istanbul. Zwischen denen hat es immer wieder mal Händel gegeben, aber wir haben uns da rausgehalten. So blöd waren wir dann doch nicht. Unser Revier waren die Neckarwiesen. Manchmal sind wir auch beim Wasserturm rumgehangen.«

»Was ist eigentlich Ihre Schuhgröße?«, lautete meine letzte Frage, als ich mich erhob.

Verdutzt sah Grosser zu mir auf. »Sechsundvierzig, wieso? Wollen Sie sich ein Paar Stiefel ausleihen? Können Sie haben, no problem. Aber Wiedersehen macht Freude.«

»Nein, nein.« Ich lächelte ihn unschuldig an. »Meine Schuhe sind sowieso schon reif für die Mülltonne.«

Als ich aus der stickigen Baracke in die nasse Kühle hinaustrat, hatte der Regen aufgehört, und die Pumpen brummten friedlich in der goldenen Spätnachmittagssonne.