4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Das erste Date, der erste Kuss, die ersten Zärtlichkeiten – Cadence und River waren seelenverwandt, bis sie etwas tat, was ihm das Herz zerfetzte. Sieben Jahre später scheinen die Wunden verheilt, River lebt in L.A. und ist dabei als Schauspieler Karriere zu machen. Doch als ihn ein familiärer Notfall zurück in seine Heimatstadt Crestwood befördert und Caddy ihm plötzlich wieder gegenübersteht, lodert nicht nur der verdrängte Schmerz auf. River spürt die tiefe Verbundenheit zu ihr, zwischen ihnen knistern Gefühle, die um keinen Preis sein dürfen. Denn Cadence ist inzwischen mit Rivers Bruder verheiratet, der mit einer Hirnblutung im Krankenhaus liegt und um sein Leben kämpft.
(Ich bin neu verliebt ... auch wenn das meinem Mann nicht so gefallen wird. Aber da muss er durch. Absolute Leseempfehlung für liebeswütige Leser mit Selbstquälungsdrang!!! – Bianca von bibilotta.de)
*Das Buch erschien vormals unter dem Titel "Riverside" bei Romance Edition*
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Prolog
1. River
2. Cadence
3. River
4. Cadence
5. River
6. Cadence
7. River
8. Cadence
9. River
10. Cadence
11. River
12. Cadence
13. River
14. Cadence
15. River
16. Cadence
17. River
18. River
19. Cadence
20. River
21. Cadence
22. River
23. Cadence
24. River
25. River
26. Cadence
27. River
28. River
29. Cadence
30. Cadence
31. River
Über die Autorin:
When Something Lasts Forever
Bobbie Kitt
© 2022 Bobbie Kitt
Simone Olmesdahl
Oberlandenbeck 2
59889 Eslohe, Germany
1. Auflage dieser Fassung
Dieses Buch erschien 2016 unter dem Titel „Riverside – Ein Teil von dir“ im Romance Edition Verlag
Covergestaltung: © Bobbie Kitt
Lektorat: Romance Edition und C. Reich
Für Marion, die auch Nanna heißt. Großen Schwestern, die ihre Engelsspülung teilen, sollte ein Liebesroman gewidmet werden.
Elf Jahre zuvor
Ich schließe die Augen. Versuche die Gedanken anzuhalten und Gefühle zu ersticken. Sie kreisen unablässig und durchlaufen mich. Ich sehe Corinnes blasses Gesicht vor mir, und meine Mom, die sie in den Armen hält. Es ist, als würde die Welt in Flammen stehen. Als wäre überall Rauch, der mich kaum atmen lässt, und Feuer, das meine Haut versengt. Ohne River wäre ich längst zu Asche zerfallen, aber er hat die Arme um mich geschlungen und presst meinen Rücken an seinen kräftigen Körper. Mein Herz schlägt, weil seins gegen mich klopft, und ich atme, weil sein Brustkorb den meinen bewegt.
Sie hat es nicht getan. Es ist unmöglich. Sie könnte niemals etwas so Schreckliches tun.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon im Whitecliff Park neben dem Tennisplatz sitzen. Die Wiese ist feucht. Als ich die Augen öffne, ist es nach wie vor dunkel. Die Nacht hat uns verschluckt, aber ein lilafarbener Streifen zwischen den Bäumen kündigt den Morgen an. Am liebsten bliebe ich für immer hier sitzen. Bloß nicht zurück. Ich will mich nicht dem Lynchmob vor unserem Haus oder den Fragen der Cops stellen.
»Caddy, sie werden sich Sorgen machen«, flüstert River mir leise ins Haar.
»Wer?« Ich kann mir nicht vorstellen, dass in dieser Sekunde jemand an uns denkt. Wir sind vollkommen unbedeutend.
Sie hat es nicht getan.
»Dein Dad. Meine Eltern.«
»Du kannst nach Hause gehen, River. Du musst nicht bleiben«, sage ich. Meine Stimme klingt fremd. Rau, als wäre meine Kehle entzündet.
Er löst sich von mir und zieht seine Beine hinter mir weg. Ein Beben steigt aus meinen Tiefen auf und lässt meinen ganzen Körper erzittern. Warum habe ich ihn weggeschickt? Wenn er geht, werde ich aufhören zu existieren.
Bitte geh nicht.
River rutscht neben mich. Ich kann seinen Blick auf mir fühlen, obwohl die Dunkelheit mich umhüllt. Ich bin froh, dass er mein Gesicht nicht richtig erkennen kann. Ich sehe ganz bestimmt scheußlich aus. Ich bin scheußlich. Und er? Er ist so unsagbar schön und liebenswert. Es gibt kein Wort, das ihn beschreibt. Die Steigerung von atemberaubend ist River.
»Sei nicht albern, Cadence. Ich gehe nirgendwohin, solange du nicht bereit bist, mich zu begleiten.«
»Und wenn ich morgen noch hier sitzen will?«
»Dann sitzen wir beide morgen noch hier«, erklärt er ziemlich überzeugend.
»Wenn es eine Woche dauert, bis ich aufstehen kann?«
»Dann werde ich eine Woche lang mit dir hier sitzen.«
Ein Lachen will sich aus meinem Mund zwängen, aber es bricht als ein Schniefen hervor.
River streicht mir mit einer Hand durch das Haar und drückt meinen Kopf an seine Schulter, spielt mit meinen kinnlangen Locken.
»Es könnte auch sein, dass ich für immer hierbleibe«, warne ich ihn. Ein Teil von mir will ihn wegschubsen. Es wird kein gutes Licht auf ihn werfen, wenn er mit der Tochter einer ... Gott, ich kann das Wort nicht mal denken. Selbst Debbie, meine beste Freundin, hat mich bloß angestarrt, als das Blaulicht vor unserem Haus wie ein Kreisel rotierte.
Er zieht an einer meiner Haarsträhnen. »Dann könnte es sein, dass du mir irgendwann die Beine amputieren musst, denn sie sind jetzt schon dabei, einzuschlafen.«
Diesmal presst sich das Lachen zwischen meinen Lippen hindurch. Es fühlt sich grauenhaft an. Wie kann ich lachen, während Corinne tot ist?
»Die Leute werden reden, auch über dich«, flüstere ich. »Sie werden nicht verstehen, wie du weiterhin mit mir befreundet sein kannst.«
»Tja, dann wäre das Verhältnis endlich mal ausgeglichen. Bisher fragten sich die Leute schließlich, was ein so kluges und hübsches Mädchen mit einem Spinner wie mir will. Und jetzt hör auf mit dem Unsinn. Du wirst mich nicht los. Ich werde da sein, solange du mich brauchst. Und wenn das für immer bedeutet, schließt das morgen und jeden noch so sinnfreien Tag in diesem Leben mit ein. Versprochen.«
Ich weine seinen Shirtärmel voll. Wut, Ungläubigkeit und Schmerz fließen aus mir heraus, und River lässt zu, dass ich an seiner Schulter zusammenbreche. Er nimmt meine Hand und verschränkt unsere Finger.
Man kann sein Leben verlieren, ohne zu sterben. Es wird nie wieder sein wie es war. Ich werde nie wieder dieselbe sein. Meine kleine Schwester ist tot. Warum habe ich sie nicht beschützt?
»Ich habe Angst vor der Reaktion der Leute«, sage ich nach einer Ewigkeit.
»Brauchst du nicht. Ich werde jedem den Arsch aufreißen, wenn er schief in deine Richtung sieht. Außerdem sollte die Meinung dieser Nestbewohner hier deine kleinste Sorge sein.«
»Sie hat es nicht getan, oder?«, frage ich ihn. Ich muss es hören. Jemand muss mir sagen, dass meine Mom keine Mörderin ist.
»Deine Mom ist krank, Caddy.«
Ich weiß. Natürlich weiß ich, dass sie krank ist. Unzählige Male bin ich mit dem Rad in die Stadt gefahren und habe Medikamente für sie abgeholt. Sie hat Depressionen. Aber so krank, dass man sein eigenes Baby ertränkt, kann doch verdammt noch mal niemand sein.
»River?«
»Hm?«
»Danke, dass du mich da weggebracht hast.«
Er streicht über meine Wange. Seine Finger fahren meinen Hals hinunter und verweilen auf meinem Schlüsselbein. »Ich habe dich nicht weggebracht. Ich habe dich nur zu mir geholt.«
»Montoya, gehen wir gleich noch aufs Wasser?« Bender, der gerade einem Halbstarken 160 Pfund auf die Langhantel schiebt, fängt über die Beinpresse hinweg meinen Blick auf.
Das stemmt der Kleine niemals. Neben Bender, dem schwarzen Hulk unseres Teams, wirkt er wie ein Streichholz. Seine Arme sind halbwegs muskulös, aber seine Brust ist vollkommen untrainiert. Bender kann ein verflixtes Arschloch sein.
»Keine Chance. Ich habe ein Date mit den Chargers.« Und einem verdammt kühlen Bier. Wenn man acht Stunden lang die Luxusärsche der High Society über verschiedene Fitnessgeräte scheucht, stößt man unweigerlich an seine Grenzen. Allerdings gibt es schlechtere Jobs als Personaltrainer im Oceana zu sein – und einen Haufen bessere. Immerhin liegt das Hotel direkt an der Bucht von Santa Monica.
»Die Giants werden die Chargers fertigmachen. Willst du dir das wirklich antun? Geh mit mir raus. Die Wellen brechen sauber.« Er hebt die Hantel auf die Ablage der Bank.
»Heute nicht, Mann.«
Der Kleine schließt die Finger um die Hantelstange. Er kneift die Augen zusammen, während er versucht, das Teil aus der Halterung zu heben. Irgendwie bekommt er es angehoben, kann das Gewicht aber nicht halten. Seine Arme zittern, die Stange nähert sich seiner Brust.
Ich beobachte das Schauspiel zwei Sekunden, bevor ich einschreite und ihm die Hantel abnehme.
»Findet ihr das witzig?«, krächzt er.
Bender macht sich nicht mal die Mühe, ein Lachen zu verbeißen. »Wer noch Luft zum Reden hat, hat auch noch Luft zum Drücken.«
»Feierabend. Ihr könnt verschwinden.« Tony, der kleine Mexikaner, der heute mit Andrea die Nachmittagsschicht übernimmt, betritt den Sportclub des Hotels und nimmt sofort Benders Platz an der Hantelbank ein. Er arbeitet seit dreißig Jahren im Oceana und gehört praktisch schon zum Inventar. Obwohl er mit seinen ein Meter siebzig fast zwanzig Zentimeter kleiner und auch zierlicher ist als ich, ist es ein Fehler, den Mann zu unterschätzen. Vor zwei Jahren sind wir beide beim Ironman in Oceanside angetreten. Erschreckenderweise hat Tony besser abgeschnitten als ich. Dass ich 26 bin und damit obendrein zig Jahre Altersunterschied zwischen uns liegen, lässt mich kaum besser dastehen.
Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Ich werde ein Bier für dich mittrinken, während ich mir den Auftakt der Chargers ansehe.«
»Ja, mach das. Ich trinke dann beim Super Bowl wieder eins für dich mit. Ich wette, ich kann Ann noch mal davon überzeugen, dich an dem Tag schuften zu lassen.«
»Bis Februar ist noch viel Zeit. Ich habe nicht vor, in einem halben Jahr noch als Trainer zu arbeiten.«
»Das hast du letztes Jahr auch schon gesagt, mi perrito. Und davor das Jahr auch. Ich kann dich nicht mehr ernst nehmen. Vielleicht solltest du endlich auf den Rat eines alten Freundes hören und diese Megan zur Hölle jagen.«
Megan ist Schauspielagentin. Die schlechteste Schauspielagentin L. A.s muss man sagen. Sie vertritt mich, seit ich vor fünf Jahren meinen Abschluss an der American Academy of Dramatic Arts absolviert habe. Es war verdammt hart, sich durch das Studium zu beißen. Nicht jeder erhält die Möglichkeit, drei Jahre an der Schauspielschule zu lernen. Für die Kurse des zweiten und dritten Jahres werden Einladungen ausgesprochen. Wer keine erhält, fliegt raus. Ich durfte drei Jahre bleiben – eigentlich ein ziemlicher Garant für eine erfolgreiche Karriere. Wenn man nicht gerade von Megan Bloom repräsentiert wird ...
»Ich kann sie nicht zur Hölle jagen, dann hat sie keinen einzigen Klienten mehr.« Überspitzt ausgedrückt. Dass ich woanders unterkäme, steht auch in den Sternen.
»Prioritäten, mi pequeño.«
»Prioritäten. Die setze ich jetzt und mache Feierabend.«
Ich verschwinde durch den schmalen Rundbogeneingang und biege durch die zweite Tür links auf dem Flur in die Personalumkleide. Mein freies Wochenende beginnt, als sie hinter mir zu fällt.
Bender hat sich schon umgezogen und hievt gerade sein Surfbrett von den Spinden. »Ich kann dich wirklich nicht überreden?«
»Nein. Außerdem will ich dir nicht die Aufmerksamkeit der Ladys stehlen.«
Er bricht in Gelächter aus, als ich mein Zeug aus dem Schrank hole. Ich ziehe das Handy aus meiner Jeans und werfe einen Blick darauf. Es zeigt elf verpasste Anrufe von Megan an. Sie weiß eigentlich, dass sie mir nicht auf die Nerven gehen soll, während ich arbeite.
»Bis Montag.«
Ich packe das Telefon in meine Tasche und gehe in den angrenzenden Duschraum. Zehn Minuten später verlasse ich mit einer Sporttasche in der Hand durch den Personaleingang das Hotel.
Die Sonne sticht vom Himmel. Das Oceana liegt direkt an der Ocean Avenue, von der man einen Blick auf den Pazifik hat. Palmen säumen die befahrene Straße ein. Ich bin in Crestwood aufgewachsen, einer typischen Kleinstadt in der Nähe von St. Louis im Bundesstaat Missouri. Meine Heimat unterscheidet sich von Santa Monica wie die Hölle vom Himmel. Der Ort ist überschwemmt von Millionen Kleinstadtdramen und ein paar persönlichen großen, die ich klugerweise hinter mir gelassen habe. Reißleine gezogen, oder so ähnlich. Nirgendwo kann man besser seine Wunden lecken und über eine kaputte Vergangenheit hinwegkommen, als an weißen Sandstränden.
Das beige Flachdachgebäude im Rücken jogge ich zwischen zwei langsam fahrenden Wagen über die Straße, um zu meinem Auto zu gelangen.
»River?« Megan lehnt an ihrem roten Cabriolet, das zwei Parkplätze weiter steht. Die Farbe beißt sich mit ihrem roséfarbenen Sommerkleid. Sie stößt sich ab und kommt mir entgegen. Das Stakkato ihrer Killerabsätze übertrifft sogar den grollenden Verkehrslärm. »Ich habe mehrmals versucht, dich anzurufen.«
Megan Bloom kann so hartnäckig sein wie Adrian Monk, wenn sein neurotischer Arsch die Fährte des Mörders aufnimmt. Allerdings nimmt ihre Anhänglichkeit neue Höchstformen an, wenn sie nun damit anfängt, mich vor dem Hotel abzupassen.
»Das habe ich mitbekommen, aber wie du siehst, habe ich bis eben gearbeitet.« Ich klinge gereizter, als ich mich anhören sollte. Ohne Vitamin B ist man in der Filmbranche aufgeschmissen. Auch wenn ihre Bemühungen, mir einen Job zu besorgen, bisher bloß für ein paar Internetwerbespots und zwei kleine Nebenrollen gereicht haben, und sie wohl eher als Vitamin Z anstatt B durchgeht, ist sie die einzige Beziehung, die ich in der Hinsicht habe. Außerdem ist ihr Vater ziemlich dick im Geschäft. Wenn sie eines Tages über ihren Stolz springen und das Kriegsbeil mit ihm begraben sollte, stehen die Chancen ziemlich gut, dass sich Megan noch als Glücksgriff erweist.
»Heute verzeihe ich dir deine Ignoranz.« Sie schüttelt ihre dunkelroten Locken nach hinten und setzt ihr schönstes Lächeln auf. »Ich habe großartige Neuigkeiten.«
Das letzte Mal, als Megan großartige Neuigkeiten hatte, sollte ich im neuen Musikvideo einer drittklassigen Popband einen Strandschönling spielen, der mit seiner Aufschneiderei einen Haufen Frauen vergrault. »Du kennst die Regel. Wenn ich Schicht im Oceana hatte, brauche ich Zeit, mich zu akklimatisieren, bevor ich mich mit deinen Neuigkeiten herumschlage.«
Sie hebt die kunstvoll gezupften Augenbrauen. »Ich werde heute nicht auf deine Sticheleien eingehen, sondern deine Laune bessern. Erinnerst du dich an das Vorsprechen bei Allow Entertainment vor sieben Monaten?«
»Für die Mystery-Serie?« Ich schlage die Stirn in Falten. Keine schöne Erinnerung. Megan hatte mich für die Rolle des Antagonisten vorgeschlagen. Der Sohn des Rangers, der den Tod seines Vaters rächen will und dadurch einer handfesten Psychose zum Opfer fällt, wäre mir wie auf den Leib geschnitten. Die Produzenten sahen das ähnlich, schließlich suchten sie nach einem Darsteller, der wie der Charakter der Buchvorlage groß, dunkelblond und mit einer gewissen Prise Härte ausgestattet ist. Ich war zu einem zweiten Casting eingeladen worden, aber dann ... »Jackman, der Pisser, hat die Rolle bekommen.«
Megan beißt sich auf die Unterlippe. Sie verlagert ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und wirkt plötzlich wie eine aufgeregte Dreijährige.
»Spuck’s aus, Megan.«
»Was wäre, wenn sich Allow Entertainment und Jackman nicht einigen können? Wenn Jackmans Gehaltsvorstellungen einfach unverschämt aussähen und ich heute Morgen einen Anruf von Leslie Morgenstern bekommen hätte, der ziemlich kleinlaut nachfragte, ob du denn noch verfügbar wärst?«
Mir bleibt der Mund offen stehen. Heilige Scheiße. Ich starre Megan an, die ihre Zähne inzwischen so fest in ihre Unterlippe gräbt, dass ich befürchte, sie könne gleich aufplatzen. »Willst du mich verarschen, Megan? Ich meine, wenn das hier einer deiner humorlosen Scherze ist ...«
Sie gibt ein ziemlich mädchenhaftes Quietschen von sich und fällt mir um den Hals. »Nein, nein. Das ist kein Scherz. Jackman wollte das Doppelte an Gage, was Morgenstern für die Rolle veranschlagt hat. ABC Family hat die Serie gekauft und ihnen fehlt schlichtweg die Zeit, neu zu casten. Die Dreharbeiten beginnen schon in drei Monaten, vorausgesetzt du bist mit einem Einstiegsgehalt von 45.000 Dollar pro Episode einverstanden.«
»Vergiss die wenig schmeichelhaften Dinge, die ich je über deine Fähigkeiten als Agentin gesagt habe. Du bist die beste. Natürlich bin ich einverstanden.« Ich drücke sie an mich und hebe sie hoch.
Dieser Moment entschädigt mich für acht Jahre schlechtes Gewissen. Meine Entscheidung, nach der Highschool an die Academy of Dramatic Arts zu gehen und nach Los Angeles zu ziehen, hat mir eine Menge Ärger eingehandelt. Meine Eltern waren nicht einverstanden, als ich sie vor die Tatsache stellte, dass ich die Autowerkstatt meines Vaters nicht weiterführen werde und aus Crestwood verschwinde. Sie akzeptieren bis heute nicht, dass meine eigenen Lebensträume so weit von dem entfernt liegen, was sie sich wünschen. Und sie verstehen nicht, dass ich nicht bleiben konnte. Wegen ihr. Wegen Evan.
Ein Brennen schleicht meine Brust hinauf, als mich die Erinnerung trifft, die ich sonst rechtzeitig zur Seite schiebe. Evan ist ein verdammter Scheißkerl. Seine scheinheiligen Worte, mit denen er zu erklären versuchte, warum er mein Mädchen gestohlen hat, rufen noch jetzt das dumpfe Echo von Wut in mir wach. Von meinem Bruder betrogen worden zu sein tat damals fast mehr weh, als Cadence zu verlieren. Aber es ist der falsche Zeitpunkt, sich beschissen zu fühlen. Zum Teufel mit den Leuten, die sich nichts aus mir machen. Zum Teufel mit der Vergangenheit.
Ich stelle Megan zurück auf ihre Pfennigabsätze. Sie blickt zu mir auf. Ich mag Megans Augen. Sie sind haselnussbraun, mandelförmig, und ich weiß, dass sie etwas Besonderes in mir sehen. Sie ist eine der wenigen Leute, die immer an mich geglaubt haben. In einem Universum, in dem sie nicht darauf wartet, dass ihr persönlicher Märchenprinz auf einem Schimmel dahergeritten kommt und Cadence Miller mein Herz nicht schon vor Jahren in einen Stein verwandelt hat, gäben wir vermutlich ein hübsches Paar ab. In diesem Universum allerdings sind wir Geschäftspartner und so etwas wie Freunde.
»Feiern wir?«, fragt sie.
»Wir treffen uns bei dir. Lass mich nur schnell zu Hause das Sportzeug in die Waschmaschine werfen.«
Ich wende mich meinem Wagen zu und öffne ihn mit dem Funkschlüssel. Bevor ich mich auf den Fahrersitz schwinge, fische ich mein Handy aus der Jeans, stelle die Lautstärke an und lege es auf die Ablage neben dem Lenkrad. Die Sporttasche landet im Fußraum.
Ich liebe dieses Auto. Ein zwei Jahre alter Ford F-150 King Ranch in glänzendem Schwarz. Das Baby ist ein Pick-up mit offener Ladefläche und Achtzehn-Zoll-Alurädern. Megan zieht mich manchmal damit auf, dass ich die Unart, ein solches Vehikel zu fahren, aus Missouri mitgebracht hätte, und predigt, dass ich mir doch endlich einen L. A.-tauglichen Sportwagen anschaffen soll. Sie kann mich mal. In keinem Sportwagen dieser Welt sitzt man so königlich wie in dieser Geländekarre.
Ich setze rückwärts auf die Straße und folge dem Verkehr Richtung Stadtmitte. Mein Apartment liegt in den Blocks hinter dem College, Richtung Sawtelle, wo ich von gefühlt 200 chinesischen Fast-Food-Läden umzingelt bin. Das Erste, was ich tun werde, sobald die Verträge mit Morgenstern unterschrieben sind, ist, mir eine bessere Bleibe zu suchen.
Der Sound eines The-Strokes-Songs schmettert neben mir los. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass mein Handy klingelt. Benders 13-jährige Tochter hatte das Teil in den Fingern und hat sich wohl an meinen Einstellungen zu schaffen gemacht.
Ich lange zur Ablage und werfe einen Blick auf das Telefon.
Shit.
Beinahe fahre ich in den Kofferraum des Bentley, dessen Fahrer vor mir aus irgendeinem Grund auf die Bremsen tritt. Mit einem Schlenker manövriere ich den Wagen in letzter Sekunde auf die rechte Fahrspur. Hinter mir ertönt ein Hupkonzert.
Ich starre auf die Nummer, die auf dem Display blinkt. Die Vorwahl gehört zu St. Louis – die Geister, die man ruft, wenn man den Teufel erwähnt. Für eine Sekunde bin ich versucht, den Anrufer wegzudrücken. Das letzte Mal, dass meine Familie versucht hat, mich zu erreichen, ist fast zwei Jahre her. Es war kurz vor Weihnachten. Ich habe in der Woche danach meine Nummer gewechselt und sie ihnen nicht mitgeteilt.
Ein Kribbeln strahlt von meiner linken Brust in die Hand, in der ich das Mobiltelefon halte. Ich will nicht mit ihnen sprechen. Jeder Wortwechsel endet für gewöhnlich in einem fürchterlichen Streit. Ich will mir den Tag nicht kaputtmachen lassen. Nicht heute. Allerdings ... Meine Eltern sind alt. Einem von ihnen könnte etwas zugestoßen sein.
»Verteufelt noch mal«, brumme ich und nehme das Gespräch an. »Ja?«
»Spreche ich mit River Montoya?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist weiblich und fremd.
»Du solltest wissen, wen du angerufen hast, Schätzchen.«
»Mr Montoya, mein Name ist Dr. Crane. Ich bin Ärztin im St. Anthony’s Medical Center in St. Louis, Missouri.«
Mein Magen krampft sich zusammen, als mir bewusst wird, dass meine leisen Befürchtungen gerade Realität werden. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht als ...«
»Es geht um Ihren Bruder«, fällt sie mir ins Wort.
»Ausgerechnet.«
»Wie bitte?«
»Gar nichts. Bleiben Sie eine Sekunde in der Leitung, okay?« Ich fahre rechts auf einen Supermarktparkplatz, um von der Straße zu kommen.
Es geht um Evan? Mein Bruder und ich haben seit Jahren kein Wort miteinander gesprochen. Woher hat das Krankenhaus meine Nummer?
»Sind Sie noch in der Leitung?«, frage ich in den Hörer und hoffe gleichzeitig, dass sie es nicht ist. Vielleicht sollte ich einfach auflegen.
»Ja, natürlich.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht wissen will, worum es geht, aber ich komme wohl nicht daran vorbei, zu fragen, warum sie mich anruft. »Was ist mit Evan?«
»Mr Montoya, Ihr Bruder ist heute Mittag notfallmäßig zu uns gebracht worden.«
Ich halte den Atem an. Evan ist der letzte Mensch auf der Welt, um den ich mir Sorgen machen will. Trotzdem läuft mir ein winziger Schauer über die Haut. »Hören Sie, vielleicht sollten Sie meine Eltern anrufen. Oder seine Frau. Ich bin in Los Angeles.«
Einen Augenblick bleibt es still in der Leitung. Lange genug, dass ich schon annehme, sie wird gleich das Schlimmste sagen. Würde das Krankenhaus mich anrufen, wenn er tot wäre? Scheiße, er ist nicht tot, oder?
»Mir liegt eine notariell beglaubigte Patientenverfügung vor, in der Ihr Bruder ausdrücklich erklärt, dass wir Sie zu verständigen haben, wenn ihm etwas zustößt. Ihre Telefonnummer ist außerdem als Notfallkontakt in seinem Handy gespeichert«, wischt die Ärztin meine Angst mit einer haarsträubenden Antwort vom Tisch.
»Meine Nummer ist was?« Unmöglich. Evan kann diese Nummer nicht kennen. Ich habe keinen Kontakt nach Crestwood.
»Wenn eine Telefonnummer unter ICE in einem Handy gespeichert ist, bedeutet das, dass wir die Nummer ...«
»Ich kenne den Sinn einer In-case-of-emergency-Nummer.« Ich bin schließlich kein Idiot.
»Okay. Dann verstehen wir uns.« Dr. Crane hört sich ein bisschen genervt an.
»Warum sollte Evan mich als seinen Notfallkontakt gespeichert haben?«, frage ich bemüht, einen höflichen Ton zu behalten.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vermutlich aus demselben Grund, weshalb er möchte, dass Sie jedwede medizinische Entscheidung treffen, wenn er dazu selbst nicht in der Lage ist.«
Etwas versucht mir die Luft abzudrücken. Es fühlt sich an, als würde sich das Gewicht von Tausenden Steinen auf meine Brust senken. »Wenn er selbst nicht in der Lage ist? Was soll das heißen?«
»Mr Montoya, ich muss Sie bitten, nach St. Louis zu kommen.«
»Sie werden mir auf der Stelle sagen, was mit ihm los ist«, verlange ich. Sie kann mich nicht anrufen, in Angelegenheiten verwickeln, mit denen ich im Grunde nichts zu tun haben will, und mir dann bloß ein paar Brocken vor die Füße kotzen, die mich nervös zurücklassen werden.
»Wir werden uns persönlich unterhalten. Ich brauche ein paar Unterschriften von Ihnen. Im Augenblick kann ich Ihnen nur sagen, dass es Ihrem Bruder sehr schlecht geht.«
Ich raufe mir mit der freien Hand durchs Haar. Es ist noch feucht vom Duschen. Meine Finger zittern. Ich hasse es, dass der Anruf diesen Effekt auf mich hat. Ich hasse es, dass er mir überhaupt eine Reaktion entlockt. Evans Gesundheitszustand sollte mir verdammt noch mal am Arsch vorbeigehen.
Tut er aber nicht. Egal, was zwischen uns vorgefallen ist, der Scheißkerl ist immer noch mein Bruder.
»Ich bin fast 2000 Meilen entfernt, wie stellen Sie sich das vor?«
»Wir können Ihrem Bruder nicht helfen, wenn Sie nicht Ihr Okay dazu geben. Es tut mir leid, aber wir sind verpflichtet, uns an die Patientenverfügung zu halten, die uns vorliegt.«
Na toll. Ich kann nicht glauben, dass er mich in eine solche Situation bringt. Er weiß, wie ich zu ihm stehe. Evan und ich sind geschiedene Leute. »Ich brauche über einen Tag.«
»Bis zum Zeitpunkt Ihrer Ankunft werden wir ihn notfallmäßig weiterbehandeln. Er ist in guten Händen bei uns.«
»Das hoffe ich für Sie.« Ich drücke das Gespräch weg, bevor mir noch ein paar Gemeinheiten herausrutschen. Die Frau kann schließlich nichts dafür, dass sich mein Bruder einen sarkastischen Scherz erlaubt. Wie kommt er dazu, mir die Verantwortung für seine Gesundheit und sein Leben aufzubürden?
Die Vorstellung, nach St. Louis fahren zu müssen, schlingt sich zu einem Knoten in meiner Brust zusammen.
Was auch immer ich im letzten Leben verbrochen habe, der Mist muss eine Todsünde gewesen sein. Mein Karma ist wirklich beschissen. Megan wird sich freuen, wenn ich mich ausgerechnet jetzt für ein paar Tage aus dem Staub mache.
Meine Hand schließt sich zu einer Faust um das Telefon. Ich muss meine Eltern anrufen. Oder Cadence, Evans Frau. Ich kann nicht davon ausgehen, dass sie Bescheid wissen, wenn ich Evans ICE-Kontakt bin. Aber nein, auf keinen Fall werde ich Cadence informieren. Niemand kann von mir verlangen, die Frau anzurufen, die mich mit meinem Bruder hintergangen hat. Meinen Eltern die unschöne Nachricht zu überbringen, dürfte allerdings kaum angenehmer werden.
Ich atme durch und wähle die Nummer von Dads Werkstatt, die ich zum Glück noch auswendig kenne. Mein Vater wird die Sache, dass Evan im Krankenhaus liegt, besser verpacken als meine Mom. Auf einen Miranda-Montoya-Gefühlsausbruch kann ich gerade verzichten.
Eine halbe Minute lausche ich dem Freizeichenton.
»Montoya Autoreparatur.« Er klingt alt, rauer als früher. In den beiden Worten liegt eine Schwäche, wie ich sie von meinem Vater nicht kenne. Acht Jahre sind eine lange Zeit. Ob er krank ist?
Ich presse die Lippen zusammen, umklammere das Smartphone. Spiele eine Sekunde mit dem Gedanken, einfach wieder aufzulegen. Was ich nicht tue.
»Dad?«, frage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme kippt. »Hier ist River.«
»Bringst du mir noch einen Blaubeermuffin, Cadence?«, ruft Billy quer durch den Laden. Er sitzt an einem der hinteren Tische im Diner, hat die grüne Baseballkappe abgelegt und unterhält sich mit einer Frau, die höchstens halb so alt wie er ist. Was kein Problem wäre. Allerdings ist unterhalten gleichbedeutend mit niveaulos anmachen, wenn von Billy die Rede ist. Er kommt fast täglich hierher. Normalerweise regelt Evan die Sache, wenn er sich mal wieder von seiner aufdringlichen Seite präsentiert, insbesondere wenn er zum Mittag ein paar Bier hatte. Allerdings ist Evan spurlos verschwunden. Es kann unmöglich drei Stunden dauern, die Kuchen und Sandwiches, die gestern liegen geblieben sind, zur Sozialeinrichtung nach St. Louis zu bringen.
»Eine Minute, Billy«, gebe ich zurück und stelle den Teller vor den Truckfahrer an der Theke. »Ihr Thunfischsandwich, Sir.«
»Hm«, brummt er und legt die Tageszeitung aus der Hand.
»Cadence?«, hakt Billy nach.
Gottverdammte Scheiße. Evan, wo bleibst du?
»Einen Moment, Billy.«
Ich schnappe mir mein Handy und nehme eine Sprachnachricht für Evan auf. Er hat die Lesebestätigung ausgeschaltet, deshalb weiß ich nicht, ob er meine anderen Nachrichten bekommen hat. »Das ist jetzt mein dritter Versuch, dich zu erreichen. Wo bist du, Evan? Ich fange an, mir Sorgen zu machen.«
Ich lege das Telefon weg und streiche mir ein paar Fransen meines blonden Bobs aus den Augen. Es ist nicht Evans Art, mich länger mit dem Laden allein zu lassen. Der Diner gehört mir, zumindest auf dem Papier, aber er fühlt sich dafür ebenso verantwortlich. Und für mich. Er bleibt nicht einfach stundenlang weg, ohne vorher Bescheid zu geben oder von unterwegs anzurufen. Als mein Dad starb und ich keine Ahnung hatte, ob und wie ich das Geschäft weiterführen sollte, war er es, der sagte, wir würden es gemeinsam schaffen. Ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt schaffen wollte. So viele Erinnerungen hängen an dem Restaurant.
Für eine Atemzuglänge schließe ich die Augen. Es ist, als könne ich meinen Vater in der Küche hantieren hören, und erwarte, dass er mir jede Sekunde zuruft, ich solle die Bestellung zum Servieren abholen. Ich vermisse ihn, selbst nach fast sieben Jahren noch. Aber wie könnte ich auch nicht? Er war alles, was von meiner Familie übrig geblieben war, nachdem meine Mom zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde.
Evan war unermüdlich, mir zu erklären, dass ich es bereuen würde, wenn ich den Diner verkaufe. Die ersten sechs Monate nach Dads Tod hat er den Betrieb quasi allein geführt und dafür gesorgt, dass wir schwarze Zahlen schreiben. Für mich fühlte es sich falsch an, meinen Vater zu ersetzen. Der Diner gehörte ihm. Niemand grillt die Schälrippchen, wie er sie grillte, und kein Mensch sonst bekommt es hin, dass die Crisscuts knacken, wenn man hineinbeißt. Irgendwann konnte Evan meine Traurigkeit nicht mehr mit ansehen. Er fuhr nach St. Louis zum Baumarkt und besorgte knallgelbe Wandfarbe, mit der er den blauen Anstrich ersetzte. Dann tauschte er die dunklen Möbel gegen helle Kieferntische und Stühle und kreierte eine neue Speisekarte.
Inzwischen ist es unser Diner. Etwas von meinem Dad ist zwar noch hier, aber auf eine gute Weise. Es tut nicht mehr weh, an seiner Stelle in der Küche zu stehen. Das ist allein Evan zu verdanken. Wo bleibt er bloß?
»Cadence?« Billy trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Er wird ungeduldig, und auf ungeduldig folgt meistens unausstehlich.
Ich nehme einen Blaubeermuffin von der Kuchen-Etagere, drapiere ihn auf einen Teller und marschiere damit schnurstracks zu ihm. »Der geht aufs Haus, wenn du die Lady in Ruhe lässt.«
Die Frau sieht erleichtert aus. Vielleicht habe ich mich bei ihrem Alter verschätzt. Sie hat die Dreißiger sicher schon hinter sich gelassen, aber Billy ist bereits Rentner. Er hat ein Leben lang auf den Feldern gearbeitet, was man seiner gegerbten Haut deutlich ansieht. Er besitzt mehr Bart als Haare auf dem Kopf und einen ordentlichen Bauchansatz.
»Ich glaube nicht, dass sie in Ruhe gelassen werden will, Cadence.« Er zwinkert mir zu.
Bei Gott, der Typ ist so was von anstrengend. Er tut im Grunde keiner Fliege etwas zuleide, aber seine dämlichen Sprüche gehen mitunter schon als Belästigung durch. Mein Dad kannte ihn gut, weswegen ich es nie übers Herz bringe, ihn vor die Tür zu setzen.
»Bitte setz dich an den freien Tisch am Eingang«, fordere ich ihn auf.
»Wir haben uns gut unterhalten. Oder, Miss?«
Sie blickt mich hilflos an. Niemand stößt gern einen alten Mann vor den Kopf.
Ich wende mich ab und bringe den Muffin zu dem Tisch, an den er sich setzen soll. »Ich bediene dich dort nicht. Evan wird jede Sekunde zurück sein. Wenn du keinen Ärger mit ihm willst, hörst du besser auf das, was ich sage.«
Billy rückt stöhnend seinen Stuhl nach hinten. Die Frau wirft mir ein dankbares Lächeln zu, als er zu seinem neuen Platz schlurft.
»Du wirst immer mehr zu einem Abbild deines Vaters. Der Mann konnte einem auch dauernd den Spaß verderben.«
»Vorsicht, Billy. Gäste, die über meinen Vater herziehen, will ich in meinem Laden nicht sehen. Außerdem weißt du, dass das nicht stimmt.« Mein Vater war ein herzensguter und lustiger Mensch. Selbst nach der unverzeihlichen Tat meiner Mom und Corinnes Tod, gab er sich alle Mühe, seinen Lebensmut nicht zu verlieren. Die Leute in der Stadt haben es uns nicht leicht gemacht. Sie mieden es anfangs, in den Diner zu kommen, unsere Existenz war bedroht und man warf uns bei Begegnungen misstrauische Blicke zu. Ich habe die Zeit nur überlebt, weil mein Dad für mich da war. Und weil ...
Die Türglocke schlägt an, unterbricht meine Gedanken. Jeff betritt den Laden. Evans Vater ist ein hochgewachsener, kräftiger Mann, dessen Präsenz sofort jeden Raum in Beschlag nimmt. Er hat blondes Haar, durch das sich ein paar graue Strähnen ziehen, und grüne wissende Augen. Wer die beiden nebeneinander sieht, käme nicht auf die Idee, in ihnen Vater und Sohn zu vermuten, denn Evan ist ein schlanker dunkelhaariger Typ. Jeff Montoya ist eher eine ältere Version von River, Evans jüngerem Bruder. Meiner Highschool-Liebe. Ich kann meinen Schwiegervater nicht ansehen, ohne zumindest kurz an River zu denken. Nicht, dass ich an ihn denken will. Es gibt Dinge, die bleiben besser in der Vergangenheit begraben. Fakt ist, ich brach mir das Herz, indem ich seins brach, und Evan hat es weitgehend geheilt.
»Jeff«, begrüße ich meinen Schwiegervater. Er trägt einen ölbefleckten Overall. Für gewöhnlich ist er um die Zeit in der Werkstatt, und ich bin überrascht, ihn zu sehen. Er kommt mittags nur selten unter seinen Autos hervor.
»Hast du mal eine Sekunde, Cadence?«
Erst jetzt fällt mir auf, dass er ein ernstes Gesicht aufgesetzt hat. Jeff ist ein lustiger Typ, dem sonst der Schalk im Nacken sitzt. Irgendetwas stimmt nicht, wenn er die Augenbrauen zusammenzieht wie Abraham Lincoln.
»Was ist passiert?« Vielleicht ist etwas mit Miranda. Evans Mom ist Diabetikerin und manchmal vergisst sie, ihren Wert zu messen.
»Evan wurde ins St. Anthony’s Medical Center eingeliefert. Du musst den Laden zumachen. Man erwartet uns in St. Louis.«
O Gott. »Im Krankenhaus?«, bringe ich hervor, obwohl sich ein Klumpen in meinem Hals bildet. Er ist seit Stunden weg und nicht an sein Telefon gegangen. Ich war beunruhigt, aber offensichtlich nicht beunruhigt genug.
Jeff tritt zu mir vor die Theke. Er presst die Lippen zusammen, als wolle er nicht aussprechen, was ihm auf der Zunge liegt, aber als hätte er ebenso wenig eine Wahl. »Ich habe einen Anruf von River erhalten. Das Krankenhaus hat ihn benachrichtigt, weil ihnen wohl eine Patientenverfügung vorliegt. Cadence, Evan ist nicht bei Bewusstsein.«
»Wie?« Der Boden unter meinen Füßen vibriert. Für zwei Sekunden dreht sich der Diner. Die Angst um meinen Mann vermischt sich mit der Verwirrung, die Rivers Name in mir auslöst. Warum hat man ihn angerufen? »Das Krankenhaus hat ... Das Krankenhaus hat River angerufen?« Das ergibt keinen Sinn.
»Ja. Evan hatte ihn als Notfallnummer in seinem Handy gespeichert.« Jeff wirkt unglücklich, als er das sagt. Vielleicht, weil ihm ebenso klar ist wie mir, was das bedeutet. Evan und River haben Kontakt, während er und Miranda davon ausgeschlossen sind. Jeff und seine Frau kommen nicht damit klar, ihren jüngeren Sohn mehr oder weniger verloren zu haben. Denn das haben sie. River hat die Brücken nach Hause abgebrochen. Meinetwegen. Weil ich Evan geheiratet habe.
»Was ist denn mit Evan?«, frage ich. »Hatte er einen Autounfall?«
»Sie konnten mir am Telefon keine Auskunft geben. Aber sie werden uns aufklären, sobald wir da sind.«
Keine Auskunft. Der Ausdruck katapultiert mich um Jahre in die Vergangenheit zurück.
Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft geben. Die Untersuchungen dauern noch an.
Eine Stunde später war mein Vater tot.
Ich schlucke hart. Okay, das hier ist eine völlig andere Situation. Mein Vater litt an einer chronischen Form von Sarkoidose. Eine Krankheit, bei der knotenartige Entzündungen die Lunge, das Herz und die Lymphknoten befallen. Über Jahre war sein Zustand immer schlechter geworden. Aber Evan ist gesund. Er ist noch keine 30.
»Wir müssen Sie alle bitten, zu gehen.« Jeff hat sich den Gästen zugewendet. Er schafft es mit einem Satz, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden für sich zu beanspruchen. »Ihre Bestellungen gehen heute aufs Haus.«
»Jeff, ich ...« Mir ist plötzlich so schlecht, dass ich Angst habe, mich auf den Boden zu übergeben.
»Ich weiß. Lass uns einfach schnell ins Krankenhaus fahren.«
Die Sonne fällt durch eine breite Fensterfront und lässt das weiße Licht der Neonröhren ein bisschen realer erscheinen. Jeff läuft mit einem Schritt Abstand vor mir her, während das Stakkato meiner Absätze durch den langen Krankenhausflur hallt und mein Puls in den Schläfen hämmert. Ich versuche, mich an den Schildern zu orientieren, die uns den Weg weisen sollen, aber die Schrift verschwimmt vor meinen Augen.
Bloß nicht weinen. Ich muss mich für Evan zusammenreißen. Wenn er wach wird, soll er sich nicht sofort Sorgen machen, weil ich total verheult aussehe.
Falls er wach wird.
Die hagere Schwester am Informationsschalter hat uns in die dritte Etage geschickt. Evan liegt auf der Neurologie. Ich male mir aus, wie er mit dem Wagen verunglückt ist und nun wegen eines schweren Schädelhirntraumas um sein Leben kämpft. Aber ich darf meiner Fantasie nicht gestatten, mit mir durchzugehen. Vielleicht ist ja alles halb so schlimm und er längst wieder bei Bewusstsein.
Jeff tritt an die Anmeldung. »Mein Name ist Montoya und mein Sohn Evan wurde vor ein paar Stunden hier eingeliefert.«
Die schwarzhaarige Ärztin, die in eine Patientenakte vertieft neben uns steht, blickt von der Mappe auf, bevor die Schwester hinter dem Schalter reagieren kann. »Evan Montoya?«, fragt sie.
»Ja.«
Sie legt die Unterlagen auf den blitzenden Tresen und schiebt die Brille, die sie wohl zum Lesen aufgesetzt hatte, nach oben ins Haar. Es ist zu einem Knoten gebunden, was ihr ein strenges Äußeres gibt – wie das eckige Kinn. »Ich bin Dr. Crane. Wir haben vorhin miteinander telefoniert. Ich behandle Ihren Sohn.«
»Wie geht es Evan und was ist überhaupt passiert?«, platzt es aus mir heraus.
Ihr Blick gleitet über mich, bevor sie die Stirn in Falten schlägt und sich wieder an Jeff wendet.
»Ich bin seine Frau«, gebe ich die Antwort auf die Frage, die sie sicherlich gerade stellen will. Nervös spiele ich an dem Silberring, den er mir vor fünf Jahren angesteckt hat.
»Begleiten Sie mich doch beide in das Besprechungszimmer.« Dr. Crane deutet mit einer ausladenden Geste zu einer Tür und dreht sich um.
Wir folgen ihr beide in ein kleines Zimmer, das von einem weißen Schreibtisch dominiert wird. Auszeichnungen hängen an den Wänden – neben einem riesigen Abbild des menschlichen Körpers.
»Bitte. Setzen Sie sich«, fordert sie uns auf.
Ich lasse mich auf einen Besucherstuhl sinken, während Jeff neben mir stehen bleibt. Dr. Crane umrundet den Tisch und klickt sich in den Computer, der zwischen uns steht.
»Ihr Sohn ist heute um 13 Uhr 30 notfallmäßig bei uns eingeliefert worden, nachdem er auf der Straße vor dem örtlichen Sozialkaufhaus zusammengebrochen ist. Zum Zeitpunkt seines Eintreffens war er zwar bei Bewusstsein, aber reagierte nur bedingt auf Ansprache. Dr. Hellers, der Notarzt, der die Erstversorgung vor Ort vornahm, vermutete zunächst einen Schlaganfall. Hier mussten wir dann aber feststellen, dass in seinen Unterlagen ein Hirnaneurysma vermerkt ist. Vor zwölf Wochen ist es zufällig beim Abklären einer Kopfverletzung diagnostiziert worden. Sie sind darüber sicher im Bild?«
Meine Stimme versagt. Ich fühle Jeffs Blick auf mir. Intensiv, wie eine Ohrfeige. Ich weiß nichts von einem Aneurysma. Evan hatte sich beim Stapeln von Kartons im Lagerraum den Kopf heftig gestoßen. Ich hatte ihn ins Krankenhaus geschickt. Er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass sie etwas Schlimmes gefunden haben.
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Wie konnte er etwas so Wichtiges verschweigen?
»Ich wusste nichts von einem Hirnaneurysma«, flüstere ich.
Jeff schüttelt entschieden den Kopf. »Nein. Was bedeutet das?«
»Ein Aneurysma ist eine sackförmige Erweiterung des Querschnitts von Blutgefäßen. Sie kann angeboren sein oder die Folge eines Traumas. Wir haben Mr Montoya zu einer schnellen Operation geraten, um die Wandveränderung des Gefäßes zu beheben, aber er wollte keinen Termin. Die Gefahr, dass ein solches Aneurysma reißt und zu Hirnblutungen führt, ist immer gegeben.«
Rasiermesserscharf ritzen sich die Worte in mein Gewissen. »Bestimmt meinetwegen. Er wollte sich nicht operieren lassen, weil er mich sonst mit dem Diner allein gelassen hätte.« Meine Stimme bricht.
Wie kann er so dumm sein? Wie kann er mit seinem Leben spielen? Er nimmt eine Hirnblutung in Kauf, bloß wegen des beschissenen Restaurants? Das ist so typisch. Vor zwei Jahren hatte er sich den rechten Arm gebrochen. Ich wollte eine Aushilfe für die Zeit, in der er den Gips trug, engagieren, aber er war nicht davon abzubringen, mich im Laden zu unterstützen. Wir haben Kredite abzubezahlen. »Gott, Evan.«
Dr. Crane verzieht die Lippen zu einer schmalen Linie. »Das Aneurysma befand sich in der mittleren Gehirnschlagader. Es ist gerissen, was wie angedeutet eine schwere Hirnblutung zur Folge hatte.«
Jeff ist blass geworden. Er streicht sich über die Augen und massiert seine Schläfen. Er sieht aus, als ob er jeden Moment zusammensacken würde.
»Setz dich hin, Jeff«, sage ich und ziehe den Stuhl neben mir zur Seite.
Er hört auf mich und nimmt Platz. Ein Hinweis, wie schlecht es um sein Innenleben bestellt ist, denn er ist an jedem anderen Tag ein Sturkopf. »Können Sie etwas tun?«, will er wissen.
»Wir haben schon etwas getan, andernfalls wäre ihr Junge jetzt tot. Ich habe einen Mikrokatheter in das Aneurysma eingeführt und die Blutung zunächst gestoppt. Das ist ein minimalinvasiver Eingriff. Leider verbietet mir die Patientenverfügung, eine größere Operation vorzunehmen. Ich brauche dafür die OP-Einwilligung von seinem Vorsorgebevollmächtigten. Es wäre sehr viel besser, wenn wir eine Klammer setzen könnten.«
»Okay, wir unterschreiben das Ding sofort.« Ein leises Kribbeln Hoffnung huscht durch meine Venen. Die Blutung ist gestoppt. Das ist ein gutes Zeichen, oder?
»Die bevollmächtigte Person, die im Namen von Mr Montoya Entscheidungen treffen kann, ist laut der notariell beglaubigten Patientenverfügung sein Bruder River.«
Mir friert der Atem ein. River soll Entscheidungen für Evan treffen? Ich kann nicht glauben, dass sie das gerade gesagt hat. Er wohnt in Los Angeles, 1800 Meilen entfernt. Sie haben kein gutes Verhältnis. River ist der letzte Mensch auf der Welt, der einen lebenswichtigen Entschluss für Evan fassen sollte.
»Ich bin seine Frau. Das hier ist ein Notfall.« Ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen anderen Weg gibt.
»Tut mir leid.« Dr. Crane schüttelt zögerlich den Kopf. »Mir sind die Hände gebunden. Ihr Mann hat die Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sehr detailliert verfasst. Ausschließlich sein Bruder darf in seinem Namen bestimmen, nachdem er über alle Risiken aufgeklärt wurde. Ich brauche seine Unterschrift.«
»Also werden wir einfach zusehen, wie er stirbt?«
»Mr Montoyas Zustand ist für den Augenblick stabil. Sein Bruder ist bereits auf dem Weg nach St. Louis. Wir versuchen Ihren Mann die nächsten 24 Stunden durchzubekommen.«
»Durchzubekommen?« Jeff wird laut. Ich sehe, was in ihm vorgeht. Ich fühle es auch. Die einbrechende Hilflosigkeit peitscht durch meinen Brustkorb und zieht mir die Kraft aus dem Körper.
Evan geht es schlecht. Richtig schlecht. River ist auf dem Weg hierher?
»Mr Montoya, die Lage ist sehr ernst. Ihr Sohn ringt mit dem Tod. Der Hirndruck steigt kontinuierlich. Wir sind dabei, medikamentös dagegen anzugehen, allerdings wird es unumgänglich sein, seine Schädeldecke zu öffnen. Wir müssen das angestaute Nervenwasser extern ableiten. Ein Hirnödem ist gefährlich. Allerdings ...«
»... dürfen Sie das nicht ohne Rivers Zustimmung tun«, beende ich den Satz.
Sie nickt und sieht dabei so niedergeschlagen aus, wie ich mich fühle.
Das ist doch absurd. Ein Blatt Papier, auf das man ein paar Anweisungen kritzelt, kann doch nicht ausschlaggebend dafür sein, ob man eine überlebenswichtige Behandlung bekommt. »Kann er sein Okay nicht am Telefon geben? Es kann doch nicht sein, dass Sie in einer solchen Situation auf ihn warten müssen.«
»Wie gesagt, das Problem besteht deshalb, weil Ihr Mann sehr detaillierte Anweisungen in seiner Bevollmächtigung hinterlassen hat. Wir brauchen die Einverständniserklärung von seinem Bruder. Im Normalfall unterschreibt die der Patient selbst, nachdem er über die Risiken aufgeklärt wurde. Ihr Mann hat im Falle seiner Einwilligungsunfähigkeit die Erklärung zum Einverständnis an seinen Bruder weitergegeben.«
»Das ist verrückt. Sollte eine bevollmächtigte Person nicht den Willen des Patienten vertreten? Woher will River denn wissen, was Evans Wunsch ist? Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Cadence, River wird alles tun, damit Evan überlebt.« Jeffs Tonfall ist wieder in der Spur.
»Das will ich auch gar nicht anzweifeln. Natürlich wird er das. Ich versuche doch nur eine Möglichkeit zu finden, Evan schneller zu helfen.«
»Die Patientenverfügung ist zwei Monate alt. Ihr Mann wusste, was er tat, als er sie verfasste. Wir müssen seinen Willen respektieren.«
»Kann er wieder gesund werden?«, frage ich.
Ich bin in medizinischen Dingen nicht unbedingt bewandert, aber dass eine Hirnblutung oft tödlich endet oder zumindest bleibende Schäden zurückbleiben können, weiß sogar ich.
»Ich kann Ihnen keine Prognose geben. Das Hirnödem betrifft die komplette rechte Hirnhälfte, die Einblutung kann zudem Hirngewebe zerstört haben. Ob und inwieweit er in Zukunft beeinträchtigt sein wird, kann ich erst sagen, wenn die Hirnschwellung zurückgegangen ist und wir weitere Untersuchungen angestellt haben.«
»Ich will zu ihm.« Ich muss mit eigenen Augen sehen, was Dr. Crane in ihrer Fachsprache ausdrückt. Evan könnte sterben. Und falls er wie durch ein Wunder überlebt, kann niemand sagen, ob er eine Behinderung davonträgt.
Mein Gott, das ist ein verdammter Albtraum. Weit weg und völlig unreal. Vor ein paar Stunden standen wir noch gemeinsam im Diner.
Warum muss das ausgerechnet ihm passieren? Er gehört zu den guten Jungs. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun soll. Er ist der Faden, der mich zusammenhält. Der eine Mensch, durch den der ganze Scheiß, der mich gespalten hat, ein bisschen erträglicher wird. Und bei Gott, da ist eine Menge Scheiße.
»Ich begleite Sie beide zu ihm. Bitte erschrecken Sie sich nicht, aber er wird zurzeit beatmet.« Sie rollt ihren Schreibtischstuhl nach hinten und steht auf.
Mein Körper gehorcht nicht. Es kommt mir vor, als wäre ich mit dem Sitz verwachsen. Ich will mich erheben, auf die Füße kommen und meinem Wunsch nachgeben, bei Evan zu sein. Aber ich bin wie gelähmt.
Jeff streicht mir über den Rücken. Er hat seine Fassung zurückerlangt, obwohl das unmöglich sein kann. »Komm schon, Cadence. Wir müssen jetzt stark sein. Für Evan.«
Ich will nicht stark sein. In mir herrscht totales Chaos. Die blanke Angst um Evan haucht mir ihren kalten Atem in den Nacken, während die Frage, wie ich den Diner allein führen soll, durch meinen Kopf schießt.
Wie kannst du jetzt an den Diner denken, Caddy?
Aber wir können es uns nicht leisten, ein paar Tage zu schließen. Wegen neuer Brandschutzbestimmungen mussten wir für den Umbau eine Hypothek aufnehmen. Wir sind auf jeden Cent angewiesen.
Ich lasse mich von Jeff auf die Füße ziehen. Er legt einen Arm um mich, während wir Dr. Crane durch die verwinkelten Gänge des St. Anthony’s folgen. Es ist ein großes Krankenhaus mit fast 800 Betten und bietet genug Platz, mich verloren zu fühlen.
Wir passieren die Tür zur ICU, der Intensivstation. Dr. Crane wechselt ein paar Worte mit einem Pfleger und weist uns an, Schutzkleidung überzuziehen. Meine Finger zittern so stark, dass Jeff mir helfen muss, den Kittel zusammenzubinden.
Mein Herz will aufhören, zu schlagen, als die Ärztin die milchige Glasschiebetür öffnet.
Ich kann Evan nicht sehen. Ich sehe einen Mann im Bett am Fenster liegen, aber er hat keine Ähnlichkeit mit meinem Mann. Ich meine, er hat seine Haarfarbe und seinen Bürstenschnitt, aber sonst ... Seine Lebendigkeit fehlt. Das verspielte Lächeln, das seine Lippen umgibt, wenn er seinen Blick auf mich richtet. Es fehlt die grüblerische Falte, die seine Stirn überzieht, sobald er in Gedanken eintaucht. Seine eigentlich gebräunte Haut wirkt schneeweiß und ein Duzend Schläuche ragen unter dem weißen Laken hervor, das man ihm übergelegt hat. Aber das Schlimmste ist die Atemmaske, die einen Großteil von seinem Gesicht verdeckt. Das Geräusch, wie die Maschine den Atem in seine Lungen presst, will mir meine Luft rauben.
Jeff bleibt auf halbem Weg zum Bett stehen. Ich trete an ihm vorbei. Jeder Zentimeter von mir schreit danach, lieber umzukehren. Nicht näher zu gehen und darauf zu warten, dass ich aus diesem Albtraum erwache. Aber mein Körper ignoriert die Einwände meines Verstandes. Plötzlich stehe ich nah vor dem Bett.
»Ich lasse Sie einen Moment allein«, sagt Dr. Crane und geht zur Tür. »Ich werde Jordan, unserem Pfleger, Bescheid geben, dass Sie sich an ihn wenden, falls Sie etwas brauchen.«
Ich strecke eine Hand aus, um sie auf Evans zu legen, und zucke in letzter Sekunde zurück. Er sieht so zerbrechlich aus. Krank. Ich will ihm nicht wehtun.
»Bitte sei stark«, wispere ich und hoffe, er kann mich hören.
Evan tut alles für mich. Wenn er hört, dass ich hier bin und ihn bitte, durchzuhalten, wird er stark sein. Er hat mir noch nie einen Wunsch verwehrt. Er hat mir noch nie wehgetan. Ich kann mich blind auf ihn verlassen.
In dieser Sekunde wird mir klar, dass es andersherum nicht so ist. Ich strenge mich wirklich an, ihm genug zurückzugeben, aber wenn ich ehrlich mit mir bin, reicht es nicht immer. Wie oft habe ich einen Streit vom Zaun gebrochen, weil mir eine seiner Unarten auf die Nerven fiel? Zum Beispiel, dass er den Fernseher auf Stand-by stehenlässt, anstatt ihn komplett auszuschalten. Oder dass er benutzte Teller in die Spüle stellt, obwohl sie in den Geschirrspüler gehören. Eigentlich machen kleine Fehler einen Menschen doch liebenswert. Wie oft habe ich etwas Hässliches gesagt, nur weil ich gerade allein sein wollte? Das hier ist das Ergebnis. Ich habe mich einmal zu oft danach gesehnt, allein zu sein. »Tu mir das nicht an, Evan.«
Er ist alles, was ich noch habe. Er ist meine Familie.
»Ich liebe dich«, kommt es mir rau über die Lippen, und mein Blick verschwimmt wie zerlaufende Wasserfarben.
Ich werde dafür sorgen, zukünftig genug zu geben. Ich kann ihn so sehr lieben, wie er es verdient. Wenn ich meine Zukunft sehe, sehe ich Evan. Das war nicht immer so, aber inzwischen kann ich mir ein Leben ohne nicht mehr vorstellen. Ich habe schon zu viel verloren.
»Ich bin stinkwütend, Megan.« Und todmüde. Ich habe knapp zweitausend Meilen zurückgelegt und nur zum Tanken angehalten. Das Letzte, das ich jetzt gebrauchen kann, ist eine endlose Diskussion, aber Megan bekommt es nicht in den Kopf. »Du hattest kein Recht, dich einzumischen. Mein Scheiß ist immer noch mein Scheiß. Ich will jetzt nicht darüber reden. Ich komme gerade in St. Louis an.«
»Er hat mich angerufen, River. Er hat mich im Büro angerufen und nach deiner Nummer gefragt. Was hätte ich tun sollen? Ihm sagen, wir kennen uns nicht? Es steht dick und breit auf meiner Homepage, dass ich dich vertrete. Er ist dein Bruder.«
»Leck mich.« Ich ziehe das Headset vom Kopf und werfe es zusammen mit dem Mobiltelefon auf den Beifahrersitz.
Es ist unfassbar, zu was sich die Leute erdreisten, wenn sie glauben, dich zu kennen. Megan Bloom hat keine Ahnung, wer ich bin. Sie kennt lediglich den Teil von mir, den ich vor sieben Jahren mit nach Los Angeles genommen habe. Das abgestumpfte Stück River. Den Part von mir, der keine Vergangenheit hat. Wie kommt sie dazu, einem ihr fremden Kerl meine Nummer zu geben, bloß weil er behauptet, mein Bruder zu sein? Ich bin sicher, dass ich ihr gegenüber nicht einmal seinen Namen erwähnt habe. Der Typ am Telefon hätte ebenso gut ein Verrückter sein können. Immerhin ist nun das Rätsel gelüftet, woher in drei Teufels Namen Evan meine Kontaktdaten hatte.
Herzlichen Dank, Megan.
Wenn es nicht um meine Karriere ginge und die Serienrolle bei Allow Entertainment nicht mein Traum wäre, würde ich sie mit der Vertragsunterzeichnung gegen die Wand fahren lassen. Ich habe ihr versprochen, nicht länger als zwei oder drei Tage in Missouri zu bleiben, damit wir das Baby in trockene Tücher legen. Im Grunde ist mir das schon zu viel. Je eher ich diesem Kaff den Rücken zuwenden kann, desto besser.
Ich ziehe den Ford auf die rechte Spur und nehme die zweite Ausfahrt.
»Willkommen im Niemandsland, Junge.« Ich schalte das Navigationssystem aus, auf das ich schon ein paar Stunden keinen Blick mehr geworfen habe.
Streng genommen ist St. Louis natürlich kein Niemandsland. Es ist eine verdammt große Stadt mit 300.000 Einwohnern, allerdings hat L. A. annähernd dreieinhalb Millionen mehr. Es herrscht Mittagsverkehr, was bedeutet, dass ich an der nächsten Ampel anhalten muss. Und an der danach. Links und rechts von mir erstreckt sich ein Gewerbegebiet und die ersten Gebäude des St. Anthony’s tauchen auf. Als Neunjähriger habe ich eine Woche im Krankenhaus verbracht, weil ich den Blinddarm rausgenommen bekam, und mich tierisch vor dem riesigen Kreuz auf dem Haupthaus gefürchtet. Evan sagte damals, das Kreuz wäre ein Andenken an die vielen Patienten, die während den Operationen versterben. Wir sind nicht besonders christlich erzogen, ich habe ihm natürlich geglaubt und mir fast in die Hosen gemacht.
Tja, man sollte den Teufel wohl nie an die Wand malen, Evan.
Ich schalte die Klimaanlage aus und lasse das Fenster hinunter. Es ist warm draußen, obwohl die Sonne dabei ist, unterzugehen. Die Luft ist feucht. Mir ist klar, dass dieser Moment etwas mit mir anstellen wird. Ich wehre mich dagegen, weil manche Gefühle besser nicht an die Oberfläche brechen, aber es passiert einfach. Für eine idiotische Sekunde fühlt es sich an, wie nach Hause zu kommen.
Das hier ist nicht mehr dein Zuhause, du Spinner.
Auf dem Klinikparkplatz stehen nur wenige Autos. Ich halte direkt beim Haupteingang, besorge einen Parkschein und nehme die Sonnenbrille ab, die ich mir an den V-Ausschnitt meines weißen Shirts klemme.
Ich hätte Millionen Gründe, das Krankenhaus nicht zu betreten. Evan hat mich wie ein Stück Dreck behandelt. Von jetzt auf gleich, ohne dass ich ihm einen Anlass gegeben hätte. Wir haben uns immer gut verstanden, und ich kann mir bis heute nicht erklären, was plötzlich in ihn gefahren war. Er hat Öl ins Feuer gegossen, als ich mich mit unseren Eltern überwarf, und sich auf ihre Seite geschlagen. Er hat ganz Crestwood erzählt, dass ich sie im Stich lasse, und mich schlecht gemacht, wann immer er konnte. Und er hat mir mein Mädchen weggenommen. Niemand kann mich zwingen, für dieses Arschloch irgendeine Entscheidung zu fällen. Aber er ist mein Bruder. Ich denke nicht, dass ich es mir verzeihen könnte, seinen Wunsch ignoriert zu haben, falls er wirklich draufgehen sollte.
Die elektrische Glastür gleitet auseinander.
»Hi. Mein Name ist River Montoya und ich müsste zu der behandelnden Ärztin meines Bruders Evan, der bei Ihnen Patient ist. Mir ist der Name leider entfallen.«
Die rothaarige Dame hinter dem Schalter in der Empfangshalle blickt kurz zu mir auf. »Einen Moment, ich sehe im Computer nach.«
Mein Blick fährt durch den runden Raum. Das letzte Mal, als ich hier war, lag er mit Teppichböden aus, aber jetzt glänzt er durch weiße Fliesen, auf denen farbige Pfeile eine Orientierungshilfe geben. Ein paar Leute stehen vor einem Kaffeeautomaten.
»Dritte Etage, Neurologie. Dr. Crane ist noch im Haus, aber sie hat in zehn Minuten Feierabend.«
»Rufen Sie an und sagen Sie ihr, sie soll bitte warten.«
»Mache ich.«
»Danke.«
Ich laufe an den Fahrstühlen vorbei und drücke die Tür zum Treppenhaus auf. Mein Magen fühlt sich an, als wolle er sich einmal herumdrehen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln brennt in der Nase. Evan liegt auf der Neurologie, was mir nicht gerade beruhigend vorkommt.
»Mr Montoya?« Eine kleine schwarzhaarige Frau mit straff zusammengebundenem Haar, fängt mich ab, als ich die Station erreiche. Ihr Namensschild auf dem Kittel weist sie als Evans Ärztin aus.
»Können Sie hellsehen?«
Ihre Stirn kräuselt sich. »Unsere Empfangskraft hat Sie angekündigt. Ich bin Dr. ...«
»Crane«, nehme ich ihr das Wort aus dem Mund und zeige auf ihr Namensschild. »Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.«
Sie rümpft die kurze Nase, lässt sich aber nicht aus der Routine bringen. »Wir können uns im Besprechungszimmer unterhalten oder ich bringe sie zuerst zu Ihrem Bruder. Es liegt bei Ihnen.«
»Bin ich verpflichtet, ihm einen Besuch abzustatten?« Die Frage ist daneben. Mein Verhältnis zu Evan geht niemanden etwas an und schon gar nicht die fremde Ärztin. Allerdings ist es manchmal besser, den Leuten den Wind aus den Segeln zu nehmen, bevor sie auf die Idee kommen, Spielchen mit einem zu spielen.
Ich verzichte gern auf traurige Versuche, mich von einem Besuch bei Evan überzeugen zu lassen. Ich will ihn nicht sehen.
Dr. Crane blinzelt irritiert. »Nein, Sie sind natürlich nicht verpflichtet.«
»Schön. Dann nehme ich Angebot A. Wir reden und bringen den Papierkram hinter uns.«
Sie macht auf dem Absatz kehrt und führt mich an der Anmeldung und einem Besucherzimmer vorbei in einen winzigen Raum. Ich schnappe mir einen Stuhl und setze mich vor den Schreibtisch, hinter dem sie Platz nimmt.
»Mr Montoya, Ihr Bruder hat eine Subarachnoidalblutung durch ein rupturiertes Hirnaneurysma davongetragen. Wir konnten die Blutung stoppen, allerdings steigt sein Hirndruck trotz der Gabe hoch dosierter Osmotherapeutika. Da das Hirngewebe eine sehr niedrige Sauerstoffmangeltoleranz hat und schon nach kürzester Zeit irreversible Schäden davonträgt, müssen wir schnell handeln. Wir würden heute noch eine Entlastungskraniektomie durchführen, wenn Sie Ihr Einverständnis für die OP geben. Dabei wird ein Teil der Schädeldecke ...«
»Heilige Scheiße.« Eine kalte Faust drückt mir die Kehle zusammen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht, dass die Lage nicht so ernst ist, wie man mir weismachen wollte, oder dass es mir am Arsch vorbeigeht, was mit Evan los ist. Ein gerissenes Hirnaneurysma. Mir ist, als würde ich in ein tiefes Loch stürzen.
Dr. Crane macht eine Pause. Ihr wissender Blick brennt mir ein Loch in die Brust. »Alles in Ordnung?«
Was für eine beschissene Frage. »Wissen Sie, Doc, vielleicht ist es keine gute Idee, wenn Sie mir das alles erzählen. Sie sind die Ärztin. Tun Sie, was auch immer getan werden muss, um meinen Bruder zu retten.«
»Sie müssen wissen, was Sache ist, wenn Sie sich im Namen Ihres Bruders für den Eingriff entscheiden. Vergessen Sie nicht, dass Sie dazu verpflichtet sind, seinen Willen zu vertreten.«
Seinen Willen vertreten. Was für ein Schwachsinn. »Evan ist 29 Jahre alt. Er hat eine Frau, die sich wahrscheinlich große Sorgen macht, und, soweit ich weiß, ein gut laufendes Restaurant. Ich schätze, in erster Linie will mein Bruder überleben, und damit er das kann, muss ich mich auf Ihre Meinung verlassen. Alles andere ist völlig irrelevant.« Ich klinge beherrschter als ich bin. Das vernichtende Gefühl, das wie flüssiges Gift durch meinen Körper schießt, versucht sich einen Weg in meine Augen zu schleichen. Das letzte Mal, dass ich mit einer so üblen Nachricht klarkommen musste, war der Tag, an dem mir Cadence beichtete, sie wäre mit Evan im Bett gewesen. Nein, nicht mal die Nachricht war so übel wie ein Hirnaneurysma.
Dr. Crane verzieht verärgert den Mund. Eine Ewigkeit fechten wir ein Duell mit Blicken aus. Sie hat keine Chance gegen mich. Es dauert eine Weile, bis sie begreift, nicht gewinnen zu können, aber dann öffnet sie eine Schreibtischschublade und heftet ein paar Formulare aus einem Ordner. Zusammen mit einem Ausdruck schiebt sie das Papier über den Tisch.
»Mit Ihrer Unterschrift auf dem letzten Blatt bescheinigen Sie uns, dass sie die davor aufgeführten Risiken einer Narkose verstanden haben und die Operation durchführen lassen wollen. Daneben finden Sie spezifisch zur Operation die Liste der Dinge, die bei einem solchen Eingriff schiefgehen können. Bitte lesen Sie die Punkte sorgfältig.«
Ich überfliege die Unterlagen. Es ist der übliche Mist, der einen, wenn man genauer hinsieht, dazu bringt, auf keinen Fall zu unterschreiben. Statistisch gesehen sind die Chancen, dass man eine Embolie bekommt oder einem das Herz stehen bleibt, wohl eher gering.
Ich fische einen Stift aus einem Glas neben dem Computer, ziehe die Kappe mit den Zähnen ab und unterschreibe die Papiere.
»Wollen Sie eine Kopie von der Patientenverfügung?«
»Ja, das wäre nett.« Wenn mein Name schon auf diesem Zettel steht, sollte ich zumindest den Inhalt kennen.
Dr. Crane klickt sich in den Computer. Schweigen senkt sich über das Zimmer, während der Drucker Papier einsaugt.
»Glauben Sie mir, das ist auch für uns eine höchst ungewöhnliche Situation. Normalerweise wissen die Leute, die ein Patient in seiner Vorsorgevollmacht benannt hat, darüber Bescheid.«
»Tja, normal war meine Familie noch nie.«
Die Ärztin atmet durch. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Mr Montoya, aber ...«
»Dann lassen Sie es. Treten Sie mir nicht zu nah.«
Ich brauche keine Belehrung darüber, dass sich Evan etwas dabei gedacht haben könnte, meinen Namen in diese verdammte Verfügung zu schreiben. Ich will nicht hören, er wolle vielleicht das Kriegsbeil begraben oder mich mit der Familie versöhnen, indem er mich herbestellt. Ich sitze hier und rette ihm seinen Arsch. Das ist mehr, als irgendjemand von mir erwarten kann.
Ich stehe auf, als Dr. Crane mir einen Abzug der Patientenverfügung reicht. Ich falte sie zusammen und schiebe sie in meine hintere Jeanstasche.
Sie erhebt sich ebenfalls. »Ich opfere dann wohl meinen Feierabend und bereite die Operation vor. Sie sind in der Nähe, für den Fall, dass wir Sie noch einmal brauchen?«
»Ja. Ich suche mir ein Motel und werde ein paar Tage in der Gegend sein.«
Sie nickt. »Gut. Wir rufen Sie an, sollten wir noch etwas von Ihnen benötigen.«
Ich wende mich um und gehe zur Tür. Bevor ich die Klinke hinunterdrücke, drehe ich mich allerdings noch mal um. »Würden Sie mich auch anrufen, wenn er aus dem OP raus ist?«
Der Anflug eines Lächelns huscht über ihre Mundwinkel und ich bereue die Frage sofort.
»Selbstverständlich.«
Ich ziehe die Tür auf und laufe beinahe gegen einen Mann, der mich noch um ein paar Zentimeter überragt.
»River?«
Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder. Der kräftige Mann vor mir ist mein Vater. Sein Haar ist heller geworden, was an den grauweißen Strähnen liegt, die sich durch das dunkle Blond ziehen. Tiefe Furchen untersetzen seine grünen Augen und das stoppelige Kinn deutet darauf hin, dass er es am Morgen eilig gehabt hat. Er steckt in einem sauberen Arbeitsoverall. Für einen Gedanken lang will ich ihn einfach zur Seite schieben und der Situation aus dem Weg gehen. Aber ich bin kein Feigling.
»Hey«, bringe ich hervor, obwohl sich meine Lippen nur träge bewegen. Ich habe gehofft, niemandem aus meiner Familie zu begegnen. Ein Bündel Gefühle drückt gegen meinen Kehlkopf. Enttäuschung. Wut. Ein schwacher Funke Verletztheit. Acht Jahre lang haben es meine Eltern verdammt noch mal nicht geschafft, über ihren Schatten zu springen. Ich habe sie nach meinem Umzug nach L. A. ein paar Mal angerufen und nichts als Vorwürfe gehört. Dann haben sie einen Schritt auf mich zu gemacht und versucht, Kontakt aufzubauen. Mit demselben Ergebnis. Jeder Wortwechsel zielte darauf ab, mir ein schlechtes Gewissen zu machen und mich zurück nach Crestwood zu holen. Meine Mom war sogar frech genug, mir eine Einladungskarte zu Evans und Cadence’ Hochzeit zu schicken.
»Du bist wirklich gekommen«, sagt er leise.
»Es ist nicht so, als hätte Evan mir eine Wahl gelassen.«
»Hast du dein Einverständnis zur Operation gegeben?«