Wilde Wut - Friederike Schmöe - E-Book

Wilde Wut E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Babs verliert ihre Wohnung in der UNESCO-Welterbestadt Bamberg an einen Immobilienhai. In ihrem Zorn schließt sie sich einer Anti-Gentrifizierungsgruppe an. Diese veranstaltet Pop-up-Demos in der Innenstadt und hetzt in den sozialen Medien gegen Makler, die Häuser im beliebten Zentrum aufkaufen und zu Luxusapartments umbauen. Als ein bekannter Wohnungsmakler tot aufgefunden wird, gerät Babs ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Privatdetektivin Katinka Palfy soll helfen.

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Friederike Schmöe

Wilde Wut

Kriminalroman

Zum Buch

Wut macht verwundbar Babs, in prekärer Jobsituation und psychisch unter Druck, verliert ihre Wohnung in der UNESCO-Welterbestadt Bamberg an einen Immobilienhai. In ihrem Zorn schließt sie sich einer Anti-Gentrifizierungsgruppe an. Diese veranstaltet Pop-up-Demos in der Innenstadt, oft solche, die nicht genehmigt sind. Die Behörden sind bereits auf die Gruppe aufmerksam geworden. Ihre Mitglieder hetzen in den sozialen Medien gegen Makler, die Häuser im beliebten Zentrum aufkaufen und zu Luxusapartments umbauen. Dann wird ein alteingesessener Wohnungsmakler tot aufgefunden. Babs gerät ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Hauptkommissar Hardo Uttenreuther hält sie für die Täterin. Um ihre Unschuld zu beweisen, wendet sich Babs ausgerechnet an dessen Lebenspartnerin Privatdetektivin Katinka Palfy. Die hat gerade selbst jede Menge Ärger: Jemand versucht mit allen Mitteln, sie zum Verkauf ihres Hauses zu überreden. Doch sie nimmt die Herausforderung an – und riskiert ihre Beziehung zu Hardo.

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

Impressum

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman sind erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und Handlungen im wirklichen Leben müssen daher Zufall sein. Ab und zu habe ich eine Straße anders benannt oder ein wenig umgebaut – im Sinne der künstlerischen Freiheit. Entsprechend habe ich die hier beschriebene Polizeiarbeit der Dramaturgie unterworfen, gestrafft und teils verändert, um die Spannung und das emotionale Potential zu erhöhen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Paal / shutterstock.com

ISBN978-3-8392-7812-3

Montag

1.

Ein schmales Schlafsofa, eine Kommode, ein niedriger Tisch. Tee, dampfend, in einer Kanne.

»Versprichst du mir, dass du mich nicht in die Psychiatrie schickst?«

»Natürlich nicht, du Dummchen.«

»Ich kann nicht mehr, verstehst du? Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Und diese ständigen Schmerzen …«

»Bleib hier bei mir. Das ist besser, als …«

»Du hast doch selbst kaum Platz.«

»Wir würden schon zurechtkommen.« Tee wird in ein Glas gegossen. Dunkelrot und duftend. »Bitte. Nimm dir.«

»Weißt du«, ein Schluchzen, das Ringen um Worte, »ich finde keine Ruhe. Es ist kalt. Ich wache auf, will mich umdrehen, rutsche fast auf den Boden. Manchmal geht jemand vorbei, ganz nah. Dabei bekomme ich Gänsehaut. Ich fange an zu zittern. Ich will weinen, aber es kommt keine Träne. Meinst du, ich sollte es mit Schlaftabletten versuchen?«

»Warum bleibst du so weit draußen?« Die Frage war keine Frage, sondern ein Sammelsurium an Resignation, Müdigkeit, Hoffnungslosigkeit.

Nebenan klappte eine Tür, jemand betrat die Toilette. Durch die Wand war deutlich zu hören, wie jemand sich erleichterte, gefolgt von einem behaglichen Stöhnen.

»Bitte, bring mich nicht in die Psychiatrie.«

Die Toilettenspülung ging.

»Niemals. Das verspreche ich dir.«

»Das ist alles nur die Schuld von diesen Dreckschweinen.«

Eine Antwort blieb aus.

»Findest du nicht?« Insistieren. Bohren. Zustimmung einholen. Dringlichkeit. »Ist doch so! Ich könnte diesen …«

»Hör auf!« Das kam schärfer als beabsichtigt. »Das hilft jetzt nichts.«

Schweigen, quälend. Ein Sog bildete sich, saugte an der Normalität einer Szene, in der zwei Menschen Tee tranken. Zugleich stülpte sich eine finstere Vorahnung über den Raum.

»Du, ich finde mein Halstuch nicht mehr. Das weiße.« Nun flossen doch Tränen, brachen los und hörten abrupt auf.

»Das mit dem grauen Blütendruck? Hier bei mir habe ich es nicht gefunden.«

»Ich kann es erst kürzlich verloren haben. Neulich. Du weißt schon, da hatte ich es noch.«

Die Atmosphäre lud sich mit Zweifeln auf. Mit Skepsis und – Angst.

»Ein weißes Halstuch?«

»Ja, du kennst es doch!«

Mehr Argwohn. Mehr Angst. Das Zimmer war voll davon. Es würde jetzt auch nichts helfen, das Fenster zu öffnen. Diese Art Mief zog nie ab.

»Das geht so nicht weiter. In ein paar Wochen, wo soll ich dann hin?«

Auf dem Gang klappte wieder eine Tür. Zugleich läutete es. Viermal.

»Nicht für mich.«

»Ihr seid doch viel zu viele Leute hier drin. Wie hältst du das aus?«

»Ich habe ein Dach über dem Kopf. Wie hältst du das aus, was du machst?« Schärfe stahl sich in die Stimme, die eben noch empathisch gewesen war.

»Mache ich nicht freiwillig.«

»Du wirst noch verrückt dabei. Übernachte bei mir, wenigstens bis zum Ende der Woche, damit du mal wieder richtig schläfst. Ich habe im Keller eine Gästematratze, die holen wir rauf.«

»Finden deine Mitbewohner bestimmt nicht gut. Nein, ich bleibe draußen auf dem Land. Ist ja nur vorübergehend.«

»Die anderen hier geht das nichts an. Jeder macht sowieso, was er will.«

»Ich gehe jetzt lieber.«

»Bist du sicher? Bleib doch noch.«

»Nein, ich halte das nicht mehr aus in diesem winzigen Zimmer, tut mir leid. Du vergisst nicht, was du versprochen hast, ja, dass du mich nicht in die Psychiatrie bringst?«

»Um Himmels willen, natürlich nicht.«

Jemand riss die Wohnungstür auf, zwei Männer begrüßten einander, laut lachend. Der Ankömmling war betrunken. Etwas krachte gegen die Wand.

Erneut schlug eine Tür, die Stimmen wurden leiser.

»Ich bring dich noch runter.«

Dienstag

2.

Der Regen tauchte den Abend in schmutziggraues Halbdunkel. Die Luft roch nach Erde. Als Michael um die Ecke bog und über die weit geschwungene Brücke lief, stand sein Vater schon da. Die gelblichen Straßenlaternen überzogen ihn mit einem Firnis aus mattem Licht. Er hielt einen Schirm über sich, als müsse er sich vor einem atomaren Fallout schützen. In Michaels Kopf sprühten Funken. Er kochte vor Zorn.

»Du bist spät dran«, sagte Günther.

»Ach ja? Bestimmst du jetzt den Gang der Uhren?«

»Hast du getrunken? Oder dir das weiße Zeug in die Nase gezogen?«

Michael rieb sich die Schläfen. Sie standen hoch über dem rechten Regnitzarm, der wenige Meter weiter mit dem Main-Donau-Kanal zusammenfloss. Auf der langgestreckten Insel unter ihnen lag düster die Skate-Anlage, wo tagsüber die Freaks mit ihren Boards Akrobat spielten.

»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Michael hörte Günthers Stimme verzerrt. Als spräche er in eine Blechschüssel.

»Du bist so ein mieser Mensch.«

»Ich verlange, dass du mit mir an einem Strang ziehst. Wir sorgen dafür, dass diese Sozen endlich vor den Kadi gestellt werden, wo sie hingehören. Dieses Geschmeiß wird mir nicht mehr in die Quere kommen.« Ein Windstoß riss ihm den Schirm beinahe weg. Regen floss in sein Haar und über sein Gesicht.

»Du denkst nur an dich. Hast du schon mal überlegt, dass diese Leute ein berechtigtes Anliegen haben?«

»Eigentum muss geschützt werden. Das lasse ich mir nicht nehmen. Ich habe schon härtere Zeiten durchgemacht.«

»Eigentum verpflichtet.«

»Halt die Klappe.«

»Du bist Dreck.« Michaels Stimme überschlug sich. »Ich habe es immer gewusst. Du hast Liliane rausgedrängt. Weil du den Alleinherrscher spielen musst. Andere an Entscheidungen beteiligen? Nichts liegt dir ferner.«

»Du bist total auf Droge, Junge.« Günther zog ein weißes Tuch aus der Tasche. Er rieb sich damit über Stirn und Wangen.

»Was willst du tun? Mir den Mund verbieten?« Michael lachte hysterisch. »Versuch’s doch.« Er ging ein paar Schritte auf seinen Vater zu. »Na los! Lebe deinen Sadismus aus! Fang schon an! Was bin ich denn für dich? Immer noch nichts anderes als ein krakeelendes Kleinkind, das nur stört?« Er streckte beide Arme aus, als wolle er fliegen. »Schau nur runter. Wie schwarz das Wasser ist. Das könnte mich verschlucken. Du wärest alle deine Pro­bleme los.« Er schämte sich seiner Verzweiflung und war gleichzeitig außerstande, seine Tirade zu beenden. »Für wen hältst du dich? Für Gott? Du warst schon immer größenwahnsinnig und hast andere mit deiner Überheblichkeit terrorisiert. Wenn ich an Mutter denke. In den Dreck getreten hast du sie.«

Ein Auto fuhr vorbei. Schneller als die erlaubten 50 Stundenkilometer. Die Lichtkegel streiften die beiden Männer nicht einmal. Michael spürte die Schwingungen der Brückenkonstruktion unter seinen Füßen.

»Du bist ein Nichts«, schnarrte Günther. »Du wirst die Firma zugrunde richten. Was mein Vater und ich aufgebaut haben, in Jahrzehnten, du würdest es wegwerfen. In wenigen Wochen.«

»Warum lässt du Liliane nicht einsteigen?« Er brachte es leise vor. Seine Entschlossenheit, mit der er hierhergekommen war, auf diese nasse, kalte, widerliche Brücke, brach weg. Sein Blick fing sich in den Lichtern jenseits des Kanals. Wohnblocks mit gelben Fenstern. Das bläuliche Licht einer Tankstelle. Normale Menschen, die an diesem verregneten Frühlingsabend ihren Beschäftigungen nachgingen. Abendbrot, Fernsehen, Kinder ins Bett bringen. Während er im Regen stand, minütlich nasser wurde und sich vorkam wie ein Tölpel. Ein erwachsener Mann, der immer noch nicht gegen seinen Vater ankam. Der es nie schaffen würde. Das alles frustrierte ihn mit einem Mal so sehr, dass alle Wut aus ihm wich und mit ihr das letzte bisschen Energie.

Günther lachte auf.

»Willst du mich für dumm verkaufen? Als wüsste ich nicht, was du mit deiner feinen Schwester abgesprochen hast.«

Michael begann zu schwitzen. Er riss an seinem Schal. »Was denkst du denn, was ich mit ihr abgesprochen habe? Ich kann ihr doch gar nichts versprechen!«

Mit zwei schnellen Schritten war sein Vater bei ihm. »Glaubst du, das würde funktionieren? Liliane in der Firma? Nie im Leben. Deine Schwester und ihr sauberer Ehemann, der seine Nägel sorgsam feilen kann, aber sonst zu nichts taugt …« Günthers freie Hand krallte sich um Michaels Schulter. »Ich habe morgen einen Termin bei unserem Anwalt. Du wirst mich begleiten. Dabei sprechen wir das weitere Vorgehen ab und räumen diese Kanaken aus dem Weg. Ein für alle Mal.«

»Deine Sprache kotzt mich an.«

»Wenn du irgendwas hintertreibst, bist du raus aus dem Geschäft, Sohn.«

Michael wischte das Regenwasser aus seinem Gesicht. Er war völlig durchnässt. »Was willst du tun? Mich umbringen?« Mit einer schnellen Bewegung riss er seinem Vater den Schirm aus der Hand.

Der ließ Michael abrupt los. Er straffte das weiße Tuch mit einer entschlossenen Bewegung. Tat es noch mal. Und noch mal.

»Du hast dich nicht mal selbst im Griff!« Michael wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her. »Du tickst doch nicht richtig. So jemand will ein Geschäft führen? Am besten noch ewig leben?«

Der Regen wurde stärker. Kleine Blasen platzten auf dem dunklen Asphalt. Das Wasser rann in Michaels Schuhe. Günther wischte wieder über seine Stirn. In seinem Haar glänzte die Nässe. Im Licht der Brückenlaternen sah Michael, wie die Tropfen am Gesicht seines Vaters herabliefen. Er zog die Schultern hoch.

»Entscheide dich. Ich finanziere dir eine Therapie. Du kommst runter von dem Zeug. Zahlst deine Schulden.«

Unwillkürlich machte Michael einen Schritt zurück. Stieß mit dem Rücken gegen das Brückengeländer. Sein Vater ragte vor ihm auf. Er war alt und krank, aber er war immer noch stark. Einer, dem Michael nicht beikam. Mit Liliane zusammen hätte er vielleicht eine Chance. Das Gefühl der Unterlegenheit wühlte ihn auf.

»Ich hasse dich!«, brüllte er. »Hast du mal nachgedacht, wie alles anfing? Das mit dem Koks?«

»Du wolltest noch nie Verantwortung übernehmen. Scheust vor jeder harten Konsequenz zurück. So kann man kein Geschäft führen.«

»Geschäft? Geht es immer nur ums Geschäft? Da ist auch noch ein Leben irgendwo, verdammt noch mal!« Michael schrie jetzt. »Menschen arbeiten nicht nur. Sie leben. Haben Beziehungen, atmen, essen, gestalten etwas. Erziehen Kinder.«

Günthers Miene verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Erstaunlich, wovon du alles etwas verstehen willst. Deine Ehe ist gescheitert, Kinder habt ihr nicht. Einen Job hast du, weil ich ihn dir gegeben habe. Was würdest du sonst tun? Lkw fahren?«

Michael atmete hektisch. Zwang sich, seinem Vater in die Augen zu schauen. Dunkle Augen, in denen sich das Licht der Laternen spiegelte. Er roch diese Mischung aus zu viel Aftershave und altem Mann. Ihm wurde übel. Etwas von seinem spärlichen Mageninhalt füllte seinen Mund. Verzweifelt schluckte er. Hustete. Hustete seinem Vater seinen Unrat ins Gesicht.

»Du Schwein!« Günther rieb mit dem Tuch über seine Wange.

Michael rutschte der Schirm aus der Hand und fiel auf den Asphalt.

»Es tut mir …« Die Worte kamen wie ein Reflex. Michael presste die Hand auf den Mund. Er drehte sich um, beugte sich über das Geländer. Er glaubte, er müsse sich übergeben. Es kam nichts. Vor seinen Augen explodierte ein rotes Licht. Abertausende von Blitzen beraubten ihn seines Sehsinns. Panisch presste er die Hände auf das nasse Geländer.

Günther packte ihn und zerrte ihn herum.

»Du bist Abschaum. Ich dachte, ich hätte einen anderen Sohn großgezogen!«

Michael bekam keine Luft. Sein Kopf schien bersten zu wollen. Seinen Vater sah er nur als Schatten hinter all dem Rot, das vor seinen Augen tanzte. Ihm wurde schwindelig. Er ließ die Arme hängen. Das war das bewährte Rezept: sich ducken, nicht reagieren, warten, bis es vorbei war. Schläge kannte er. Seit langem.

Es geschah nichts. Stattdessen zogen sich die Lichtblitze zurück.

»Verdammt, Michael!« Günther ließ ihn los. »Du bist so was von fertig. Kapierst du nicht, dass du Hilfe brauchst? Professionelle Hilfe? Wie soll das denn weitergehen?«

»Ich kann nicht atmen.« Michael griff sich an die Jacke, riss den Reißverschluss auf. »Lass mich einfach in Frieden.«

»Probleme lösen sich nicht von selbst. Vor allem nicht solche Probleme. Die werden nur immer schlimmer.«

»Bleib mir doch mit deinen philosophischen Scheißreden vom Leib!« Michael schrie jetzt. Auf der Gegenfahrbahn rauschte ein Lkw vorbei. »Bleib mir vom Leib, hau ab!«

Michael trat mit den Beinen. Er erwischte seinen Vater am Knie. An dem Knie, das ihm seit Jahren Probleme machte. Günther knickte ein. Michael holte mit dem Arm aus, er wollte Günther halten. Der griff nach dem Geländer, fiel gegen seinen Sohn, Michael schwankte, ruderte mit den Armen, erwischte Günther am Arm, etwas löste sich in ihm, er ballte die Hände zu Fäusten. Schlug. Und schlug. Egal, wohin. Er merkte nicht einmal, ob er traf. Sah die Faust seines Vaters auf sich zurasen. Das Geländer presste sich in seinen Rücken. Er riss den Kopf herum. Würgte, Galle füllte seinen Mund. Der nächste Schlag traf seinen Magen. Michael blieb die Luft weg, er hustete, wand sich. Die gelben Straßenlampenlichter verschwammen. Er hörte nichts mehr.

Zwei schwarze Augen starrten ihn an. Nur Höhlen, ohne etwas Lebendiges darin.

3.

B: Bist du noch wach?

U: Und du?

B: Konnte nicht schlafen. Musste so viel nachdenken.

U: Wo steckst du denn?

B: Am Wasser. Beim Jahnwehr.

U: Um diese Zeit?

B: Da sind noch Leute.

U: Red keinen Quatsch. Das Gasthaus hat dienstags Ruhetag.

B: Trotzdem sind da noch Leute.

U: Um die Zeit am Fluss, ich weiß nicht.

B: Ich habe keine Angst. Mir macht nichts mehr Angst!

B: Urte?

U: schreibt

B: Ich muss einfach immer wieder an meine letzte Woche zu Hause denken. In meinem richtigen Zuhause. Wie ich noch mal durch alle Zimmer gegangen bin, draußen hat es geregnet, ein schwerer, schöner Regen. Habe ich dir doch erzählt.

U: schreibt

B: Dieses Haus war meine Heimat. Der Garten. Alles einfach. Und die Leute, die Nachbarn. Alles verloren.

U: schreibt

B: Mir macht nichts mehr Angst. Das meine ich. Was soll noch passieren?

U: Komm runter. Jeder Mensch weiß, dass es Schlimmeres gibt, als seine Wohnung zu verlieren. Du findest schon wieder was. Vielleicht nicht in deiner alten Gegend, aber finden wirst du was. Auch was Bezahlbares. Treib es nicht auf die Spitze!

U: Bist du noch da?

U: Babs?

Mittwoch

4.

Ein Schwarm Krähen ließ sich vernehmlich krächzend auf einem Baum am Ufer nieder. Nebel stieg aus dem Kanal auf. Es hatte die ganze Nacht lang geregnet. Die Hindernisse des Skateparks glänzten vor Nässe. Polizeihauptkommissar Harduin Uttenreuhter fand, dass es gut roch. Nach Frühling. Frisch. Feucht. Aus dem Nebel löste sich der massige Körper eines Frachtschiffes und glitt langsam auf die Schleuse zu.

»Diese verdammten Krähen!«, beschwerte sich Kollegin Monika Kaluza. »Die scheißen die ganze Stadt voll, picken Abfall aus den Mülltonnen und ziehen in Geschwadern über die Häuser. Wirklich gruselig.«

»Wohl kaum gruseliger als die Leiche hier«, murrte ein Mann, der im Tyvekanzug der Spurensicherung neben dem Toten kniete.

»Papiere?«, fragte Hardo. Es war noch früh, gerade 6 Uhr. Ein Mann hatte sie verständigt. Er war über die Heinrichsbrücke hoch über ihnen gelaufen und hatte den Toten von dort aus gesehen.

»Personalausweis«, sagte Stefan Kühn, ebenfalls bewährter Mitarbeiter in Hardos Team. »Michael Dreysbach. 36 Jahre alt.« Er winkte einem uniformierten Kollegen, der an dem wenige Meter entfernt parkenden Streifenwagen lehnte und das Gesicht in den Himmel streckte, als wollte er die morgendlichen Sonnenstrahlen aufsaugen. »Jagt mir mal den Dreysbach hier durchs System.«

Hardo kam näher. Nicht dass er sich zu alt für den ersten Blick auf das Opfer fühlte, doch er wollte seine jüngeren Kollegen gern ein bisschen fordern. Kühn machte bereits Fotos.

»Neuer Apparat?«

»Eine Canon, Chef, digitale Spiegelreflex, nicht ganz taufrisch, aber außerordentlich gut.« Kühn schwenkte auf die Krähen im Baum und justierte das Objektiv. »Kalte schwarze Augen. Typische Täterphysiognomie.«

Die Kaluza schnaubte.

»Der arme Kerl ist ganz nass. Verdammter Regen! Er hat außerdem Koks in der Tasche.« Der Tyvekmann hielt ein Tütchen hoch. »Und knapp 800 Euro in bar in seiner Brieftasche. Was sagt uns das?«

»Kokain gekauft und nicht bezahlt?« Kühn grinste. »Vielleicht kam bei dem Handel was dazwischen?«

»Jedenfalls war das kein Raubmord«, mutmaßte die Kaluza. »Ein Handy hat er nicht dabei. Oder es wurde ihm abgenommen.«

Der Uniformierte kam zu ihnen. »Dreysbach ist geschieden. Keine Kinder. Ansonsten keine Eintragungen.«

Hardo blickte zur Brücke hinauf. Vierspurig spannte sie sich über die langgestreckte Insel, an deren Spitze der Skatepark lag. Weiter vorn befanden sich ein Minigolfplatz, ein Volleyballfeld, Pingpongtische und eine Grillwiese. Der morgendliche Verkehr oben schwoll merklich an.

»Falls ihr euch jetzt einen Unfall zusammenreimt, Kameraden«, bemerkte der Mann von der Spurensicherung, »muss ich euch enttäuschen. Er hat was im Mund. Sieht aus wie ein Knebel.«

Jetzt war Hardo hellwach. Er ging in die Knie, schlüpfte in einen Handschuh und drehte das Kinn des Toten zu sich.

»Selbst hat er sich das Ding nicht in die Kehle gerammt.« Der Spusimann tippte etwas in sein Tablet.

»Wo ist eigentlich Sabine Kerschensteiner?«, fragte Stefan Kühn beiläufig. Er hatte sich längst an die aufgeweckte Polizeiobermeisterin gewöhnt, die beim ersten Angriff üblicherweise mit von der Partie war.

»Lehrgang«, erwiderte Hardo knapp. Es war ein schlecht gehütetes Geheimnis, dass er Sabine protegierte.

»Soso«, machte die Kaluza. »Also, das Blut unter seinem Kopf und wie er daliegt – meint ihr, der ist von der Brücke gekracht?«

Sie blinzelten in den mittlerweile hellen Himmel. Ein untersetzter Mann, ebenfalls unter Vollschutz, machte sich am Brückengeländer zu schaffen.

»Der Fleischmann Lutz muckelt dort oben rum«, sagte Kühn. »Wartet, der spuckt gleich auf uns runter.«

Hardo verzog das Gesicht. Tatsächlich war ein Sturz der wahrscheinlichste Grund, warum Michael Dreysbach tot neben der Halfpipe im Skatepark lag. Es gab keine auffälligen Spuren auf dem Beton. Nur das wenige Blut unter dem Kopf des Opfers. Das mit halb geöffneten Augen wie unbeteiligt dalag. »Keine sichtbaren Verletzungen, außer am Schädel. Tja.«

»Wird sich zeigen, ob er stoned war, vielleicht wollte er oben auf dem Brückengeländer eine lässige Balancenummer einstudieren. Tanz in den Mai, verspätet. Wenn man gerade mal dran glaubt, alles schaffen zu können, muss man’s ausnutzen. Will jemand eine Bamberger Domspitze?« Die Kaluza reichte eine Tüte herum.

Kühn griff sofort zu. Hardo winkte ab. Die pyramidenförmigen, sündhaft süßen und dick glacierten Gebäckstücke stellten nicht gerade das Frühstück dar, das er bevorzugte. Er hätte jetzt eher eine saure Gurke gebraucht.

»Niemand tanzt auf dem Seil und knallt sich dazu ein Stück Stoff in den Schlund«, widersprach Kühn kauend. »Als Jugendlicher habe ich mich übrigens mal am Skateboard versucht. Die Begeisterung dauerte nicht lang. Irgendwie war mir die Geschwindigkeit nicht koscher.«

Hardo griff nach seinem Handy und tippte »Michael Dreysbach« in die Suchmaschine. »Sieh einer an.«

»Was?« Kühn schluckte den letzten Rest seiner Domspitze herunter.

»Immobilien Dreysbach, schon mal gehört?«

»Nein, Chef. Sie wissen doch, ich stamme nicht von hier.«

»Alteingesessenes Familienunternehmen. Günther Dreys­bach, sagt Ihnen der Name was?«

»Doch!« Die Kaluza wischte sich die Krümel von den Lippen. »Der ist bekannt. Mischt in Bamberg an allen Stellen mit. Hat überall Bauprojekte laufen. Ihm gehören etliche Restaurants, Kneipen, Hotels. Sogar Parkhäuser.«

»Damit macht man ja wohl das meiste Plus«, brummte Kühn.

»Unser Mordopfer hier ist der Sohn von Günther Dreys­bach. Das Geschäft scheint auf beide zu laufen.« Hardo stöhnte leise. »Verdammt.«

»Der Sohn von dem Dreysbach?« Die Kaluza schüttelte den Kopf. »Also haben wir bald die Presse hier.«

»Schon passiert.« Der Spusimann deutete auf die Brücke. Dort oben stand Lutz Fleischmann und wedelte wild mit den Armen.

»Was ist?«, schrie Kühn nach oben.

»Baut den Sichtschutz auf. Die Hyänen kommen.«

Fleischmann scheuchte einen Mann weg, der bereits sein Smartphone gezückt hatte. Zwei Mitarbeiter stellten Haltestangen auf, an denen binnen Sekunden eine Plane befestigt wurde, um den Auffindeort abzuschirmen.

Hardo steckte das Handy weg. Er hatte genug gesehen. Sie brauchten die genauen Ergebnisse der Spurensicherung und der Rechtsmedizin. Wenn das Opfer tatsächlich von der Brücke gestürzt war, hatte ihn jemand gestoßen? Oder handelte es sich einfach um einen Unfall? Was sollte dieses Tuch in seinem Mund? Ihm war mulmig zumute.

»Abmarsch«, sagte er. »Kühn, ich will alles über die Dreysbachs. So schnell wie möglich.«

5.

Der Schock ist unerwartet gekommen. Aus dem Nichts. Hat sie gerammt, umgeworfen, sie hat Tage gebraucht, um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Infolge des ganzen Horrors hat sie sich selbst verlassen und noch nicht zu sich zurückgefunden. Ängste flackern in jeder Minute neu auf, die unterschiedlichsten Varianten von einer Angst: Der Tod ist da. Er kommt, er folgt ihr, sie kann rennen, laufen, sie wird dennoch stürzen, da ist kein Ausweg, keine Tür, sie kann nicht atmen, nicht richtig, gar nicht. Schmerzen rollen über sie hinweg. Im Rücken, in den Beinen, in den Füßen. Sie hat Papiere gesichtet, versucht, ihre Optionen zu kalkulieren, das schafft sie nur in den ruhigen Momenten, sie lenkt sich ab, das funktioniert ab und zu, putzen, saugen, kochen, schließlich der große Knall, eine Implosion, Panik. Das darf alles nicht geschehen. Nicht ihr. Ihr Leben ist sowieso kaputt. Entzweigeschlagen von Gewalt, Streit, Zank, Lärm, Vorwürfen, enttäuschten Erwartungen, Druck.

Sie reißt das Fenster auf, lässt den Morgen herein. Es könnte so etwas wie Glück geben. Draußen jubiliert der Frühling, ein Meer an Grün, eine Opera Buffa der Vögel und Insekten, Brummen, Zwitschern, Singen. Ihre Existenz jedoch steht auf dem Spiel. Sie kann das nicht lange durchhalten. Das Geld wird ihr ausgehen, und noch eine solche Nacht, die sie nur mit starken Tabletten übersteht, wird sie nicht ertragen. Sie darf nicht auch noch ihre Gesundheit gefährden. Zukunft ist ein finsteres Wort geworden, ein schwarzer, grauenhafter Gedanke, die Zukunft hält Entsetzliches bereit, davon ist sie überzeugt, und diese Überzeugung hat sich an ihrer Seele festgebissen. Natürlich hat sie noch einen Verstand, der mitunter ihre Psyche ein Stück weit austrickst, ihr sagt, sie solle ruhig bleiben, es gebe eine Lösung, aber welche sollte es geben, außer die eine, die sie schon die ganze Zeit hin und her wälzt. Eine Lösung, die sie in die Wege geleitet hat. Teile von ihr, luftige Teile, schwirren dort draußen durch die milde Luft, Elemente, die ihren Körper bereits verlassen haben, graue Schatten, sie tanzen zwischen den zwitschernden Amseln umher, kranke, verfallene Komponenten eines Lebens, das sie einst geliebt hat, einst war sie frei, nun ist sie eine Gefangene, schon lang.

Ihre Hand tastet über ihren Hals. Da ist so ein Gefühl in ihr, als wollte jemand sie aufknüpfen, Enge, Bedrängnis, Angst, diese verdammte, verdammte Angst.

Sie greift nach dem Telefon. Dieser Anruf ist ungefährlich, niemand wird sich darüber wundern, mit ihrer Schwester telefoniert sie oft. Schon rechnet ihr Verstand aus, wen sie anrufen darf, ohne verdächtig zu wirken. Eine neue Welle Panik wirft sie fast um, sie schwankt, hält sich mit der freien Hand am Fenstersims fest. Der Himmel verdunkelt sich, und der Garten wirft Schatten. Aus den Schatten wuchern Menschen, die auf sie zukommen, mit Fesseln in den Händen und Gewehren, manche zeigen mit den Fingern auf sie. Schartige Messer erheben sich aus den Büschen.

Mit dem letzten Rest an Kraft, die ihr bleibt, drückt sie auf die Taste für die Kurzwahl.

»Schätzchen, guten Morgen.«

»Ich … ich kann nicht mehr.«

»Was …«

»Ich habe bezahlt.« Die Knie drohen ihr nachzugeben, sie muss das Fenstersims loslassen, sinkt einfach auf den Teppich.

»Nicht durchdrehen, Schätzchen. Was meinst du, sollen wir einen Kaffee zusammen trinken? Hast du Zeit?«

»Ich …«

»In einer halben Stunde? Am üblichen Ort?« Die Schwester lacht leise.

Dieses Lachen beruhigt ein wenig, es ist etwas Vertrautes, etwas von früher. Leise Geräusche konnten sie schon immer besänftigen. Damals, als Kinder, im gemeinsamen Zimmer. Wenn die Eltern stritten, der Vater schrie, die Mutter sich zurückzog, wenn das laute Weinen, die Furcht durch die Wand strömten wie ein stechender Geruch. In diesen finsteren Augenblicken war das leise Lachen ihrer Schwester ein Weckruf und ein Trost zugleich. Weckruf, nicht aufzugeben. Trost, weil ihre Schwester an die Zukunft glaubte. Unerschütterlich und fest.

»Hörst du mich, Schätzchen? Komm schon, nicht schlappmachen. Wir kriegen das hin. Wir haben doch immer alles gemeistert, wir beide, wie?«

Sie kann nichts sagen, ihr ist die Kehle wie zugeschnürt.

»In Ordnung, große Schwester? Ich weiß, du hörst mich. Wenn du nicht antworten kannst: Zweimal klatschen ist ein Ja.«

Sie legt das Telefon auf den Boden, holt aus, klatscht zweimal in die Hände.

»Perfekt. So kenne ich meine Schwester. Also, wir sehen uns. In einer halben Stunde. Bist du angezogen?«

Zweimal klatscht sie.

»Soll ich dir ein Taxi bestellen?«

Zweimal klatschen.

»Hervorragend. Ich rufe gleich die Zentrale an. Das Taxi wird in 15 Minuten bei dir sein. Hast du es bis dahin geschafft aufzustehen?«

Die Frau, die verkrümmt auf dem Boden kauert, bewegt den Kopf hin und her, schluckt ein paarmal und krächzt: »Ja. Ich stehe gleich auf.«

»Was tust du als Nächstes?«

»Ich nehme meine Handtasche. Ziehe Schuhe an. Schlüpfe in die Jacke.«

»Anschließend?«

»Hausschlüssel, auf die Straße gehen, auf das Taxi warten.«

»Prima machst du das. Also, ich beende unser Gespräch, und wir sehen uns gleich. Love you!«

Der leise Piepton verrät, dass aufgelegt wurde. Sie stemmt sich hoch, es geht besser, als sie befürchtet hat. Streicht die Hosen glatt. Die Handtasche steht neben dem Bett, sie hebt sie auf und legt das Handy hinein. Bedächtig schließt sie das Fenster, geht in die Diele, schlüpft in die bequemen Sneakers, greift nach der Jacke und legt sie über ihren Arm. Ihr ist zu warm für eine Jacke. Im Haus ist es still. Womöglich könnte sie sich einmal daran gewöhnen, allein zu leben. Irgendwann.

Sollte das Schlimme passieren, vor dem sie sich so fürchtet – vielleicht wäre es doch nicht das Allerschlimmste.

6.

Der Vormittag wurde heiß. Zu heiß für Mai. Hauptkommissar Uttenreuther schlug das Fenster seines Büros zu und brachte den Ventilator in Stellung. Kurz schloss er die Augen, den kühlen Luftzug genießend. Noch vor ein paar Jahren wäre er an einem solchen Morgen nach einem Leichenfund ins Büro gestürzt und hätte binnen Minuten die Kollegen organisiert, Telefonate geführt, Notizen gemacht.

Sollten die jungen Kollegen die ersten Routinen erledigen. Er brauchte eine Pause. Gutmütige würden sagen, einen kurzen Moment, um die Gedanken zu sortieren. Er wusste es besser.

Er wurde langsam. Oder ein wenig wurschtig, wie man in Franken sagte. Manches war ihm nicht mehr so wichtig wie früher. Sein Freund, der Antiquar Michael Rath, würde einen spöttischen Kommentar abgeben. Dass der Kommissar sich schon auf den Ruhestand freute. Auch wenn er es nicht zugab.

»Chef?«

Hardo straffte die Schultern, nickte Stefan Kühn zu, der mit zwei Bechern Kaffee in den Händen hereingekommen war. Im Prinzip war der Ruhestand noch kein Thema für ihn. Er hatte noch ein paar Jahre. Und Nachlässigkeit würde er sich selbst auf keinen Fall durchgehen lassen.

»Kaffee?« Kühn stellte den Becher auf den Schreibtisch. »War ja ein früher Tagesbeginn heute.«

»Danke.« Hardo setzte sich und griff nach dem Becher.

Kühn zog ein paar zerknitterte Ausdrucke aus der Jeanstasche. »Zu den Dreysbachs. Ihnen gehören eine Reihe von Liegenschaften in Bamberg. Hauptsächlich im Inselgebiet. Nichts Richtung Peripherie.« Er verzog das Gesicht.

»Also die Filetstücke.«

»Exakt. Das historische Zentrum ist ihr Revier. Wenn jemand kauft, dann die Dreysbachs. Immobilienagentur Dreysbach & Söhne heißt die Firma offiziell. Es gibt aber nur einen Sohn. Michael. Will sagen: Es gab nur einen. Der ist ja jetzt tot.«

Hardo nickte. »Weiter?«

»Der alte Dreysbach, Günther, ist 75 und immer noch beruflich aktiv. Studierter Jurist, sein Vater hat die Immobilienfirma aufgebaut, und Günther ist eingestiegen, da war er noch keine 30. Als sein Vater zehn Jahre später starb, hatte sich das Immobilieneigentum bereits verdoppelt.«

»War eine andere Zeit«, brummte Hardo.

»Dreysbach hatte schon öfter Ärger mit der Stadt. Wollte Wohnraum in Ferienapartments umwidmen, einfach so, ohne groß zu fragen, hat dafür die Mieter aus einem Haus in der Dominikanerstraße getrieben und angefangen umzubauen, bis ihm die Stadt ein Stoppschild vor die Nase gestellt hat. Manchmal wandelte er auch heimlich still und leise Wohnraum in Gewerbe um. Solche Geschichten gab es wohl alle paar Jahre. Jedes Mal endete das Ganze wie das Hornberger Schießen. Entweder hat Dreysbach letztlich doch bekommen, was er wollte, oder er hat einen Kompromiss ausgekungelt, der ihm trotz allem Vorteile verschaffte.«

»Sieh an. Es muss also eine Reihe von Leuten geben, die von den Dreysbachs übervorteilt wurden.«

»Klar, es gab immer Mitbieter. Zum Beispiel bei einem sanierungsbedürftigen Haus in der Sandstraße. Das wollten andere auch kaufen, aber Dreysbach & Söhne haben den Zuschlag bekommen.«

»Reicht das für einen Mord? Der Immobilienmarkt ist heiß umkämpft, in einer Weltkulturerbestadt zumal.«

Kühn zuckte die Achseln. »Sagen wir so, das berufliche Umfeld von Michael Dreysbach bietet Motive, ihm etwas anzutun. Wenn kein hinreichendes Motiv, so zumindest eines in Ansätzen. Um das Finanzielle kümmere ich mich noch. Zum Privatleben.« Kühn leckte an seinem Zeigefinger und blätterte umständlich in seinen Ausdrucken. »Dreys­bach hat mit 25 geheiratet, eine gewisse Ursula Miltenberg, nur zwei Jahre jünger als er. Die Ehe blieb kinderlos, das Paar ist seit letztem Jahr geschieden.«

»So was soll es geben.«

»Das Pikante ist allerdings, dass Michael Dreysbach am Schillerplatz ein ziemlich neu renoviertes Haus mit Blick auf den Alten Kanal bewohnt, während seine Ex in Bamberg-Ost sitzt.«

Hardo hob die Brauen. Bamberg-Ost, die Wohngebiete am Rand der Stadt Richtung Autobahn A73 – diesen Begriff verstanden manche eingefleischten Bamberger als Schimpfwort. Als gehöre das Gebiet schon gar nicht mehr zu der Weltkulturerbestadt mit ihren Kneipen, verwinkelten Gässchen, ihrer Schickeria und den gut Betuchten, die im Berggebiet in stattlichen Häusern lebten. »Das ist allerdings ein Unterschied wie Tag und Nacht. Statten wir Frau Miltenberg einen Besuch ab. Wo ist eigentlich die Kaluza?«

»Sie geht der Spusi und der Rechtsmedizin auf die Nerven. Ach, übrigens: noch keine Spur von Dreysbachs Handy. Wir haben die Verbindungsdaten angefordert.«

»Dann los.«

7.

Etwas knallte gegen die Scheibe. Katinka, im Halbschlaf, blinzelte. Noch ein Knallen. Verdammt. Sie schoss hoch. Verwirrt starrte sie auf das Fenster. Vor ihren Augen wirbelten Nebelfetzen, weder ihr Körper noch ihr Bewusstsein wollten wach werden.

»Was soll das denn werden?«, murmelte sie.

Warf jemand Steinchen gegen die Scheibe? Sie stemmte sich hoch und kroch aus dem Bett. Hardos Seite war leer. Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es schon fast 8 war. Vor mehr als zwei Stunden hatte sein Handy geklingelt, wovon Katinka kurz aufgewacht war. Nur das Wort »Einsatz« hatte sie im Gedächtnis behalten.

Wieder prallte etwas gegen das Fenster.

»Ich glaub’s nicht.«

Eine Blaumeise flog ein ums andere Mal gegen das Glas, pickte wütend dagegen, als müsse sie einen gefährlichen Feind vertreiben. Katinka riss das Fenster auf. Blitzschnell flog der Vogel weg.

Katinka suchte ihre Siebensachen zusammen und verließ Hardos Wohnung, um in ihre eigene hinüberzugehen. Es hatte sich eingebürgert, dass sie beide bei ihm übernachteten. Seit langem waren sie ein Paar. Und damit ein klein wenig Stadtgespräch. Die Detektivin und der Kommissar. Der Stoff, aus dem sich in einer Kleinstadt schnell Gerüchte woben. In dem Haus, das sie vor Jahren gekauft hatte, wohnten sie beide im ersten Stock. Im Parterre siedelte eine unübersichtliche studentische WG, und die Wohnung im Obergeschoss hatte der Lokalreporter Dante Wischnewski gemietet. Bei all den Kosten, die das alte Gebäude verursachte, war Katinka schon manches Mal der Gedanke gekommen, ganz zu Hardo zu ziehen und ihre Wohnung auch noch zu vermieten. Doch jedes Mal schreckte sie davor zurück. Sie wollte ihren Rückzugsort nicht aufgeben. Und wohin mit all dem Krempel, der sich angesammelt hatte? Allein der Gedanke an den seit einer Überschwemmung unbrauchbaren Keller verdarb ihr den Tag. Als sie das direkt am Fluss gelegene Haus, das aus dem 14. Jahrhundert stammte, gekauft hatte, war ihr nicht bewusst gewesen, welche Verantwortung sie sich damit auflud. Natürlich war an dem alten Kasten überall etwas zu renovieren, zu reparieren, zu erneuern. Die Mieteinnahmen deckten die Kosten nur zu einem Bruchteil. Seit Jahren pumpte sie zusätzliches Geld in das Haus. Und es war kein Ende abzusehen.

Sie checkte ihr Handy, fand die erhoffte Nachricht von Hardo.

Ungeklärter Todesfall, im Skatepark unter der Heinrichsbrücke. Wird ein langer Tag.

Klar, warum sonst, wenn nicht wegen eines Todesfalles, hätte man Hardo vor Tau und Tag aus dem Bett holen sollen? Sie setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Derweil blätterte sie durch die Post, die sie seit Tagen nicht angesehen hatte. Ein Schreiben in einem dicken braunen Umschlag war adressiert an Frau Privatdetektivin Katinka Palfy. Ein Anwaltsbüro Schneitter schrieb ihr. Sollte das Kuvert einen neuen, interessanten und vor allem gut bezahlten Auftrag enthalten?