Wie gut siehst du, wie schlecht du siehst? - Rolf Friedrich Schuett - E-Book

Wie gut siehst du, wie schlecht du siehst? E-Book

Rolf Friedrich Schuett

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Beschreibung

Europäische Moralisten und ein Ende? Gibt es Philosoph(i)en auch für Kranke? Wird Schwarzweißmalerei uns schon zu bunt? Ist an einem Lob der Faulheit schon etwas faul? Nur Eitelkeit kann Eitelkeiten rühmen oder rügen. Mit rund 400 neuen Aphorismen und Fragmenten. I N H A L T : Heile Philosophien für Krebskranke oder geisteskranke Philosophien für Kerngesunde? Verstand spenden, den man nicht hat? Rezension einer Philosophie-Olympiade Popolitik in Poesie, Popoesie in Politik Aphorismenband: Expansion der Verdichtungen,Inflation der Konzentrationen Deine Eitelkeit hilft, deinen Stolz zu besiegen Promi oder Promesse de bonheur Schwarzer Schnee in weißer Nacht Faule Eier im maulfaulen Sack Pascal : ´Pensées' La Bruyère : ´Charaktere´ (1688) Paul Valéry : ´Cahiers´ JESAJA und Fernöstliches Drei Quasi-Drabbles

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INHALT

Heile Philosophien für Krebskranke …

Verstand spenden, den man nicht hat?

Rezension einer Philosophie-Olympiade

Popolitik in Poesie, Popoesie in Politik?

Aphorismenband

: Expansion der Verdichtungen, Inflation der Konzentrationen

Deine Eitelkeit hilft, deinen Stolz zu besiegen Promi oder Promesse de bonheur

Schwarzer Schnee in weißer Nacht

Faule Eier im maulfaulen Sack

Pascal

: „Pensées“

La Bruyère

: „Charaktere“ (1688)

Paul Valéry

: „Cahiers“

JESAJA und Fernöstliches

Drei Quasi-Drabbles

Für Elke in Liebe und Dankbarkeit

Heile Philosophien für Krebskranke oder geisteskranke Philosophien für Kerngesunde?

Den Gebrechen gebricht es etwas an Gesundheit. Krankheit ist temporär oder chronisch beeinträchtigte Leistungsfähigkeit zu gesellschaftlichen Rollenspielen, durch organische oder psychische Funktionsstörungen von Organen oder auch des Gesamtorganismus. Krankheit ist Schwäche und Hinfälligkeit zwischen Pathos und Pathologie, ein unentwirrbarer Mix aus wertem Sein und Sollwerten. Krankheit ist Defizit an leiblichem Wohlergehen und seelischem Wohlbefinden. Wer nicht heil ist, wird geheilt oder nicht. Gesundheit ist mehr and anderes als Pflegeunabhängigkeit und Mangel an Krankheiten. Sie ist heute die spezifische Geisteskrankheit aller Genuss- und Erwerbsfähigen mit ihren Selbstoptimierungsmöglichkeiten, Kompetenzen und Lebenszielen.

Max Horkheimer wies einmal beiläufig darauf hin, dass Philosophie eigentlich immer nur Philosophie für gesunde Menschen bedeutete. Was aber könnte sie dann bedeuten etwa für chronisch Schwerkranke, Moribunde oder gar Hypochonder, für Blinde oder Krüppel, Schizophrene oder Manisch-Depressive, Krebspatienten oder gar stationäre Pflegefälle, Schlaganfallopfer oder auch nur für passagere Unfallopfer? Ist die Philosophiegeschichte dazu nur etwas zu modifizieren und anzupassen in einigen Unterkapiteln, oder sind manche Philosopheme besonders anschlussfähig an bestimmte Krankheitsbilder?

Welche Metaphysik hilft physisch Kranken potentiell wieder auf die Beine? Welche Denker oder Philosophieprofessoren haben nachweislich kurative oder prophylaktische Wirkungsgeschichte gemacht? Pflegt ein optimistischer Jaspers der Grenzsituationen den suizidgefährdeten Melancholiker besser als ein misanthropischer Schopenhauer des verneinten Lebenswillens? Unterstützt der nihilistische Nietzsche den immer wieder rückfälligen Bipolaren erfolgreicher als der thomistische Religionsphilosoph? Erhofft man sich von der Religion Heilung wie das Heil? Mancher macht sich krank, um nicht handeln zu müssen, oder ist man nur engagiert in die Bekämpfung seiner Gebresten, die Engagements behindern?

Gibt es so etwas wie einen Platonismus des Geisteskranken mit fixen Ideen oder einen spezifischen Materialismus somatischer Störungen? Ist ein Rationalismus von Schizophrenen sinnreich oder ein Empirismus von lebenslangen Rollstuhlfahrern, sogar ein linguistic turn für Taubstumme? Was wäre mit einem Stoizismus oder Epikureismus von dauergeschädigten Infarktopfern, mit transzendentalem Subjektivismus der Befindlichkeiten gegen den Naturalismus objektiver Laborbefunde, mit Dialektik von Diagnose und Diätetik, von Krankheit und Gesundheit?

Wer entwickelt einen Existenzialismus kipplabiler Existenzen zwischen Lotterbett und Krankenbett? Wer vertritt einen Neopositivismus positiver oder negativer Laborwerte, den Strukturalismus der Kliniken und Biopolitiker, einen Dekonstruktivismus von Symptomen, Heilmethoden, Therapiekonzepten und REHA-Kuren? Gibt es eine "Kritische Theorie" von Gesundheitskrisen?

Blinde werden hellhöriger. Adlers „Organminderwertigkeiten“ werden gut und gern überkompensiert durch forcierte Entwicklung ganz besonderer Fertigkeiten und Geschicklichkeiten. – Nietzsche kränkelte lebenslang unter wahrscheinlich syphilitischer Paralyse und entwickelte dazu eine Kompensationsmetaphysik von outrierter Übergesundheit.

Wie sähe Philosophie denn als leidenschaftslose Weisheit menschlicher Leidensgeschichten aus? Kant sah uns qualvoll leiden an wahllosen Leidenschaften und getrieben von unseren eigenen Trieben. Der antike Arzt Hippokrates machte die Medizin zu Aphorismen, Kant hingegen den geistreichen Witz zur wirksamen Medizin. In Lachen und Scherzen sah er eine Arznei von Herzen gegen die Schmerzen menschlichen Elends.

Was denkt der Mensch, wenn er nicht mehr handeln kann, sondern behandelt werden muss und seine ganze Praxis nur noch in einer ärztlichen Praxis stattfindet? Denkt er sich eine heile Welt, heiliges Heil oder an heile Knochen? Was, wenn sein Rückgrat zu gebrochen ist, um Zivilcourage zu beweisen, und wenn die aufreizenden Übel der zerbrochenen Welt ihm Übelkeit und Brechreiz bereiten? Macht die Gangunsicherheit seine Erkenntnisse ungewisser und jedes angedrehte soziale Schwindelgeschäft ihm anhaltenden Drehschwindel? Können unerträgliches Kopfweh und erzphilosophisches Kopfzerbrechen einander verstärken? Die Kausalität lässt sich auch untersuchen durch Krankheitsursaschen und Wirkstoffe. Manche gesellschaftlichen Aktionen werden zu chirurgischen Operationen am offenen Herzen und Occams Messer zu scharfen Skalpellen. Wer an der Allgemeinheit leidet, geht zum approbierten Allgemeinmediziner?

Wenn nichts mehr geht, liegt es zuweilen an arteriellen Verschlussleiden. Ärztliche Anamnese von Krankenvorgeschichten spiegeln wohl auch Platons Anamnesis der Präexistenz. Wittgenstein sah Philosophie als Sprachtherapie. Die philosophischen Hauptrollen von Haupt, Brust und Bauch verhalten sich wie physiologische, psychische und psychiatrische Insulte. Der Mensch zwischen Leben und Tod hängt zwischen Exitus und Vitalfunktionen. Wie sieht eine gute Philosophie aus, wenn es dir nicht gut geht? Ist immer wirklich gut, was nur gut tut und geht! Bin ich moralisch schlecht, wenn es mir gesundheitlich schlecht geht? Die heile Welt ist ja nicht alles, was der Krankheitsfall ist, und wann wird Heideggers „Haus des Seins“ zum Krankenhaus für Sprachgestörte? Wie passt die ontologische Demenz zu Heideggers „Seinsvergessenheit“, und kann das große Blutbild zum kleineren Weltbild führen wie falsche Sehweise augenblicklich zum Augenarzt? Wie verhält sich eine Philosophie des Autoritätsgehorsams zum niedergelassenen Ohrenarzt?

Pascals „Herz hat seine eigenen Gründe“, zum Kardiologen zu gehen und zum Nephrologen, wenn das Leben nur an die Nieren geht. Haben Nervenärzte die rechte Philosophie, wenn die Welt dir nur noch auf den Geist geht? Musst du zum Proktologen, untersucht er die Hinterngründe der Hinterwelten? Wenn deine Weltanschauung zur Krankenzimmeranschauung schrumpft und die begriffliche Konfusion der Transzendenz zu handgreiflichen Bluttransfusionen? Was denkt das menschliche Geschlecht über die schlechte Scheißwelt der Geschlechtskranken? Was manchem zu tief unter die Haut geht, sagt die dermato-logische Philosophie. Was soll Krebs mit den Metastasen der Metaphysik?

Aristoteles litt und starb an lebenslanger Magenkrankheit, Descartes hatte eine zarte Gesundheit und starb ebenso vorzeitig an einer Lungenentzündung. Spinoza litt lange und starb auch an der Lungenschwindsucht durch Glasstaub beim Brillenschleifen. Leibniz dachte nach unter schmerzhafter Gicht, und sein kongenialer Erbe Wittgenstein starb früh an unbehandeltem Prostatakrebs. Hegel schnupfte beim Denken cannabishaltigen Tabak, bis er früh an der Cholera starb. Walter Benjamin dachte nach im Haschischrausch, Sartre unter der Droge Peyotl-Meskalin und Unmengen von aufputschenden Amphetaminen. Der Couch-Freud kokste wie Migräne-Dionysos Nietzsche.

Aufklärung : Verstand spenden, den man nicht hat?

Wer hat Verstand zu "spenden", also zu verschenken? Wer ist da Verstandesempfänger, wer braucht etwas mehr Verstand, und wer bittet oder betet eigentlich um mehr Verstand statt Wohlstand? Welches Problem verlangt Verstand, und wer glaubt keinen zu haben? Wer hat überhaupt genug Sinn und Verstand, um davon noch etwas auszuteilen? Man muss Steuern zahlen, aber kann Verstand statt Blut oder Geld (oder Blutgeld) spenden? Wer steht nicht auf Verstand, und wer hat mehr Glück als Verstand?

Ein anderes Wort für Verstand war mal "Witz", also Geist und Esprit, der mehr ist als Infotainment oder dröge Aufklärung. Franzosen seit Montaigne haben mehr Sinn dafür als schwerfällig gründliche und betulich seichte Deutsche seit Wolff.

In seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" schrieb Hegel übers Aufklärungszeitalter:

„Lebhafter, bewegter, geistreicher ist die französische Philosophie; oder vielmehr ist sie das Geistreiche selbst ... Was daher in den französischen philosophischen Schriften ... bewundernswürdig ist, ist diese erstaunliche Energie und Kraft des Begriffs gegen die Existenz, gegen den Glauben, gegen alle Macht der Autorität seit Jahrtausenden ... Bei den Deutschen finden wir Quäkelei ... Die französische Philosophie hat eine negative Richtung gegen alles Positive, gegen Religion, Gewohnheiten, Sitten, Meinungen, gegen den Weltzustand in gesetzlicher Ordnung, Staatseinrichtungen, ebenso gegen Kunst ... Wir Deutschen sind passiv erstens gegen das Bestehende, haben es ertragen; zweitens, ist es umgeworfen worden, wir haben es uns nehmen lassen ... Die Deutschen, die ehrlicherweise die Sache recht gründlich machen wollten und an die Stelle des Witzes und der Lebhaftigkeit eigentlich nicht beweisen, bekamen auf diese Weise einen so leeren Inhalt in die Hände, dass nichts langweiliger als diese Behandlung sein kann ... es ist steife Pedanterie. Die deutsche Aufklärung, welche ohne Geist mit verständiger Ernsthaftigkeit und dem Prinzip der Nützlichkeit die Ideen bekämpfte, brachte auch die Metaphysik zur letzten Leerheit herunter ... bis Kant der Philosophie in Deutschland einen neuen Anstoß gab."

(Theorie Werkausgabe Band 20, Frankfurt/Main 1971, S. 287 ff.)