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Peter Handke, geboren 1942 in Griffen, lebt heute bei Paris. Er wurde für sein Werk 2019 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Auf das Jahr 1967 datiert die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Schreibprozeß: »Eine Möglichkeit besteht für mich jeweils nur einmal. Die Nachahmung dieser Möglichkeit ist dann schon unmöglich.« Damit beginnt die ständig neugestartete Erprobung literarischer Formen, Welt und Welterfahrung gerecht zu werden. Das gesamte Oeuvre von Peter Handke ist ein unablässig vorangetriebener Vorstoß ins Reich der Literatur – von den Metropolen bis zu den Rändern, und darüber hinaus: »Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?«
In diesem Sinne versammelt der vorliegende Band fünf Prosawerke Peter Handkes zur Entdeckung seines Œuvres, entstanden zwischen 1970 und 1991.
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2019
Peter Handke
Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?
5 Prosawerke
Suhrkamp
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter
Wunschloses Unglück
Der kurze Brief zum langen Abschied
Die linkshändige Frau
Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum
Erzählung
»Der Tormann sah zu,
wie der Ball über die Linie rollte …«
Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, daß er entlassen sei. Jedenfalls legte Bloch die Tatsache, daß bei seinem Erscheinen in der Tür der Bauhütte, wo sich die Arbeiter gerade aufhielten, nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände. Auf der Straße hob er den Arm, aber das Auto, das an ihm vorbeifuhr, war – wenn Bloch den Arm auch gar nicht um ein Taxi gehoben hatte – kein Taxi gewesen. Schließlich hörte er vor sich ein Bremsgeräusch; Bloch drehte sich um: hinter ihm stand ein Taxi, der Taxifahrer schimpfte; Bloch drehte sich wieder um, stieg ein und ließ sich zum Naschmarkt fahren.
Es war ein schöner Oktobertag. Bloch aß an einem Stand eine heiße Wurst und ging dann zwischen den Ständen durch zu einem Kino. Alles, was er sah, störte ihn; er versuchte, möglichst wenig wahrzunehmen. Im Kino drinnen atmete er auf.
Im nachhinein wunderte er sich, daß die Kassiererin die Geste, mit der er das Geld, ohne etwas zu sagen, auf den drehbaren Teller gelegt hatte, mit einer anderen Geste wie selbstverständlich beantwortet hatte. Neben der Leinwand bemerkte er eine elektrische Uhr mit beleuchtetem Zifferblatt. Mitten im Film hörte er eine Glocke läuten; er war lange unschlüssig, ob sie in dem Film läutete oder draußen in dem Kirchturm neben dem Naschmarkt.
Wieder auf der Straße, kaufte er sich Weintrauben, die zu dieser Jahreszeit besonders billig waren. Er ging weiter, aß dabei die Trauben und spuckte die Hülsen weg. Das erste Hotel, in dem er um ein Zimmer fragte, wies ihn ab, weil er nur eine Aktentasche bei sich hatte; der Portier des zweiten Hotels, das in einer Nebengasse lag, führte ihn selber hinauf in das Zimmer. Während der Portier noch am Hinausgehen war, legte sich Bloch auf das Bett und schlief bald ein.
Am Abend verließ er das Hotel und betrank sich. Später wurde er wieder nüchtern und versuchte, Freunde anzurufen; da diese Freunde oft nicht im Stadtgebiet wohnten und der Fernsprecher die Münzen nicht herausgab, ging Bloch bald das Kleingeld aus. Ein Polizist, den er grüßte, in der Meinung, ihn zum Stehenbleiben bewegen zu können, grüßte nicht zurück. Bloch fragte sich, ob der Polizist die Worte, die er ihm über die Straße zugerufen hatte, vielleicht nicht richtig ausgelegt hatte, und dachte an die Selbstverständlichkeit, mit der dagegen die Kinokassiererin den Teller mit der Eintrittskarte ihm zugedreht hatte. Er war über die Schnelligkeit der Bewegung so erstaunt gewesen, daß er fast versäumt hatte, die Karte aus dem Teller zu nehmen. Er beschloß, die Kassiererin aufzusuchen.
Als er zu dem Kino kam, wurden die Schaukästen gerade dunkel. Bloch erblickte einen Mann, der, auf einer Leiter stehend, die Lettern für den Film mit den Lettern für den morgigen Film vertauschte. Er wartete ab, bis er den Titel des anderen Filmes lesen konnte; dann ging er ins Hotel zurück.
Der nächste Tag war ein Samstag. Bloch entschloß sich, einen weiteren Tag in dem Hotel zu bleiben. Außer einem amerikanischen Ehepaar war er allein im Frühstücksraum; eine Zeitlang hörte er dem Gespräch zu, das er, weil er früher einige Male mit seiner Mannschaft zu einem Turnier in New York gewesen war, leidlich verstehen konnte; dann ging er schnell hinaus, um ein paar Zeitungen zu kaufen. Die Zeitungen, weil es sich um Wochenendausgaben handelte, waren an diesem Tag besonders schwer; er faltete sie nicht, sondern trug sie unter dem Arm zum Hotel zurück. Er setzte sich wieder an den Frühstückstisch, den man schon abgeräumt hatte, und entfernte die Anzeigenbeilagen; das bedrückte ihn. Draußen sah er zwei Leute mit dicken Zeitungen gehen. Er hielt den Atem an, bis sie vorbei waren. Jetzt erst bemerkte er, daß es sich um die beiden Amerikaner gehandelt hatte; im Freien hatte er sie, die er vorher nur im Frühstückszimmer, an einem Tisch, gesehen hatte, nicht wiedererkannt.
In einem Kaffeehaus trank er dann lange an dem Leitungswasser, das man in einem Glas zu dem Kaffee servierte. Ab und zu stand er auf und holte sich eine Illustrierte von den Stapeln, die auf den eigens dazu bestimmten Stühlen und Tischen lagen; die Serviererin, als sie einmal die neben ihm gehäuften Illustrierten abholte, gebrauchte im Weggehen das Wort ›Zeitungstisch‹. Bloch, der einerseits das Durchblättern der Zeitschriften schwer ertrug, andrerseits kein Heft, bevor er es ganz durchgeblättert hatte, zur Seite legen konnte, versuchte, zwischendurch ein wenig auf die Straße zu schauen; der Gegensatz zwischen dem Illustriertenblatt und den wechselnden Bildern draußen erleichterte ihn. Beim Hinausgehen legte er selber die Illustrierte auf den Tisch zurück.
Die Stände auf dem Naschmarkt waren schon geschlossen. Bloch schob eine Zeitlang weggeworfenes Gemüse und Obst, das ihm vor die Füße kam, beiläufig vor sich hin. Irgendwo zwischen den Ständen verrichtete er die Notdurft. Dabei sah er, daß überall die Wände der Holzbaracken schwarz von Urin waren.
Die Weintraubenhülsen, die er am Tag zuvor ausgespuckt hatte, lagen immer noch auf dem Gehsteig. Als Bloch den Geldschein auf den Kassierteller legte, verfing der Schein sich beim Drehen; Bloch hatte Anlaß, etwas zu sagen. Die Kassiererin antwortete. Er sagte wieder etwas. Weil das ungewöhnlich war, schaute die Kassiererin ihn an. Daraus ergab sich für ihn ein Anlaß weiterzureden. Wieder im Kino, erinnerte sich Bloch an das Romanheft und den Elektrokocher neben der Kassiererin; er lehnte sich zurück und fing an, auf der Leinwand Einzelheiten zu unterscheiden.
Am späten Nachmittag fuhr er mit der Straßenbahn hinaus ins Stadion. Er nahm einen Stehplatz, setzte sich dann aber auf die Zeitungen, die er noch immer nicht weggeworfen hatte; daß ihm die Zuschauer vorne die Sicht verstellten, störte ihn nicht. Im Lauf des Spiels setzten sich die meisten. Bloch wurde nicht erkannt. Er ließ die Zeitungen liegen, stellte eine Bierflasche darauf und ging vor dem Schlußpfiff, um nicht ins Gedränge zu geraten, aus dem Stadion. Die große Anzahl der wartenden, fast leeren Busse und Straßenbahnen vor dem Stadion – es handelte sich um ein Schlagerspiel – befremdete ihn. Er setzte sich in eine Straßenbahn. Er saß so lange fast allein darin, bis er zu warten anfing. Ob der Schiedsrichter nachspielen ließ? Als Bloch aufschaute, sah er, daß die Sonne unterging. Ohne daß er damit etwas ausdrücken wollte, senkte er den Kopf.
Draußen wurde es plötzlich windig. Fast zugleich mit dem Schlußpfiff, der aus drei langgezogenen Einzelpfiffen bestand, stiegen Fahrer und Schaffner in die Busse und Straßenbahnen, und die Leute kamen aus dem Stadion gelaufen. Bloch bildete sich ein, die Geräusche zu hören, mit denen die Bierflaschen aufs Spielfeld fielen; zugleich hörte er Staub gegen die Scheiben schlagen. Hatte er sich im Kino zurückgelehnt, so lehnte er sich jetzt, als die Zuschauer in den Straßenbahnwagen eindrangen, vor. Zum Glück hatte er ein Programmheft zu dem Film bei sich. Es kam ihm vor, als hätte man im Stadion gerade die Flutlichtanlage eingeschaltet. Ein unsinniger Gedanke, sagte Bloch. Er war ein schlechter Flutlichttormann gewesen.
In der Innenstadt versuchte er einige Zeit, eine Telefonzelle zu finden; als er eine leere Zelle fand, lag dort der Hörer abgerissen auf dem Boden. Er ging weiter, schließlich konnte er vom Westbahnhof aus anrufen. Weil Samstag war, erreichte er kaum jemanden. Als sich endlich eine Frau, die er von früher kannte, meldete, mußte er einige Zeit reden, bis sie wußte, wer er war. Sie verabredeten sich in einer Gaststätte in der Nähe des Westbahnhofs, wo sich, wie Bloch wußte, eine Musicbox befand. Er vertrieb sich die Zeit, bis die Frau kam, indem er Münzen in den Automaten warf und andere Leute für sich drücken ließ; unterdessen schaute er die Fotos und Unterschriften der Fußballspieler an den Wänden an; das Lokal hatte vor einigen Jahren ein Stürmer der Nationalelf gepachtet, der dann als Trainer einer der wilden amerikanischen Ligamannschaften nach Übersee gegangen und jetzt, nach der Auflösung der Liga, dort verschollen war. Bloch kam mit einem Mädchen ins Gespräch, das von dem Tisch neben dem Automaten aus blind hinter sich griff und immer dieselbe Platte wählte. Sie verließ mit ihm das Lokal. Er versuchte, mit ihr in den nächstbesten Hauseingang zu gehen, aber die Haustore waren überall schon abgesperrt. Als ein Tor sich öffnen ließ, erwies sich, daß, dem Gesang nach zu urteilen, hinter einer zweiten Tür gerade ein Gottesdienst stattfand. Sie traten in einen Lift, der sich zwischen der ersten und der zweiten Tür befand; Bloch drückte auf den Knopf für das oberste Stockwerk. Noch bevor der Lift anfuhr, wollte das Mädchen wieder aussteigen. Bloch drückte nun auf den Knopf für das erste Stockwerk; sie stiegen dort aus und blieben im Stiegenhaus stehen; jetzt wurde das Mädchen zärtlich. Sie liefen miteinander die Stiege hinauf. Im Dachgeschoß stand der Lift; sie stiegen ein, fuhren hinunter und gingen zurück auf die Straße.
Bloch ging eine Zeitlang neben dem Mädchen her, dann kehrte er um und suchte wieder die Gaststätte auf. Die Frau, noch im Mantel, wartete schon. Bloch erklärte der Freundin des Mädchens, die noch am Tisch neben dem Automaten wartete, daß das Mädchen nicht zurückkommen werde, und verließ mit der Frau die Gaststätte.
Bloch sagte: »Ich komme mir lächerlich vor, so ohne Mantel, wenn du einen Mantel trägst.« Die Frau hängte sich in ihn ein. Um den Arm wieder freizubekommen, tat Bloch, als wollte er ihr etwas zeigen. Dann wußte er nicht, was er ihr zeigen sollte. Unvermittelt hatte er den Wunsch, eine Abendzeitung zu kaufen. Sie gingen durch verschiedene Straßen, ohne einen Zeitungsverkäufer zu sehen. Schließlich fuhren sie mit dem Bus zum Südbahnhof, aber der Bahnhof war schon geschlossen. Bloch tat, als sei er erschrocken; aber auch in Wirklichkeit war er erschrocken. Zu der Frau, die ihm schon im Bus, indem sie die Handtasche aufmachte und darin mit verschiedenen Gegenständen spielte, angedeutet hatte, daß sie unwohl sei, sagte er: »Ich habe vergessen, einen Zettel zu hinterlegen«, ohne zu wissen, was er mit den Worten ›Zettel‹ und ›hinterlegen‹ eigentlich meinte. Jedenfalls stieg er allein in ein Taxi und fuhr zum Naschmarkt.
Da das Kino am Samstag Nachtvorstellung hatte, kam Bloch sogar noch zu früh. Er ging in ein Selbstbedienungsrestaurant in der Nähe und aß im Stehen eine Frikadelle. Er versuchte, der Kellnerin in möglichst kurzer Zeit einen Witz zu erzählen; als die Zeit um war und er den Witz noch immer nicht fertig erzählt hatte, brach er mitten im Satz ab und zahlte. Die Kellnerin lachte.
Auf der Straße traf er einen Bekannten, der ihn um Geld anging. Bloch beschimpfte ihn. Als der Betrunkene Bloch ans Hemd faßte, wurde die Straße dunkel. Der Betrunkene ließ die Hand erschrocken fallen. Bloch, der darauf gefaßt gewesen war, daß die Leuchtreklame des Kinos erlöschen würde, entfernte sich schnell. Vor dem Kino traf er die Kassiererin; sie war dabei, zu einem Mann ins Auto zu steigen.
Bloch schaute zu ihr hin. Sie erwiderte, schon im Auto auf dem Beifahrersitz, seinen Blick, indem sie das Kleid unter sich auf dem Sitz zurechtzog; zumindest faßte Bloch das als Erwiderung auf. Es gab keine Zwischenfälle; sie hatte die Tür zugezogen, und das Auto war abgefahren.
Bloch kehrte zum Hotel zurück. Er fand den Vorraum des Hotels erleuchtet, aber menschenleer; als er den Schlüssel vom Haken nahm, fiel ein zusammengefalteter Zettel aus dem Fach; er faltete ihn auf: es war die Rechnung. Während Bloch noch mit dem Zettel in der Hand im Vorraum stand und den einzelnen Koffer, der neben der Tür stand, betrachtete, kam der Portier aus der Abstellkammer. Bloch fragte ihn sofort nach einer Zeitung und schaute dabei durch die offene Tür in die Abstellkammer, in der der Portier offensichtlich auf einem Stuhl, den er sich aus dem Vorraum geholt hatte, eingeschlafen gewesen war. Der Portier schloß die Tür, so daß Bloch nur noch eine kleine Stehleiter mit einem Suppennapf obenauf sehen konnte, und setzte erst, als er sich hinter den Portiertisch begeben hatte, zu sprechen an. Aber Bloch hatte schon das Schließen der Tür als eine abschlägige Antwort aufgefaßt und ging die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Nur vor einer der Türen in dem recht langen Gang erblickte er ein Paar Schuhe; im Zimmer streifte er sich, ohne die Schnürbänder aufzulösen, die eigenen Schuhe ab und stellte sie gleichfalls vor die Tür. Er legte sich aufs Bett und schlief auf der Stelle ein.
Mitten in der Nacht erwachte er kurz von einem Streit im Zimmer nebenan; vielleicht aber war auch nur sein Gehör von dem plötzlichen Aufwachen so überreizt, daß er die Stimmen nebenan für streitende Stimmen hielt. Er schlug einmal mit der Faust an die Wand. Darauf hörte er die Wasserleitung rauschen. Das Wasser wurde abgedreht; es wurde still, und er schlief wieder ein.
Am nächsten Tag wurde Bloch von dem Zimmertelefon geweckt. Er wurde gefragt, ob er noch eine Nacht bleiben wolle. Während Bloch die Aktentasche auf dem Boden anschaute – es befand sich keine Kofferablage im Zimmer –, sagte er sofort ja und legte auf. Nachdem er die Schuhe, die, wohl weil Sonntag war, nicht geputzt worden waren, vom Flur geholt hatte, verließ er, ohne zu frühstücken, das Hotel.
Im Südbahnhof rasierte er sich in der Toilettenanlage mit einem elektrischen Rasierapparat. Er duschte in einer der Duschkabinen. Beim Anziehen las er in der Zeitung den Sportteil und die Gerichtsberichte. Nach einiger Zeit, noch während er las – in den Kabinen ringsum war es ziemlich ruhig –, fühlte er sich plötzlich wohl. Er lehnte sich, schon fertig angezogen, an die Wand der Kabine und stieß mit dem Schuh gegen die Holzbank. Das Geräusch bewirkte eine Frage der Kabinenfrau draußen und darauf, als er nicht antwortete, ein Klopfen an die Tür. Als Bloch wieder nicht antwortete, schlug die Frau draußen mit einem Handtuch (oder was es sein mochte) auf die Türklinke und entfernte sich. Bloch las im Stehen die Zeitung zu Ende.
Auf dem Bahnhofvorplatz traf er einen Bekannten, der als Schiedsrichter zu einem Unterklassenmatch in einen Vorort fahren wollte. Bloch faßte diese Auskunft als einen Witz auf und spielte mit, indem er meinte, dann könnte er ja gleich als Linienrichter mitfahren. Selbst als der Bekannte darauf seinen Seesack aufschnürte und ihm darin einen Schiedsrichterdreß und ein Netz mit Zitronen zeigte, hielt Bloch, wie früher den ersten Satz des andern, nun auch diese Gegenstände für eine Art von Scherzartikel und erklärte sich, indem er weiter auf den Bekannten einging, bereit, ihm, wenn er schon mitfahre, auch gleich den Seesack zu tragen. Sogar dann, mit dem andern im Vorortzug, den Seesack auf den Knien, schien es ihm, als ob er, zumal das Abteil jetzt um die Mittagszeit fast unbesetzt war, auf das alles immer noch nur zum Spaß eingehe. Was freilich das leere Abteil mit seinem unernsten Benehmen zu tun haben sollte, darüber konnte Bloch sich nicht klarwerden. Daß der Bekannte mit einem Seesack in den Vorort fuhr und daß er, Bloch, mitfuhr, daß sie miteinander in einem Vorstadtwirtshaus zu Mittag aßen und miteinander, wie Bloch sagte, »zu einem leibhaftigen Fußballplatz« gingen, das kam ihm auch dann, als er allein zurück in die Stadt fuhr – das Spiel hatte ihm nicht gefallen –, als eine beiderseitige Verstellung vor. Das alles hatte nicht gegolten, dachte Bloch. Auf dem Bahnhofvorplatz traf er zum Glück niemanden.
Von einer Telefonzelle an einem Parkrand rief er seine frühere Frau an; sie sagte, daß alles in Ordnung sei, fragte ihn aber nichts. Bloch war unruhig.
Er setzte sich in ein Gartencafé, das trotz der Jahreszeit noch geöffnet hatte, und bestellte ein Bier. Als nach einiger Zeit noch immer niemand mit dem Bier gekommen war, ging er weg; auch die Stahltischplatte, auf der kein Tischtuch lag, hatte ihn geblendet. Er stellte sich ans Fenster einer Gaststätte; die Leute drinnen saßen vor einem Fernseher. Er schaute eine Zeitlang zu. Jemand drehte sich nach ihm um, und er ging weiter.
Im Prater geriet er in eine Schlägerei. Ein Bursche zog ihm von hinten schnell die Jacke über die Arme, der andre stieß ihm den Kopf unters Kinn. Bloch ging ein wenig in die Knie, versetzte dann dem Burschen vorn einen Tritt. Schließlich drängten ihn die beiden hinter einen Süßwarenstand und schlugen ihn nieder. Er fiel um, und sie gingen weg. In einer Toilette säuberte sich Bloch das Gesicht und den Anzug.
In einem Café im zweiten Bezirk spielte er Billard, bis im Fernsehen die Sportnachrichten kamen. Bloch bat die Kellnerin, den Fernsehapparat einzuschalten, schaute aber dann zu, als ob ihn das alles nichts anginge. Er lud die Kellnerin ein, mit ihm was zu trinken. Als die Kellnerin aus dem Hinterzimmer, wo ein verbotenes Spiel im Gang war, zurückkam, stand Bloch schon an der Tür; sie ging an ihm vorbei, sagte aber nichts; Bloch ging hinaus.
Zurück am Naschmarkt, beim Anblick der unordentlich gestapelten leeren Obst- und Gemüsekisten hinter den Ständen, kam es ihm wieder vor, als ob die Kisten eine Art von Spaß seien, nicht ernst gemeint. Wie Witze ohne Worte! dachte Bloch, der gern Witze ohne Worte anschaute. Dieser Eindruck von Verstellung und Getue – ›dieses Getue mit der Schiedsrichterpfeife im Seesack!‹ dachte Bloch – verschwand erst, als er drinnen im Kino, wo ein Komiker im Vorbeigehen wie zufällig eine Trompete von einem Trödlerladen nahm und darauf ganz selbstverständlich zu blasen probierte, diese Trompete und dann auch alle anderen Sachen unverstellt und unzweideutig wiedererkannte. Bloch wurde ruhig.
Nach dem Film wartete er zwischen den Ständen am Naschmarkt auf die Kassiererin. Einige Zeit, nachdem die letzte Vorstellung angefangen hatte, trat sie aus dem Kino. Um sie nicht zu erschrecken, wenn er zwischen den Buden auf sie zukäme, blieb er auf der Kiste sitzen, bis sie in einem helleren Teil des Naschmarkts war. In einem der verlassenen Stände, hinter dem heruntergezogenen Wellblech, läutete ein Telefon; die Telefonnummer des Standes war groß auf das Wellblech geschrieben. ›Ungültig!‹ dachte Bloch sofort. Er ging hinter der Kassiererin her, ohne sie einzuholen. Als sie in den Bus stieg, kam er gerade dazu und stieg hinter ihr ein. Er setzte sich ihr gegenüber, aber so, daß einige Sitzreihen zwischen ihnen waren. Erst als ihm eine Station später Neuankömmlinge die Sicht verstellten, konnte Bloch wieder zu überlegen anfangen: sie hatte ihn zwar angeschaut, aber offensichtlich nicht wiedererkannt; ob er sich durch die Schlägerei so verändert hatte? Bloch tastete sich über das Gesicht. Mit einem Blick in die Busscheibe zu prüfen, was sie gerade tat, fand er lächerlich. Er zog die Zeitung aus der Innentasche seines Rocks, schaute auf die Buchstaben hinunter, las aber nicht. Dann, plötzlich, fand er sich dabei, wie er las. Ein Augenzeuge berichtete über einen Mord an einem Zuhälter, den man aus kurzer Entfernung ins Auge geschossen hatte. Hinten aus seinem Kopf flog eine Fledermaus heraus und klatschte gegen die Tapete. Mein Herz übersprang einen Schlag. Als, ohne daß ein Absatz gemacht wurde, die Sätze unvermittelt von etwas ganz anderem, von einer andern Person, handelten, schrak er auf. ›Da hätte man doch einen Absatz machen müssen!‹ dachte Bloch, der nach dem kurzen Aufschrecken wütend geworden war. Er ging durch den Mittelgang auf die Kassiererin zu und setzte sich ihr schräg gegenüber, so daß er sie anschauen konnte; aber er schaute sie nicht an.
Als sie ausstiegen, erkannte Bloch, daß sie weit draußen waren, in der Nähe des Flughafens. Jetzt, in der Nacht, war es hier sehr still. Bloch ging neben dem Mädchen her, aber nicht so, als ob er sie begleiten wollte oder gar begleitete. Nach einiger Zeit berührte er sie. Das Mädchen blieb stehen, wandte sich ihm zu und berührte ihn auch, so heftig, daß er erschrak. Die Handtasche in ihrer freien Hand kam ihm einen Augenblick lang vertrauter vor als sie selber.
Eine Zeitlang gingen sie nebeneinander her, in einigem Abstand, ohne sich zu berühren. Erst im Stiegenhaus berührte er sie wieder. Sie fing an zu laufen; er ging langsamer. Als er oben angekommen war, erkannte er ihre Wohnung daran, daß die Tür weit offenstand. Sie machte sich im Finstern bemerkbar; er ging zu ihr hin, und sie ließen sich sofort miteinander ein.
Als er am Morgen, geweckt von einem Lärm, aus dem Fenster des Appartements schaute, sah er gerade ein Flugzeug landen. Das Blinken der Positionslichter an der Maschine brachte ihn dazu, den Vorhang zuzuziehen. Weil sie bis jetzt keine Lampe eingeschaltet hatten, war der Vorhang offengeblieben. Bloch legte sich nieder und schloß die Augen.
Mit geschlossenen Augen überkam ihn eine seltsame Unfähigkeit, sich etwas vorzustellen. Obwohl er sich die Gegenstände in dem Raum mit allen möglichen Bezeichnungen einzubilden versuchte, konnte er sich nichts vorstellen; nicht einmal das Flugzeug, das er gerade landen gesehen hatte und dessen Bremsgeheul jetzt auf der Piste er wohl von früher wiedererkannte, hätte er in Gedanken nachzeichnen können. Er machte die Augen auf und schaute einige Zeit in eine Ecke, wo sich die Kochnische befand: er prägte sich den Teekessel ein und die verwelkten Blumen, die aus dem Abwaschbecken hingen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, waren ihm Blumen und Teekessel schon unvorstellbar geworden. Er behalf sich, indem er statt Wörtern für diese Sachen Sätze bildete, in der Meinung, eine Geschichte aus solchen Sätzen könnte ihm erleichtern, sich die Sachen vorzustellen. Der Teekessel pfiff. Die Blumen waren dem Mädchen von einem Freund geschenkt worden. Niemand stellte den Teekessel von dem Elektrokocher. »Soll ich Tee machen?« fragte das Mädchen. Es nützte nichts: Bloch machte die Augen auf, als es unerträglich wurde. Das Mädchen neben ihm schlief.
Bloch wurde nervös. Einerseits diese Aufdringlichkeit der Umgebung, wenn er die Augen offen hatte, andrerseits diese noch schlimmere Aufdringlichkeit der Wörter für die Sachen in der Umgebung, wenn er die Augen geschlossen hatte! ›Ob es daran liegt, daß ich gerade noch mit ihr geschlafen habe?‹ dachte er. Er ging ins Bad und duschte lange.
Wirklich pfiff der Teekessel, als er zurückkam. »Ich bin von der Dusche wach geworden!« sagte das Mädchen. Es war Bloch, als ob sie zum ersten Mal direkt zu ihm redete. Er sei noch nicht ganz bei sich, antwortete er. Ob Ameisen in der Teekanne seien? »Ameisen?« Als das kochende Wasser aus dem Kessel die Teeblätter auf dem Boden der Kanne traf, sah er statt der Teeblätter Ameisen, auf die er einmal siedendes Wasser geschüttet hatte. Er zog den Vorhang wieder auf.
Der Tee in der offenen Dose erschien, da das Licht nur durch die kleine runde Deckelöffnung kam, seltsam beleuchtet von dem Widerschein der Innenwände. Bloch, der mit der Dose am Tisch saß, schaute starr in die Öffnung hinein. Daß er von dem eigenartigen Leuchten der Teeblätter so angezogen war, belustigte ihn, während er nebenher mit dem Mädchen redete. Schließlich drückte er den Deckel auf die Öffnung, hörte aber gleichzeitig zu sprechen auf. Dem Mädchen war nichts aufgefallen. »Ich heiße Gerda!« sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen. Ob ihr nichts aufgefallen sei? fragte er, aber sie hatte schon eine Platte aufgelegt, ein italienisches Lied, das mit Elektrogitarren instrumentiert war. »Ich mag seine Stimme!« sagte sie. Bloch, der mit italienischen Schlagern nichts anfangen konnte, schwieg.
Als sie kurz wegging, um etwas zum Frühstück zu holen – »es ist Montag!« sagte sie –, war es Bloch endlich möglich, alles ruhig anzuschauen. Beim Essen sprachen sie viel. Nach einiger Zeit merkte Bloch, daß sie von Dingen, von denen er ihr gerade erst erzählt hatte, schon wie von ihren eigenen Dingen redete, während er dagegen, wenn er etwas erwähnte, von dem sie gerade gesprochen hatte, sie entweder immer nur vorsichtig zitierte oder aber, sobald er mit eigenen Worten davon sprach, jedesmal ein befremdendes und distanzierendes ›Dieser‹ oder ›Diese‹ davorsetzte, als fürchte er, ihre Angelegenheiten zu den seinen zu machen. Sprach er von dem Polier oder etwa von einem Fußballer namens Stumm, so konnte sie kurz darauf schon einfach ganz vertraut ›Der Polier‹ und ›Stumm‹ sagen; er dagegen sagte, wenn sie einen Bekannten namens Freddy und ein Lokal mit der Bezeichnung ›Stephanskeller‹ erwähnt hatte, in der Antwort darauf jedesmal: ›dieser Freddy?‹ und: ›dieser Stephanskeller?‹. Alles, was sie vorbrachte, hielt ihn davon ab, darauf einzugehen, und es störte ihn, daß sie das, was er sprach, so ungeniert, wie es ihm vorkam, verwendete.
Einige Male freilich, zwischendurch, wurde ihm kurz das Gespräch so selbstverständlich wie ihr: er fragte sie, und sie antwortete; sie fragte, und er gab eine selbstverständliche Antwort. »Ist das eine Düsenmaschine?« – »Nein, das ist eine Propellermaschine« – »Wo wohnst du?« – »Im zweiten Bezirk.« Beinahe hätte er ihr sogar von der Schlägerei erzählt.
Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm. Sie wurde unruhig, ging im Zimmer hin und her; sie suchte sich Tätigkeiten aus, lächelte ab und zu blöde. Einige Zeit verging mit dem Umdrehen und Wechseln von Platten. Sie stand auf und legte sich aufs Bett; er setzte sich dazu. Ob er heute zur Arbeit gehe? fragte sie.
Plötzlich würgte er sie. Er hatte gleich so fest zugedrückt, daß sie gar nicht dazugekommen war, es noch als Spaß aufzufassen. Draußen im Flur hörte Bloch Stimmen. Er hatte Todesangst. Er bemerkte, daß ihr eine Flüssigkeit aus der Nase rann. Sie brummte. Schließlich hörte er ein Geräusch wie ein Knacken. Es kam ihm vor, wie wenn ein Stein auf einem holprigen Feldweg plötzlich unten gegen das Auto schlägt. Speichel war auf den Linoleumboden getropft.
Die Beklemmung war so stark, daß er sofort müde wurde. Er legte sich auf den Boden, unfähig, einzuschlafen und unfähig, den Kopf zu heben. Er hörte, wie jemand von außen mit einem Tuch gegen den Türknauf schlug. Er horchte. Es war nichts zu hören gewesen. Also mußte er doch eingeschlafen sein.
Er brauchte nicht lange, um wach zu werden; schon mit dem ersten Augenblick des Aufwachens kam er sich an allen Stellen offen vor; wie wenn in dem Zimmer Luftzug wäre, dachte er. Dabei hatte er sich nicht einmal die Haut abgeschürft. Trotzdem bildete er sich ein, aus seinem ganzen Körper dringe eine Lymphflüssigkeit hervor. Er war aufgestanden und hatte alle Gegenstände im Raum mit einem Geschirrtuch abgewischt.
Er schaute aus dem Fenster: unten lief jemand mit einem Arm voll Anzügen, die auf Kleiderbügeln hingen, über den Rasen zu einem Lieferwagen.
Er verließ das Haus mit dem Aufzug und ging einige Zeit, ohne die Richtung zu ändern. Später fuhr er mit einem Vorortbus bis zur Straßenbahnendstation; von dort fuhr er in die Innenstadt.
Als er ins Hotel kam, erwies sich, daß man, in der Meinung, er komme nicht zurück, seine Aktentasche schon sichergestellt hatte. Während er bezahlte, holte der Hausbursche die Tasche aus der Abstellkammer. An einem hellen Ring erkannte Bloch, daß eine Milchflasche mit nassem Boden darauf gestanden haben mußte; er machte die Tasche auf, während der Portier das Wechselgeld zusammensuchte, und bemerkte, daß man auch den Inhalt der Tasche schon geprüft hatte; der Stiel der Zahnbürste schaute aus dem Lederetui; das Taschenradio lag obenauf. Bloch drehte sich nach dem Hausburschen um, aber dieser war in der Abstellkammer verschwunden. Da der Raum hinter dem Portiertisch ziemlich klein war, konnte Bloch den Portier mit der einen Hand heranziehen und dann, nach einem Atemholen, mit der andern Hand eine Finte gegen das Gesicht des Portiers schlagen. Dieser zuckte zurück, obwohl Bloch ihn gar nicht getroffen hatte. Der Hausbursche in der Abstellkammer verhielt sich still. Bloch war schon mit der Tasche hinausgegangen.
Er kam gerade noch zur rechten Zeit vor der Mittagspause in das Personalbüro der Firma und holte die Papiere ab. Bloch wunderte sich, daß diese noch nicht bereitlagen und daß man noch einige Telefongespräche führen mußte. Er bat, seinerseits telefonieren zu dürfen, und rief seine ehemalige Frau an; als das Kind sich meldete und sofort mit einem eingelernten Satz zu sprechen anfing, die Mutter sei nicht zu Hause, legte Bloch auf. Die Papiere lagen inzwischen bereit; er steckte die Lohnsteuerkarte in die Aktentasche; als er dann die Frau nach dem noch ausstehenden Lohn fragte, war sie schon weggegangen. Bloch zählte das Geld für sein Telefongespräch auf den Tisch und verließ das Haus.
Auch die Banken hatten schon geschlossen. So wartete er über Mittag in einem Park, bis er sein Geld vom laufenden Konto – ein Sparkonto hatte er nie gehabt – abheben konnte. Da er damit nicht weit kommen würde, beschloß er, das noch neuwertige Transistorradio zurückzugeben. Er fuhr mit dem Bus zu seiner Unterkunft im zweiten Bezirk und holte auch ein Blitzlichtgerät und einen Rasierapparat. In dem Geschäft dann erklärte man ihm, daß man die Sachen nur zurückkaufen könne, wenn er dafür neue Sachen kaufe. Bloch fuhr wieder mit dem Bus zu seinem Zimmer und nahm in einer Reisetasche zwei Pokale, die freilich nur Nachfertigungen von Pokalen waren, die seine Mannschaft einmal in einem Turnier, einmal im Cup gewonnen hatte, und ein Anhängsel, zwei vergoldete Fußballschuhe, mit.
Als im Trödlerladen zunächst niemand kam, packte er die Sachen aus und stellte sie gleich auf den Verkaufstisch. Dann erschien es ihm zu selbstverständlich, daß er die Sachen schon so auf den Tisch gestellt hatte, als seien sie zum Verkauf angenommen, und er nahm sie schnell wieder vom Tisch, versteckte sie sogar in der Tasche und stellte sie erst auf den Tisch zurück, nachdem man ihn danach gefragt hatte. Hinten in einem Regal erblickte er eine Spieldose, auf der in der üblichen Pose die Figur einer Tänzerin aus Porzellan stand. Wie immer, wenn er eine Spieldose sah, glaubte er, sie schon einmal gesehen zu haben. Ohne zu verhandeln, war er dann sofort auf das erste Angebot für seine Sachen eingegangen.
Mit dem leichten Mantel, den er sich aus dem Zimmer geholt hatte, über dem Arm, war er darauf zum Südbahnhof gefahren. Auf dem Weg zum Bus war er der Zeitungsfrau begegnet, bei der er am Kiosk sonst die Zeitungen kaufte. Sie ging mit einem Pelzmantel und war mit einem Hund unterwegs; und obwohl er, wenn er eine Zeitung geholt hatte, beim Aushändigen von Zeitung und Münze, den Blick auf ihre schwarzen Fingerkuppen, sonst oft mit ihr geredet hatte, schien sie ihn jetzt, außerhalb des Kiosks, nicht zu erkennen; jedenfalls schaute sie nicht auf und hatte seinen Gruß nicht erwidert.
Da im Lauf eines Tages wenig Züge in Richtung Grenze fuhren, vertrieb sich Bloch die Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges, indem er ins Aktualitätenkino ging und dort schlief. Einmal wurde es ziemlich hell, und das Rauschen eines zu- oder aufgehenden Vorhangs kam ihm bedrohlich nahe vor. Um herauszufinden, ob der Vorhang zu- oder aufgegangen war, öffnete er die Augen. Jemand leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Bloch schlug dem Billeteur die Lampe aus der Hand und ging in die Toilette im Nebenraum des Kinos. Hier war es ruhig, das Tageslicht kam herein; Bloch stand eine Weile still.
Der Billeteur war ihm gefolgt, er hatte mit der Polizei gedroht, Bloch hatte den Wasserhahn aufgedreht, sich die Hände gewaschen, dann auf den Knopf des elektrischen Händetrockners gedrückt, die Hände in die warme Luft gehalten, bis der Billeteur verschwunden war.
Dann hatte sich Bloch die Zähne geputzt. Er hatte im Spiegel zugeschaut, wie er mit der einen Hand die Zähne geputzt hatte, während er die andre Hand, locker zur Faust geballt, eigenartig auf der Brust hielt. Aus dem Kino hörte er das Schreien und Toben der Zeichentrickfiguren.
Bloch hatte früher eine Freundin gehabt, von der er wußte, daß sie jetzt in einem südlichen Grenzort eine Gastwirtschaft führte. Im Bahnhofspostamt, wo die Telefonbücher für das ganze Land auslagen, suchte er vergeblich ihre Nummer; es gab in dem Ort einige Lokale, deren Inhaber nicht genannt waren; außerdem wurde Bloch das Aufheben des Telefonbuchs – die Telefonbücher hingen in einer Reihe, mit dem Rücken nach oben – bald zuviel. ›Das Gesicht nach unten‹, dachte er plötzlich. Ein Polizist kam herein und verlangte seinen Ausweis.
Der Billeteur habe sich beschwert, sagte der Polizist, während er abwechselnd hinunter in den Paß und in Blochs Gesicht schaute. Nach einer Weile beschloß Bloch, sich zu entschuldigen. Aber der Polizist hatte ihm schon mit der Bemerkung, er sei ja schon weit herumgekommen, den Paß zurückgegeben. Bloch schaute ihm nicht nach, sondern kippte sofort das Telefonbuch weg. Jemand schrie; als Bloch aufblickte, sah er, daß in der Telefonzelle vor ihm ein griechischer Gastarbeiter ziemlich laut in den Hörer sprach. Bloch überlegte es sich und nahm sich vor, statt mit dem Zug mit dem Bus zu fahren; er tauschte die Fahrkarte um und ging wirklich, nachdem er sich eine Wurstsemmel und einige Zeitungen gekauft hatte, zum Autobahnhof hinaus.
Der Omnibus stand schon da, freilich noch abgesperrt; die Fahrer standen in einiger Entfernung zusammen und redeten. Bloch setzte sich auf eine Bank; die Sonne schien; er aß die Wurstsemmel, ließ aber die Zeitungen neben sich liegen, weil er sie für die stundenlange Fahrt aufsparen wollte.
Der Kofferraum zu beiden Flanken des Wagens blieb ziemlich leer: es kamen kaum Leute mit Gepäck. Bloch wartete draußen so lange, bis hinten die Falttür zuging. Dann stieg er schnell vorn ein, und der Wagen fuhr an. Auf einen Ruf draußen hielt er sofort wieder an; Bloch drehte sich nicht um; eine Bäuerin mit einem Kind, das laut weinte, war noch eingestiegen. Drinnen wurde das Kind still, der Wagen war dann abgefahren.
Bloch bemerkte, daß er auf dem Sitz gerade über dem Wagenrad saß; seine Füße waren von dem an dieser Stelle hinaufgewölbten Boden abgerutscht. Er setzte sich zurück auf die letzte Sitzbank, wo er, wenn nötig, bequem nach hinten hinausschauen konnte. Als er sich setzte, sah er, obwohl das nichts zu bedeuten hatte, in die Augen des Fahrers im Rückspiegel. Bloch benutzte die Drehung, mit der er die Aktentasche hinter sich verstaute, und blickte hinaus. Die Falttür klapperte laut.
Während die übrigen Sitzreihen im Wagen die Reisenden nach vorn schauen ließen, standen die beiden Sitzreihen vor ihm einander gegenüber; so unterhielten sich die Reisenden, die hintereinander saßen, fast alle gleich nach der Abfahrt nicht mehr, während die Reisenden vor ihm schon bald weiterredeten. Die Stimmen der Leute waren Bloch angenehm; es erleichterte ihn, daß er zuhören konnte.
Nach einiger Zeit machte ihn – der Bus hatte die Ausfallstraße schon erreicht – eine Frau, die neben ihm in der Ecke saß, darauf aufmerksam, daß er einige Münzen verloren habe. Sie sagte: »Ist das Ihr Geld?« und zeigte ihm dabei, wie sie eine Münze aus dem Spalt zwischen Lehne und Sitz hervorzog. Mitten auf dem Sitz, zwischen ihm und der Frau, lag eine zweite Münze, ein amerikanischer Cent. Bloch nahm die Münzen, indem er antwortete, er müsse das Geld wohl vorhin verloren haben, als er sich umdrehte. Da aber die Frau nicht bemerkt hatte, daß er sich umgedreht hatte, fing sie an zu fragen, und Bloch antwortete wieder; allmählich, obwohl sie dafür unbequem saßen, sprachen sie ein wenig miteinander.
Das Reden und Zuhören hielt Bloch davon ab, die Münzen wegzustecken. Sie waren in seiner Hand warm geworden, als hätte man sie ihm eben aus einer Kinokasse herausgeschoben. Die Münzen seien deswegen so schmutzig, sagte er, weil man sie vor kurzem vor einem Fußballspiel zur Platzwahl aufgeworfen habe. »Ich verstehe nichts davon!« sagte die Reisende. Bloch faltete schnell die Zeitung auseinander. »Kopf oder Zahl!« redete sie schon weiter, so daß Bloch die Zeitung wieder zusammenfalten mußte. Vorhin, als er sich auf den Sitz über dem Wagenrad setzte, war ihm dabei die Schlaufe des Mantels, den er neben sich an den Haken gehängt hatte, durch die jähe Bewegung, mit der er sich aufs herabhängende Mantelende gesetzt hatte, abgerissen. Bloch saß, den Mantel auf den Knien, wehrlos neben der Frau.
Die Straße war schlechter geworden. Da die Falttür nicht dicht schloß, sah Bloch, wie das Licht von draußen durch den Spalt den Wagen flackernd beleuchtete. Ohne zu dem Spalt hinzuschauen, bemerkte er das Flackern auch auf dem Zeitungsblatt. Er las Zeile für Zeile. Dann schaute er auf und betrachtete die Reisenden vorne. Je weiter entfernt sie saßen, desto angenehmer war es, sie anzuschauen. Nach einiger Zeit fiel ihm auf, daß das Flackern im Wagen aufgehört hatte. Draußen war es dunkel geworden.
Bloch, der nicht gewohnt war, so viel Einzelheiten wahrzunehmen, schmerzte der Kopf, wohl auch von dem Geruch der vielen Zeitungen, die er bei sich hatte. Zum Glück hielt der Autobus in einer Bezirksstadt, wo man den Reisenden in einer Raststätte ein Nachtmahl servierte. Während Bloch ein wenig im Freien umherging, hörte er drinnen im Schankraum wieder und wieder den Zigarettenautomaten krachen.
Auf dem Vorplatz erblickte er eine beleuchtete Telefonzelle. Ein Summton war ihm noch von dem Gedröhn des fahrenden Busses in den Ohren, so daß ihm das Knirschen des Schotters, der vor der Zelle lag, guttat. Er warf die Zeitungen in den Abfallkorb neben der Telefonzelle und schloß sich ein. »Ich gebe eine gute Zielscheibe ab!« hatte er in einem Film jemanden sagen hören, der nachts am Fenster stand.
Niemand meldete sich. Bloch, wieder im Freien, im Schatten der Telefonzelle, hörte in der Raststätte hinter den zugezogenen Vorhängen das heftige Klingeln der Spielautomaten. Als er in den Schankraum kam, zeigte sich, daß dieser inzwischen fast leer war; die meisten Reisenden waren hinausgegangen. Bloch trank im Stehen ein Bier und ging in den Flur: einige saßen schon im Wagen, andre standen an der Tür und unterhielten sich mit dem Fahrer, andre standen weiter weg, mit dem Rücken zum Wagen, im Finstern – Bloch, dem diese Beobachtungen zuwider wurden, fuhr sich mit der Hand über den Mund. Statt einfach wegzuschauen! Er schaute weg und erblickte im Flur Reisende, die mit Kindern von der Toilette kamen. Als er sich über den Mund fuhr, hatte die Hand nach den Metallgriffen an den Sitzlehnen gerochen. ›Das ist nicht wahr!‹ dachte Bloch. Der Fahrer war eingestiegen und hatte zum Zeichen, daß auch die andern einsteigen sollten, den Motor laufen lassen. ›Als ob man es nicht auch so verstanden hätte‹, dachte Bloch. Beim Abfahren sprühten auf der Straße die Funken von den schnell aus den Fenstern geworfenen Zigaretten.
Niemand saß mehr neben ihm. Bloch zog sich in die Ecke zurück und legte die Beine auf die Sitzbank. Er schnürte die Schuhe auf, lehnte sich gegen das Seitenfenster und schaute aufs andre Fenster hin. Er verschränkte die Hände im Nacken, stieß mit dem Fuß einen Brotkrümel vom Sitz, drückte die Unterarme gegen die Ohren und schaute die Ellenbogen vor sich an. Er drückte die Innenseite der Ellenbogen gegen die Schläfen, schnüffelte an den Hemdärmeln, rieb sich das Kinn am Oberarm, legte den Kopf zurück und schaute auf die Deckenbeleuchtung. Es hörte überhaupt nicht mehr auf! Er wußte sich nicht anders zu helfen, als sich aufzusetzen.
Die Schatten der Bäume, die hinter den Böschungen standen, kreisten beim Vorbeifahren um die Bäume herum. Die beiden Scheibenwischer, die auf der Windschutzscheibe lagen, zeigten nicht ganz in die gleiche Richtung. Die Fahrscheintasche neben dem Fahrer schien offen zu sein. Im Mittelgang des Wagens lag etwas wie ein Handschuh. Auf den Weiden neben der Straße schliefen Kühe. Es war nutzlos, das abzustreiten.
Allmählich stiegen immer mehr Reisende an Bedarfshaltestellen aus. Sie stellten sich neben den Fahrer, der sie dann vorn hinausließ. Als der Autobus stand, hörte Bloch oben auf dem Dach die Plane flattern. Dann hielt der Autobus wieder, und er hörte draußen im Finstern Begrüßungsrufe. Weiter weg erkannte er einen Bahnübergang ohne Schranken.
Kurz vor Mitternacht hielt der Bus in dem Grenzort. Im Gasthof, an dem sich die Haltestelle befand, bekam Bloch sofort ein Zimmer. Er fragte das Mädchen, das ihn hinaufführte, nach der Bekannten, von der er nur den Vornamen, Hertha, wußte. Sie konnte ihm Auskunft geben: die Bekannte habe eine Gaststätte etwas außerhalb des Ortes gepachtet. Was dieses Geräusch bedeute? fragte Bloch, schon im Zimmer, das Mädchen, das in der Tür stand. »Einige Burschen sind noch beim Kegelschieben!« antwortete das Mädchen und ging aus dem Zimmer. Ohne sich umzuschauen, zog Bloch sich aus, wusch sich die Hände und legte sich ins Bett. Das Rumpeln und Krachen unten dauerte noch einige Zeit, aber Bloch war schon eingeschlafen.
Er war nicht von selbst aufgewacht, sondern mußte durch irgend etwas geweckt worden sein. Es war überall still; Bloch überlegte, was ihn geweckt haben könnte; nach einiger Zeit begann er sich einzubilden, er sei durch das Umfalten einer Zeitung aufgeschreckt. Oder war es das Knacken des Schranks gewesen? Eine Münze war wohl aus der nachlässig über den Stuhl gelegten Hose gefallen und unter das Bett gerollt. An der Wand erblickte er einen Stich, der den Ort zur Zeit der Türkenkriege darstellte; vor den Mauern ergingen sich die Bürgersleute, hinter den Mauern hing die Glocke so schief im Glockenturm, daß man annehmen mußte, daß sie gerade heftig läutete. Bloch überlegte, wie unten der Glöckner von dem Glockenseil aufgelüpft wurde; er sah, daß die Bürger draußen alle auf das Mauertor zugingen; einige, mit Kindern auf dem Arm, liefen, ein Hund wedelte zwischen den Beinen eines Kindes durch, daß dieses zu straucheln schien. Auch die kleine Notglocke im Kapellenturm war so eingezeichnet, daß sie fast umkippte. Unter dem Bett hatte nur ein abgebranntes Streichholz gelegen. Draußen auf dem Gang, weiter weg, krachte wieder ein Schlüssel in einem Schloß; davon war er wohl wach geworden.
Beim Frühstück hörte Bloch, seit zwei Tagen werde ein gehbehinderter Schüler vermißt. Das Mädchen erzählte es dem Busfahrer, der in dem Gasthof übernachtet hatte, bevor er, wie Bloch durch das Fenster beobachtete, mit dem ziemlich unbesetzten Wagen zurückfuhr. Später ging auch das Mädchen weg, so daß Bloch eine Zeitlang allein im Gastzimmer saß. Auf dem Stuhl neben sich stapelte er die Zeitungen; er las, daß es sich nicht um einen verkrüppelten, sondern um einen sprechbehinderten Schüler handelte. Über ihm, so erklärte wie zur Rechenschaft gleich nach der Rückkehr das Mädchen, wurde Staub gesaugt. Bloch wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Dann klirrten die leeren Bierflaschen in den Kisten, die draußen über den Hof getragen wurden. Die Stimmen der Bierträger im Flur hörte Bloch, als ob sie nebenan aus dem Fernseher kämen. Das Mädchen hatte ihm erzählt, die Mutter des Wirts sitze tagsüber im Nebenzimmer und betrachte das Schichtarbeiterprogramm.
Später kaufte sich Bloch in einem Gemischtwarengeschäft ein Hemd, Unterwäsche und einige Paar Socken. Die Verkäuferin, die nach einer Weile aus dem ziemlich dunklen Magazin gekommen war, schien Bloch, der in ganzen Sätzen zu ihr sprach, nicht zu verstehen; erst als er ihr einzeln die Worte für die gewünschten Sachen vorsagte, hatte sie wieder angefangen, sich von der Stelle zu rühren. Während sie die Lade aus der Kasse zog, hatte sie gesagt, es seien auch Gummistiefel eingetroffen; und noch während sie ihm die Sachen in einer Plastiktragetasche aushändigte, hatte sie gefragt, ob er noch etwas brauche: Taschentücher? Eine Krawatte? Eine Wollweste? Im Gasthof hatte Bloch sich umgezogen und die gebrauchte Wäsche in die Plastiktasche verstaut. Auf dem Platz draußen und auf dem Weg aus dem Ort hinaus kam ihm dann kaum jemand entgegen. Neben einem Neubau wurde gerade die Mörtelmischmaschine ausgeschaltet; es war so ruhig, daß Bloch die eigenen Schritte wie ungehörig vorkamen. Er war stehengeblieben und hatte die schwarzen Planen auf den Holzstößen eines Sägewerks beobachtet, als ob da etwas anderes zu hören sei als das Gemurmel der Sägearbeiter, die hinter den Holzstößen wohl bei der Jause saßen.
Es war ihm erklärt worden, daß die Gaststätte mit ein paar Bauernhäusern und dem Zollwachehaus sich an der Stelle befände, wo die asphaltierte Straße in einem Bogen zum Ort zurückführe; von der Straße zweige ein Weg ab, der zwischen den Häusern gleichfalls asphaltiert, später aber nur noch geschottert sei und dann, kurz vor der Grenze, in einen Steg übergehe. Der Grenzübergang sei geschlossen. Nach dem Grenzübergang hatte Bloch freilich gar nicht gefragt.
Über einem Feld sah er einen Habicht kreisen. Als der Habicht dann auf der Stelle flatterte und herabstieß, fiel Bloch auf, daß er nicht das Flattern und Herabstoßen des Vogels beobachtet hatte, sondern die Stelle im Feld, auf die der Vogel wohl herabstoßen würde; der Habicht hatte sich im Sturzflug gefangen und war wieder aufgestiegen.
Eigenartig war es auch, daß Bloch beim Vorbeigehen im Maisfeld nicht die gerade verlaufenden Gassen durch bis zum anderen Ende des Maisfelds sah, sondern nur das undurchsichtige Dickicht von Stengeln, Blättern und Kolben, aus denen hier und da noch dazu die nackten Körner herausschauten. Noch dazu? Der Bach, über den die Straße gerade führte, rauschte ziemlich laut, und Bloch stockte.
Im Wirtshaus traf er die Kellnerin, die gerade den Boden aufwusch. Bloch fragte nach der Pächterin. »Sie schläft noch!« sagte die Kellnerin. Bloch bestellte im Stehen ein Bier. Die Kellnerin hob einen Stuhl vom Tisch. Bloch nahm den zweiten Stuhl vom Tisch und setzte sich.
Die Kellnerin ging hinter die Theke. Bloch legte die Hände auf den Tisch. Die Kellnerin bückte sich und öffnete die Flasche. Bloch schob den Aschenbecher weg. Die Kellnerin nahm im Vorbeigehen von einem anderen Tisch einen Bierdeckel. Bloch rückte mit dem Stuhl zurück. Die Kellnerin nahm das Glas von der Flasche, auf die sie es gestülpt hatte, legte den Bierdeckel auf den Tisch, stellte das Glas auf den Deckel, kippte die Flasche in das Glas, stellte die Flasche auf den Tisch und ging weg. Es fing schon wieder an! Bloch wußte nicht mehr, was er tun sollte.
Endlich erblickte er einen Tropfen, der außen am Glas herunterlief, und an der Wand eine Uhr, deren Zeiger durch zwei Streichhölzer gebildet wurden; ein Streichholz war abgebrochen und diente als Stundenzeiger; er hatte nicht den herunterlaufenden Tropfen angeschaut, sondern die Stelle auf dem Deckel, auf die der Tropfen wohl treffen könnte. Die Kellnerin, die inzwischen mit einer Paste den Boden einließ, fragte, ob er die Pächterin kenne. Bloch nickte, sagte aber erst, als die Kellnerin aufschaute, ja.
Ein Kind kam hereingelaufen, ohne die Tür zuzumachen. Die Kellnerin schickte es zum Eingang zurück, wo es die Stiefel abstreifte und nach einer zweiten Ermahnung die Tür schloß. »Das Mädchen der Wirtin!« erklärte die Kellnerin, die das Kind dann sofort in die Küche brachte. Als sie wieder hereinkam, sagte sie, vor einigen Tagen habe sich bei der Wirtin ein Mann gemeldet. »Er hat vorgegeben, für eine Brunnenausschachtung bestellt zu sein. Sie hat ihn gleich wieder wegschicken wollen, aber er hat nicht lockergelassen, bis sie ihm den Keller gezeigt hat, wo er sofort einen Spaten genommen hat, so daß sie Hilfe geholt hat, damit er weggeht und sie …« Bloch gelang es gerade noch, sie zu unterbrechen. »Das Kind hat seitdem Angst, daß der Brunnenmacher zurückkommt.« Aber inzwischen war ein Zollwachebeamter hereingetreten und hatte an der Theke ein Glas Schnaps getrunken.
Ob der vermißte Schüler wieder zu Hause sei? fragte die Kellnerin. Der Zollwachebeamte antwortete: »Nein, er ist noch nicht gefunden worden.«
»Er ist ja noch nicht einmal zwei Tage weg«, sagte die Kellnerin. Der Zollwachebeamte erwiderte: »Aber die Nächte sind schon ziemlich kalt.«
»Immerhin ist er warm angezogen«, sagte die Kellnerin. Ja, er sei warm angezogen gewesen, sagte der Zollwachebeamte.
»Er kann nicht weit sein«, fügte er hinzu. Er könne nicht weit gekommen sein, wiederholte die Kellnerin. Über dem Musikautomaten erblickte Bloch ein beschädigtes Hirschgeweih. Die Kellnerin erklärte, es stamme von einem Hirsch, der sich ins Minenfeld verirrt habe.
In der Küche hörte er Geräusche, die, als er hinhörte, sich als Stimmen herausstellten. Die Kellnerin rief durch die geschlossene Tür. Die Pächterin antwortete in der Küche. Einige Zeit unterhielten sie sich so miteinander. Dann, mitten in einer Antwort, kam die Pächterin herein. Bloch begrüßte sie.
Sie setzte sich an seinen Tisch, nicht neben ihn, sondern gegenüber; die Hände legte sie unter dem Tisch auf die Knie. Durch die offene Tür hörte Bloch in der Küche den Kühlschrank summen. Das Kind saß daneben und aß ein Brot. Die Pächterin schaute ihn an, als ob sie ihn zu lange nicht gesehen hätte. »Wir haben uns lange nicht gesehen!« sagte sie. Bloch erzählte ihr eine Geschichte, die seinen Aufenthalt hier betraf. Durch die Tür sah er, ziemlich weit weg, in der Küche das Mädchen sitzen. Die Pächterin legte die Hände auf den Tisch und drehte die Handflächen auf und zu. Die Kellnerin brachte das Getränk, das Bloch für sie bestellt hatte. Welche ›sie‹? In der inzwischen leeren Küche schütterte der Kühlschrank. Bloch betrachtete durch die Tür die Apfelschalen, die drinnen auf dem Küchentisch lagen. Unter dem Tisch stand eine Schüssel, die mit Äpfeln angehäuft war; ein paar Äpfel waren heruntergerollt und lagen hier und dort auf dem Boden. An einem Nagel im Türrahmen hing eine Arbeitshose. Die Pächterin hatte den Aschenbecher zwischen sich und ihn geschoben. Bloch stellte die Flasche beiseite, sie aber legte die Streichholzschachtel vor sich hin, stellte auch noch ihr Glas dazu. Endlich schob Bloch sein Glas und seine Flasche rechts daneben. Hertha lachte.
Das Kind war hereingekommen und lehnte hinter der Pächterin am Stuhl. Es wurde um Holz für die Küche geschickt, ließ aber die Scheite, als es mit der einen Hand die Tür aufmachte, fallen. Die Kellnerin sammelte das Holz auf und trug es in die Küche, während sich das Kind wieder im Rücken der Pächterin an den Stuhl lehnte. Bloch kam es vor, als könnten diese Vorgänge gegen ihn verwendet werden.
Jemand klopfte von außen gegen das Fenster, entfernte sich aber sofort wieder. Der Sohn des Gutsbesitzers, sagte die Pächterin. Dann gingen draußen Kinder vorbei, von denen eines schnell herankam, das Gesicht an die Scheibe drückte und wieder weglief. »Die Schule ist aus!« sagte sie. Darauf wurde es drinnen dunkler, weil draußen auf der Straße ein Möbelwagen hielt. »Da kommen meine Möbel!« sagte die Pächterin. Bloch war erleichtert, daß er aufstehen und helfen konnte, die Möbel hereinzuschaffen.
Beim Tragen ging die Tür des Schrankes auf. Bloch stieß sie mit dem Fuß wieder zu. Als der Schrank im Schlafzimmer abgestellt wurde, ging sie wieder auf. Einer der Träger übergab Bloch den Schlüssel, und er sperrte ab. Er sei aber nicht der Eigentümer, sagte Bloch. Allmählich, wenn er dann etwas sagte, kam er selber wieder darin vor. Die Pächterin lud ihn zum Essen ein. Bloch, der vorgehabt hatte, überhaupt bei ihr zu wohnen, lehnte ab. Er wollte aber am Abend zurückkommen. Hertha, die aus dem Raum heraus sprach, in dem die Möbel standen, antwortete ihm, als er schon am Hinausgehen war; jedenfalls war es ihm vorgekommen, als hätte er sie rufen hören. Er trat in die Wirtsstube zurück, aber er sah nur durch die überall offenen Türen die Kellnerin in der Küche am Herd stehen, während die Pächterin im Schlafzimmer Kleider in den Schrank verräumte und das Kind an einem Tisch in der Wirtsstube die Schulaufgaben machte. Beim Hinausgehen hatte er wohl das überkochende Wasser auf dem Herd mit einem Ruf verwechselt.
Es war unmöglich, in das Zollwachzimmer hineinzuschauen, obwohl das Fenster offen war; der Raum war von außen zu finster. Aber von innen mußte man Bloch gesehen haben; er merkte es daran, daß er selber den Atem anhielt, als er vorbeiging. War es möglich, daß sich niemand in dem Raum befand, obwohl das Fenster weit geöffnet war? Warum ›obwohl?‹ War es möglich, daß sich niemand in dem Raum befand, weil das Fenster weit geöffnet war? Bloch schaute zurück: sogar eine Bierflasche hatte man vom Fensterbrett entfernt, um ihm nachschauen zu können. Er hörte ein Geräusch, wie wenn eine Flasche unter ein Sofa rollte. Andrerseits war nicht zu erwarten, daß in dem Zollwachzimmer ein Sofa stand. Erst weiter weg wurde ihm klar, daß man in dem Raum ein Radio eingeschaltet hatte. Bloch ging in dem Bogen, den die Straße machte, zum Ort zurück. Einmal fing er erleichtert zu laufen an, so übersichtlich und einfach führte vor ihm die Straße in den Ort hinein.
Eine Zeitlang ging er zwischen den Häusern herum. In einem Café drückte er einige Platten, nachdem der Wirt den Musikautomaten eingeschaltet hatte; noch bevor alle Platten gespielt hatten, war er hinausgegangen; draußen hörte er, wie der Wirt den Stecker wieder herauszog. Auf den Bänken saßen die Schulkinder, die auf den Autobus warteten.
Vor einem Obststand blieb er stehen, aber er stellte sich so weit weg davon, daß ihn die Frau hinter dem Obst nicht anreden konnte. Sie schaute ihn an und wartete, daß er einen Schritt näher kam. Ein Kind, das gerade vor ihm stand, sagte etwas, aber die Frau antwortete nicht. Als dann ein Gendarm, der sich von hinten genähert hatte, dicht genug vor dem Obst stand, sprach sie ihn sofort an.
In dem Ort gab es keine Telefonzelle. Bloch versuchte, vom Postamt aus einen Freund anzurufen. Er wartete auf einer Bank in dem Schalterraum, aber das Gespräch kam nicht. Um diese Tageszeit seien die Leitungen überlastet. Er beschimpfte die Beamtin und ging weg.
Als er, außerhalb des Ortes, am Bad vorbeiging, sah er, daß zwei Gendarmen mit Fahrrädern auf ihn zukamen. Mit Umhängen! dachte er. Wirklich trugen die Gendarmen, als sie vor ihm hielten, Umhänge; und als sie vom Rad stiegen, zogen sie nicht einmal die Fahrradklammern von den Hosen. Wieder kam es Bloch vor, als schaue er einer Spieluhr zu; als hätte er das alles schon einmal gesehen. Er hatte die Tür im Zaun, die ins Bad hineinführte, nicht losgelassen, obwohl sie verschlossen war. »Das Bad ist geschlossen«, sagte Bloch.
Die Gendarmen, die die vertrauten Bemerkungen machten, schienen dennoch damit etwas ganz andres zu meinen; jedenfalls betonten sie Wörter wie ›Geh weg!‹ und ›beherzigen‹ absichtlich falsch als ›Gehweg‹ und ›Becher-Ziegen‹, und versprachen sich ebenso absichtlich, indem sie ›zur rechten Zeit fertig‹ statt ›rechtfertigen‹ und ›ausweißen‹ statt ›ausweisen‹ sagten. Denn welchen Sinn sollte es haben, daß ihm die Gendarmen von den Ziegen des Bauern Becher erzählten, die, als die Tür einmal offengelassen worden war, in das noch gar nicht eröffnete Gemeindebad eingedrungen waren und dort alles, sogar die Wände des Bad-Cafés, beschmutzt hatten, so daß man die Räume wieder ausweißen mußte und das Bad nicht zur rechten Zeit fertig wurde; weshalb Bloch die Tür auch verschlossen lassen und auf dem Gehweg bleiben solle? Wie zum Hohn unterließen die Gendarmen, als sie weiterfuhren, auch die üblichen Grußbezeigungen oder deuteten diese jedenfalls nur so an, als ob sie damit etwas sagen wollten. Sie schauten nicht über die Schultern zurück. Um zu zeigen, daß er nichts zu verbergen hatte, blieb Bloch noch am Zaun stehen und schaute zur leeren Badeanstalt hinein; ›wie in einen offenen Schrank, zu dem ich gegangen bin und etwas herausnehmen wollte‹, dachte Bloch. Es fiel ihm nicht mehr ein, was er in der Badeanstalt gewollt hatte. Überdies wurde es finster; die Hausschilder der Gemeindebauten am Ortsrand waren schon beleuchtet. Bloch ging in den Ort zurück. Als zwei Mädchen an ihm vorbei zum Bahnhof liefen, rief er ihnen nach. Sie drehten sich im Laufen um und riefen zurück. Bloch war hungrig. Er aß im Gasthof, während im Nebenzimmer schon der Fernseher zu hören war. Später ging er mit seinem Glas hinein und schaute zu, bis am Ende des Programms das Testbild erschien. Er ließ sich den Schlüssel geben und ging hinauf. Schon im Halbschlaf, glaubte er, draußen ein unbeleuchtetes Auto anfahren zu hören. Vergeblich versuchte er noch, sich zu fragen, warum ihm gerade ein unbeleuchtetes Auto eingefallen war; er mußte mittendrin eingeschlafen sein.
Bloch erwachte von dem Knallen und Schnaufen auf der Straße, mit dem die Abfalltonnen in den Müllwagen gekippt wurden; als er aber hinausschaute, sah er, daß vielmehr die Falttür des Busses, der gerade abfuhr, sich geschlossen hatte und daß weiter weg die Milchkannen auf die Laderampe der Molkerei gestellt wurden; hier auf dem Land gab es keine Müllwagen; die Mißverständnisse fingen wieder an.
Bloch erblickte in der Tür das Mädchen, auf ihrem Arm einen Stapel von Handtüchern und darauf eine Taschenlampe; noch bevor er sich bemerkbar machen konnte, war sie wieder draußen auf dem Gang. Erst durch die Tür entschuldigte sie sich, aber Bloch verstand sie nicht, weil er zugleich selber ihr etwas nachrief. Er folgte ihr auf den Gang; sie war schon in einem anderen Zimmer; mit einem überdeutlichen zweimaligen Drehen versperrte Bloch, wieder in seinem Zimmer, die Tür. Später ging er dem Mädchen, das schon einige Zimmer weiter war, nach und erklärte, es sei ein Mißverständnis. Das Mädchen, während es ein Handtuch über das Waschbecken legte, antwortete, ja, es sei ein Mißverständnis, sie müsse wohl vorhin, vom Ende des Gangs, von weitem den Autobusfahrer an der Stiege mit ihm verwechselt haben, so daß sie, in der Meinung, er sei schon hinuntergegangen, sein Zimmer betreten habe. Bloch, der in der offenen Tür stand, sagte, das habe er nicht gemeint. Sie hatte aber gerade den Wasserhahn aufgedreht, so daß sie ihn dann bat, den Satz zu wiederholen. Bloch antwortete darauf, in den Zimmern seien viel zu viele Schränke, Truhen und Kommoden. Das Mädchen erwiderte, ja, und dafür gebe es in dem Gasthof eben viel zu wenig Personal, wie die Verwechslung vorhin, die auf Übermüdung ihrerseits zurückzuführen sei, beweise. Das habe er mit der Bemerkung über die Schränke nicht sagen wollen, antwortete Bloch, man könne sich nur in den Zimmern nicht richtig bewegen. Das Mädchen fragte, was er damit meine. Bloch antwortete nicht. Sie deutete sein Schweigen, indem sie das schmutzige Handtuch zusammenknäulte, oder vielmehr faßte Bloch das Zusammenknäueln des Handtuchs als Erwiderung auf sein Schweigen auf. Sie ließ das Tuch in den Korb fallen; Bloch antwortete wieder nicht, was sie, wie er glaubte, veranlaßte, die Vorhänge aufzuziehen, so daß er schnell in den dunkleren Gang hinaustrat. »Das wollte ich damit nicht sagen!« rief das Mädchen. Sie ging ihm in den Gang nach, aber dann folgte ihr Bloch, während sie die Handtücher auf die restlichen Zimmer verteilte. In einem Knick des Gangs stießen sie auf einen Haufen von gebrauchten Bettüchern, die da auf dem Boden lagen. Als Bloch auswich, fiel dem Mädchen eine Seifenschachtel von dem Handtuchstapel. Ob sie auf dem Heimweg eine Taschenlampe brauche? fragte Bloch. Sie habe einen Freund, antwortete das Mädchen, das sich mit rotem Gesicht wieder aufrichtete. Ob es in dem Gasthof auch Zimmer mit doppelten Türen gebe? fragte Bloch. »Mein Freund ist ja Tischler«, antwortete das Mädchen. Er habe einen Film gesehen, in dem ein Hoteldieb zwischen doppelten Türen eingesperrt worden sei, sagte Bloch. »Aus unseren Zimmern ist noch nie etwas weggekommen!« sagte das Mädchen.
Unten im Gastzimmer las er, daß neben der Kassiererin eine kleine amerikanische Münze gefunden worden sei, ein Fünf-Cent-Stück. Die Bekannten der Kassiererin hatten diese nie mit einem amerikanischen Soldaten gesehen; auch amerikanische Touristen waren zu dieser Zeit kaum im Land. Außerdem habe man Kritzeleien auf dem Rand einer Zeitung gefunden, wie man eben im Gespräch nebenbei was vor sich hinzeichne. Die Kritzeleien stammten offensichtlich nicht von der Kassiererin; es wurde untersucht, ob sie vielleicht über den Besucher etwas aussagen könnten.
Der Wirt kam an den Tisch und legte Bloch den Meldezettel vor; er habe schon die ganze Zeit in Blochs Zimmer gelegen. Bloch füllte den Zettel aus. Der Wirt stand etwas weiter weg und schaute ihm zu. In dem Sägewerk draußen traf die Motorsäge gerade auf das Holz. Bloch hörte das Geräusch wie etwas Verbotenes.
Statt nun folgerichtig mit dem Meldezettel hinter die Theke zu gehen, ging der Wirt damit in das Nebenzimmer und redete, wie Bloch sah, drinnen mit seiner Mutter; und statt dann, wie es die offengelassene Tür erwarten ließ, gleich wieder herauszukommen, sprach er immer weiter und machte schließlich die Tür sogar zu. An Stelle des Wirts kam darauf das alte Weib heraus. Der Wirt folgte ihr nicht, sondern blieb im Nebenraum und zog die Vorhänge weg, und statt darauf den Fernseher auszuschalten, schaltete er den Ventilator ein.
Von der anderen Seite betrat jetzt das Mädchen mit dem Staubsauger das Gastzimmer. Bloch erwartete schon, sie wie selbstverständlich mit dem Gerät auf die Straße treten zu sehen; statt dessen schloß sie es an die Steckdose an und schob es darauf unter den Stühlen und Tischen hin und her. Als dann auch der Wirt die Vorhänge im Nebenraum wieder schloß, die Mutter des Wirts in den Raum zurückkehrte und schließlich der Wirt den Ventilator abschaltete, kam es Bloch vor, als renke sich alles wieder ein.
Er erkundigte sich bei dem Wirt, ob in der Gegend viele Zeitungen gelesen würden. »Nur Wochenzeitungen und Illustrierte«, antwortete der Wirt. Bloch, der das schon im Hinausgehen gefragt hatte, klemmte sich, da er mit dem Ellbogen die Klinke niederdrückte, zwischen Klinke und Tür den Arm ein. »Das kommt davon!« rief das Mädchen hinter ihm her. Bloch hörte noch, wie der Wirt sie fragte, was sie damit meinte.