»Wer Jude ist, bestimme ich« - Volker Koop - E-Book

»Wer Jude ist, bestimme ich« E-Book

Volker Koop

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Beschreibung

In den 'Nürnberger Rassengesetzen' hatten die Nationalsozialisten ihre rassischen Wahn­ideen festgeschrieben. Immer wieder aber machte Hitler von seinem 'Gnadenrecht' Gebrauch, Juden zu 'Ehrenariern' zu erklären oder jüdische 'Mischlinge' aufzuwerten. Zu 'Ehrenariern' wurden Weggefährten erklärt, die sich um die 'Bewegung' verdient gemacht hatten. Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg bewährt hatten, durften in der Wehrmacht weiterdienen. Bei wirtschaftlichem oder persönlichem Interesse zögerte das NS-­Regime nicht, 'Ehren­arier' zu ernennen oder 'Deutschblütigkeit' zu bescheinigen. Besonders häufig erhielten Publikumslieb­linge von Film und Theater Sondergenehmigungen, auch wenn sie Juden waren oder jüdische Familienangehörige hatten. Einer der bekanntesten 'Ehren­arier' war Generalfeldmarschall Erhard Milch, der eine herausragende Stellung im Reichs­luftfahrtministerium einnahm und die menschenverachtenden, oft tödlichen 'Humanexperimente' der Luftwaffe in den Konzentrationslagern verantwortete. Unter Hitlers persönlichem Schutz stand der Linzer Eduard Bloch, der jüdische Hausarzt seiner Mutter. Die besondere Aufmerksamkeit Himmlers richtete sich auf den öster­reichischen 'Halbjuden' Robert Feix, einen Lebens­mitteltechniker, der u. a. das Geliermittel Opekta erfand.

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Volker Koop

»Wer Jude ist, bestimme ich«

»Ehrenarier« im Nationalsozialismus

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung:Reichsmarschall Hermann Göring (Mitte) schreitet im März 1938nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich in Begleitung vonLuftwaffenoffizieren (links Generalinspekteur der Luftwaffe Erhard Milch)eine Ehrenformation im oberösterreichischen Wels ab. (Foto: akg-images)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar WienUrsulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Lektorat: Annalisa Viviani, MünchenUmschlaggestaltung: Peter Frommann, KölnSatz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln

Print-ISBN: 978-3-412-22216-1

Datenkonvertierung: Datamatics Global Services, Griesheim

eBook-ISBN: 978-3-412-21723-5

Inhalt

Einleitung

Hitlers Judenhass und Judennähe

Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

Die Nürnberger Rassengesetze

Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

Der 20. Juli: Auftrieb für NS-Rassisten

Ausnahmegenehmigungen für die Prominenz

Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Der Disput um die »biologische Wirklichkeit«

Hans Hinkel – Goebbels’ Wächter der Kulturpolitik

Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Emil Maurice – Hitlers früher Gefolgsmann

Robert Feix – »Halbjude« unter Himmlers Schutz

Hitlers Kritik an der Judenfreundlichkeit der Bündnispartner

Schlussbetrachtung

Anhang

Dank

Abkürzungen

Zitierhinweis

Anmerkungen

Archive

Ausgewählte Literaturhinweise

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Der Maler Anton Leidl aus München schrieb am 20. April 1942 an das Reichsinnenministerium und stellte eine heikle Frage.1 Er war von Dr. Paul Heisel, dem Chefchemiker der I.G. Farben in Gersthofen, gebeten worden zu erkunden, ob es »tatsächlich einen Ehrenarier-Pass gibt«. Leidl hatte seiner Anfrage eine Liste mit Erfindungen des Chemikers beigefügt, um dessen Bedeutung zu unterstreichen. Besonders befasste sich Heisel mit chemischen Kampfstoffen sowie mit Ausgangsstoffen für neuartige Sprengstoffe.

Dennoch zeigte Leidl sich hinsichtlich einer positiven Beantwortung seines Briefes skeptisch, denn bei Heisel handelte es sich um einen sogenannten Halbjuden. Und die galten im »Dritten Reich« nicht viel, es sei denn, sie waren für die Kriegswirtschaft wichtig oder hatten einflussreiche Förderer. Zwar hatten sich die Werksleitung wie auch der zuständige NS-Gauobmann für Heisels Verbleib in dem Unternehmen eingesetzt, doch ob die Entscheidung zugunsten des Chefchemikers fallen würde, war mehr als unsicher. Einen »Ehrenarier«-Pass gebe es nicht, antwortete im Auftrag des Reichsinnenministers Ministerialrat Johannes Kaibel am 24. April 1942 und riet Heisel, »ein Gesuch um Gleichstellung mit deutschblütigen Personen zu stellen«.2

Einen derartigen Antrag hielt der Ministerialrat für nicht aussichtslos, denn Heisel hatte zwar eine jüdische Mutter, aber einen »vollarischen« Vater. Zudem hatte er neuartige künstliche Kautschukmassen, Lackrohstoffe sowie Weichmacher und Lösungsmittel, Ausgangsmaterialien für Kunststoffe, neue Klebmassen, Riechstoffe, Schädlingsbekämpfungsmittel und Textilstoffe entwickelt. Außerdem war er während seiner Münchner Studentenzeit Mitglied des Epp’schen Freikorps3 gewesen und hatte sich somit frühzeitig für die »Bewegung« eingesetzt, was im »Dritten Reich« mehr galt als manch anderes Verdienst. Am 16. Juli 1943 richtete Kaibel ein weiteres Schreiben an Leidl und informierte ihn darüber, das Heisels Gesuch inzwischen an das Bayerische Staatsministerium des Innern weitergeleitet worden war.4 Bedenken gegen eine »ausnahmsweise« Bearbeitung des Gesuchs bestünden nicht, »falls die [<<7||8>>] vom Gesuchsteller behauptete Kriegswichtigkeit zutreffen sollte«. Wie lange die Bearbeitung des Antrags dauern werde, lasse sich aber nicht abschätzen.

Die Frage nach dem »Ehrenarier-Pass« wirft ein Schlaglicht auf den Wahnwitz der nationalsozialistischen Rassenpolitik und auf die Willkür, mit der auch in diesem Bereich vorgegangen wurde. Nicht erst mit den Nürnberger Rassengesetzen vom 15. September 1935 und den folgenden zahlreichen Verordnungen teilten die Nationalsozialisten Menschen in unterschiedliche Kategorien ein: in Deutschblütige, Artverwandte oder Artfremde, in Juden, jüdische Mischlinge, Geltungsjuden oder in jüdisch Versippte und in »Kleiderjuden«, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie waren vom »Rassegedanken« besessen und setzten ihn – ohne merkbaren Widerstand der Bevölkerungsmehrheit – rigoros in allen Bereichen des Staates um: in der Wirtschaft, der Politik, in Reichswehr beziehungsweise Wehrmacht und im Alltag.

Allein Hitler vermochte dank seiner Machtuneingeschränktheit als »Führer« die rassische Einordnung von Menschen zu ändern. Damit war er auch in diesem Bereich Herr über Leben und Tod. Aus »Mischlingen 1. Grades« machte er »Mischlinge 2. Grades«, und solche stellte er bisweilen »Deutschblütigen« gleich. Auf der einen Seite wollten die Nationalsozialisten das Judentum auslöschen – in Deutschland, in den besetzten Gebieten und schließlich weltweit. Hitler gab an, dass selbst nach einem halben Jahrtausend »jüdisches Blut« die Physiognomie eines Menschen bestimmen würde. Andererseits stellte er »Mischlinge« – und häufig auch deren Nachkommen – Deutschblütigen gleich, was die Verfechter der reinen NS-Rassenlehre zur Verzweiflung brachte. Denn mit einer solchen Erklärung, einem solchen »Gnadenakt«, wurde »die Ausrottung« jüdischen Bluts schlicht unmöglich.

Die »Gleichstellung mit Deutschblütigen« bedeutete jedoch keinesfalls, dass sich die Betreffenden dauerhaft in Sicherheit wiegen konnten. Häufig wurde sie nur vorläufig ausgesprochen, da Hitler eine endgültige Entscheidung erst nach dem Ende des Krieges treffen wollte.

Den Begriff des »Ehrenariers« gab es im damaligen amtlichen Deutsch nicht. Er entsprach im Wesentlichen dem »Deutschblütigen«, wobei wiederum unterschieden wurde zwischen jenen, die trotz eines Anteils jüdischen Blutes oder einer jüdischen Partnerin bzw. eines jüdischen [<<8||9>>] Partners zum Beispiel dem öffentlichen Dienst weiterhin angehören durften. Anderen besonders Bevorzugten war es zudem gestattet, in der Partei zu bleiben und dort sogar Ämter auszuüben. Der systemimmanente Zynismus zeigte sich auch hier: In einem Flugblatt der Gaupropagandaleitung Berlin wurde behauptet: »Diese Ausnahmebestimmungen bedeuten keine Rücksichtnahme auf den Juden, sondern sie bezeugen Achtung vor deutschem Blut selbst im Mischling.«5

Es gab nur eine unumstößliche Größe bei der Genehmigung von Ausnahmen und Sonderregelungen im Kontext mit den Rassengesetzen: Parteigrößen oder Minister konnten zwar Weichen stellen, vorschlagen und vortragen, doch waren sie stets auf Hitlers Zustimmung angewiesen.

Dass beispielsweise immer wieder Reichsmarschall Hermann Göring der Ausspruch zugeschrieben wird »Wer Jude ist, bestimme ich«, trifft nicht den Sachverhalt, denn Göring hatte in diesen Fragen keinerlei Befugnis und war somit nicht in der Lage, in diesem Bereich überhaupt etwas zu bestimmen. Es ist bezeichnend, dass alle Erklärungen, mit denen »Mischlinge« zu »Deutschblütigen« erklärt wurden, den Hinweis enthalten: »Nach Vortrag beim Führer …« Manchmal wird als Urheber dieses Satzes auch der Wiener Bürgermeister Karl Lueger genannt, der mit seinem Anfang des 20. Jahrhunderts propagandistisch und religiös motivierten Antisemitismus als Impulsgeber Hitlers galt. Aber auch diese Behauptung lässt sich nicht nachweisen.

Propagandaminister Joseph Goebbels oder Reichsmarschall Göring werden bisweilen als Pragmatiker dargestellt, weil sie in ihrem Umfeld Personen duldeten, die den NS-Rassekriterien nicht entsprachen. Doch hatte dies häufig persönliche Gründe. Insbesondere Goebbels, der als »Schürzenjäger« bekannt war, nutzte die Möglichkeit, um schöne Frauen, die er erobern wollte, trotz »rassischer Bedenken« mit Sondergenehmigungen zu fördern. Das ändert nichts daran, dass Goebbels und Göring überzeugte militante Antisemiten waren. Und wenn Hitler eine Zeit lang seine schützende Hand über den jüdischen Arzt seiner Mutter, seinen früheren Kompaniechef oder seinen ehemaligen Fahrer hielt, dann allenfalls aus einem Anflug von Sentimentalität.

Da es in den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 lediglich hieß: »Der Führer und Reichskanzler kann Befreiungen von den Vorschriften der Ausführungsverordnungen erteilen«, ohne hierfür Voraussetzungen [<<9||10>>] zu definieren, waren der Willkür Tür und Tor geöffnet. Hier wurde ein verdienter Offizier zum »Deutschblütigen« erklärt, dort ein für das Regime wichtiger Unternehmer oder Forscher. Der eine mit einer jüdischen Frau Verheiratete musste aus der NSDAP austreten, der andere durfte in ihr bleiben. In dem einen Fall galt die Bewährung als Frontoffizier, in dem anderen der frühe Einsatz für die »Bewegung«, in einem dritten hatte beides kein Gewicht.

Häufig schien auch Korruption eine Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls lässt sich das aus einer Äußerung von Propagandaminister Goebbels schließen, der zufolge in der von Philipp Bouhler geleiteten Privatkanzlei Hitlers »Gnadengesuche zum Teil auf dem Bestechungswege« erledigt worden waren.6 Diese Vermutung wird durch die Historikerin Beate Meyer erhärtet. Sie beschreibt einen Vorgang, nach dem der Hamburger Reichsstatthalter und Gauleiter Karl Kaufmann die »halbjüdischen« Stiefkinder eines Kaufmanns für arisch hatte erklären lassen. Im Gegenzug hatte er eine großzügige Spende für die von ihm geleitete und verwaltete »Hamburger Stiftung von 1937« bekommen.7

Für die Prüfung der Anträge und für die Vorlagen an Hitler war federführend das Reichsinnenministerium zuständig, das oft auf »erbbiologische Gutachten« des Reichssippenamtes zurückgriff. Doch gerade diese Stelle, die Hüter des Rassenwahns hätte sein sollen, erwies sich im nationalsozialistischen Sinn als unzuverlässig und empfahl – für die NS-Rassenfanatiker zu häufig –, dem Ersuchen der Antragsteller stattzugeben.

Die wesentlichen Quellen für die Befassung mit dieser Thematik finden sich vor allem im Bundesarchiv und sind weit verstreut. Die Bestände der Partei-Kanzlei der NSDAP, der Reichskanzlei, des Reichsministeriums des Innern beziehungsweise der Justiz, des Propagandaministeriums sowie von Himmlers SS sind hier ebenso ergiebig wie – vor allem im Hinblick auf die Wehrmacht – die Akten des Bundesarchivs in Berlin und seiner Abteilung Militärarchiv in Freiburg. Über Hitlers »halbjüdischen« ersten Fahrer Emil Maurice geben die Spruchkammerakten des Staatsarchivs München Auskunft ebenso wie über den Staatskommissar Hans Hinkel, der das kulturelle Leben »judenfrei« machen sollte. Bezüglich Dotationen für den »halbjüdischen« Staatssekretär und Generalfeldmarschall Erhard Milch ist das Hauptstaatsarchiv München ertragreich, während dessen Geburtsurkunde das Stadtarchiv [<<10||11>>] Wilhelmshaven verwahrt. Zu empfehlen sind die Arbeiten von Beate Meyer (Jüdische Mischlinge – Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945) sowie eine Reihe von Ausarbeitungen des Instituts für Zeitgeschichte München.

Manche der bisherigen Veröffentlichungen sind mit gewisser Skepsis zu betrachten, beispielsweise Bryan Mark Riggs Hitlers jüdische Soldaten. Abgesehen davon, dass allein der Titel Fragen aufwirft, ging der Autor mit teils fragwürdigen Methoden vor. So schätzt er die Zahl der »jüdischen Soldaten« auf 150.000 und hat damit ein weltweites Medienecho hervorgerufen. Das Rechenkunststück basiert allerdings auf einer angenommenen und durch nichts begründeten »Nettofortpflanzungsrate« von zwei bis drei Kindern pro »Mischehe«. Auf diese Weise kommt Rigg zu der Behauptung, es habe 150.000 jüdische Wehrmachtsangehörige gegeben. Dabei zitiert er Literatur, die ihn selbst widerlegt: Etwa 42 Prozent der »Mischehen« waren kinderlos, circa 26 Prozent hatten ein Kind, 17 Prozent zwei und nur 15 Prozent drei oder mehr Kinder.

Es braucht keine »Sensationshascherei«, um den Wahnwitz der NS-Rassenpolitik und verbunden damit den Umgang mit ihr darzustellen. Es gab im »Dritten Reich« nur einige Hundert sogenannte Ehrenarier. Der Leiter des Referats »Rassenpolitik« im Reichsministerium des Innern, Bernhard Lösener, nannte für den Zeitraum bis September 1942 ganze 394 Gleichstellungen mit »Deutschblütigen«. Da von diesem Zeitpunkt an die Genehmigung von Ausnahmebestimmungen erheblich restriktiver gehandhabt wurde und nach dem 20. Juli 1944 praktisch keine »Ehrenarier« mehr ernannt wurden, kann man davon ausgehen, dass deren Zahl letztlich die 500 nicht überschritten haben dürfte.

Völlig anders gestaltete sich die Situation für die »Mischlinge« oder »jüdisch Versippten«, die im Bereich der Kultur, und insbesondere im Film, tätig waren. Gerade hier wurden zahlreiche Sondergenehmigungen ausgesprochen. Die Betroffenen wurden zwar nicht »heraufgestuft«, durften aber weiterhin auftreten oder in Filmen mitwirken, um – wie der nach NS-Diktion »jüdisch versippte« Heinz Rühmann – die kriegsmüde und leidgeprüfte Bevölkerung abzulenken oder zu erheitern.

Der Zynismus, mit dem die Nationalsozialisten in Rassenfragen mit Menschen umgingen, zeigt sich an folgender Anweisung: Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD stellte am [<<11||12>>] 26. August 1942 klar, dass Reichsdeutsche, die zum jüdischen Glauben übergetreten waren, auch weiterhin als »Deutschblütige« behandelt werden sollten, wenn sie nach Deutschland zurückkehren wollten.8 Ihrer Rückkehr ins Reichsgebiet stand damit nichts im Wege, machte man sie glauben. Den folgenden Teil des Befehls wird man wohlweislich verschwiegen haben: »Da es sich hierbei jedoch um stark belastete Personen handelt, werden sie sofort nach Grenzübertritt einem Konzentrationslager überstellt. Nach einer gewissen Haftzeit wird dann geprüft werden, ob eine Haftentlassung in Betracht kommen kann.«

Im »Altreich« und in den besetzten Gebieten konnten die Nationalsozialisten ihre »Rassengesetze« zu einem großen Teil umsetzen, was Millionen Menschen, in erster Linie Juden, das Leben kostete. Bemerkenswerterweise aber dachten einige der »Verbündeten« gar nicht daran, dem NS-Regime auf diesem Weg bedingungslos zu folgen. Immer wieder mokierten sich NS-Führer darüber, dass beispielsweise in Kroatien oder in Ungarn das Instrument der »Ehrenarierschaft« zu exzessiv angewandt wurde. Selbst in Mussolinis Italien wurden zahlreiche jüdische Mitbürger gerettet, indem sie zu »Ehrenariern« erklärt wurden. Schließlich gestand das NS-Regime den Japanern, die Hitler in Mein Kampf noch als minderwertige Rasse bezeichnet hatte, pauschal den Status von »Ehrenariern« zu, um die asiatische Achsenmacht als Verbündeten nicht zu verprellen.

Wenn man sich mit »Ehrenariern« befasst, wird man oft keine genauen Zahlen nennen können, sondern sich auf die Spekulation zurückziehen müssen. Das ist aber nicht erforderlich, denn die nationalsozialistischen Rassengesetze und die Willkür, mit der sie teilweise umgangen wurden, sprechen eine allzu deutliche Sprache. Sie stehen weiterhin für das pathologische Rassendenken der Nationalsozialisten, dem kaum jemand im »Dritten Reich« widersprochen oder sich gar entgegengestemmt hatte. [<<12||13>>]

Hitlers Judenhass und Judennähe

Hitler war von einem völlig irrationalen Hass auf Juden und alles Jüdische erfüllt und hat daraus auch nie einen Hehl gemacht. Über sechs Millionen Menschen – in erster Linie Juden, darüber hinaus Angehörige anderer völkischer Minderheiten – ließ er in seinem Wahn brutal ermorden. Dabei wurde er in seiner Liquidierungswut, in der Lust zu quälen, von einigen seiner engsten Vertrauten sogar noch übertroffen. Dazu zählt zweifellos der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, der für die Massenermordung von Juden ebenso verantwortlich war wie für die unsäglichen Foltermethoden und Experimente an Menschen in den Konzentrationslagern des NS-Regimes. Der ehemalige Laborant in einer Fabrik für künstliche Düngemittel Himmler hatte sogar eine Begutachtung aller Deutschen in »rassischer Hinsicht« gefordert. »Rassenkenner« sollten nach dem Krieg jeden Deutschen durch »praktische Inaugenscheinnahme« begutachten, um »gutes« von »schlechtem Blut« zu trennen und Letzteres auszumerzen.1

Aber es waren durchaus nicht immer die führenden Repräsentanten des Systems, die besondere Härte in der Verfolgung von »Nichtariern« an den Tag legten. Es war oft genug die »zweite Reihe«, die direkt oder über Vorlagen an ihre vorgesetzten Minister oder Parteifunktionäre über Leben und Tod von Menschen entschied wie im Fall des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann, Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin. Dasselbe galt auch für den Kommandanten des Konzentrationslager Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß.

Im Reichsministerium des Innern ist beispielsweise Staatssekretär Wilhelm Stuckart zu nennen, der schon 1922 in die NSDAP und dann 1936 in die SS eingetreten war. Er war wesentlich an der Formulierung der Nürnberger Rassengesetze sowie an den Durchführungsverordnungen beteiligt. Unter anderem leitete er als Vorsitzender die Geschicke der »Kommission zum Schutz des deutschen Blutes«. Gegen Kriegsende war Stuckart, der als Staatssekretär auch an der berüchtigten [<<13||14>>] Wannseekonferenz teilgenommen hatte, auf der die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen worden war, in der kurzlebigen Flensburger Regierung Dönitz Reichsinnenminister.

Ein weiterer Täter war Ministerialdirektor Hans Hinkel, ab 1930 Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis 3, Potsdam, und Staatskommissar im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. 1933 veröffentlichte er in seiner Funktion als »beauftragter Führer des als Herausgeber zeichnenden Berliner Kampfbundes für Deutsche Kultur« eine Übersicht über das Kabinett Hitler, die verrät, wes Geistes Kind er war. Er schrieb: »Wenn sich eine neue deutsche Kultur entwickeln soll, so ist das nur möglich im Schatten der Macht.«2 Hinkels vorrangiger Auftrag lautete, das deutsche Kulturleben grundlegend zu »entjuden«. Seine Abteilung »Besondere Kulturaufgaben« war zuständig u.a. für die Erfassung der Juden, »Mischlinge« und »jüdisch Versippten«, ihre Ausschaltung aus dem Kulturleben sowie ihre Deportation. In seinen Funktionen als Reichsfilmintendant und Leiter der Filmabteilung im Propagandaministerium war es vor allem Hinkel, der Sondergenehmigungen für Schauspieler und andere Kulturschaffende im Bereich des Films gegenüber Goebbels befürwortete oder ablehnte und damit in das Leben vieler Menschen eingriff. In der Frankfurter Zeitung vom 6. April 1933 verkündete Hinkel bereits, Klemperer und Walter seien von der musikalischen Bühne verschwunden, weil es nicht mehr möglich gewesen sei, diese » jüdischen Kunstbankrotteure« vor der Stimmung des deutschen Publikums zu schützen. Hinkel war stolz darauf, dass, wie er es formulierte, »in den ersten Jahren des Dritten Reiches alle Rassejuden von der künstlerischen oder sonstig kulturschaffenden Betätigung innerhalb des deutschen Bereiches« ausgeschaltet worden waren.3 Die nur ganz seltenen Ausnahmen bei Frontkämpfern und alternden Personen bestätigten die Regel, dass nach NS-Auffassung »rassisch artfremde Menschen nicht in der Lage sind, deutsche Kulturgüter zu pflegen, zu verwalten oder gar zu gestalten«.

Zu nennen ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt Walter Tießler, der seine NS-Karriere zunächst als Angehöriger der Gaupropagandaleitung München gestartet hatte und dann als Abteilungsleiter für Propaganda im Stab »Stellvertreter des Führers« und damit als Verbindungsmann zum Propagandaministerium fortsetzte. Tießler gehörte zu den radikalsten Rassisten innerhalb der NS-Hierarchie und machte keinen [<<14||15>>] Hehl daraus, dass er die deutsche Kulturszene von jedem auch noch so geringen jüdischen Einfluss befreien wollte. Symptomatisch für seine Haltung ist ein persönliches Schreiben von ihm, nachdem seine Wohnung im Mai 1943 bei einem Bombenangriff zerstört worden war. Einem Bekannten schrieb er: »Wir sind inzwischen über das Schlimmste hinweg und nun von einer früheren Judenwohnung in die andere gewandert.«4

In der Endzeit des Regimes wurde er als Aufpasser von Generalgouverneur Hans Michael Frank, der bei Hitler in Ungnade gefallen war, nach Krakau geschickt. Im Münchener Staatsarchiv finden sich noch Tießlers Spruchkammerakten, die Auskunft über ihn bis ins Jahr 1948 geben, doch sein weiteres Schicksal beziehungsweise seine Todesumstände sind nicht bekannt.

Unmittelbar nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 gingen die Nationalsozialisten daran, alles Jüdische in Deutschland zu tilgen. Als eine erste Generalprobe konnte der Boykott gegen jüdische Geschäfte, Ärzte, Rechtsanwälte usw. gelten, den der fränkische Gauleiter der NSDAP, Julius Streicher, am 1. April 1933 organisierte. Es folgte das Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums, das den Nationalsozialisten die gesetzliche Grundlage verschaffte, Juden aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Mit den Nürnberger Rassengesetzen vom September 1935 wurden Juden endgültig zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Das »Reichsbürgergesetz« mit einer Reihe von Verordnungen und vor allem auch das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« nahmen Juden und Angehörigen einer Reihe anderer Ethnien »artfremden Blutes« alle grundlegenden Menschenrechte. Letztlich wurde ihnen sogar das Menschsein abgesprochen.

Verdienste, die über hunderttausend jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg erworben hatten, galten nichts mehr. Sogar die Namen gefallener jüdischer Soldaten wurden von den Ehrentafeln getilgt, nichts sollte an sie erinnern. Wissenschaftliche Erkenntnisse, soweit jüdische Forscher und Wissenschaftler maßgeblichen Anteil daran hatten, sollten »germanisiert« werden. Dies galt für die Physik ebenso wie die Mathematik oder wesentliche Bereiche der Medizin. Bedeutende Wissenschaftler wie Albert Einstein gingen Deutschland auf diese Weise verloren. [<<15||16>>]

»Arier« als auserwähltes Volk

Antisemitismus war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches, Hitlers Hass auf alles Jüdische entsprach durchaus dem Zeitgeist. Dagegen war für Hitler der »Arier«, den er übrigens nie exakt definieren konnte, der »Kulturbegründer« überhaupt. Das Wort »Arier« stammt aus dem Altpersischen und bedeutet »gut«, »rein«, »edelmütig«.5 Als Arier bezeichnete man im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts ein Volk, von dem angeblich alle hellhäutigen Europäer abstammten. Der am meisten verbreiteten Theorie zufolge waren die Arier ein nomadisches Reitervolk aus den Steppen, das sich sowohl nach Süden als auch nach Westen ausgebreitet hatte.

Die Theorie, die Arier hätten ihren Ursprung in den Weiten Russlands gehabt, wurde von deutschnationalen Kreisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend abgelehnt. Stattdessen wurde behauptet, die Arier seien ursprünglich in Norddeutschland oder Skandinavien heimisch gewesen, wo ihre rassischen Merkmale – blond, blauäugig – besonders deutlich erhalten seien. Belegt wurde diese Theorie nicht. Viele der selbst ernannten Theosophen und Ariosophen glaubten, der Ursprung der Arier sei Atlantis gewesen, die Arier somit die Atlanter. Himmler war sogar der Überzeugung, alle hoch entwickelten Kulturen hätten ihren Ursprung im Ostseeraum. Selbst die italienische, griechische und sogar die chinesische Kultur wollte er auf diese Weise vereinnahmen. Die Ideologie des Nationalsozialismus sah in den »Ariern« eine rein germanische »Herrenrasse«, allen anderen Rassen und Völkern überlegen und zu ihrer Beherrschung auserkoren. Damit wurden zugleich die Verfolgung und Ausmerzung der semitischen Juden ideologisch begründet ebenso wie die Beherrschung der slawischen Völker. Die in der Theosophie entwickelte Vorstellung der Arier als Gottes auserwähltem Volk zur Befreiung der Welt fand über die Guido-von-List-Gesellschaft6 ihren Weg von Österreich nach Deutschland, wo durch Vermischung mit nationalistischen Elementen dem Nationalsozialismus eine seiner Grundlagen bereitet wurde. Lists Visionen erschöpften sich nicht in einer romantischen Verklärung der Vergangenheit, sondern mündeten in praktische Forderungen zur Wiederherstellung der alten Priesterschaft der Armanen, wobei die Bezeichnung Armanen eine germanisierte Form des legendären, von Tacitus genannten teutonischen [<<16||17>>] Stammes der Hermionen war. In Die Armanenschaft der Ario-Germanen entwarf Guido von List 1911 einen detaillierten Plan für ein neues alldeutsches Reich, in dem die Reinheit und die Vorrangstellung der »arischen Rasse« das oberste Prinzip sein sollte. Nur sie sollte bürgerliche Freiheitsrechte genießen und von der Lohnarbeit befreit sein. Alle Nichtarier sollten bedingungslos unterworfen werden. [<<17||18>>]

Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

Geprägt wurde der Begriff Antisemitismus 1879 im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr vor dem Hintergrund der damals öffentlich diskutierten »Judenfrage«. Sie war 1879/80 in Deutschland einerseits Gegenstand eines Gelehrtenstreites, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit Überfremdungsängsten ausgelöst hatte, andererseits wurde sie durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker in dessen christlich-sozial argumentierender Kampagne gegen die Arbeiterbewegung instrumentalisiert. In Österreich vertrat der Wiener Bürgermeister Karl Lueger ähnliche Positionen.

Die fanatischen Judenfeinde organisierten sich in Parteien und Verbänden. In Dresden existierte seit 1881 die Deutsche Reformpartei; in Kassel wurde 1886 die Deutsche Antisemitische Vereinigung ins Leben gerufen, deren Protagonist der Bibliothekar Otto Böckel war. Von 1887 bis 1903 saß er im Reichstag, er war Herausgeber völkischer Zeitschriften und betätigte sich maßgeblich im Deutschen Volksbund, der ab 1900 versuchte, »national gesinnte Männer« gegen »die erdrückende Übermacht des Judentums« zusammenzuschließen. Auf dem Antisemitentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 die verschiedenen judenfeindlichen Strömungen (mit Ausnahme der christlich-sozialen Partei Adolf Stoeckers) auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen. Aber schon über der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sich die Antisemiten wieder. Es gab nun eine Deutschsoziale Antisemitische Partei und eine Deutschsoziale Partei und ab Juli 1890 die von Böckel in Erfurt gegründete Antisemitische Volkspartei, die ab 1893 Deutsche Reformpartei hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemitischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 sechzehn Mandate. Ernst Henrici war zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Pickenbach 1894 Gründer des Deutschen Antisemitenbunds. Politischen Einfluss erlangten die Antisemiten im Kaiserreich nicht. Aber ihre Propaganda zeitigte ihre Wirkung: Juden wurden mit allen nur denkbaren [<<18||19>>] schlechten Eigenschaften belegt, die, so erklärten die Antisemiten, in der »Rasse« begründet seien.

Im Ersten Weltkrieg wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutschland neu aufgeladen. Schnell kam das völlig unbegründete Gerücht von der »jüdischen Drückebergerei« in Umlauf, und als zweites antisemitisches Stereotyp war die Überzeugung landläufig, dass Juden sich als die »geborenen Wucherer und Spekulanten« als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereicherten. In zahlreichen Publikationen wurden diese Klischees verbreitet, so etwa in einem Flugblatt, das im Sommer 1918 kursierte, auf dem die jüdischen Soldaten lasen, wovon ihre nicht jüdischen Kameraden und Vorgesetzten trotz der vielen Tapferkeitsauszeichnungen (30.000) und Beförderungen (19.000) und ungeachtet der 12.000 jüdischen Kriegstoten bei insgesamt etwa 100.000 jüdischen Soldaten überzeugt waren: »Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengraben nicht.« Entgegen der Wahrheit hielt die Mehrheit der Deutschen an ihrem negativen Judenbild fest.

Im Programm der völkischen und nationalistischen Parteien der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem der NSDAP ab 1920 und in der Deutschnationalen Volkspartei bildete der Antisemitismus das ideologische Bindemittel, mit dem Existenzängste und Erklärungsversuche für wirtschaftliche und soziale Probleme konkretisiert wurden, um republik- und demokratiefeindliche Verzweifelte als Anhänger zu gewinnen.

Die pathologischen Vorstellungen im Weltbild Hitlers, die in Fantasien von der jüdischen Weltverschwörung gipfelten, trafen auf verbreitete Ängste in der Bevölkerung. Im Programm der NSDAP waren seit 1920 die Lehr- und Grundsätze des Antisemitismus fixiert, die in den Pamphleten und Traktaten des 19. Jahrhunderts publiziert worden waren: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.«

Diesem abstrusen Denken hatte sich alles unterzuordnen, was Hitler in seinem Machwerk Mein Kampf zu begründen versuchte. Ihm zufolge war der Arier dem Juden überlegen. In Mein Kampf klingt allerdings eine gewisse, wenngleich widerwillige Bewunderung durch, wenn Hitler Juden einen »unendlich zähen Willen zum Leben, zur Erhaltung der Art« zubilligt.7 Bei kaum einem anderen Volk sei der Selbsterhaltungswille stärker ausgeprägt.

[<<19||20>>] Martin Bormann genoss als »Sekretär des Führers« die zweifelhafte Ehre, von Hitler zu »Tee-Gesprächen« einbestellt zu werden. Bei einem solchen »Führer-Gespräch« am 31. November 1944 ließ sich Hitler wie folgt über Christen- und Judentum aus:

Jesus war sicher kein Jude, denn einen der ihren hätten die Juden nicht den Römern und dem römischen Gericht ausgeliefert, sondern selbst verurteilt. Vermutlich wohnten in Galilea sehr viele Nachkommen römischer Legionäre (Gallier), und zu ihnen gehörte Jesus. Möglich, dass seine Mutter Jüdin war.

Jesus kämpfte gegen den verderblichen Materialismus seiner Zeit und damit gegen die Juden. Paulus – zunächst einer der schärfsten Gegner der Christen – erkannte plötzlich, welche ungeheuren Möglichkeiten die richtige Verwendung einer faszinierenden Idee bot. Paulus erkannte, dass die richtige Verwendung einer tragenden Idee bei »Nichtjuden eine weit höhere Macht gab, als das Versprechen materieller Belohnung beim Juden. Und nun fälschte Saulus-Paulus in raffinierter Weise die christliche Idee um: Aus der Kampfansage gegen die Vergottung des Geldes, aus der Kampfansage gegen den jüdischen Eigennutz, den jüdischen Materialismus wurde die tragende Idee der Minderrassigen, der Sklaven, der Unterdrückten, der an Geld und Gut Armen gegen die herrschende Klasse, gegen die Oberrasse, ›gegen die Unterdrücker‹.«8

Hitlers und Bormanns gemeinsame »Erkenntnis« lautete:

Jede Ablehnung des Klassenkampfes ist deshalb antijüdisch, jede antikommunistische Lehre ist antijüdisch, jede antichristliche Lehre ist antijüdisch und vice versa.9

Absurde Gerüchte: Jüdisches Blut in Hitlers Adern

Im Hinblick auf Hitlers Judenhass ist auch ein Abstecher auf das Gebiet der Gerüchte und Spekulationen zwar nicht sachdienlich, jedoch interessant. Denn immer wieder tauchte die Behauptung auf, in Hitlers Adern flösse jüdisches Blut, was seinen Hass nur gesteigert habe. Hierfür gibt es eine einzige Quelle: Hans Michael Frank. Er gehörte zu den [<<20||21>>] frühesten Getreuen Hitlers, hatte sich schon 1919 der NSDAP-Vorgängerpartei DAP angeschlossen und war Hitlers Rechtsanwalt. Nach 1933 organisierte er die Gleichschaltung der Justiz in Bayern und später in ganz Deutschland. Als Generalgouverneur des besetzten Polen wurde er als »Schlächter von Polen« oder »Judenschlächter von Krakau« berüchtigt. In seinem Buch Im Angesicht des Galgens behauptete Frank, der Vater Hitlers sei das uneheliche Kind einer in einem Grazer Haushalt angestellten Köchin namens Schickelgruber aus Leonding bei Graz gewesen.10

Schon 1921 hatten NSDAP-Mitglieder Flugblätter verbreitet, auf denen eine jüdische Abstammung Hitlers angedeutet wurde. Darauf waren Texte zu lesen wie: »Hitler glaubt die Zeit gekommen, um im Auftrag seiner dunklen Hintermänner Uneinigkeit und Zersplitterung in unsere Reihen zu tragen und dadurch die Geschäfte des Judentums und seiner Helfer zu besorgen … und wie führt er diesen Kampf? Echt jüdisch.«11

1930 schrieb Hitlers Neffe William Patrick seinem Onkel einen Brief, in dem er andeutete, dass er »Judenblut in seinen Adern und daher eine geringe Legitimation hätte, Antisemit zu sein«.12 Hitler beauftragte daraufhin den erwähnten Hans Michael Frank, der Sache »vertraulich« nachzugehen.13 Zwar behauptete Frank, »dass Adolf Hitler bestimmt kein Judenblut in seinen Adern hatte, scheint mir aus seiner ganzen Art dermaßen eklatant erwiesen, dass es keines weiteren Wortes bedarf«, formulierte aber kurz darauf das Gerücht: »Ich muss also sagen, dass es nicht vollkommen ausgeschlossen ist, dass Hitlers Vater demnach ein Halbjude war, aus der außerehelichen Beziehung der Schickelgruber zu dem Grazer Juden entsprungen. Demnach wäre Hitler selbst ein Vierteljude gewesen. Dann wäre sein Judenhass mitbedingt gewesen aus blutempörter Verwandtenhasspsychose.«14

Weitere Spekulationen über Hitlers angebliche jüdische Abstammung waren 1967 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu lesen:

Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden in Deutschland insgeheim Photographien herumgereicht, die das Grab des 1892 verstorbenen Juden Adolf Hitler (jüdischer Name: Avrham Eylliyohn) auf dem Bukarester Friedhof, Grab 9, Reihe 7, Gruppe 18) zeigten. Die polnisch-jüdische Zeitung »Haynt« veröffentlichte das Bild, und ein Warschauer Journalist [<<21||22>>] schrieb, es handele sich um die letzte Ruhestätte von Adolf Hitlers Großvater.15

Zweifel an Hitlers arischer Herkunft – so ist dort weiter zu lesen – befielen nun auch den Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, den obersten Aufnorder des »Dritten Reichs«. Am 4. August 1942 schickte er insgeheim Kundschafter aus, um die »Abstammung des Führers« zu ergründen. Und 1945, nachdem das »Dritte Reich« samt Hitler untergegangen war, sei dem Nachrichtenmagazin zufolge die Anthropologische Commission – ein internationaler Kreis renommierter Gelehrter – zu dem Schluss gelangt, Hitler sei ein »Bastard von einem nicht sehr angesehenen Juden« gewesen: »Schon im städtischen Kinderheim in Linz haben die Erzieherinnen (…) ihn einen ›Judenbengel‹ genannt.«16 Der Hitler-Biograph und frühere Priester Franz Jetzinger erklärte die Tatsache, dass im österreichischen Waldviertel die Gemeinde Döllersheim, wo Hitlers Vater geboren und Hitlers Großmutter beerdigt wurde, in einen Truppenübungsplatz verwandelt wurde, so: »Es hat ganz den Anschein, dass die Vernichtung Döllersheims direkt über ›Auftrag des Führers‹ erfolgte – aus irrsinnigem Hass gegen seinen Vater, der vielleicht einen Juden zum Vater hatte.«17 Am Vater Hitlers, Alois Hitler, wollte Jetzinger die These erhärten, der spätere Reichskanzler sei Vierteljude gewesen.18 Jetzinger behauptet zwar nicht, ein solches jüdisches Erbteil definitiv nachgewiesen zu haben. Aber er hat sorgsam zusammengetragen, was seiner Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Hitlers Großvater Jude gewesen sei. Den endgültigen Beweis wollte Jetzinger aber den österreichischen Heimatforschern überlassen. Fest steht, dass Adolf Hitler den Ariernachweis, den er den meisten Deutschen abverlangte, für seine Person kaum hätte erbringen können. Sein Großvater väterlicherseits ist unbekannt.

Eine teilweise jüdische Abstammung Hitlers ist trotz aller Gerüchte keineswegs belegt und eher unwahrscheinlich. Ob sie sein Verhalten in der Verfolgung des Judentums beeinflussten, sei dahingestellt.

Die Unterstellung, jüdisches Blut in den Adern zu haben, war übrigens ein probates Mittel, politischen Gegnern zu schaden. Als Beispiel kann hier der Fall des Obersten NSDAP-Parteirichters und Bormann-Schwiegervaters Walter Buch gelten. Er erhielt im April 1936 folgendes anonyme Schreiben:

[<<22||23>>] Sehr geehrter Herr Major Buch!

Sie sind der Oberste Richter der Partei, die jeden anständigen Juden bekämpft und infamiert, das sollten Sie als unser Verwandter nicht tun. Wissen Sie, dass Ihre Frau jüdisches Blut in den Adern hat? Wissen Sie, dass die Familie Ihrer Frau (Bilernesti, siehe Ahnentafel Ihrer Frau!) noch 1820 bis 1825 dem Ghetto in Frankfurt am Main angehört hat? Wissen Sie, dass Sie Kinder gezeugt haben, die unseres Blutes sind? Ihr Schwiegersohn, der wie Sie Reichsleiter der Nationalsozialisten ist, weiß es, dass seine Frau und seine Schwiegermutter nicht rein arischer Abstammung sind. Das Reichssippenamt weiß es auch! Nur Sie sollten es nicht wissen? Sie sind am meisten belastet, Sie haben Hunderte von Menschen verurteilt wegen des gleichen tragischen Schicksals, das ihre Frau betroffen hat. Welche Konsequenzen ziehen Sie, Sie weiser und gerechter Richter! Wir freuen uns, Sie zu den unseren zählen zu dürfen.

Einige Berliner Juden.19

Natürlich sorgte der Inhalt für Aufregung, und wären die Behauptungen korrekt gewesen, hätte dies ein Erdbeben an der NS-Spitze ausgelöst. Immerhin hatte Buch nicht nur eine bedeutende Parteifunktion, sondern vorausgesetzt, die Gerüchte stimmten, wäre der Judenverfolger und »Sekretär des Führers« Martin Bormann durch seine Frau Gerda, die älteste Tochter Buchs, »jüdisch versippt« gewesen.

Tatsächlich aber hatte der Gauleiter der brandenburgischen Ostmark, Wilhelm Kube, dieses Schreiben verfasst. Darüber wurden alle NS-Reichsleiter und Gauleiter von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß mit Rundschreiben 88/36 Anfang August 1936 informiert.

Betrifft: Gauleiterwechsel im Gau Kurmark.

In Abschrift beiliegendes Schreiben erhielt Reichsleiter Buch anonym zugesandt. Im Verlauf der durch die Geheime Staatspolizei angestellten Nachforschungen ergab sich, dass der Verfasser des Schreibens der bisherige Gauleiter Kube ist. Auf Vorhalt durch den Stellvertreter des Führers musste Kube dies zugeben.

Die in dem Schreiben an Reichsleiter Buch aufgestellte Behauptung der nichtarischen Abstammung der Frau Buch wurde durch unabhängige Sippenforschungsstellen, [<<23||24>>] von denen das eine das Reichsamt für Sippenforschung ist, einwandfrei als unwahr festgestellt. Beide Gutachten decken sich darin, dass Frau Buch rein arischer Abstammung ist. Kube hat sich unabhängig davon, nach eigener Angabe, gleichfalls von der Unrichtigkeit seiner Behauptung überzeugt. Ein Gauleiter hat also unter dem Decknamen »einige Berliner Juden« ein anonymes Schreiben verschickt, in dem zwei Reichsleiter bezichtigt werden, unter Verheimlichung der Tatsache der jüdischen Abstammung ihrer Frau vor dem Führer ihre Ämter zu führen und in dem der eine Reichsleiter als zu den Berliner Juden gehörig bezeichnet wird. Darüber hinaus hat dieser Gauleiter über Dritte die gleichen unwahren Behauptungen verbreitet. Im Hinblick auf die Ungeheuerlichkeit dieser Vorgänge hat der Führer Kube veranlasst, seine Ämter niederzulegen.20

Propagandaminister Goebbels trug zu diesem Vorgang am 9. August 1936 in sein Tagebuch ein:

Zu Haus Arbeit. Kube abgesetzt. Er hat sich gemein benommen, anonyme Briefe an Buch etc., seine Frau unsacht behandelt. Ein böser Fall. Er hat ihn sich selbst zuzuschreiben. (…) Göring schimpft mächtig auf Kube. Der hat es ja auch verdient. So ein Miststück. Aber wie immer. Ein wilder Bürger.21

Kube wurde zum SS-Rottenführer im Konzentrationslager Dachau degradiert, später rehabilitiert und als Generalkommissar für Weißrussland nach Minsk geschickt.

Juden in Hitlers Umgebung

Überraschenderweise fanden sich in Hitlers Umgebung Menschen – Juden und solche mit Anteilen jüdischen Blutes –, über die er aus unterschiedlichen Gründen seine schützende Hand hob, zumindest eine Zeit lang. Möglicherweise war bisweilen ein Anflug von Dankbarkeit im Spiel. Bei seinem ehemaligen Kompaniechef Ernst Heß könnte dies der Fall gewesen sein. [<<24||25>>]

Ernst Heß – Hitlers Kompaniechef

Ein bemerkenswerter Fall, in dem ein Jude nahe an Hitler herangekommen war, ist der des 1880 in Gelsenkirchen geborenen, zum Katholizismus konvertierten Amtsrichters Ernst Heß. Er hatte vier »volljüdische« Großeltern und war daher nach den nationalsozialistischen Rassekriterien »Volljude«. Die Historikerin Susanne Mauss entdeckte bei Recherchen zu einer Ausstellung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen einen Brief, dem zufolge der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, im August 1940 die Anweisung erteilt hatte, den Juden Ernst Heß »in jeder Hinsicht unbehelligt« zu lassen:

Der Obengenannte hat aufgrund der deutsch-italienischen Vereinbarungen von 1939 das italienische Staatsgebiet verlassen und wieder Aufenthalt im Reich nehmen müssen. H. ist Jude mit 4 volljüdischen Großeltern. Er war während des Krieges 1914/18 in derselben Kompanie wie der Führer und vorübergehend auch Kompanieführer des Führers. Gelegentlich eines Gesuchs des H. um Erteilung einer Ausnahmegenehmigung hat der Führer unter Ablehnung dieses Gesuchs zum Ausdruck gebracht, dass H. in anderer Weise Entgegenkommen gezeigt werden solle.

Diesem Wunsch des Führers wurde zunächst insofern Rechnung getragen, als H. die Transferierung seiner Versorgungsbezüge nach Italien genehmigt erhielt. Ferner wurden keine Bedenken dagegen erhoben, dass bei behördlichen Zuschriften an H. von der Angabe der Vornamen überhaupt und damit auch des Zusatznamens Israel abgesehen wird. Nachdem H. nunmehr aufgrund der zwischenstaatlichen Vereinbarungen in das Reich zurückgekehrt ist, muss dafür Sorge getragen werden, dass H. – dem Wunsche des Führers entsprechend – entgegengekommen wird. Ich bitte Sie daher, im Einvernehmen mit allen in Frage kommenden Dienststellen sicherzustellen, dass H. in jeder Hinsicht unbehelligt gelassen wird.22

Zur Vorgeschichte ist Folgendes zu bemerken: Heß hatte im Bayerischen 16. Reserve-Infanterieregiment List gedient und war im Juni 1916 als Chef der 3. Kompanie Hitlers Vorgesetzter. Als Frontoffizier erhielt Heß eine Reihe von Auszeichnungen, neben dem Bayerischen Militärverdienstorden auch das Eiserne Kreuz (EK) Erster und Zweiter Klasse. Dann wurde er Amtsrichter in Düsseldorf und blieb dank der [<<25||26>>] Sonderregelungen für hochdekorierte Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst weitgehend unbehelligt. Der »Arisierung« infolge der Nürnberger Rassengesetze fiel jedoch auch Heß zum Opfer und wurde seines Richteramtes enthoben. Wie die Historikerin Susanne Mauss herausfand, zog er daraufhin mit seiner Familie nach Bozen in Südtirol. Heß suchte Kontakt zu Hitler, den ein gemeinsamer Kriegskamerad vermitteln sollte, nämlich Hauptmann a.D. Fritz Wiedemann, von 1934 bis 1939 Adjutant Hitlers. In einem Brief bat er Heß darum, dass er nach den Nürnberger Rassengesetzen als »Halbjude« gelten möge und demzufolge nicht »als Jude«. Auch der Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, und der damalige deutsche Generalkonsul in Italien, Otto Bene, setzten sich für Heß ein. Nach dem Hitler-Mussolini-Pakt über die »Italianisierung« Südtirols musste die Familie Heß 1939 nach Deutschland zurückkehren und ließ sich im oberbayerischen Dorf Unterwössen nieder. Dort erhielt Heß 1941 überraschend die Nachricht, dass er nicht mehr unter Hitlers Schutz stehe.23 Wiedemann war inzwischen bei Hitler in Ungnade gefallen und als Generalkonsul nach San Francisco versetzt worden, er konnte Heß nicht mehr helfen. Heß wurde in das Konzentrationslager Milbertshofen bei München gebracht. Die »Mischehe« mit seiner nicht jüdischen Frau Margarethe rettete ihn jedoch vor der Deportation. Tochter Ursula wurde als Zwangsarbeiterin in einer Elektrofirma eingesetzt. Doch Heß’ Mutter Elisabeth und die Schwester Berta wurden auf Anweisung von Adolf Eichmann deportiert. Berta Heß wurde in Auschwitz ermordet, der Mutter gelang in den letzten Kriegswochen die Flucht aus Theresienstadt in die Schweiz.

Ein Nachtrag zu Fritz Wiedemann, der jahrelang Hitlers Vertrauen genoss: 1939 war er auf Geheiß von Hitler nach San Francisco gezogen, doch seine Ehefrau kehrte im September 1941 nach Deutschland zurück, wo sie auf Schritt und Tritt von der Gestapo überwacht wurde.24 Ihr Mann war zwischenzeitlich nach Tientsin in China versetzt worden, wohin auch Anna Luise Wiedemann zusammen mit ihrer Gesellschafterin Haffner reisen wollte. Detailliert beschrieb der Chef der Sicherheitspolizei und des SD gegenüber Himmler, wie viele Lebensmittelmarken Anna Luise Wiedemann erhalten hatte, und übermittelte ihm Abschriften von Briefen, die die Gestapo abgefangen und geöffnet hatte.

[<<26||27>>] Anlass für die strikte Überwachung war möglicherweise die Denunziation einer Bekannten namens Heilemann gewesen, die gegenüber SS-Obergruppenführer Wolff zu Protokoll gegeben hatte: Es wäre an der Zeit, »eine Reinigung der nächsten Umgebung des Führers vorzunehmen. Als Erstes müsste der Kasinoverwalter der Reichskanzlei Kannenberg und als Zweiter Reichsführer-SS Himmler erschossen werden«. Frau Heilemann, die eine Bekannte der Helene Bechstein war (einer Gönnerin und Verehrerin Hitlers und Ehefrau des Klavierfabrikanten Edwin Bechstein), sei der »richtigen Meinung«, dass »eine Frau mit solcher Gesinnung nie ins Ausland dürfte«.

Eduard Bloch – der Edeljude

Den Juden Eduard Bloch, den Arzt seiner Eltern, schützte Hitler vor den Folgen der von ihm verantworteten Nürnberger Rassengesetze. Bloch, 1872 in Frauenberg geboren, hatte Medizin studiert und nach seiner Militärzeit in Linz eine Praxis eröffnet. Zu seinen Patientinnen zählte Hitlers Mutter Klara, die an einem Tumor in der Brust litt und am 21. Dezember 1907 trotz aller ärztlichen Bemühungen verstarb. Bloch, der dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde Linz angehörte, nahm nur einen Teil des ihm zustehenden Honorars in Anspruch, und 1908 schrieb ihm Hitler eine Karte, mit der er sich nochmals für seinen Einsatz bedankte. Als Hitler 1938 anlässlich der »Wiedereingliederung« Österreichs ins Deutsche Reich im Triumphzug in Linz einzog, erkundigte er sich bei Hofrat Adolf Eigl nach Bloch und nannte ihn einen »Edeljuden«.25 »Ja, wenn alle Juden so wären wie er, dann gäbe es keinen Antisemitismus«, soll Hitler gesagt haben.

Bloch erfuhr eine Vorzugsbehandlung, denn trotz der Nürnberger Rassengesetze durfte er weiter praktizieren, behielt seine Wohnung und blieb auch von Repressalien, wie dem des »J-Stempels« im Pass und dem Führen des zusätzlichen Vornamens »Israel« verschont. Brigitte Hamann zitiert hierzu Bloch:

Vorerst wurden allen Juden die Pässe abgenommen, um eine Flucht derselben zu verhindern; vor der Passabgabe blieb einzig ich verschont. Wohnungen und besonders die Geschäfte der Juden wurden durch gelbe Zettel, auf deren Grunde in schwarzen Lettern das Wort »Jude« stand, gekennzeichnet. (…)

[<<27||28>>] Nach einigen Tagen kamen »Gestapoleute« und teilten mir mit, ich könnte über »Auftrag von Berlin« die Judenzettel entfernen; ich lehnte dies ab, da man mir vorwerfen könnte, ich hätte eigenmächtig eine Maßnahme der »Gestapo« »missachtet«, worauf sie die Entfernung selbst vornahmen.26

In seinen Vernehmungen durch den US-Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) erklärte Bloch am 5. März 1943 zur Situation in Linz u.a., dass Hitler sich im Vorfeld des »Anschlusses« während einer Konferenz in Berchtesgaden nach Neuigkeiten aus Linz erkundigt hatte, darunter auch nach Blochs Befinden.

»›Lebt er noch, praktiziert er noch?‹ Dann machte er eine Bemerkung, die die örtlichen Nazis irritierte: ›Dr. Bloch‹, sagte Hitler, ›ist ein Edeljude, ein Nobeljude.«27

Und zur Rückkehr Hitlers nach Linz im Zusammenhang mit der Annexion Österreichs gab Bloch zu Protokoll:

Jahrelang hatte sich Hitler geweigert, sein Heimatland zu besuchen. Nun gehörte ihm das Land. Die Hochstimmung, die ihn erfasst hatte, war ihm abzulesen. Er lächelte, winkte und grüßte die Menschen, die die Straßen füllten, mit dem Nazi-Gruß. Für einen Augenblick sah er zu meinem Fenster hoch. Ich bezweifele, dass er mich gesehen hat, aber er muss einen Moment der Reflexion gehabt haben: Hier war die Wohnung des Edeljuden, der bei seiner Mutter den verhängnisvollen Krebs diagnostiziert hatte; hier war das Sprechzimmer des Mannes, der seine Schwestern behandelt hatte; hier war der Ort, wohin er als Junge gegangen war, um seine kleineren Krankheiten behandeln zu lassen.

Am folgenden Tag traf Hitler laut Bloch einige ältere Vertraute, darunter Oberhummer, einen lokalen Funktionär, den Musiker Kubitschek, den Uhrmacher Liedel und Dr. Hümer, seinen früheren Geschichtslehrer. Es sei verständlich gewesen, dass Hitler ihn, einen Juden, nicht zu einem solchen Treffen eingeladen habe.

Das Angebot »Ehrenarier« zu werden, lehnte Bloch ab und entschloss sich 1940 stattdessen zur Emigration in die USA.

Eingeflochten sei hier eine weitere Absurdität aus der Zeit nach dem »Anschluss« Österreichs. Himmler hatte Reichsmarschall Göring am 3. März 1938 darüber informiert. Demnach hatte ein gewisser Oberstleutnant [<<28||29>>] Berthold über mehrere Jahre ein Verhältnis mit der Volljüdin Elsa Lange und war vom Kriegsgericht der 28. Division freigesprochen worden. Entschuldigt wurde das Verhalten Bertholds u.a. damit: »Es wird gesagt, dem Beschuldigten sei nicht zu widerlegen, dass er die Jüdin Lange für einen südamerikanischen Mischling mit Negerblut gehalten habe. Der Zeuge Dr. Lange habe sie ebenfalls für einen negroiden Mischling gehalten und auch die Schwester Linde versichere, nur einen negroiden Einschlag bei der Lange gesehen zu haben, die Sanitätsschüler und andere Kranke des Lazaretts hätten sie ›Blume von Hawaii‹ genannt.« Der Verkehr eines Offiziers der Wehrmacht mit einer Jüdin wurde also im Jahr 1937, im »Dritten Reich«, damit entschuldigt, dass das Kriegsgericht feststellte, der »Offizier habe das Mädchen nicht für eine Jüdin, sondern für einen negroiden Mischling gehalten«.

Sven Hedin – Hitlers glühender Anhänger

Der schwedische Asienforscher Sven Hedin genoss die größte Sympathie Himmlers und Hitlers. Dabei spielte es keine Rolle, dass Hedin Nachkomme der nach Schweden ausgewanderten jüdischen Familie Abraham Brody alias Berliner war und somit die Nationalsozialisten jeden Umgang mit ihm hätten meiden müssen. Tatsächlich aber durfte der Sympathisant und Verehrer Hitlers in Deutschland publizieren und wurde in ungewöhnlichem Maße hofiert. Ein Forschungsinstitut der verbrecherischen SS-Organisation »Ahnenerbe« im österreichischen Mittersill wurde feierlich »Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasienforschung« benannt. Nach dem deutschen Einmarsch 1938 hatte die SS das Schloss beschlagnahmt. Dort waren in einem Außenkommando des Konzentrationslagers Mauthausen ab dem 24. März 1944 auch weibliche Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Es handelte sich um sechs Zeuginnen Jehovas, die ursprünglich im KZ Ravensbrück inhaftiert waren.

Sven Hedin war bei den Nationalsozialisten wohlgelitten. 1936 hatte er anlässlich eines Deutschlandbesuchs 96 Vorträge halten dürfen, nicht zuletzt auch im Olympiastadion in Berlin. Der Nationalsozialismus habe Deutschland aus einem Zustand politischer und moralischer Auflösung gerettet, ist in seinem Buch Deutschland und der Weltfrieden zu lesen, was aber einige deutsche Städte – selbst Berlin – nicht daran hindert, auch heute noch nach ihm Straßen und Plätze zu benennen. [<<29||30>>]

»Gnadengesuche ausnahmslos ablehnen!«

Wenn es möglicherweise Sentimentalität war, die Hitlers Handeln gegenüber den genannten Personen bestimmte, brachten seine »Gnadenakte« für die Beamten und übrigen Schergen des NS-Regimes einige Unsicherheiten mit sich. Denn Hitler allein oblag es, einen »Ehrenarier« zu ernennen oder dies zu verweigern. Nachdem – aus Sicht Hitlers – die Zahl der Gesuche um Ausnahmeregelungen überhandgenommen hatte, wollte Hitler entsprechenden Anträgen einen Riegel vorschieben und ließ durch den Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, dem zuständigen Reichsinnenminister Wilhelm Frick am 4. November 1938 vom Obersalzberg aus folgende Anweisung zukommen:

In den letzten Wochen sind eine Reihe von Gesuchen an den Führer eingegangen, in denen eine Befreiung von den für Juden geltenden besonderen Vorschriften, in erster Linie den Bestimmungen über Vornamen, über Kennkartenzwang und über Reisepässe erbeten wird. Ich habe die Gesuche zum Anlass genommen, die Frage einer etwaigen ausnahmsweisen Freistellung bestimmter Personen von diesen Vorschriften bei dem Führer grundsätzlich zur Sprache zu bringen. Der Führer ist der Ansicht, dass gnadenweise Befreiungen von den für Juden geltenden besonderen Bestimmungen ausnahmslos abgelehnt werden müssen. Der Führer beabsichtigt, auch selbst solche Gnadenerweise nicht mehr zu bewilligen.28

Mit solchen Ausnahmen hatte Hitler oft das Unverständnis von staatlichen oder Parteidienststellen hervorgerufen. Hier einige Beispiele:

Reichsleiter Walter Buch, Schwiegervater von Martin Bormann und oberster NSDAP-Parteirichter, hatte am 5. Mai 1934 Otto Freiherr von Dungen wegen seiner nicht arischen Ehe den freiwilligen Parteiaustritt nahegelegt.29 Hitler aber hatte anders entschieden und die Parteimitgliedschaft für von Dungen und dessen Söhne gebilligt. Buch konnte dagegen nichts unternehmen und teilte das Ergebnis am 15. Mai 1934 Lammers mit.

Curt Conrad hatte eine jüdische Mutter, von der er angeblich bisher nichts gewusst hatte. Er gehörte der Partei seit dem 1. November 1930 an und wurde 1931 von Reichsbannerangehörigen schwer verletzt. Im [<<30||31>>] Hinblick auf diesen Einsatz für die »Bewegung« gab Hitler seinem Gnadengesuch statt.

Winifred Wagner setzte sich für Melanie Chrambach ein, die mit einem Juden verheiratet war. Deren Tochter Esther bekam daraufhin Hitlers Bescheid vom 18. Oktober 1935, dass sie weiterhin in der Partei bleiben könne.

Willy Bukow war mit einer Frau verheiratet, deren Großmutter Jüdin war. Er war alter Parteigenosse, hatte schon dem Bund »Oberland« angehört und als Mitwisser des Rathenau-Attentats in U-Haft gesessen. Hitler schickte ihm am 16. Juli 1936 folgendes Schreiben: »Nach Vortrag des Chefs der Kanzlei des Führers der NSDAP habe ich auf dem Gnadenwege entschieden, dass Sie trotz nicht rein arischer Abstammung Ihrer Ehefrau weiterhin der NSDAP als Mitglied angehören können.«

Oberregierungsrat Hans von Dohnanyi war Persönlicher Referent von Reichsjustizminister Franz Gürtner. Er war »Mischling 2. Grades«, und Hitler hatte nach einer entsprechenden Bitte von Gürtner mit Bescheid vom 14. Oktober 1936 zugesagt, dass »Dohnanyi wegen seiner Abstammung keinerlei Nachteile erleiden« solle. Allerdings galt, wie Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß brieflich mitteilte, die Befreiung von den Nürnberger Gesetzen nicht für die Mitgliedschaft in der NSDAP.30 In einem vertraulichen Papier formulierte er seine Kritik an der Rassenpolitik der Partei. Martin Bormann veranlasste daraufhin Dohnanyis Ausscheiden aus dem Reichsministerium und seine Versetzung als Reichsgerichtsrat nach Leipzig.

Durch einen Zufall soll herausgekommen sein, dass die Diätköchin Hitlers, Helena Maria von Exner, eine jüdische Großmutter hatte. Hitler rührte angeblich von da Exners Gerichte nicht mehr an und täuschte Magenbeschwerden vor.31 Exner wurde erst in Urlaub geschickt und dann im Mai 1944 entlassen. Allerdings veranlasste Hitler die Arisierung Exners und ihrer Familie durch seinen »Sekretär« Martin Bormann.

Der Historiker Adam Wandruszka von Wanstetten aus Lemburg trat im April 1938 als SA-Obertruppführer im Namen der nationalsozialistischen Hörerschaft mit einer Dankadresse aus Anlass des »Anschlusses« Österreichs hervor. Er beantragte gemeinsam mit seinem Bruder Mario Wandruszka (Sprachwissenschaftler) am 28. Mai 1938 die Aufnahme [<<31||32>>] in die NSDAP. Der Gauleiter von Wien befürwortete schließlich das Gesuch mit der Begründung, die Brüder stünden »seit März 1933 in der Bewegung«, und man sehe ihnen das Achtel jüdischen Blutes, das in ihren Adern fließe, nicht an. Der Appell an die »Gnade des Führers« hatte Erfolg, die Brüder wurden am 1. Mai 1941 rückwirkend zum 1. Mai 1938 in die Partei aufgenommen.

Die genannten Beispiele sind durchaus symptomatisch für Hitlers Verhalten. Unbestritten ist sein Judenhass. Was ihn im Einzelfall – auch gegen den Willen seiner Ratgeber – veranlasste, »Gnadenakte« auszusprechen, lässt sich häufig nur erahnen. Pragmatismus war es wohl kaum. Es war ein irrationales Verhalten, das sich u.a. daran zeigte, dass die Wehrmacht auch die letzten »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« entlassen musste, als sie diese angesichts der bevorstehenden militärischen Gesamtniederlage am ehesten gebraucht hätte.

Hitler war sich im Übrigen sicher, jüdische Physiognomie sofort erkennen zu können. Aus diesem Grunde spielten bei der Änderung von Abstammungsnachweisen Lichtbilder für ihn eine wichtige Rolle. Wie wenig verlässlich sein Urteil war, beschrieb Ernst Hanfstaengl am Fall des internationalen Opernstars Bertha Morena. Hitler verehrte die Künstlerin, doch stellte ihn Hanfstaengl bloß, als er sich den Begeisterungsstürmen Hitlers anschloss, dann aber hinzufügte:

Zweifellos eine Vollblutkünstlerin, allerdings darf man dabei eins nie vergessen: Bertha Morena ist von Haus aus ein Fräulein Meyer und in Mannheims traditionsreicher Judengasse groß geworden. Mit einem Wort also: Die Morena ist Volljüdin! Oder wussten Sie das nicht, Herr Hitler? Ich sehe noch sein verdutztes Gesicht vor mir und höre sein verärgertes »Ausgeschlossen. Niemals«.32[<<32||33>>]

Die Nürnberger Rassengesetze

Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, lebten in Deutschland – der Volkszählung vom 16. Juni 1933 zufolge – 499.682 »Volljuden (mosaische Juden)«, was 0,77 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.1 Hinzu kamen 4036 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger im Saargebiet. 1935 war die Zahl der »Volljuden mosaischen Glaubens« bereits auf rund 300.000 zurückgegangen, gleichzeitig gab es ca. 500.000 Juden nicht mosaischen Glaubens. Hinzu kamen 750.000 »Mischlinge 1. und 2. Grades«. Für die Rassenpolitiker der NSDAP hieß dies: In Deutschland gab es über 1,5 Millionen »Nichtarier«, die 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten.2

Die Volkszählung vom 17. Mai 1939 zeigte, dass die Zahl der Juden in Deutschland erneut erheblich abgenommen hatte.3 Im Deutschen Reich lebten zum Stichtag 79.378.338 Menschen. Davon waren 330.892 Juden, nämlich 139.033 männlichen und 191.059 weiblichen Geschlechts. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug gerade einmal 0,42 Prozent. Ferner hatte die Volkszählung ergeben, dass in Deutschland »72.738 Mischlinge 1. Grades« wohnten, davon 34.010 Männer und 38.728 Frauen. In diesem Fall lag der Anteil an der Gesamtbevölkerung bei 0,09 Prozent. Ferner waren 42.811 »Mischlinge 2. Grades« registriert, 20.654 männliche und 22.157 weibliche. Sie machten 0,05 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Den 500.000 Juden, die es bei Machtübernahme in Deutschland gab, standen also wenige Jahre später nur noch 330.000 gegenüber. Viele waren mittlerweile emigriert und hatten sich auf diese Weise in Sicherheit gebracht, zumal die Nationalsozialisten anfangs die Auswanderung sogar noch förderten, sie sich allerdings teuer bezahlen ließen. Der Massenmord hatte noch nicht begonnen, aber das Leben war für Juden durch eine Vielzahl von Gesetzen, Schikanen und Pressionen unerträglich geworden.

Schon während des Ersten Weltkriegs hatte es eine »Judenzählung« gegeben.4 Die in Deutschland bei Kriegsbeginn 1914 weit verbreitete Erwartung eines schnellen und sicheren Siegs über die Entente-Staaten [<<33||34>>] schwand, als der deutsche Vormarsch im Westen zum Stellungskrieg erstarrte und die Einfuhr kriegswichtiger Rohstoffe aus den neutralen Ländern unter der britischen Seeblockade immer stärker litt. Vor diesem Hintergrund und angesichts der sich katastrophal verschlechternden Lebensmittelversorgung fanden Agitatoren antisemitischer Verbände und Parteien mit ihren Botschaften einen fruchtbaren Nährboden.

Um dem angeblich in weiten Kreisen der Bevölkerung erhobenen Vorwurf nachzugehen, dass eine unverhältnismäßig große Anzahl Wehrpflichtiger jüdischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei, sich unter allen nur denkbaren Vorwänden davor zu drücken versuche und alles tue, um nicht an der Front eingesetzt zu werden, ordnete der preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn am 11. Oktober 1916 eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse aller deutschen Juden an. Nach Bekanntgabe des Erlasses zur »Judenzählung« entbrannte im Reichstag eine heftige Debatte: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Fortschrittliche Volkspartei werteten den Vorstoß des Kriegsministeriums als »Bruch des Burgfriedens«, der alle Deutschen gleich welcher politischen Überzeugung und Konfession hinter dem Kaiser vereinen sollte. Der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann warnte im Januar 1917 vor einer »antisemitischen Bewegung (…), wie sie noch nie dagewesen ist«.

Die offenkundige Diffamierung und Ausgrenzung durch ein Ministerium wurde von den deutschen Juden als Preisgabe der bisherigen Assimilations- und Emanzipationspolitik des Kaiserreichs empfunden. Nach Protesten des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, des Verbands der deutschen Juden unter Federführung seines Vorsitzenden, des Reichstagsabgeordneten Oscar Cassel, sowie nach Eingaben des Hamburger Bankiers und gedienten kaiserlichen Offiziers Max Warburg sah sich das Kriegsministerium zwar zu der Feststellung veranlasst, dass das Verhalten der jüdischen Soldaten während der Kämpfe weder Ursache noch Veranlassung zu der Anordnung gegeben habe, doch mit dieser Erklärung war der einmal entstandene Schaden nicht mehr zu beheben. Da das Ergebnis dieser mit statistisch unhaltbaren Methoden durchgeführten »Judenzählung« nie veröffentlicht wurde, erhielten antisemitische Gerüchte und Spekulationen neue Nahrung. Nicht zuletzt war aber mit [<<34||35>>] der »Judenzählung« der Antisemitismus staatlich legitimiert worden. Die Folgen waren verheerend.

Angesichts der Zahlen und des Anteils an der Gesamtbevölkerung kann man nicht ernsthaft behaupten, dass durch diesen Personenkreis Deutschland in Gefahr hätte gebracht werden können. Doch darum ging es den Nationalsozialisten nicht. Sie wollten erst den Einfluss der »Juden, Mischlinge und jüdisch Versippten« aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausschalten und dann die Menschen selbst eliminieren.

Ein Instrument zur Verfolgung des ersten Ziels war zunächst das »Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums« vom 7. April 1933. Ihm zufolge mussten jüdische Beamte den Dienst quittieren. Ausgenommen waren zu diesem Zeitpunkt noch Beamte, die als Frontsoldaten gedient hatten oder kriegsbeschädigt waren. Dafür soll Reichspräsident Paul von Hindenburg plädiert haben. Laut Artur Axmann, dem letzten Reichsjugendführer, hatte sich Hindenburg hierfür eingesetzt und am 4. April 1933 an den Reichskanzler – an Hitler also – einen Brief geschrieben und gefordert:

Nach meinem Empfinden müssen Beamte, Richter, Lehrer und Rechtsanwälte, die kriegsgeschädigt oder Frontsoldaten oder Söhne von Kriegsgefallenen sind oder selbst Söhne im Feld verloren haben, soweit sie in ihrer Person keinen Grund zu einer Sonderbehandlung geben, im Dienste belassen werden. Wenn sie es wert waren, für Deutschland zu kämpfen und zu bluten, sollen sie auch als würdig angesehen werden, im Vaterland in ihrem Beruf weiter zu dienen.5

Die Nationalsozialisten nahmen den Reichspräsidenten nicht ernst, wichtig war er für sie nur, um Hitler in das Amt des Reichskanzlers zu heben. Die Pläne, Juden aus dem öffentlichen Leben auszuschalten, waren längst geschmiedet und mussten nur noch in Gesetzesform gegossen werden. Dies geschah bereits in einer sechsstündigen Kabinettssitzung am 7. April 1933, also unmittelbar nachdem Hindenburg sich für verdiente Frontkämpfer einsetzen wollte. Bei Goebbels war dazu von »einschneidenden Gesetzentwürfen« zu lesen, die das Kabinett angenommen hatte:

[<<35||36>>] Es handelte sich um die Gesetze der Gleichschaltung, der Reichstatthalterschaften, des Beamtenrechtes mit dem Arierparagrafen und zum Schluss wird offiziell der erste Mai zum nationalen Feiertag proklamiert.6

Zur Eliminierung jeglichen jüdischen Einflusses diente zunächst das »Deutsche Beamtengesetz«, für das Innenminister Wilhelm Frick dem Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß am 6. Juni 1935 folgende Formulierung vorgeschlagen hatte:

1. Beamter kann nicht werden, wer nicht arischer Abstammung oder mit einer Person nicht arischer Abstammung verheiratet ist.

2. Wenn dringende Rücksichten der Verwaltung es fordern, kann die oberste Dienstbehörde im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern und mit dem Stellvertreter des Führers für den Einzelfall eine Ausnahme zulassen.

3. Wer als Person nicht arischer Abstammung zu gelten hat, bestimmt der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers. (…) Der Beamte ist zu entlassen, wenn sich nach seiner Ernennung herausstellt, dass er oder sein Ehegatte nicht arischer Abstammung ist, oder wenn er als Beamter arischer Abstammung nach seiner Ernennung mit einer Person nicht arischer Abstammung die Ehe geschlossen hat.7

In der Folge konnten Hitler und seine Vasallen – an erster Stelle Propagandaminister Goebbels – ungeniert und in aller Eile das Reichsbürgergesetz einschließlich zahlreicher dazugehörender Verordnungen formulieren und in Kraft setzen. Für die Zeit vom 10. bis 16. September 1935 hatte er nach Nürnberg zum »Parteitag der Freiheit« eingeladen. Da dieser Parteitag aber keine Gesetze verabschieden konnte, berief Hitler für den 15. September 1935 den Reichstag zu einer Sondersitzung nach Nürnberg, der dann im Kulturvereinshaus die berüchtigten Nürnberger Rassengesetze verabschiedete. Zuvor, am 13. September, hatte Hitler noch zwei Rassenspezialisten nach Nürnberg beordert, Reichsärzteführer Gerhard Wagner und den »Rassereferenten« im Reichsinnenministerium Bernhard Lösener. [<<36||37>>]

Antisemitismus als Staatsräson

Das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 schloss Juden von vornherein aus der Gemeinschaft der deutschen Staatsangehörigen aus, denn in Paragraf 2 hieß es: »Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.« Ebenfalls am 15. September 1935 wurde auf dem Nürnberger »Reichsparteitag der Freiheit« das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« verabschiedet, das die NS-Propagandisten wie folgt bekannt machten:

Durchdrungen von der Erkenntnis, dass die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:

§ 1 (1) Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind.(2) Die Nichtigkeitsklage kann nur der Staatsanwalt erheben.§ 2 Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.§ 3 Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.§ 4 (1) Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten.

Für den Alltag der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger waren eine Reihe von Verordnungen zum Reichsbürgergesetz von entscheidender Bedeutung. Sie schränkten die Persönlichkeiten Stück für Stück ein, wie die »1. Verordnung« vom 14. November 1935.

Als Reichsbürger galten »die Staatsangehörigen deutschen oder artverwanden Blutes, die beim Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes das Reichstagswahlrecht« besaßen. Als jüdischer Mischling wurde definiert, [<<37||38>>] »wer von ein oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammt, sofern er nicht nach § 5 Abs.2 als Jude gilt. Als volljüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat«. Ohne Umschweife wurde gesagt: »Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein. Ihm steht ein Stimmrecht in politischen Angelegenheiten nicht zu; er kann ein öffentliches Amt nicht bekleiden«. Und weiter hieß es: »Jüdische Beamte treten mit Ablauf des 31. Dezember 1935 in den Ruhestand.«

Jude war nach NS-Diktion,

wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt. Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende Staatsangehörige jüdische Mischling,

a) der beim Erlass des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wird,

b) der beim Erlass des Gesetzes mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet,

c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Abs. 1 stammt, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September geschlossen ist,

d) der aus dem außerehelichen Verkehr mit einem Juden im Sinne des Abs. 1 stammt und nach dem 31. Juli 1936 außerehelich geboren wird.

Im Zusammenhang mit der künftigen Möglichkeit, »Ehrenarier« zu ernennen oder die »Deutschblütigkeit« eines Juden oder »Mischlings« festzustellen, war die Bestimmung von Bedeutung:

Der Führer und Reichskanzler kann Befreiungen von den Vorschriften der Ausführungsverordnungen erteilen.

Angesichts der Unsicherheit über die Auslegung der Gesetze und Verordnungen sah sich Hitler-Stellvertreter Heß in einem Rundschreiben an die NSDAP-Gliederungen zu folgenden Erläuterungen veranlasst:

Es werden unterschieden drei Gruppen von Staatsangehörigen:

[<<38||39>>] 1. Die Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes.

2. Die staatsangehörigen jüdischen Mischlinge.

3. Die staatsangehörigen Juden.8

[<<39||40>>] Die Zahl der in Deutschland lebenden Voll-, Dreiviertel- und Halbjuden – diese soweit sie gesetzlich als Juden gelten – wird auf etwa 400.000 bis 500.000, die der jüdischen Mischlinge auf etwa 300.000 geschätzt, davon 200.000 Halbjuden und 100.000 Vierteljuden.

Mit welchem Zynismus die Rassenfanatiker vorgingen, dokumentiert übrigens eine Anweisung des Reichsministers des Innern vom 7. Dezember 1936. Ihr zufolge war es »dem deutschblütigen Ehegatten, der in einer deutsch-jüdischen Mischehe lebt« verboten, »in seiner Wohnung die Reichs- und Nationalflagge zu hissen«. Das traf auch für Beamte zu. Und »da der Zustand, dass ein Beamter nicht flaggen darf, auf die Dauer nicht tragbar ist«, musste der »jüdisch versippte Beamte« in der Regel in den Ruhestand versetzt werden.9

Der Begriff »Mischling« wurde im Mai 1938 noch einmal präzisiert. Nunmehr galt als