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Das Schweigen der Schwester Fidelma.
Fidelma hat einen Eid geschworen, über die Aufgabe zu schweigen, die sie im Auftrag ihres Bruders, des Königs, zu erfüllen hat. Der alte Abt, den sie als Ersten aufsucht, wird ermordet, noch bevor sie mit ihm sprechen kann. Kurz darauf sitzt Fidelma mit seiner mutßmaßlichen Mörderin im Kerker eines rebellischen Stammesfürsten. Im Land gehen Gerüchte um, ihre Familie hätte den Hochkönig in Tara ermordet und seine Frau entführen lassen. Fidelma muss schnellstens handeln ...
»Wer einen Roman von Peter Tremayne gelesen hat, der möchte sie alle lesen.« NDR.
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Seitenzahl: 530
Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. Seine im 7. Jahrhundert spielenden Romane mit Schwester Fidelma sind zurzeit die älteste und erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Markt. Fidelma, eine mutige Frau von königlichem Geblüt und Anwältin bei Gericht, löst darin auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs der Serie wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.
Bisher bei Aufbau erschienen: Die Tote im Klosterbrunnen (2000), Tod im Skriptorium (2001), Der Tote am Steinkreuz (2001), Tod in der Königsburg (2002) und Tod auf dem Pilgerschiff (2002), Nur der Tod bringt Vergebung (2002), Ein Totenhemd für Den Erzbischof (2003), Vor dem Tod sind alle gleich ( 2003), Das Kloster der toten Seelen( 2004), Verneig dich vor dem Tod (2005), Tod bei Vollmond (2005), Tod im Tal der Heiden (2006), Der Tod soll auf euch kommen (2006) und Ein Gebet für die Verdammten (2007), Das Flüstern der verlorenen Seelen (2007), Tod den alten Göttern (2008), Das Konzil der Verdammten (2008), Der falsche Apostel (2009), Eine Taube bringt den Tod (2010), Der Blutkelch (2010), Die Todesfee (2011), Und die Hölle folgte ihm nach (2012), Die Pforten des Todes (2012), Das Sühneopfer (2013), Sendboten des Teufels (2014), Der Lohn der Sünde (2015); Der Tod wird euch verschlingen (2016) Tod in der Königsburg – Illustrierte Ausgabe (2016), Die Wahrheit ist der Lüge Tod (2018), Ihr Los ist Finsternis (2018).
Mehr Informationen unter www.sisterfidelma.com
Fidelma hat einen Eid geschworen, über die Aufgabe zu schweigen, die sie im Auftrag ihres Bruders, des Königs, zu erfüllen hat. Der alte Abt, den sie als Ersten aufsucht, wird ermordet, noch bevor sie mit ihm sprechen kann. Kurz darauf sitzt Fidelma mit seiner mutßmaßlichen Mörderin im Kerker eines rebellischen Stammesfürsten. Im Land gehen Gerüchte um, ihre Familie hätte den Hochkönig in Tara ermordet und seine Frau entführen lassen. Fidelma muss schnellstens handeln.
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Peter Tremayne
Wer Lügen sät
Historischer Kriminalroman
Aus dem Englischen von Bela Wohl
Inhaltsübersicht
Über Peter Tremayne
Informationen zum Buch
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Hauptpersonen
Karte
Anmerkung des Autors
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Historische Nachbemerkung
Schwester Fidelmas Abenteuer in chronologischer Reihenfolge
Anmerkungen
Impressum
In Erinnerung an den Kampf gegen die Laistrygonen, die Kyklopen und den wilden Poseidon… der vor der Küste zeitweise zur Ruhe kam.
März 2017–Januar 2018
Sol vertetur in tenebras et luna in sanguinem antequam veniat dies Domini magnus et horribilis.
Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des HERRN kommt.
Buch Joel 2, 31
Biblia Vulgata, von Hieronymus im 4.Jahrhundert ins Lateinische übersetzt
Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des 7. Jahrhunderts
Bruder Eadulf von Seaxmund's Ham aus dem Lande des Südvolks, ihr Ehemann
Enda, Krieger der Nasc Niadh, der Leibwache des Königs von Cashel
In Cluain, auf dem Gebiet der Uí Liatháin
Grella, Gemahlin von Cenn Fáelad, dem Hochkönig der Fünf Königreiche
Cairenn, ihre Gesellschafterin
Loingsech, ihr Leibwächter
Antrí von Cluain
In Finnbars Abtei, Corcaigh
Abt Nessan, Finnbars Abtei
Bruder Ruissine, Verwalter der Abtei
Oengarb von Locha Léin, ein Rechtsgelehrter
Bruder Luaran, ein Arzt
Imchad, ein Fährmann
Auf dem Gebiet von Ciarraighe Cuirche
Tassach, ein Bauer
Anglas, seine Frau
Cogadháin, ein Gastwirt
Cogeráin, sein Sohn
Fécho, Kapitän der Tonn Cliodhna, eines Küstenschiffs
Iffernán, sein Obersteuermann
Auf Ard Nemed, der grossen Insel
Artgal, Prinz der Cenél nÁeda
Corbmac, sein rechtaire oder Verwalter
Murchú, Kapitän eines Kriegsschiffs der Cenél nÁeda
In Ros Tialláin
Tialláin, Stammesfürst von Ros Tialláin
Gadra, sein stellvertretender Befehlshaber
Prinz Aescwine, Befehlshaber eines sächsischen Kriegsschiffs der Gewisse
Beorhtric, stellvertretender Befehlshaber
Áed Caille, ein Bogenmacher und Gefangener vom Stamme der Uí Liatháin
Fínsnechta, Sohn von Dúnchad
In Baile an Stratha
Mutter Báine, Betreiberin einer Herberge
In der Gemeinschaft Doirín
Éladach, »der Grieche«, Bruder von Glaisne, einem Prinzen der südlichen Uí Liatháin
Pilib, sein rechtaire oder Verwalter
Petrán, ein Krieger
Diese Geschichte folgt chronologisch auf den Band »Ihr Los ist Finsternis«. Wir befinden uns nach wie vor im Jahr 671 nach Christus, in dem Monat, der auf Altirisch Meadhónach Gaimrid (manchmal auch Geamhrad) genannt wird, Mitte des Winters; er entspricht dem heutigen Monat Dezember, dessen Name vom lateinischen decem abgeleitet ist, dem zehnten Monat des Julianischen Kalenders.
Die Schauplätze liegen überwiegend auf dem Gebiet der Uí Liatháin im Osten der heutigen Grafschaft Cork. Die bedeutendste Burg stand im Norden der Grafschaft: die Burg oder Caisleán der Uí Liatháin, die im modernen Englisch als Castlelions bezeichnet wird; die Handlung spielt jedoch meist an der Südküste.
Die anglisierte Form Cork ist von Corcaigh abgeleitet, einem großen Sumpfgebiet in der Provinz Munster. Wie Ptolemäos berichtet, wurde der Fluss Dabrona später Sabrann genannt und danach Laoi, woraus schließlich der anglisierte Name Lee entstand. Cluain heißt heute Cloyne, Wiese, und Eochaill, Stadt der Eibenbäume, nennt man Youghal. Eochaill liegt im Mündungsgebiet des Abháinn Mór, des Großen Flusses, der von den Engländern als Blackwater River bezeichnet wird und von seinen Quellen in den Bergen von Mullach an Radhairc 169 Kilometer (105 Meilen) durch die Provinz Munster fließt, bevor er das Meer erreicht.
»Warum haben wir angehalten?«
Der herrische Ton der Frau, die sich aus ihrer prachtvoll verzierten Kutsche hinauslehnte, veranlasste den jungen Krieger, der das Zeichen zum Anhalten gegeben hatte, auf seinem Pferd umzukehren und das kurze Stück zu ihr zurückzureiten, um ihre Frage zu beantworten.
Sie hatten soeben den dichten Wald verlassen und folgten einem schmalen Pfad, der in ein ödes Tal hineinführte, durch das der Wind nur so pfiff. Die Kälte und der wolkenverhangene Himmel passten zu diesem Tag mitten im Winter. Die zerklüfteten Hügel zu beiden Seiten des Tales waren kahl, hoch aufragende Granitfelsen beherrschten die Landschaft. Nur hier und da wurde das braune Gestrüpp aus verwelktem Farn und Dornensträuchern von kleinen Baumgruppen unterbrochen. Anders als in dem Wald, den sie gerade durchquert hatten, spross hier kaum etwas von dem winterlichen Grün, das für diese südliche Gegend so charakteristisch war.
Der Krieger, Loingsech, wirkte müde und schien trotz seines schweren, mit Dachspelz verbrämten Wollumhangs zu frieren. Er brachte sein Pferd neben der Kutsche zum Stehen und begrüßte die Frau mit dem gebührenden Respekt.
Das vierrädrige Gefährt, in dem sie saß, nannte man cethairríad; es wurde von vier starken Pferden gezogen. Es handelte sich augenscheinlich nicht um eine gewöhnliche Kutsche; ihr massiver Rahmen aus Eiche war mit rotem Eibenholz verkleidet und von geschickten Kunsthandwerkern mit Schnitzereien und Goldornamenten verziert worden. Überdies war es ein geschlossenes Fahrzeug, abgesehen von dem Wagenkasten, auf dem der ara oder Kutscher saß sowie ein cairpthech, ein Krieger, der zum Streitwagenführer ausgebildet war und hier als Geleitschutz diente. Wer sich auskannte, konnte Rückschlüsse auf den Besitzer der wertvollen Kutsche ziehen, denn auf der roten Eibentäfelung an der Wagentür prangte eine aurscarted, eine Schnitzerei: eine erhobene Hand, das Symbol der Uí Néill, der Hochkönige der Fünf Königreiche von Éireann. Merkwürdig war nur das reiterlose Pferd, das man hinten am Fahrzeug festgebunden hatte.
Die Frau, die sich hinausbeugte, war eine stattliche Erscheinung und ungefähr Ende zwanzig; in ihrem blonden Haar schimmerte gelegentlich feuriges Rot auf. Sie war attraktiv, doch um ihre Augen und Mundwinkel zeichneten sich Sorgenfalten ab. Sie wirkte bedrückt, auch wenn ihr Auftreten verriet, dass sie es gewohnt war, Befehle zu erteilen, denen man Folge zu leisten hatte. Sie musterte den jungen Krieger mit kalten blauen Augen.
»Loingsech, warum haben wir angehalten?«, fragte sie erneut.
Der junge Mann neigte respektvoll den Kopf. »Lady, wir haben das Tal von Cluain erreicht, doch mir gefällt die düstere Atmosphäre hier nicht. Es wirkt allzu verlassen und strahlt etwas Bedrohliches aus. »
Die Frau sah ihn einen Augenblick überrascht an. Dann verzog sich ihr angespannter Mund zu einem zynischen Lächeln.
»Seit wann bist du so ängstlich, Loingsech?«, entgegnete sie spöttisch. »Bist du nicht ein Krieger der Fianna Éireann?«
Der junge Mann errötete. »Ich habe nur bemerkt, wie kahl und verlassen dieses Tal aussieht im Gegensatz zu den dichten, üppigen Wäldern in der Umgebung dieses einsamen Ortes. Es wirkt, als wäre es von Gott verflucht, so dass hier nichts gedeiht.«
»Ich sehe doch, dass du Angst hast, Loingsech«, verhöhnte ihn die Frau.
»Ich fürchte mich nicht vor lebenden Menschen«, protestierte der Krieger.
»Nicht vor lebenden … und auch nicht vor toten?«, spöttelte sie weiter. »Keine Sorge, Krieger, die Abtei Cluain müsste ganz in der Nähe sein, wenn man dem Pfad durchs Tal folgt.«
Sie wandte sich zu ihrer Gesellschafterin um, die im dunklen Innenraum der Kutsche saß. »Welch ein Zufall, dass wir ausgerechnet hier angehalten haben, denn hier trennen sich unsere Wege.«
Die Angesprochene bewegte sich. Es war ein junges Mädchen, kaum älter als Anfang zwanzig.
»Ich bin bereit, Lady.«
Die Frau nickte bedächtig. »Du weißt, was du zu tun hast?«
»Ich müsste morgen früh in Finnbars Abtei ankommen. Danach soll ich dich in Cluain wieder treffen, spätestens bis Ende der Woche.«
»Ausgezeichnet. Geh mit Gott.«
Das Mädchen senkte den Kopf und kletterte aus der Kutsche. Es lief flink nach hinten, band das Pferd los, saß mit den fließenden Bewegungen einer geübten Reiterin auf und ritt ohne weitere Abschiedsgeste in schnellem Trab davon, auf den Wald im Nordwesten zu. Die Frau beobachtete ihren Aufbruch, sank schließlich zufrieden zurück in die Kissen, mit denen der Innenraum der Kutsche ausgestattet war, und befahl dem Kutscher, weiterzufahren.
Die Gebäude, die sie kurz darauf erreichten, wirkten genauso öde und verlassen wie das Tal selbst. Dunkle, verwitterte Kalksteinblöcke bildeten eine ungleichmäßige, zerbröckelnde Mauer um eine halb zerfallene Kapelle und um mehrere runde bothán, Wohnhütten, die sich dahinter versteckten. Allerdings war kein Lebenszeichen zu sehen, selbst dann nicht, als der junge Krieger vor das große Eichentor ritt, seine Trompete hervorholte und mit dem traditionellen Signal die Ankunft eines hohen Gastes ankündigte.
Das Echo verhallte und blieb ohne Antwort. Kein Geräusch war zu hören außer der wütenden Kakophonie von aufgeschreckten Vögeln, deren Rufe sich zu einem ohrenbetäubenden Chor vereinten.
Der junge Krieger näherte sich mit gerunzelter Stirn den Torflügeln und drückte dagegen. Sie schwangen mühelos auf.
Er ritt hindurch, blieb abrupt stehen und erstarrte schlagartig im Sattel; ein kurzer hölzerner Bolzen ragte aus seiner linken Schulter. Das Pferd war vor Überraschung und Schreck mit dem Kopf zur Seite gezuckt und hatte dem Krieger dabei die Zügel aus der Hand gerissen. Mit schrillem, angsterfülltem Wiehern bäumte es sich auf, drehte sich blindlings um und preschte davon, während der schwer verwundete junge Mann, aus dessen Schulter Blut strömte, sich am Sattel festklammerte.
Bevor der Begleitschutz auf dem Wagenkasten aufstehen und seine Waffe zücken konnte, trafen auch ihn zwei Bolzen aus einer unsichtbaren Armbrust. Mit verwunderter Miene stürzte er vom Kutschbock, und man brauchte kein Arzt zu sein, um zu erkennen, dass er tot war, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Die Kutschpferde bäumten sich erschrocken auf, als sein Körper auf ihre Rücken prallte. Der entsetzte Schrei des Kutschers erstickte, als auch er auf seinem Sitz zusammensank. Die Pferde stampften und schnaubten aufgeregt.
Die Frau beugte sich erneut aus dem Fenster und starrte fassungslos auf die Leichen ihrer Gefolgsleute; von hier war keine Hilfe mehr zu erwarten. Zögernd wandte sie den Blick von ihnen ab und den Männern zu, die auf die Kutsche zukamen und sie umstellten.
Eine tiefe Stimme rief höhnisch: »Komm und leiste uns Gesellschaft, Lady.«
Die Frau biss entschlossen die Zähne zusammen und stieg aus. Mit raschem Blick musterte sie die drei Gestalten, die ihr gegenüberstanden. Zwei von ihnen hatten merkwürdig aussehende Waffen auf sie gerichtet. Sie erinnerte sich, solche Bögen schon einmal gesehen zu haben: in Tara, bei den Kriegern der Pikten von Alba, die man hier in den Fünf Königreichen Cruithne nannte und die ihre Gesandten zum Hof ihres Gatten begleiteten. Es handelte sich um Armbrüste, grausame Waffen, deren Bolzen, aus kurzer Distanz abgeschossen, tödlich waren. Die Gesichtszüge des dritten Mannes wurden von einer Maske verdeckt. Seine Kleidung schien von guter Qualität zu sein, und in einer kunstvoll verzierten Scheide an seiner Hüfte steckte ein ebenso kunstvoll verziertes Schwert. So etwas konnte weder einem einfachen Krieger noch einem Dieb gehören.
»Wo ist Antrí?«, fragte sie, doch ihr Befehlston wirkte gezwungen. »So hatten wir das nicht abgesprochen!«
»Komm mit mir, Lady«, erwiderte der Maskierte und deutete auf die offenen Tore der Abtei. Seine Stimme klang höflich, doch der drohende Unterton war nicht zu überhören.
»Du solltest wissen, dass ich Grella bin, die Gattin des Hochkönigs Cenn Fáelad mac Blaithmaic, eines Nachkommen der Síl nÁedo Sláine, des Thronfolgers von Niall …«
Der Mann brach in zynisches Lachen aus und brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Ich weiß genau, wer du bist, Lady«, sagte er. »Welchen Grund sollte ich sonst haben, dir meine Gastfreundschaft anzubieten?«
»Wer bist du?«, fragte sie verblüfft. »Mir scheint, ich kenne dich, aber du bist nicht Antrí.«
Sie sah sich seine zwei bewaffneten Begleiter genauer an. Ihre Kleidung wirkte ärmlich, sollte aber vielleicht nur über ihre Stellung hinwegtäuschen; ihre Frisuren und Bärte waren gepflegt und ihre Waffen von ausgezeichneter Qualität.
»Dem Himmel sei Dank, dass ich nicht Antrí bin«, antwortete der Mann.
»Deine Stimme klingt vertraut. Wo ist Antrí? Wurdet ihr nicht hierher geschickt, um mich zu treffen?«
»Leider ist es mir im Moment nicht möglich, mich vorzustellen«, erwiderte ihr Geiselnehmer amüsiert. »Es muss genügen, dass ich weiß, wer du bist; wer ich bin, wirst du noch früh genug erfahren. Zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich lediglich meinen Unmut darüber äußern, dass der sogenannte Abt Antrí gesonderte Abmachungen trifft, die unserer ursprünglichen Vereinbarung entgegenstehen.«
Er führte sie durch die Tore der Abtei auf eines der baufälligen Gebäude zu. Dort blieb er stehen und öffnete die Tür. Drinnen war ein Mann in einer schlichten braunen Kutte an einen der Holzpfosten gefesselt, die das Dach stützten. In seinem Mund steckte ein Knebel. Mit großen, angsterfüllten Augen starrte er sie an.
»Antrí!«, schrie Grella, als sie ihn erkannte.
Ihr Geiselnehmer packte die Tür und zog sie wieder zu.
»Dein Cousin Antrí, der sich als Abt ausgibt, war nicht gerade kooperativ. Egal. Wir sind deinetwegen hier.«
»Wer bist du?«, fragte sie erneut, diesmal etwas verhaltener. »Die Männer in Éireann benutzen ausschließlich Langbogen. Das hier sind piktische Waffen.« Sie deutete auf die Armbrüste. »Seid ihr etwa Cruithne?«
»Dein Wissen ist bemerkenswert, Lady. Doch auch die Sachsen benutzen solche Waffen. Ich wundere mich, dass du uns nicht mit Sachsen verwechselt hast.« Bei diesen Worten grinste er, als hätte er eine zweideutige Anspielung gemacht.
»Was willst du von mir?«, fragte Grella gereizt. »Warum hast du Abt Antrí gefangen genommen?«
»Wir können auf Abt Antrí verzichten«, erwiderte ihr Geiselnehmer mit einer abschätzigen Geste. »Was wir wollen, ist deine Gesellschaft … zumindest für ein Weilchen. Wie ich schon sagte – komm mit mir.«
Er führte sie zurück zum Tor.
Jetzt sah sie, dass im Innenhof der Abtei etwa ein Dutzend Körper in einer Reihe lagen, alle in Mönchsgewänder gekleidet. Und unverkennbar alle tot. Sie schluckte bestürzt.
»Was ist hier passiert?«, fragte sie leise.
Ihr Begleiter deutete abschätzig in Richtung der Leichen. »Nun ja, ihr Christen seid doch immer so darauf erpicht, ins Paradies zu kommen und euerm vielgepriesenen Gott zu begegnen. In diesem Fall haben wir etwas nachgeholfen. Bestimmt waren sie ohnehin davon überzeugt, dass jeder, der in dieser Welt sein Leben opfert, leichteren Zugang zur nächsten erhält.«
»Wer sind sie? Abt Antrís Gemeinschaft?«, fragte Grella mit ängstlich erhobener Stimme. »Wer bist du?«
»Es handelt sich in der Tat um die sogenannten Anhänger deines Cousins Antrí, oder sollte ich zutreffender sagen, um seine bezahlten Gefolgsleute? Jedenfalls waren sie keine Mitglieder eines religiösen Ordens, genauso wenig, wie Antrí ein Abt war.«
»An deinen Händen klebt viel Blut, wer auch immer du sein magst.« Erneut versuchte sie, ihre Autorität geltend zu machen, doch es mangelte ihr selbst an Überzeugung. »Du wirst teuer dafür bezahlen.«
»Ach, komm schon, Lady, lass uns nicht streiten. Ich bin zuversichtlich, dass wir zwei uns einigen werden. Der Preis, den du zu zahlen hast, ist sicher weitaus höher als der, den man von mir verlangen würde.«
»Wirst du Antrí umbringen?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie die Ungeheuerlichkeit ihrer Situation zu begreifen begann.
»Leider Gottes, wäre er ein echter Abt, dann hätte er seiner Herde ein besseres Beispiel vorgelebt. Ich fürchte, er und seine Schafe« – wieder zeigte er auf die Toten – »waren keine geschickten Verschwörer. Er hätte ihnen auf dem Weg in die nächste Welt als Erster vorangehen sollen, hätte sich aus freien Stücken dorthin begeben müssen, doch stattdessen versuchte er, mit mir um dein Schicksal zu schachern. Du siehst, Lady, ich weiß alles.«
»Was willst du von mir?«, fragte sie, nun schon ganz kleinlaut; sie hatte begriffen, wie skrupellos der Unbekannte sein konnte.
»Ich sagte es dir bereits. Mich interessiert lediglich deine Gesellschaft, bis zu dem Zeitpunkt, an dem du ein aufrichtiges Geständnis ablegst und mit mir eine neue Vereinbarung über deine Zukunft triffst.«
Er drehte sich um und begann, seinen Leuten, die inzwischen hinzugekommen waren, Befehle zu erteilen. Ein Mann hatte die Kutsche durch die Tore auf das Abteigelände geführt und spannte die Pferde ab. Zwei weitere kümmerten sich um die Leichen des Kutschers und des zweiten Leibwächters.
»Haben deine Männer den entkommenen Krieger schon erwischt?«, fragte der Maskierte seinen Befehlshaber.
»Das Pferd ist schnurstracks in den Wald galoppiert. Er hat sich die ganze Zeit an ihm festgeklammert. Wir haben ihn verfolgt, bis wir seine Spur verloren.«
Der Anführer stieß einen üblen Fluch aus. »Ihr müsst ihn finden und töten, sonst wird es deinen Männern leidtun. Sorge dafür, dass man keine der Leichen identifizieren kann.«
»Aber was ist mit der Kutsche?«, protestierte der Befehlshaber. »Es wäre bedauerlich, ein so außergewöhnliches Gefährt verbrennen zu sehen.«
»Noch bedauerlicher wäre es allerdings für alle Beteiligten, wenn jemand sie erkennt, bevor wir die Probleme gelöst haben. Zünde sie an.«
Die Frau bemühte sich, ihr Kinn kämpferisch nach vorn zu strecken. »Soll ich auch umgebracht werden? Als Gattin des Hochkönigs erkennt man mich schließlich wesentlich leichter als die Kutsche.« Die Angst in ihrer Stimme machte jegliche Autorität zunichte, die sie zuvor ausgestrahlt haben mochte.
Ihr Geiselnehmer lachte leise. »Ein ausgezeichneter Hinweis, Lady. Aber keine Sorge. Im Augenblick unternehmen wir nur einen kleinen Ausritt. Ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass du noch lange die Gattin des Hochkönigs bleiben wolltest. Cousin Antrí hat sich höchst ausführlich über deine Pläne geäußert.«
Plötzlich schlug einer der Männer lauthals Alarm. Er kam aus der Richtung der Hütte, in der sie den Gefangenen gesehen hatte, auf sie zugerannt. »Bei allen Göttern und Göttinnen, mein Herr, Antrí scheint seine Fesseln gelöst und die Flucht ergriffen zu haben. Sollen wir ihn verfolgen?«
Der Maskierte fluchte. »Bin ich denn nur von Idioten umgeben? Ja, folgt ihm, und zwar schnell. Der Schmarotzer weiß zu viel. Er ist überflüssig, also sorgt dafür, dass er das Tal nicht lebend verlässt!«
Die Gattin des Hochkönigs war bleich geworden und zitterte, bemühte sich aber dennoch, ihre Würde zu wahren. »Du wirst schon sehen: Diese grobe Beleidigung der Familie des Hochkönigs wird nicht ungestraft bleiben.«
Der Mann wandte sich ihr zu und entgegnete herausfordernd: »Vielleicht wollen wir eine solche Beleidigung des Hochkönigs ja gerade verhindern und mischen uns deshalb in diese Angelegenheit ein, Lady.« Während Grella noch versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu entschlüsseln, drehte er sich um und rief mit erhobener Stimme: »Legt Feuer und lasst uns von hier verschwinden.«
Drei Reiter machten auf der Hügelkuppe Rast und schauten hinunter in das breite Flusstal, das vor ihnen lag; die Kälte trieb ihnen Tränen in die Augen. Trotz des stürmischen Windes war der Himmel blau, hier und da leuchteten weiße Wolken, hoch aufgetürmte Wollknäuel, die wie übermütige Schäfchen vorüberzogen. Der vordere Reiter, eine Frau auf einem grau-weißen Pferd, zog den dicken wollenen Umhang fester um sich; dabei wurde ihr langes rotgoldenes Haar vom Wind erfasst und zerzaust. Sie hob ihren Arm, um es zu entwirren und wieder unter ihre Kapuze zu stopfen. Der zweite Reiter, ein hochgewachsener, jugendlicher Mann, lehnte sich im Sattel zurück und schaute nach oben.
»Die Wolken werden dichter, Lady«, bemerkte er. »Ich fürchte, das Wetter schlägt um.«
Die Frau wandte sich mit freundlichem Lächeln an den Sprecher, der die Ausrüstung eines Kriegers trug und dazu den traditionellen goldenen Halsring der Nasc Niadh, an dem man ein Mitglied der Elitetruppe des Königs von Cashel erkannte – einen Krieger vom Goldenen Halsreif. Cashel war die bedeutendste Burg im Königreich Muman, dem größten und südwestlichsten der Fünf Königreiche von Éireann.
»Wir erreichen die Abtei, noch bevor der Regen einsetzt«, versprach sie ihm zuversichtlich. »Es ist nicht mehr weit.«
Der dritte Reiter saß im Herrensitz auf einem sanftmütig blickenden, rötlich-grauen Cob, einem kurzbeinigen, kräftigen Pferd, und trug eine braune Mönchskutte; auf seinem bloßen Kopf prangte die Tonsur des heiligen Peter – ein Hinweis darauf, dass er den Gesetzen Roms Folge leistete und nicht denen der Kirchen in den Fünf Königreichen. Er zitterte, als ihn die Windböen streiften.
»Woher weißt du, dass es Regen gibt?«, fragte er gereizt. »In dieser Jahreszeit würde man doch eher Schnee erwarten.«
»Betrachte die Wolken, Eadulf«, entgegnete die Frau. »Siehst du die Formationen? Wenn sie weiterhin ihre Gestalt verändern wie die da vorn, die aus dem Norden kommen, wird es bald regnen. Für Schnee ist es noch nicht kalt genug. Erst später in diesem Monat, nach dem Neumond, wird die Temperatur plötzlich sinken und stürmische Winde und Schneefälle ankündigen.«
Eadulf seufzte übertrieben laut. Offensichtlich war er nicht gerade guter Laune.
Der junge Krieger, Enda, der mit der Begleitung des Paares auf seiner Reise beauftragt worden war, bemerkte seine Anspannung und schaltete sich unverzüglich ein.
»Ist die Abtei, die wir suchen, in der Nähe, Lady?«
Fidelma von Cashel, die Schwester von Colgú, dem König von Muman, deutete auf das breite grüne Tal vor ihnen.
»Die Abtei ist kein einzelnes Gebäude, sondern vielmehr eine große Gemeinschaft, und liegt im Schutz einer Holzpalisade oben auf dem Gipfel einer kleinen Kalksteinklippe, mit Blick auf den Fluss da vorn.«
»Und diesen Fluss nennt man …?«
»Sabrann.«
»Ein seltsamer Name«, bemerkte der Krieger. »Allerdings war ich noch nie zuvor in diesem Teil des Königreichs.«
»Es ist ein sehr alter Name«, erklärte Fidelma, »auch wenn der Grieche Ptolemäos den Fluss in seinen Reiseberichten unter der Bezeichnung Dabrona erwähnt. Handelsleute haben diesen Fluss seit Langem benutzt, und die Buchten, die er bildet, eignen sich hervorragend als Häfen.«
»Eine friedliche, freundliche Landschaft«, sagte Enda.
Eadulf schnaubte und wirkte immer noch verärgert. »Ich sehe hier nur Marschland und Sumpf, und trotz der Kälte sind mir schon so viele stechende Insekten begegnet, dass mir das für den Rest meines Lebens reicht. Ich verspüre nicht den Wunsch nach näherer Bekanntschaft mit diesen Plagegeistern.«
»Ich dachte, du hättest eine Salbe dagegen«, erwiderte Fidelma leichthin. »Honig und Apfelwein, wenn ich mich recht erinnere …«
»Ich bekämpfe lieber die Ursache als die Symptome«, entgegnete Eadulf gereizt. »Warum müssen wir eigentlich immer durch Marschland reiten?«
»Ich habe keinen Einfluss auf die Geographie in diesem Königreich«, antwortete Fidelma mit scharfer Zunge.
Nicht zum ersten Mal auf dieser Reise hatte Enda, der junge Krieger, das Gefühl, zwischen den beiden vermitteln zu müssen. Seit sie Cashel verlassen hatten, war ihm eine seltsame Feindseligkeit zwischen Fidelma und ihrem Ehemann Eadulf aufgefallen. Und was das Schlimmste war – sie wurde immer erbitterter.
»Es stimmt schon, Lady, dass es in diesem Teil des Königreichs eine Menge Marschland gibt.«
Nachdem ihr Ärger verflogen war, fuhr Fidelma in versöhnlicherem Ton fort: »Man nennt dieses Gebiet nicht umsonst Corcaigh Mór na Mumhan, den Großen Sumpf von Muman. Ihr werdet sehen, dass es hier unzählige, von Wasserwegen umflossene Inseln gibt, und selbst der große Fluss ist morastig und anfällig für Überschwemmungen.«
»Dort wimmelt's bestimmt von diesen stechenden Biestern«, murmelte Eadulf.
Seine schlechte Laune ließ sich offenbar nicht vertreiben. In Wirklichkeit fühlte sich Eadulf von Fidelma ausgeschlossen. Sie hatte erklärt, man habe sie gebeten, in dieses Sumpfgebiet und zur Abtei des heiligen Finnbar zu reisen, um mit dem derzeitigen Abt, Nessan, gewisse rechtliche Angelegenheiten zu besprechen; sie war jedoch nicht bereit gewesen, Eadulf den Grund für diese Mission zu verraten. Er hatte von der berühmten Lehrabtei gehört, sie aber noch nie besucht, so dass er spontan beschloss, Fidelma zu begleiten. Sie hatte protestiert und gesagt, sie würde den jungen Krieger Enda als Begleitung mitnehmen; Eadulf hatte das deutliche Gefühl gehabt, dass Fidelma ihn nicht dabeihaben wollte und einfach nicht wusste, wie sie ihn abweisen sollte. Sie hatte nichts dergleichen ausgesprochen, doch er hatte gespürt, dass seine Gesellschaft unerwünscht war; umso hartnäckiger hatte er darauf bestanden, sie zu begleiten. Also hatten sie ihren Sohn, Alchú, in der Obhut von Muirgen, der Kinderfrau, zurückgelassen. Fidelmas Abschied von dem Jungen hatte wie ein endgültiges Lebewohl gewirkt. Merkwürdig.
Fidelmas Verschwiegenheit über ihre Mission hatte Eadulf zunehmend frustriert, je weiter sie gen Südwesten ritten. Ihr Schweigen war ungewöhnlich und sonderbar. Sie hatte ihm häufig die Feinheiten der Gesetze erklärt sowie die Aufgaben, die ihr als dálaigh und Rechtsberaterin ihres Bruders übertragen wurden. Eadulf hatte den Titel eines gerefa geerbt, eines Friedensrichters seines Volkes in Seaxmund's Ham im Lande des Südvolks im Königreich Ostanglien. Im Lauf der Jahre, in denen er mit Fidelma zusammen war, besonders seit ihrer Heirat nach den uralten Gesetzen in Fidelmas Heimat, hatte Eadulf sogar das vollste Vertrauen ihres Bruders Colgú, des Königs, erworben. Er hatte Fidelma häufig bei der Lösung geheimnisvoller Fälle unterstützt und damit ihren gemeinsamen guten Ruf begründet; überall in den Fünf Königreichen von Éireann waren ihre Namen untrennbar miteinander verbunden, sogar im Palast des Hochkönigs. Daher war Eadulf umso fassungsloser, als Fidelma sich weigerte, ihm etwas über ihre aktuelle Aufgabe zu erzählen, selbst als er sie rundheraus danach fragte. Sie sagte lediglich, es handele sich um ein persönliches Versprechen. Ihr offensichtlicher Mangel an Vertrauen zu ihm war der Grund für seine schlechte Laune während der Reise.
Trotz der Tatsache, dass sie gerade im Monat Meadhónach Gaimrid waren, was so viel wie »Mitte des Winters« bedeutete, und trotz Eadulfs fortwährender Klagen war die Reise in das Sumpfgebiet überraschend mühelos und angenehm verlaufen. Die Temperaturen waren meist mild, auch wenn ihnen gelegentlich, wie jetzt während der kurzen Rast auf dem Hügel, ein scharfer, kalter Nordwestwind entgegenschlug. Sie folgten dem Pfad, der von Eichen und Haselsträuchern gesäumt war, gemächlich hinunter zum Fluss. In der Nähe des Ufers trafen sie auf einen breiteren und stärker befahrenen Weg – die Spurrillen darin verrieten, dass hier häufig schwere Wagen entlangkamen. Am Flusslauf stießen sie sogar auf einige Anlegestege, an denen Boote und Lastkähne festgemacht waren, sowie auf weitere Anzeichen dafür, dass hier reger Handelsverkehr herrschte. Fidelma wusste, dass der Fluss lang war und schließlich ins Meer mündete und dass er seit jeher Besucher und Kaufleute aus zahlreichen fremden Ländern angelockt hatte.
Von den Landungsstegen und den vereinzelten Hütten am Ufer stieg eine sanfte Böschung hinauf zu dem Bergzug aus Kalkstein, auf dessen Rücken sich ein hoher hölzerner Staketenzaun erhob – die offizielle Umgrenzung der religiösen Gemeinschaft, die das Ziel ihrer Reise war. Fidelma hatte die Abtei bereits besucht und wusste, dass sich die Hauptgebäude jenseits der Einfriedung befanden. Ein eindrucksvoller Anblick. Einst hatte Lochan, der Sohn von Amergin aus Maigh Seola, diesen Ort zur Gründung eines Zentrums auserkoren, in dem die Grundsätze des Christentums an die jüngeren Generationen weitervermittelt werden sollten. Lochan wurde ein angesehener Lehrer des Neuen Glaubens, und die meisten kannten ihn unter seinem Spitznamen »der Hellhaarige« oder Finnbar. Er war vor fünfzig Jahren gestorben; sein Name und seine Lehren hatten sich im ganzen Land verbreitet.
Während sie ihre Pferde hinauf zu den Haupttoren lenkten, erinnerte sich Fidelma an ihren letzten Besuch hier; damals hatte sie das Rätsel der verschwundenen Glocke gelöst, mit der Finnbar einst die Gläubigen zum Gebet in die Kapelle rief. Zum Andenken daran hatte man die Glocke in der Abtei aufbewahrt; ihr Verlust löste große Bestürzung aus, bis es Fidelma gelang, sie Abt Nessan – schon damals ein betagter Mann – zurückzubringen. Es hieß, Nessan sei so alt, dass er Finnbar noch persönlich begegnet war.
Eadulf sah die Anlage zum ersten Mal und war nicht von ihr beeindruckt, denn er kannte die Lehrabteien im Norden: Imleach, Mungairit und Darú, die aus großen Steinblöcken erbaut waren, hauptsächlich aus Kalkstein und sogar aus grauem Granit. Im Gegensatz dazu wirkte diese Abtei wie jedes beliebige ärmliche Dorf, das man aus groben Holzstämmen aus der Region zusammengezimmert hatte.
Die Torflügel der Abtei standen offen, und ein kräftiger, untersetzter Mann erwartete sie bereits. Sein Haar war dunkel, sein Gesicht blass, und seine Miene verriet grundsätzliches Misstrauen und Verbitterung. Er war in ein schlichtes Gewand aus grau gefärbter Wolle gekleidet und hatte die Hände auf der Brust um ein Holzkreuz gefaltet, das er an einem Lederband um den Hals trug.
»Seid willkommen, Reisende«, begrüßte er sie. Er leierte die Worte ohne jegliches Gefühl herunter, lediglich als leere Floskel.
Sie saßen von ihren Pferden ab, und Fidelma übernahm die Rolle als Sprecherin der Gruppe und antwortete.
»Ich bin Fidelma von Cashel.«
»Ich bin Bruder Ruissine, der rechtaire oder Verwalter von Abt Nessan. Wie kann ich zu Diensten sein?«
»Abt Nessan müsste mich erwarten«, erwiderte Fidelma in einem Ton, der ihr Missfallen an seiner schroffen Begrüßung zum Ausdruck brachte.
»Tatsächlich?« Bruder Ruissine hob eine Augenbraue. »Der Abt ruht sich gerade aus, es ist niemandem gestattet, ihn zu stören, bevor die Glocke zum Abendessen läutet.«
Fidelma presste die Lippen zusammen und richtete den Blick gen Himmel.
»Dann hoffe ich, dass die Glocke bald läutet«, erwiderte sie trocken, so dass der Verwalter irritiert blinzelte. »In der Zwischenzeit bitten wir um eure Gastfreundschaft, da die Dunkelheit rasch hereinbricht. Wir brauchen Stall und Futter für unsere Pferde, einen Schlafplatz für Enda, einen Krieger der königlichen Leibwache, und eine standesgemäße Unterkunft für meinen Gatten, Eadulf von Seaxmund's Ham, und mich.«
Der Verwalter wirkte für einen Augenblick fassungslos; erst jetzt schien ihm der Rang der Neuankömmlinge bewusst zu werden.
»Seid alle willkommen, Fidelma von Cashel«, sagte er nach kurzem Zögern und bemühte sich mit sichtlicher Anstrengung, etwas mehr Gefühl in seine Worte zu legen. Er wandte sich um und bedeutete einem jungen Mann, offenbar einem Stallburschen, sich um ihre Pferde zu kümmern. Auf ein weiteres Signal hin erschienen Diener mit Krug und Leintuch. »Wir halten uns hier an die traditionellen Rituale, Lady«, erklärte der Verwalter in einem Ton, als wolle er sich rechtfertigen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck, der wohl ein freundliches Lächeln sein sollte.
Dann folgte die traditionelle Waschung: Die Diener reinigten die Hände und Füße der Reisenden.
»Wir haben zahlreiche Rituale aus Rom übernommen«, erklärte Bruder Ruissine mit einem Seitenblick auf Eadulf. »Der heilige Finnbar selbst begab sich auf eine Pilgerfahrt dorthin und brachte viele religiöse Gepflogenheiten mit, die während der Reformen des Heiligen Vaters Gregor der Große eingeführt wurden. Wir haben sie bis heute beibehalten.«
Nachdem die Rituale der Gastfreundschaft vollzogen waren, schickte der Verwalter Enda mit dem Stallburschen los, der sich um Kost und Unterkunft für ihn kümmern würde. Dann bat er Fidelma und Eadulf, ihm zu den Quartieren für Gäste zu folgen, damit sie sich vor dem Abendessen noch etwas ausruhen konnten. Ohne weitere Floskeln geleitete Bruder Ruissine sie durch eine Reihe von Hütten unterschiedlicher Größe und blieb vor einem imposanten Holzgebäude stehen.
»Das hier ist unser praintech oder Refektorium. Sobald die Glocke zum Abendessen läutet, kommt hierher und meldet euch bei den Dienern; sie werden euch eure Sitzplätze zuweisen.«
Eadulf hatte bemerkt, dass in der Gemeinschaft sowohl Männer als auch Frauen lebten.
»Ich sehe, dass es sich hier um eine conhospitae, eine gemischte Gemeinschaft, handelt«, sagte er.
»Darin unterscheiden wir uns nicht von zahlreichen anderen christlichen Lehrabteien«, bestätigte der Verwalter kurz angebunden. »Ich habe jedoch gehört, dass viele eine Trennung der Geschlechter vorziehen. Vermutlich wird es immer solche Gruppen geben, die sich abgrenzen möchten.«
Der Verwalter verabschiedete sich vor ihrer Hütte, doch Eadulf stellte fest, dass er sich nicht entspannen konnte – und mit Fidelma gab es wenig zu diskutieren, solange er den Zweck ihres Besuches hier nicht kannte. Also ließ er sie ausruhen und beschloss, sich in der Gemeinschaft umzusehen, während es noch hell war. Mit einbrechender Dämmerung spürte er die zunehmende Kälte und bemerkte die vorbeihuschenden Schatten von Vögeln, die ihre nächtlichen Schlafplätze aufsuchten. Die Kalksteinklippen, auf denen die Abtei erbaut war, schienen Vögel geradezu anzulocken. Er hörte ein vertrautes, sanftes, unablässiges Gurren: »Druuuu, druuuu …«, an dem er schließlich die Felsentaube erkannte, eine Taubenart, die normalerweise in den Felsen und Klippen der Küstenregionen nistete.
Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er erneut dem Verwalter, Bruder Ruissine, begegnete; der schien jetzt ganz entzückt, ihn auf seinem Weg durch die weitverstreuten Gebäude zu begleiten. Er erzählte von Plänen, die Holzhäuser endlich durch Unterkünfte aus Stein zu ersetzen, aber Steinmetze seien teuer. Offensichtlich war er stolz auf die Abtei und ihre Traditionen und erwies sich als redseliger Fremdenführer; er klärte Eadulf umfassend über die Gründung der Abtei auf und fügte hinzu, Abt Nessan sei schon so betagt, dass er als junger Mann noch eine von Finnbars letzten Messen miterlebt habe. Nur ein einziges Mal ließ er sich anmerken, wie sehr er darauf brannte, mehr über die Besucher zu erfahren.
»Ich habe mich gefragt, was die Schwester von König Colgú von Cashel wohl hierherführt?«, wollte er wissen, während er von einem Aussichtspunkt auf der Einfriedung der Abtei auf die ausgedehnten Wälder südlich des Flusses wies.
»Bestimmt hat der Abt mit dir als Verwalter schon alles Wichtige besprochen?«, erwiderte Eadulf etwas verwundert.
»Der Abt hat ihren Besuch überhaupt nicht erwähnt«, antwortete Bruder Ruissine obenhin, als hätte das nichts zu bedeuten. »Es war gerade ziemlich viel los hier – unsere Gelehrten haben diskutiert, ob wir die Geburt Christi zukünftig so begehen sollen wie einige der Abteien in Rom.«
»Die Geburt Christi?«, entgegnete Eadulf erstaunt. »Selbst in Rom sind die Gelehrten sich nicht einig, welche Regeln zu beachten sind. Folgt man den religiösen Bräuchen, ist die Erinnerung an die Kreuzigung und die Auferstehung des Herrn weitaus wichtiger.«
»Es gibt heftige Diskussionen, seit der Kaiser von Rom, Lucius Domitius Aurelianus, verkündet hat, der traditionelle heidnische Sol-Feiertag1 solle zum Geburtstag unseres Herrn erklärt und festlich begangen werden.«
»Dieser Vorschlag wurde doch schon vor hundert Jahren vom Konzil von Tours angenommen. Wieso wird dann immer noch darüber geredet? Schließlich hat das Christentum ganz bewusst zahlreiche heidnische Feste übernommen, um bewährte religiöse Praktiken einfach fortzuführen.«
»Allerdings hat sich der Feiertag noch nicht durchgesetzt. Das ist der Grund für unsere Debatte. Unsere Gelehrten haben sich mit den Argumenten der frühen Christen befasst. Ein Tag im Monat Augustus im römischen Kalender, ein Tag im Pa-en-Chonsu2 des ägyptischen Kalenders … Jeder Monat in sämtlichen uns bekannten Kalendern hat seine Anhänger«, sagte der Verwalter mit einem Achselzucken.
»Aber legt nicht der Chronograph von Filocalus3 fest, dass Übereinstimmung darin besteht, den 25.Tag des zehnten Monats im römischen Kalender – den Sol-Feiertag, wie du schon sagtest – als geeigneten Festtag für die Geburt Christi zu begehen?«
Der Verwalter verzog genervt das Gesicht. »Du hättest bei der Diskussion dabei sein sollen, Bruder. Aber wovon sprachen wir gerade? Hat Schwester Fidelma denn Einzelheiten ihres Besuches bei uns mit dir beredet?«
Irgendetwas im Ton der wiederholt gestellten Frage reizte Eadulf. Offensichtlich wusste der Verwalter, dass Fidelma einmal Nonne gewesen war, auch wenn sie sich ihm jetzt als Fidelma von Cashel und nicht als Schwester Fidelma vorgestellt hatte.
»Fidelma hat ihre Abtei verlassen, Bruder«, erklärte er. »Sie ist ja eine dálaigh und als solche inzwischen nur noch Rechtsberaterin ihres Bruders Colgú, des Königs von Muman.«
Bruder Ruissine nickte eifrig. »Eben drum, eben drum, Bruder. Ihren Ruhm und ihren Ruf hat sie als Schwester Fidelma erworben, und unter diesem ehrenwerten Titel kennt man sie in vielen Winkeln des Königreichs.«
»Und darüber hinaus«, bestätigte Eadulf grinsend.
»Genau«, erwiderte der Verwalter. »Die Namen von Schwester Fidelma …« – er zögerte und lächelte kurz zu Eadulf hinüber – »und selbstverständlich auch von Bruder Eadulf, dem Sachsen, sind weit und breit bekannt.«
»Ich bin ein Angel, kein Sachse«, verbesserte ihn Eadulf trocken. »Ich stamme aus dem Königreich der Ostangeln.«
»Eben drum, eben drum«, versicherte der andere eilig. »Aber der Grund für euern Besuch hier …? Ich bin, wie du weißt, der Verwalter der Abtei und sollte Bescheid wissen.«
»Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass Fidelma etwas mit deinem Abt zu besprechen hat«, antwortete Eadulf unwirsch, denn Bruder Ruissine hatte genau den wunden Punkt getroffen, der ihm seit der Abreise aus Cashel schlechte Laune bereitete. Fidelma hatte ihm nicht das Geringste anvertraut.
Der Verwalter überspielte seine Enttäuschung, doch seinem scharfsichtigen Blick entging nichts. »Sie hat dir den Grund gar nicht mitgeteilt?«
Eadulf entschloss sich zum Gegenangriff. »Warum fragst du? Ist denn in der Abtei etwas passiert, das Anlass für einen Rechtsgelehrten wäre, gewisse Dinge mit deinem Abt zu klären? Ich glaube kaum, dass die Geburt Christi ein Thema ist, um eine dálaigh von Fidelmas Kaliber auf den Plan zu rufen.«
Jetzt war es an Bruder Ruissine, seine Ahnungslosigkeit zuzugeben. »Dazu fällt mir nichts ein. Wie gesagt, ich wurde nicht mal davon in Kenntnis gesetzt, dass sie der Abtei einen Besuch abstatten wollte.«
»Und doch beunruhigt es dich, dass eine dálaigh hier eingetroffen ist. Das sehe ich doch. Was ist das Problem?«
Bruder Ruissine verzog abschätzig das Gesicht. »Ich bin nicht in alle Angelegenheiten des Abts eingeweiht«, räumte er schließlich ein. »Die Ankunft Fidelmas hat mich einfach überrascht.«
»Ist das nicht ungewöhnlich, da du schließlich der rechtaire dieser Abtei bist?«
Es entstand eine lange Pause, bevor Bruder Ruissine gereizt schnaubte. »Es ist ungewöhnlich, aber so ist das nun mal«, gab er widerwillig zu.
Eadulf beobachtete den vorher so gesprächigen Verwalter, der sich mit einem kurzen Nicken umdrehte und davoneilte, als dränge ihn eine eilige Angelegenheit. Eadulf merkte, wie erneut Ärger in ihm aufstieg. Er hatte den Eindruck, der Verwalter werfe ihm vor, dass er das Geheimnis wohl kannte, es aber nicht mit ihm teilen wollte. Dann zuckte er die Schultern und begab sich auf den Rückweg zur Hütte.
»Wenn sie mir etwas sagen möchte, wird sie das tun, sobald die Zeit gekommen ist«, murmelte er vor sich hin, als wolle er Fidelmas Schweigen rechtfertigen. Dennoch verspürte er Groll angesichts der Tatsache, dass sie ihn nach so vielen Jahren enger Gemeinsamkeit diesmal nicht ins Vertrauen zog. Eine seltsame Beklemmung beschlich ihn, als er sich an die Anfangszeit erinnerte, in der Fidelma seine Gefühle für sie zurückgewiesen hatte und er sich genauso verletzt und verunsichert fühlte wie jetzt.
Als Eadulf die Hütte betrat, begann Fidelma sich zu regen, und sein Vorsatz, zu warten, bis sie ihn von sich aus einweihte, war wie weggeblasen.
»Na, wird die Sache mit dem Abt denn bald erledigt sein?«, fragte er barsch.
»Es dürfte nicht lange dauern«, versicherte sie ihm und sah ihn erschöpft an.
»Und du kannst mir immer noch nicht verraten, worum es überhaupt geht?«
Fidelma seufzte verzweifelt. »Stell keine Fragen mehr, Eadulf. Ich werde es dir erzählen, wenn die Zeit reif ist.«
»Und wann wird das sein?«
»Du wirst es früh genug erfahren.« Fidelma zögerte und zuckte entschuldigend die Schultern. »Tempus et locus«, bemerkte sie. »Zeit und Ort. Ich hoffe, bald, aber setz mich nicht mehr unter Druck.«
»Na schön.« Eadulf gab missmutig nach und warf ihr einen finsteren Blick zu – der ihr nicht entging und nur dazu beitrug, ihre eigene bedrückte Stimmung zu verschlimmern.
Eadulf versuchte, sich nicht verletzt zu fühlen, doch es verwirrte und kränkte ihn, dass sie nicht mit ihm redete – zum ersten Mal, seit sie vor einigen Jahren gewisse Differenzen beigelegt hatten. Damals hatte Fidelma beschlossen, das Kloster zu verlassen und sich beim Rat der Brehons um den Posten als Oberster Brehon im Königreich ihres Bruders zu bewerben. Ihre Bewerbung wurde abgelehnt – ein schwerer Schlag für ihr Selbstvertrauen. Damals hatte ihr Bruder Colgú die Beziehung zwischen Fidelma und Eadulf gerettet: Als in der Abtei Lios Mór ein Mord geschah – ein berühmter Gelehrter wurde in seiner Zelle umgebracht, während die Tür verschlossen und das einzige Fenster von außen nicht zugänglich war –, hatte Colgú sie gezwungen, wieder zusammenzuarbeiten und die Tat aufzuklären. Das brachte sie zu der Einsicht, dass ihre Gemeinsamkeiten doch weitaus schwerer wogen als die Unterschiede. Seitdem hatte es zwischen ihnen keine Geheimnisse mehr gegeben – bis jetzt.
In der Nähe begann eine Glocke zu läuten. Eadulf war fast dankbar für die Unterbrechung.
»Ich denke, das ist der Ruf zum Abendessen.« Er drehte sich zur Tür der Hütte um. Draußen war die Dunkelheit hereingebrochen, ungewöhnlich schnell, wie ihm schien.
Fidelma zögerte. Sie wusste, dass Eadulf gekränkt war, weil sie sich weigerte, ihr Wissen mit ihm zu teilen. Geheimnistuerei war ganz und gar nicht ihre Art, doch ihm den Grund dafür zu erklären war nicht so einfach. Sie unterdrückte einen Seufzer und folgte Eadulf schweigend zum Refektorium.
Die Mitglieder der Gemeinschaft – Männer und Frauen, allein oder zu zweit – strömten zu ihrem gemeinsamen Speisesaal. In vielerlei Hinsicht hielt die Abtei die alten Sitten und Gebräuche aufrecht. Am Eingang standen zwei schweigende Diener; einer von ihnen zog jedem Eintretenden die Schuhe oder Sandalen aus und stellte sie beiseite, damit ihr Eigentümer sie beim Verlassen des Refektoriums wiederfand. Der zweite Diener übergoss ihre Hände und Füße mit einem Krug voll kaltem Wasser und trocknete sie anschließend mit einem Handtuch ab. Da Fidelma und Eadulf Gäste waren, geleitete sie ein dritter Diener zwischen den zwei Haupttischen hindurch, an denen die Mönche und Nonnen Platz genommen hatten – die Männer auf einer Seite und die Frauen gegenüber –, und führte sie zu dem Tisch, der am Ende des Speisesaals quer zu den anderen stand. Die schweigenden Mitglieder der Gemeinschaft verfolgten sie mit neugierigen Blicken. Ihr Begleiter zeigte ihnen ihre Plätze am Ende der Tafel. Dort saß schon Bruder Ruissine mit mehreren Mönchen, offensichtlich ranghöheren Mitgliedern der Abtei. Eadulf wollte gerade zu einem Gruß ansetzen, erhielt jedoch einen heftigen Stoß von Fidelma. Erst jetzt dämmerte ihm, dass im gesamten Speisesaal absolutes Schweigen herrschte. Die Stille war fast unheimlich. Er schaute Fidelma mit großen Augen fragend an, doch sie hielt den Blick gesenkt, als müsse sie sich sammeln.
Nun beobachtete er verstohlen die anderen Anwesenden. Die meisten saßen mit gebeugten Köpfen da, jeder für sich in tiefe Kontemplation versunken. Ein Mann erregte Eadulfs Aufmerksamkeit, denn er starrte auf die zwei leeren Stühle, die am Tisch des Abts am Kopfende standen. Er war ein hochgewachsener Mönch, der seine Tischgenossen überragte, und obwohl er ein schlichtes Gewand trug, war seine Kutte schwarz statt grau oder braun, und sein Gesicht verschwand fast vollständig unter der Kapuze. Er hatte sie jedoch etwas nach hinten geschoben, anscheinend, um die Anwesenden im Refektorium besser beobachten zu können, so dass sein Profil teilweise sichtbar war. Plötzlich entdeckte er Eadulf, der ihn neugierig musterte, und zog die Kapuze rasch wieder über sein Gesicht. Eadulf war verblüfft, denn die Züge dieses Mannes, die er nur kurz gesehen hatte, kamen ihm bekannt vor.
Die zum Speisen Versammelten schienen zu warten. Es war fast totenstill, als sich eine Tür öffnete und ein alter Mann eintrat. Eadulf ließ den hochgewachsenen Mönch nicht aus den Augen und sah trotz der Kapuze, dass sein Kopf sich in Richtung des soeben Eingetretenen wandte.
Nun drehte auch Eadulf den Kopf zum Abt. Der stützte sich mit einer Hand auf einen massiven Schwarzdornstecken und hielt sich auf der anderen Seite am Arm eines attraktiven jungen Mädchens fest. Ihre Kleidung wirkte bescheiden und doch gediegen, sie trug kein Nonnengewand. Der betagte Abt war in seine braune Amtskutte gehüllt, um seinen Hals hing ein silbernes Kreuz an einer Kette. Sein langes weißes Haar glänzte leuchtend wie Schnee und passte zu der blassen Haut seiner eingefallenen Wangen. In seinen hellblauen Augen, die starr auf eine mittlere Entfernung fixiert schienen, spiegelte sich das Licht der Brandfackeln. Nur die schmalen roten Lippen brachten etwas Farbe in sein faltiges Gesicht. Das junge Mädchen zog den Abt zu seinem Sitzplatz, und das Geräusch seiner langsamen, schlurfenden Schritte wurde nur vom dumpfen Klopfen seines Steckens auf den Steinboden unterbrochen.
Eadulf beobachtete weiter, wie das Mädchen dem alten Mann beim Hinsetzen half und den Stock hinter seinem Stuhl abstellte. Dann nahm sie zu seiner Überraschung auf dem Sitz gleich neben dem Abt Platz, also zwischen ihm und dem Verwalter der Abtei. Das war ungewöhnlich und verstieß bestimmt gegen die Etikette. All das hatte sich ohne ein einziges Wort abgespielt, so dass Eadulf jetzt begriff, was Fidelma ihm hatte verdeutlichen wollen: Offenbar befolgte man in dieser Abtei die Regel, die Mahlzeiten schweigend einzunehmen. Er hatte schon gehört, dass das in manchen asketischen Gemeinschaften so gehandhabt wurde. Merkwürdige Sitten.
Er fragte sich gerade, wie man wohl das Zeichen zum Beginn des Mahls geben würde, als Bruder Ruissine sich erhob und seine durchdringende Baritonstimme erschallen ließ: »Surgite!«, woraufhin alle gehorsam aufstanden. Dann begann der Verwalter »Benedictus benedicat …«, und am Ende antwortete die Gemeinde »Benedicator Deo.« Damit war das Gratias gesprochen, alle setzten sich wieder schweigend hin, und die ebenfalls schweigenden Diener verteilten mit Speisen gefüllte Schalen. Der Großteil der Anwesenden bediente sich aus den Schüsseln, die durch die Reihen gereicht wurden. Am Tisch des Abts jedoch wurde jeder einzeln bewirtet. Als Erster bekam der Abt seine Mahlzeit: Speisen, die ihm offensichtlich aufgrund seines Alters und Gesundheitszustands verordnet waren – weißen, in Milch gedünsteten Fisch, ein Schälchen Weizenbrot und einen Becher Milch. Das junge Mädchen an seiner Seite half ihm beim Essen, denn seine Hand zitterte, als hätte er Schüttelfrost.
Als Eadulfs Speisen aufgetragen wurden, konnte er sich über das Niveau der Küche nicht beklagen; es gab warme Gerichte: Flussforelle, die mit Honig übergossen und offenbar auf einem Bratrost oder am Spieß zubereitet war und auf einem Bett aus Brunnenkresse, wildem Knoblauch und Porree serviert wurde. Sollte das keinen Anklang bei ihm finden, hatte er noch die Wahl zwischen hart gekochten Gänseeiern mit Kresse oder Wurstaufschnitt mit warmen Maismehlbrötchen frisch aus dem Ofen. Offensichtlich erstreckte sich das Asketentum in dieser Abtei nicht auf das Essen, wie es in anderen Gemeinschaften der Fall war. Als Getränke wurden traditioneller nussbrauner Met sowie Wein aus wilden Äpfeln angeboten. Nach Beendigung der Hauptmahlzeit reichten die Diener noch Schüsseln voller Äpfel und Schälchen mit Haselnüssen herum.
Fidelma fiel Eadulfs unbewusste Unruhe während der gesamten Mahlzeit auf. Sie fühlte sich genauso unbehaglich wie er; beide waren es nicht gewohnt, in absolutem Schweigen zu essen, als könnte sie das über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sich mit ihnen noch weit über hundert Menschen im Refektorium aufhielten. Fidelma hatte sich lange in der Kunst der Meditation geübt. Doch auch sie konnte sich kaum konzentrieren, vor allem, weil Eadulf neben ihr so nervös war. Als der Verwalter sich erhob, begrüßte sie erleichtert seinen Ausruf »Resurgemos!« Alle standen auf und rezitierten beinahe freudig: »Ain oculi eorum in te spirant et tu das eis escam suam in tempore suo. Deo Gratias.« – »Aller Augen warten auf Dich, o Herr; Du gibst uns Speise zur rechten Zeit. Dank sei dem Herrn.«
Doch danach setzten sich alle wieder hin; das junge Mädchen half dem Abt, aufzustehen und seinen Stock zu nehmen, und schweigend gingen beide langsam zurück zu der Tür, durch die sie eingetreten waren. Erst, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, hörte man überall im Raum Geflüster und unziemliches Getrippel Richtung Ausgang. Eadulf hätte sich der Menschenmenge am liebsten angeschlossen, doch Fidelma blieb sitzen und wartete lieber, bis der Andrang derjenigen, die draußen versuchten, ihre Schuhe wiederzufinden, nachgelassen hatte. Plötzlich erblickte Eadulf die hochgewachsene Gestalt in der schwarzen Kutte. Er packte seine Frau am Arm.
»Kommt dir dieser große Mönch nicht bekannt vor?«, fragte er.
Sie schaute in seine Richtung. »Er könnte jeder Beliebige sein«, erwiderte sie abschätzig. Da drehte sich der Mann um und starrte über die Köpfe der lärmenden Brüder, bis sein Blick plötzlich den von Fidelma traf. Er schien zu erschrecken, als er sie erkannte, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann wandte er sich ab und eilte hinaus. Fidelma blieb einen Moment in Gedanken versunken stehen. Als sie schließlich ihre Schuhe wieder angezogen und das Gebäude verlassen hatten, war der hochgewachsene Mann verschwunden.
Eadulfs Gesicht war von dem Gedränge beim Aufbruch gerötet. »Hast du ihn gesehen? Ich schwöre, ich bin ihm schon mal begegnet.«
»Ich weiß, was du meinst«, antwortete sie nachdenklich. »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich kenne ihn aus dem Palast des Hochkönigs in Tara … damals, weißt du noch, als wir den Mord an Sechnussach aufgeklärt haben? Aber welche Verbindung hatte er zum Königshof?« Sie runzelte die Stirn, als sie versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern.
Plötzlich tauchte Bruder Ruissine auf und trat in den Lichtkegel der Fackeln über dem Eingang des Refektoriums.
»Bruder Ruissine«, rief Fidelma, »du sagtest, der Abt hätte nach dem Abendessen Zeit für mich. Kannst du mir verraten, ob er mich jetzt empfangen kann?«
Der Verwalter hielt inne, zögerte und erwiderte dann: »Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm. Wenn du einen Augenblick hier wartest, schaue ich nach, ob es ihm jetzt passt. Als ich ihm kurz vor der Mahlzeit von deiner Ankunft erzählte, konnte er es kaum erwarten, dich zu sprechen.«
Er wollte sich schon umdrehen, doch Eadulf hielt ihn zurück. »Sag mir, Bruder Ruissine, wer war das junge Mädchen, das sich während des Essens um den Abt gekümmert hat? War das seine Krankenschwester? Sie muss hier eine bedeutende Position innehaben, wenn sie zwischen dem Abt und dir sitzen darf.«
»Der Abt braucht keine Krankenschwester«, erwiderte der Verwalter streitlustig. Dann schwieg er einen Augenblick. »Das Mädchen ist kein Mitglied unserer Abtei. Sie kam gestern hier an; offenbar ist sie eine Nichte des Abts. Er selbst hat darauf bestanden, ihr einen Sonderstatus zu gewähren.«
»Wie heißt sie?«, fragte Eadulf.
»Ich glaube, es ist Cairenn von den Eóghanacht Raithlind. Das ist ein Zweig deiner Familie, Lady, zumindest nehme ich das an«, sagte er zu Fidelma. »Jetzt will ich nachsehen, ob der Abt bereit ist.«
Nachdem er gegangen war, warf Fidelma Eadulf einen prüfenden Blick zu. »Du scheinst übermäßig interessiert an diesem jungen Mädchen zu sein? Warum stellst du Fragen über sie?«
Eadulf zuckte die Schultern. »Einfach deshalb, weil dieses Mädchen dem Abt offenbar nähersteht als sein Verwalter. Sie gehört zu deiner Familie. Kennst du sie nicht?«
»Die Eóghanacht sind eine weitverzweigte Sippe, wie du bestimmt weißt.« Fidelma wollte gerade zu einer weiteren Erläuterung ansetzen, zögerte jedoch. »Vielleicht lässt sich das durch die Tatsache erklären, dass Abt Nessan selbst zu den Eóghanacht Raithlind gehört.« Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. »Ich habe das Gefühl, sie schon mal gesehen zu haben, aber nicht in einer Abtei oder so«, überlegte sie laut. »Wo war das nur?«
»Also hat sie nichts mit deiner Mission hier zu tun?«, fragte Eadulf unerwartet hinterlistig.
»Ich sehe keine Verbindung zwischen meinem Auftrag beim Abt und dem jungen Mädchen«, parierte Fidelma geschickt seine Frage.
»Welche Angelegenheit ist so wichtig, dass du die lange Reise hierher unternehmen musstest, um den alten Abt zu sprechen?« Plötzlich machte Eadulf seinem Ärger einfach Luft. »Er sieht aus, als wisse er kaum noch, welcher Tag heute ist, geschweige denn, als sei er in der Lage, etwas wirklich Wesentliches mit dir zu besprechen.«
»Missdeute nicht, was du siehst. Sein Verstand arbeitet noch hervorragend, trotz der Hinfälligkeit seines Körpers«, entgegnete Fidelma, ohne auf seine Fragen einzugehen.
Eadulf seufzte. »Wie dem auch sei, es gibt religiöse Gemeinschaften und religiöse Gemeinschaften. Diese hier ist bedrückend, muss ich sagen. Es würde mich verrückt machen, alle Mahlzeiten in absolutem Schweigen einzunehmen. Mahlzeiten sollten gesellige Anlässe sein, bei denen man isst, trinkt, Neuigkeiten oder Klatsch und Tratsch austauscht oder sich über die angenehmeren Dinge auf dieser Welt unterhält. Was ist der Sinn einer Gemeinschaft, wenn die Mitglieder nicht miteinander reden?«
Fidelma rang sich ein leichtes Lächeln ab und war dankbar dafür, dass er das strittige Thema fallen ließ. »Ich habe gehört, dass Anhänger von Benedikt von Nursia jetzt Gemeinschaften gründen wollen, die in vollkommenem Schweigen leben. Sie werden überhaupt nicht miteinander sprechen. Mit seinen Regeln für das klösterliche Leben hat Benedikt derzeit so großen Einfluss auf die Kirche Roms, dass wir vielleicht bald alle schweigend essen müssen.«
Eadulf war völlig entgeistert. »Das ist doch Wahnsinn!«, rief er aufgebracht. »Wofür haben wir denn Stimmen bekommen, wenn nicht zum Reden, zum Singen und … Ich würde diesem Schweigegebot einen der Psalmen entgegensetzen. Et audit clamorem meum … Ich bin verstummet und still und schweige der Freuden und muss mein Leid in mich fressen; mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe, und wenn ich dran gedenke, werde ich entzündet. Ich rede mit meiner Zunge4 …«
Fidelma beobachtete die vorbeieilenden Mönche und Nonnen und senkte die Stimme: »Es ist vielleicht besser, leise zu sprechen. Wir möchten uns doch nicht in die Regeln dieser Abtei einmischen.«
Plötzlich, als wollte jemand ihre Worte widerlegen, hörten sie in der Nähe Lärm und laute Rufe. Die Menschen rannten umher, als seien sie in Panik geraten, doch es gab keinen erkennbaren Grund dafür.
Bruder Ruissine war wieder aufgetaucht. Selbst in dem flackernden Licht der Brandfackeln, das wechselnde Schatten auf seine Gesichtszüge warf, erkannten sie sofort, dass er äußerst angespannt wirkte. Als er unmittelbar unter der Fackel stehen blieb, sahen sie, dass er leichenblass war und unter Schock stand. Sein ganzer Körper bebte. Im Hintergrund wurde der Tumult immer lauter.
Fidelma musterte den Verwalter neugierig. Der brachte kein einziges Wort heraus.
»Was ist los, Bruder?«, ermunterte sie ihn. »Ist etwas passiert? Ist Abt Nessan bereit, mich zu empfangen?«
»Der Abt wird niemanden empfangen«, entfuhr es Bruder Ruissine endlich.
Fidelma runzelte die Stirn. »Aber es war abgemacht …«, protestierte sie. »Es ist wichtig, äußerst wichtig, dass ich mit ihm rede.«
»Er wird niemanden empfangen; nie mehr.«
»Was willst du damit sagen?«
»Abt Nessan wurde gerade tot aufgefunden, Lady. Jemand hat ihn mit einem Stück Seil erwürgt. Jemand hat ihn ermordet.«
Einen Augenblick lang verharrte Fidelma vollkommen reglos und verzog keine Miene. Eadulf kannte sie wie kein anderer und spürte, wie tief diese Nachricht sie getroffen hatte und dass sie mühsam um Fassung rang. Schließlich sagte sie: »Bring mich in das Zimmer des Abts, Bruder Ruissine.«
Der Verwalter starrte sie fassungslos an. »Ich sagte gerade, der Abt wurde ermordet«, protestierte er.
»Ich bin eine dálaigh«, erinnerte sie ihn streng.
Er überlegte einen Augenblick; dann zuckte er die Schultern, drehte sich um und ging voraus; Fidelma und Eadulf folgten ihm auf den Fersen. Die Zelle des Abts lag in einem der wenigen Steinhäuser der Anlage, unmittelbar hinter dem Refektorium. Das viereckige Gebäude bestand aus Kalksteinquadern und hatte zwei Stockwerke, die mit einer breiten Eichentreppe verbunden waren. Der Verwalter führte sie zum Haupteingang. Als er sich näherte, zog sich die lärmende Menge davor zurück, und die Mitglieder der Gemeinschaft starrten Fidelma und Eadulf verwirrt an.
»Seit der Abt immer gebrechlicher wurde, befindet sich sein Zimmer im Erdgeschoss«, erklärte Bruder Ruissine beim Eintreten.
In dem Raum beugten sich zwei Männer über etwas, das aussah wie ein Haufen dunkler Kleider auf dem Fußboden. Erst als sie beiseitetraten und die Neuankömmlinge beäugten, wurde der Leichnam des betagten Abts erkennbar. Einer der Männer war ein untersetzter, korpulenter Mönch mit einem Mondgesicht, den sie schon im Speisesaal am Tisch des Abts gesehen hatten. Der andere war jung und muskulös und hatte ein kantiges Kinn und schmale Lippen, die zu einem eingefrorenen Grinsen verzogen schienen. Er runzelte die Stirn, als sie eintraten.
»Man hat dir gesagt, dass der Abt tot ist, Bruder Ruissine«, sagte er und konnte seinen Ärger nur mit Mühe beherrschen. »Wir wünschen nicht, dass Fremde alles durcheinanderbringen. Wozu hast du sie hergebracht?«
»Wer bist du?«, fragte Fidelma kurz angebunden.
Es war offensichtlich, dass dem Mann ihr Ton nicht gefiel. Er antwortete von oben herab: »Ich bin Brehon Oengarb.«
Bruder Ruissine mischte sich aufgeregt ein. »Das ist Fidelma von Cashel, Oengarb. Das ist Oengarb von Locha Léin. Er ist ebenfalls ein dálaigh und macht gerade eine Rundreise in dieser Gegend; er dient uns häufig als Rechtsberater.«
Rechtsgelehrte gingen oft auf Rundreisen oder cúartaigid und verhandelten in kleinen, abgelegenen Ortschaften über Streitigkeiten, wenn die Beteiligten nicht vor den großen Gerichtshöfen erscheinen konnten. Bei der Erwähnung von Fidelmas Namen schien die Arroganz von dem jungen Mann abzufallen.
»Ich glaube nicht, dass wir uns schon bei Gericht begegnet sind.« Fidelma musterte ihn kalt. »Trotzdem kommt mir dein Gesicht bekannt vor.«
Der junge Mann errötete vor Verlegenheit. »Ich habe bei meinen Studien lediglich den Grad eines cli erreicht, so dass ich nicht annehme, wir könnten uns vor Gericht treffen.«
Das bedeutete, dass er im Vergleich zu Fidelma als Jurist eine untergeordnete Position bekleidete, da er nur sechs Jahre studiert hatte und nicht acht oder neun wie Fidelma, um den Rang einer anruth zu erreichen, den zweithöchsten Abschluss, den weltliche und geistliche Hohe Schulen zu vergeben hatten. Somit konnte der junge Mann nicht das Amt eines Brehon bekleiden, obwohl er ein dálaigh war.
Fidelma nickte knapp und wandte sich an den korpulenten Mann, der eine Arzttasche dabeihatte.
»Ich nehme an, du bist Arzt?«
»Ich bin Luaran, Lady. Ich bin der Arzt dieser Abtei.«
»Woran ist der Abt gestorben?«
»An einem Strick um den Hals«, erwiderte Luaran und hob ein aus Fasern gedrehtes Seil auf, das neben dem Leichnam lag. »Das ist er.«
Fidelma nahm den Strick und untersuchte ihn sorgfältig.
»Also wurde der Abt mit diesem Strick erwürgt? Erfordert es große Kraft, so eine Tat zu begehen?«
Luaran schüttelte den Kopf. »Wie du siehst, war der Abt betagt und gebrechlich. Ohne Hilfe konnte er sich kaum bewegen. Er war nicht in der Lage, seinem Angreifer ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen. Man brauchte nur rasch eine Schlinge um seinen Hals zu legen und sie zuzuziehen. Die tiefen Male, dort, wo der Strick ins Fleisch geschnitten hat, sind noch zu sehen.«
Fidelma trat beiseite und deutete auf Eadulf. »Bestimmt hast du nichts dagegen, dass Bruder Eadulf das bestätigt?«
Eadulf war im ersten Moment dankbar, dass Fidelma ihn nicht auch bei diesem Todesfall ausschloss, doch kam ihm gleich darauf der Gedanke, dass sie ihn nach ihrem vorherigen Verhalten nur beschwichtigen wollte. Er kniete sich neben den Toten und besah sich die Male und den Strick, schob den Kragen der Kutte des Abts zur Seite und rollte die Ärmel auf. Blutergüsse fand er nicht. Er blickte auf.
»Luarans Untersuchungsergebnis ist korrekt. Das Fehlen von Blutergüssen zeigt, dass der Abt von dem Angriff überrascht wurde. Das bedeutet, dass der Angreifer unbemerkt von hinten kam oder dass er vor ihm stand und der Alte ihn kannte und ihm vertraute und sich irgendwann umdrehte – und dann war es zu spät.«
Fidelma wandte sich wieder an Oengarb. »Hast du seine Zelle schon durchsucht?«
Der junge Rechtsgelehrte schüttelte verblüfft den Kopf.
»Wonach sollte ich da suchen?«
»Vielleicht nach einem Hinweis darauf, warum jemand den Abt ermorden sollte?« Ihre Stimme verriet keinerlei Kritik. Dann fragte sie den Verwalter: »Ist irgendein Grund bekannt, aus dem das Leben des Abts möglicherweise in Gefahr war?«
Nach kurzem Schweigen schüttelte Bruder Ruissine den Kopf. »Der Abt hatte einen vorbildlichen Lebenswandel, war gottesfürchtig und hat sich weder Feinde gemacht noch Neid innerhalb der Gemeinschaft hervorgerufen. Er strebte nicht nach vergänglichen Reichtümern. Alle respektierten und verehrten ihn, denn er war unsere einzige lebende Verbindung zu unserem geliebten Gründer, dem heiligen Finnbar, und er genoss ebenso viel Ansehen wie dieser. Der Abt war gesundheitlich angeschlagen und brauchte Bedienstete, die ihm halfen, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen.«