Winkelquartett - Anna Croissant-Rust - E-Book

Winkelquartett E-Book

Anna Croissant-Rust

0,0

Beschreibung

Anna Croissant-Rust entführt uns in die vergangene Welt einer süddeutschen Kleinstadt, die von skurrilen und liebenswerten Charakteren bevölkert wird: Da ist der uneheliche hinkende Maxl und sein Freund, der Fritzl; da ist dessen "Braut", das Rosinchen, auch "Chlonnenchltrählche" genannt, und nicht zu vergessen die schöne Line, dieses "gutgestellte appetitliche Frauenzimmer", auf das der Fritzl bald ebenfalls ein Auge geworfen hat. Am Ende findet zusammen, was wirklich zusammengehört, wobei dieses "Winkelquartett" gleichwohl den einen oder anderen überraschenden Haken schlägt … Anna Croissant-Rust humorvolle Schilderungen sind auch heute noch äußerst amüsant und unterhaltsam zu lesen. AUTORENPORTRÄT Anna Croissant-Rust (1860–1943) wurde in Bad Dürkheim geboren und lebte lange Jahre in München sowie in Ludwigshafen. In München hatte sie Kontakte zur Schwabinger Künstler- und Literatenszene sowie zur Zeitschrift "Die Insel" und zu dem Verleger Georg Müller. Ihre 1890 erschienene Erzählung "Feierabend, eine Münchner Arbeiter-Novelle" wurde als "Meisterwerk des Naturalismus" gefeiert und machte die Dichterin weithin bekannt. Sie war das einzige weibliche Mitglied der 1895 von Michael Georg Conrad gegründeten Gesellschaft für modernes Leben. Ihre Erzählungen und Romane sind von hoher sozialer Einfühlungsgabe und humorvollen Charakterzeichnungen geprägt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 263

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Croissant-Rust

Winkelquartett

Eine komische Kleinstadtgeschichte

Saga

Wer heutzutage in die alte Stadt kommt, von der ich reden will, und vor das schöne gotische Rathaus unter den mächtigen Linden, wird vergebens nach den Gewölben ausschauen, die in dieser Geschichte immerhin eine gewisse Rolle spielen. Eine Rolle, weil in einem dieser Gewölbe der Held Kampelmacherfritzl das Licht der Welt erblickt hat, eigentlich fast gegen den Willen und die Absicht der Mutter, und dann weil er einen Teil seiner Jugend dort verlebt, im zweiten weiteren Gewölbe seine Lehrzeit durchgemacht und im dritten seine Tätigkeit als Meister ausgeübt hat.

Auch das schmale engbrüstige Haus, in dem die Mahn-Rosine geboren und erzogen worden ist und in dem ihr Vater das ehrsame und nährende Gewerbe eines Tändlers und heimlichen Ferkelstechers betrieb, wird wohl nicht mehr in der Girgengass stehen, die jetzt als Georgenstrasse die „Avenue“ der Stadt geworden ist und vom Marktplatz an mit stattlichen Zinskästen prangt.

Nur das einstöckige Haus mit seinem späteren Aufbau, windschief nun und förmlich in sich zusammengesunken, wird man finden können, das Vater- oder besser das Mutterhaus des hinkenden Maxl, das heute noch in der Paradeisgasse stehen muss.

Es ist richtiger zu sagen das Mutterhaus, denn dem eigentlichen Vater des hinkenden Maxl war gewiss die berüchtigte Paradeisgass, in der nur kleines und kleinstes Volk lebte und die ihren Namen wie zum Hohn trug, kaum bekannt, bis zu dem Augenblick, wo er den hinkenden Maxl, seinen leiblichen Sohn, in einer besonderen Mission aufsuchte.

Wenn dieser Vater, der Baron, einmal zur Stadt kam, so geschah das im eleganten Landauer, und sein Wagen mit dem Wappen hielt gewöhnlich nur vor der Behausung anderer Adeliger, vor der der „Spitzen der Behörden“ oder vor dem Kasino des kleinen Städtchens, wo der einzige Kellner Hans, der Stolz und das Kleinod des Traiteurs, in fieberhafte Aufregung geriet, sobald er nur einen Schein der sandfarbenen Livree des Kutschers des Barons von Lohberg erblickte; denn es gehörte wahrhaftiger Gott mehr dazu wie nur Servietten schwenken, um diesen verwöhnten Krautjunker zu befriedigen!

Gewiss war der Baron nie in die Paradeisgasse gekommen, bis zu der Stunde, da er den hinkenden Maxl im vollen Sinne des Wortes in Augenschein nahm, was in der besagten Gasse eine ungeheure Aufregung verursachte und auch für diese Geschichte nicht ohne Folgen bleiben wird.

Die Paradeisgässer waren als sehr neugierig, schlagfertig und spottsüchtig verschrien, und nicht umsonst ging der Vers:

„Wer durch die Langgass geht ohne Kind,

Hinter Sankt Martin ohne Wind,

Durch die Paradeisgass ohne Spott,

Der hat a Gnad von Gott!“

Davon, d. h. vom Spott, konnte der hinkende Maxl mit seinem langen und traurigen Pferdskopf ein Liedlein singen! Doch nicht von ihm soll jetzt erzählt werden, obwohl er vielleicht durch den baronlichen Vater mit dem schönen Coupé schon einiges Interesse erweckt hat. Der hinkende Maxl kann warten; er ist ja das Zurückstehen von Profession gewohnt, er ist geboren zurückzustehen.

Eigentlich hätte jetzt wohl die holde Weiblichkeit des Kleeblattes zu erscheinen, vor allem die Mahn Rosine; doch da die schönen alten Gewölbe schon den Anfang machten, soll die Rosine mit dem schwarzen Haar und einigen markanten Abzeichen ihrer Raffe in der Mitte liegen bleiben und der Kampelmacherfritzl zuerst aufmarschieren, der sowieso in seinem ganzen Leben nichts hat erwarten können, was er schon bei seiner Geburt bewies, denn er kam ganze acht Wochen zu früh, war also ein Siebenmonatskind.

Damals war er freilich nicht der Kampelmacherfritzl, sondern der uneheliche Sohn der Genoveva Glocke, Obstlerin, die bei seiner Geburt schon ziemlich in den Jahren war, weshalb sie warmherzige und liebenswürdige Leute von da ab Mutter Glocke oder schlichtweg Glockin nannten.

Dass das Folgende gleich von zwei ausserehelich geborenen Subjekten zu handeln haben wird (siehe den hinkenden Maxl!), ist gewiss sehr fatal, aber erstens ist an den Tatsachen nichts mehr zu ändern und zweitens wird hoffentlich durch die Mahn-Rosine, die so ehelich geboren ist wie nur irgendeiner, alles wieder gutgemacht. Auch gereicht es sicher zur allgemeinen Genugtuung dass sich der Fritzl zwar nicht infolge seiner illegitimen Geburt, doch wohl infolge seiner schlimmen Anlagen durchaus nicht als tadelloser Bürger, als kein einwandfreies Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft auswuchs, und nicht die gewünschten friedlichen und staatserhaltenden Eigenschaften aufwies, die von ihm hätten gefordert werden können, so dass mit vollem Rechte sehr bald und auch später in der Nachbarschaft eine gewisse grimmige Befriedigung über ihn herrschte, ganz in Uebereinstimmung mit der guten, d. h. besseren Bevölkerung des Städtchens, die von Uranfang an prophetisch gesagt hatte: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme.“

Vorderhand oder bis jetzt ist aber der kleine, sehr kleine Fritzl erst andeutungsweise geboren, und noch immer ist wohl die Mutter Genoveva Glocke, leider keine „Geborene“, erwähnt, aber kein Wort vom Vater gesagt. „Ja eben, ja eben“, oder, wie Genoveva Glocke sagte, „ja ehm, ja ehm“, da stak der Haken. Ein Wunder war es, ein „völliges“ Wunder, dass der Fritzl nicht auf öffentlichem Marktplatz unter den Lindenbäumen zur Welt kam, oder wem es widerstrebt, das Wunder zu nennen, ein reiner Zufall.

Der dicken Obstlerin Genoveva Glocke (noch Vevi, nicht Mutter Glocke genannt) war die Geschichte nach zwanzigjähriger Pause, während der sie vor sich selber und vor den anderen quasi wieder zur Jungfrau geworden war, eine heillose Ueberraschung. Sie konnte und konnte nicht daran glauben.

Grübelnd und kopfschüttelnd sass sie Tag für Tag unter dem doppelten Schutz ihres grossen grauen Leinenschirmes und des mächtigen Daches der Linden, war ein bisschen konfus und schämte sich ein bisschen. Als sie zweiundzwanzig alt war, frisch und blühend, hatte sie sich freilich noch mehr geschämt, obwohl sie den Vater des kleinen Mädchens genau anzugeben wusste, was diesmal ganz und gar nicht der Fall war. Jetzt war sie zweiundvierzig, dick, verfettet, mit Säcken unter den Augen und einem fast unheimlichen Umfang. Kein Mensch dachte daran oder sah ihr an, dass sie bald dem kleinen Erzspitzbuben, dem späteren Kampelmacherfritzl, das Leben geben sollte.

Sie selbst wollte die Affäre auch vor sich nicht wahr haben, darum blieb sie fest auf ihrem Hökerinnenstuhl sitzen bis zur letzten Minute. Ein Glück, dass das Gewölbe, Salon, Wohn- und Schlafgemach der Dame Glocke sowie Obstvorratskammer, in der allernächsten Nähe war, sie hätte sonst keinen sicheren Port mehr erreicht, kaum dass sie noch die paar Stufen hinunterkam.

Dies Geschrei und Gelächter unter den anderen Hökerweibern! Dies Raten und Disputieren, diese Garde vor dem Gewölbe, als die Hebamme angerückt kam! Und erst als der Vater sollte ins Taufregister eingetragen werden! Die Vevi Glocke heulte drinnen. Wenn sie sich doch die ganze Zeit schon besonnen hätte, wenn das doch ihr grösster Kummer war! Was lag ihr an dem armseligen Kinde! Am Vater lag ihr und auf den konnte sie nicht kommen! Es verwirrte sie erst recht, dass man beständig in sie drang: „Ja, einen Vater muss er doch haben?!“

Gewiss, recht, aber welchen?

„Es mag sein, es ist der Henne-Musi oder der lange Packträger am Markt vorne, den Namen woass i net, oder an anderer, oder der Nachbar Kampelmacher, na, der is et net, i mag niemanden unrecht verdächtigen, schreibt’s halt niemanden ein und wart’s, bis er grössser werd, wem er gleich siecht.“

„Bis jetzt siecht er überhaupt net amal an Kind gleich“, spöttelte Madame Hühnlein, die Amme, der es gar nicht passte, den winzig kleinen roten Wurm zur Schau zu tragen. Mit dem kriegte man ja überall das Gespött! Nicht einmal den dritten Teil des Taufkissens füllte er aus, und ihre sämtlichen Taufhäubchen fielen ihm bis zur Nase über das verrunzelte Faltengesicht, das vorderhand noch wie das eines greinenden boshaften Aeffleins aus den Kissen sah.

Den Paten machte, nachdem der lange Packträger, den die Amme perfiderweise zitieren wollte, ausgerissen war, irgendeiner, den sie im Vorbeigehen aufgabelte. So kam der Fritzl sogar um ein Patengeschenk, was ihn in späteren Jahren noch giftete und weswegen er die Madame Hähnlein, die ihm zum Eintritt in die Welt verholfen hatte, nicht leiden konnte.

Mutter Glocke war es vorderhand nur darum zu tun, ihren Beruf, der unterhaltlich, beschaulich, wenn auch nicht aufregend einträglich war, sobald als möglich wieder ausüben zu können.

Am fünften Tage nach der schleunigen Geburt Fritzls sass sie schon wieder, genau anzusehen wie vorher auch, unter dem grauen Schirm, und über ihr tanzten die Sonnenflecken, wenn der Wind die breitästigen Linden oben bewegte.

Es war sommerlich warm und erschien ihr angenehm, so mitten auf dem Marktplatz, mitten im Leben der kleinen Stadt, zu sitzen, ein wenig scheu zwar, aber mit dem Gefühl, etwas interessanter geworden zu sein.

Später aber, als die Bäume anfingen, die Blätter herabzusäen, als sich manchmal ein gemessener Tanz bunten Herbstlaubes, von der Allee hereingewirbelt, um ihren Stand erhob und die Leute laut schimpften, dass die kleine, armselige, alleingelassene Kreatur im Gewölbe schrie, dass ihre Lunge fast zerplatzte, fand Mutter Glocke, dass das Wandeln zwischen Stand und Gewölbe für ihre stets zunehmende Körperfülle zu beschwerlich sei. Sie fasste den Entschluss, einen Strich unter die Idylle ihres Hökerinnendaseins zu machen und — als Zeichen der endgültig entschwundenen Jugend — von nun an in Züchten und Ehren ihre Aepfel und Birnen, ihre Zitronen und Hutzeln, ihr Johannis- und Kletzenbrot, die ersten und letzten Kirschen und „Zweschben“ vor ihrem Heim, dem Gewölbe, auszubreiten

Da konnte sie — und sie fand ihr Tun bald sehr löblich —, wenn draussen der Wind rumorte oder gar schon Schnee fiel, unangefochten von Kälte und Sturm im Gewölbe sitzen, das sie sonst nur zur ganz strengen Winterzeit bezogen hatte.

Ganz so „unterhaltlich“ wie auf dem Marktplatz war’s nicht, aber doch recht vergnüglich, durch die Glastür zu erspähen, wer da vorbeiging oder sich drüben in der Löwenapotheke oder in dem grossen „Spezlereiladen“ etwas holte. Als Missstand empfand sie freilich, dass sie mit anhören musste, wie bunt es der kleine Balg nebenan trieb.

Eine Lunge hatte der Zwerg! Die stand in gar keinem Verhältnis zu dem Brüstchen und Körperchen, das man immer erst in den Bettstücken suchen musste. Zwei Stufen höher als das tiefgelegene Gewölbe lag nämlich das „Kabinettl“, Schlafgemach der Dame Vevi, vor kurzem Ort „des accouchements“, jetzt Kinderzimmer, dabei Küche, Garderobe und im grimmen Winter auch Empfangszimmer für etwaige Besuche. Es hatte die Länge des Gewölbes, war aber so schmal, dass Mama Vevi nur mit Mühe die gewichtigen Teile ihres Körpers zwischen Bett und Kommode durchzuzwängen vermochte.

Nun stand ausser der alten Kommode, dem alten Schrank, einem alten Holzkoffer und anderem Gerümpel noch der Korb mit dem neuen Jungen darin, und Mutter Glocke begab sich nicht gern unnötig in die Enge und Wirrnis des Kabinettls. Die Mauern waren dick und die Türe hielt sie geschlossen: das Schreien des stets lauten Knäbleins musste schon mörderisch werden, ehe sie ans Aufstehen dachte.

Jetzt, da sie den Weg von ihrer Behausung zum Stand nicht ein paarmal am Tag hin und her zu machen gezwungen war, nahm ihr Umfang täglich zu, ja sie glich eher einer wandelnden schwammigen Fettphramide denn einem auch nur einigermassen geformten weiblichen Wesen.

Wenn sie ging, sah sie aus, wie wenn sie auf ein Brett mit kleinen Rädern gestellt wäre, das eine unsichtbare Hand an einer unsichtbaren Schnur hinter sich drein zog.

Aller unnötigen Beschäftigung abhold, war ihr die mit dem Kinde in den Tod zuwider. Konnte denn der krebsrote Kerl mit den spindeldürren Beinchen, der stets aussah, als sei er am Ersticken, nicht endlich den Zweck erfüllen, den Mutter Vevi für seinen einzigen hielt, nämlich — sich möglichst bald aus dem Staube zu machen? Nein, voll ausgesuchter Bosheit blieb er leben, genau wie er eben diese Bosheit dadurch bewies, dass es ihm auch in der Folge gar nicht einfiel, einem der mutmasslichen Väter zu gleichen.

„Wo der Bua ner des G’müt her hat?“ fragte sie oft und oft die dürre Wiesnerin, ihre Kollegin, die manchmal ihre Abendvisiten machte. „Von mir doch net! Ich bin alleweil gutmütig und g’fällig g’wesen, und er is es net. Es is, g’wiss und wahr, ein Irrtum, und ich kann’s gar net glauben, dass grad ich sei Mutter worden bin. G’münzt hab ich’s net auf ihn g’habt und entbehren könnt ich ihn leicht.“

Die dürre, ausgemergelte Wiesnerin verstand das sehr gut. Sie hatte es auch nicht auf ihre zehn „gemünzt“ und hätte sie auch leicht entbehren können

„Ja, gelt Wiesnerin, vor fünfundzwanzig Jahren, da war’s anders!“ Gerieten sie auf dies Thema, so kamen die beiden, die miteinander jung und sauber gewesen, an kein Ende.

Wer allerdings heute Mama Glocke sah, förmlich zerflossen, Leib und Brust ineinander übergehend, dass nur die Schürzenbänder die mutmasslichen Konturen bezeichneten, mit entzündeten Augen, die Haut rot und höckerig unter dem spärlichen Haar, der musste erstens freilich den Kopf schütteln über Fritzls Existenz, zweitens konnte er sich gewiss nicht vorstellen, dass die schwammige Hökerin einst eines der schönsten Mädchen war.

Die Wiesnerin jedoch hob jederzeit den Schwurfinger für Vevis Reize, und wer es trotzdem nicht glauben wollte, den konnte man schlagend auf die schöne Tochter verweisen, die, zwanzig Jahre vor dem Fritzl geboren, der Mutter Abbild geworden, eine bekannte Schönheit, gross und schlank, mit blitzenden Augen und blitzenden Zähnen, mit einer Haut wie Alabaster. Leider war sie nur im Bild und nicht leibhaftig zu sehen, da sie von einem reichen Viehhändler geheiratet und nach Ungarn exportiert worden war. Dort blieb sie bis gegen das Ende dieser Geschichte für die Mutter verschollen, froh wahrscheinlich, die Schweinewirtschaft im grossen Stil vertauscht zu haben.

Die sei ein anderes Kind gewesen, kein solcher Wechselbalg wie der Fritzl, klagte Mama Glocke.

Der glich ja eher einem Vogel denn einem kleinen Menschenkind; sein Gesicht büsste niemals die Röte ein, die er mit in dieses Jammertal gebracht, und er sah schon im Wickelkissen aus, als sei er voller Zorn und Geifer.

Die war prompt zur richtigen Zeit gekommen, Vevi konnte prompt den Vater angeben, und mit einem Jahr fing sie prompt zu laufen an.

Dagegen der!

Im dritten Jahre bequemte er sich erst, auf den dünnen gekrümmten Beinchen zu stehen und ein wenig zu reden. Geschimpft hatte er freilich, ohne reden zu können, von allem Anfang an aus seinem Korb heraus wie ein Rohrspatz. Da lag er drinnen, anzusehen wie ein halbverhungerter Rabe, mit dem langen dünnen Halse, der grossen Nase und den runden schwarzblanken Augen, die schon ganz früh eine Verruchtheit verrieten, die später sein Stolz und seine Stärke wurden.

Nichts hatte er von ihr, wie sie meinte, vor allem nicht ihr schönes, warmes und gütiges Herz.

Er konnte noch nicht einmal laufen, nur krabbeln, doch versuchte er schon, die Mutter von ihrem Lehnstuhl zu zerren, weil er ihn in Besitz nehmen wollte, und konnte dabei blaurot vor Wut werden und um sich schlagen und beissen wie ein kleines Tier.

„Fot! fot!“ schrie er und stiess nach dem unbeweglichen Fettkoloss von Mutter. Sie stiess nicht wieder, das verbrauchte zu viel Kraft. Ihre ganze Vitalität hatte sie nötig, um aufzustehen, wenn ein Kunde kam, und dem ein süsses Maul über die Hängebacken zu machen. Hatte der die Tür wieder von draussen zugedrückt, sank sie allsogleich in den Lehnstuhl zurück, der noch lange nach der „Niederlassung“ Töne des Protestes von sich gab.

Dort sass sie — der Fritzl erinnerte sich in späteren Jahren noch wohl daran — und kaute gern Hutzeln und Nüsse, die etwas trockene Vesper mit dem Fläschlein befeuchtend.

Ihre Kochkunst war nicht allzusehr ausgebildet; ohne viel Vorbereitungen in Szene gesetzt, schnell verschlungen, bestand ihr Menü stets aus einem Gerichte, d. h. aus Verschiedenem, das kunterbunt in einem Topfe aufgesetzt wurde, während der Fritzl meistens aus dem Uebriggebliebenen, aus kalten Näpfen aufgefüttert wurde, besonders in späteren Jahren.

Da fing auch das Nebengelass, das Kabinett, von Fritzl Keuche geheissen, an, zu klein zu werden, und ohne viel Federlesens warf Vevi dem Jungen einen Kotzen ins Gewölbe, ein paar Decken und ein Polster dazu. Nun schlief er mitten unter Obstfässern und Gemüsekörben, eingewickelt und förmlich in sich zusammengeringelt, wie junge Hunde es machen, denn das Gewölbe war kalt im Winter, da Mama Vevi in weiser Fürsorge gerade so viel Wärme aus dem Kabinett herausliess, dass Obst und Gemüse nicht erfroren.

Untertags blieb sie dort oder sass, in Mäntel und Decken verpackt, und so noch monströser anzusehen, heraussen im Gewölbe das traditionelle Kohlenbecken der Hökerin unter den Füssen.

Im Winter kamen die Kunden zu ihr herein: eilige und schwatzhaste Dienstmädchen, kleine Studentlein und Gewerbeschüler ohne Mäntel, mit roten und schwarzen Pulswärmern an den blaugefrorenen Handgelenken; es kamen kleine und grosse, schüchterne und freche Klosterschülerinnen die die Süssigkeiten rasch in den Muff und dann sogleich ins Mäulchen steckten.

Alle kannten den Fritzl und gingen mit ihm um, wie man mit einem zwar amüsanten, aber bösartigen gezähmten Vogel oder einem bissigen kleinen Köter umgeht.

So ähnlich behandelte ihn auch Mutter Vevi, wenn sie friedfertig war, und sie war das wirklich aus Bequemlichkeit und einem angeborenen Hang zum Duseln. Aber, aber! Etwas verdüsterte das Bild ihrer beschaulichen Seele.

Sei es, dass das Fläschlein wohl manchmal seine Wirkung auszuüben begann, sei es, dass in irgendeinem Winkel ihres Gemütes noch ein Stück unausgelösten Temperamentes spukte, von Zeit zu Zeit überkam die sonst so stille Seele ein furchtbarlicher Zorn, der sie ohne Veranlassung fast, ja wie der Blitz aus heiterem Himmel überfiel.

Dann stürzte sie wortlos auf den Fritzl los und zerbläute ihn so lange, bis sie genötigt war, unter Aechzen auf den protestierenden Stuhl niederzusinken, in der Farbe ihren rotvioletten Krautköpfen nicht unähnlich, die in den Stellagen in Reih und Glied standen.

Das waren ihre Quartalszörne, die sich leider in späteren Jahren auch auf die Kunden auszudehnen begannen Harmlose Bürger und Bürgerinnen, kleine Schulkinder, eilige Gewerbeschüler (in der Stadt Gewerbschachteln geheissen), dürftige Präparanden oder Fremde, die, nur ganz bescheiden vielleicht, handeln wollten, bekamen ganz plötzlich zu ihrem masslosen Erstaunen böse Worte um die Ohren und allerlei Waren ins Gesicht geworfen. Standen sie trotzdem noch eine Weile still oder begannen gar aufzubegehren, so konnten sie es erleben, wie Mutter Glocke Aepfel und Birnen Feigen und Bonbons, selbst das vielbegehrte Studentenbrot Lebkuchen und süsses Gebäck im wildesten Tumult durcheinanderwarf, ja das Leinendach ihrer Auslage mit wütenden Griffen herabzerrte, sogar zuletzt anfing, ihrem Handel tatsächlich alle Basis zu untergraben, indem sie ihrem wackligen „Stand“ die Beine ausriss und alle Waren durcheinander mit einer bei ihren Fettmassen ans Wunderbare grenzenden Behendigkeit unter die Zuschauer warf, die sich stets in hellen Haufen einfanden.

Das grösste Gaudium hatten dabei natürlich die Gassenkinder die schon länger, den Finger im Munde, auf einem Bein stehend und sich so um sich selber drehend, in vorausahnender Wonne dem Verlauf der Dinge zusahen.

Endlich war alles so weit gediehen, dass sie sich wie heulende Derwische auf die Leckereien stürzen konnten, während Mutter Vevi, in ihren Grundfesten erbebend, eine Masse unziemlicher Ausdrücke und unflätiger Schimpfworte unter die Menge warf, so unflätig, dass man sie sogar in Gedanken nur errötend und widerwillig wiederholen mochte.

Das Schimpfen dauerte so lange, bis ihr keine noch wüsteren Worte mehr einfielen, oder bis ihr der Atem versagte, um das Gelächter und den Tumult zu überschreien.

Dann watschelte sie, noch immer unter Geschimpfe, ins Gewölbe, dessen schwere, eisenbeschlagene Holztür, die sonst nur während der Nacht geschlossen ward, sie hinter sich zuwarf.

War es dem Fritzl noch gelungen, vor diesem Akt zu entkommen war es gut; wenn nicht, war es schlimm, denn die Reihe kam nun an ihn.

Eine wilde Jagd begann in dem stockdunklen Gewölbe. Der Fritzl suchte instinktmässig zu verhindern, dass die Alte an die Tür des Nebenzimmers kam, denn wenn sie die aufriss und es hell wurde, war er verloren. Da kriegte sie ihn allemal. Je weniger Mutter Vevi ihren leiblichen Sohn erreichen konnte, desto hartnäckiger wurde sie. Wie ein Affe hüpfte der Fritzl von einem Obstfass aufs andere, hopste auf den Lehnstuhl, warf der Keuchenden Krautköpfe vor die Füsse — dennoch, trotz seiner Behendigkeit fiel der Junge ihr fast regelmässig doch noch in die Hände, und in dem tiefen Dunkel entspann sich dann ein Kampf, bei dem beide blindlings aufeinander losschlugen und der Fritzl wie wütend um sich biss, so lange, bis sie ihn aus allen Kräften an sich zog, förmlich in sich hineinpresste, dass er fast in ihrer „Leiblichkeit“ ersticken musste.

Hier und da gelang es dem Fritzl, das Nebengemach zu erreichen und drinnen sofort den Riegel in die Finger zu kriegen. War es ihm, unter triumphierendem Indianergeheul, geglückt, ihn zwischen sich und den entfesselten Fettklumpen zu schieben, so erhob sich alsbald ein solches Gebrüll und Zetergeschrei im Gewölbe — man war im Rathaus und die Polizeiwache ganz in der Nähe —, dass sämtliche Polizeisoldaten aufsprangen die vielleicht gerade alle an ihren Uniformen vorhandenen Knöpfe aufgeknöpft hatten und in der Wärme und in dem Frieden der Wachtstube die Fliegen an der Decke und auf dem Fussboden mit den Augen fingen. Mit krummen Zehen angelten sie nach ihrem danebenstehenden Schuhwerk und liefen schnell fort, im Lauf noch die allernotwendigsten Knöpfe schliessend. Gleich darauf erschienen sie säbelumgürtet und mit strengen, schnurrbärtigen Mienen, zerteilten durch Augenrollen und durch drohende Bewegungen den Tumult, worauf sie mit dem ihnen zukommenden Ernst und der ihnen wohl anstehenden Würde nach feierlicher Eröffnung der Tür den nachbarlichen Kobold, der ihnen schon Streiche genug gespielt, in schöner Uebereinstimmung versohlten. Alsdann sprachen sie je nach der Würde und Laune ein paar Worte mit der verstummten Vevi, zogen auch, je nach Würde und Laune, kürzer oder länger an der Glockin Fläschlein und verschwanden wieder, würdig und mit befriedigtem Ausdruck, in der Richtung nach der Wachtstube zu.

Das Ende eines jeden Quartalszornes war stets gleich, nur der Effekt war für Mutter und Sohn ungleich.

Fritzl hockte immer heulend, von ohnmächtigen Rachegedanken gegen die hohe Polizei und Mutter Glocke gleichmässig erfüllt, doppelt versohlt auf seiner Decke im Winkel, und die Alte lag, nachdem sie noch eine Weile gegröhlt, mit dem leeren Fläschchen schnarchend auf ihrem Bett.

Den nächsten Tag war sie demütig, zerknirscht, voller Erbitterung, nicht gegen Fritzl, sondern stets gegen die hohe Polizei, die nicht früher eingeschritten und so ihre „Sach“ gerettet hatte.

Mit vielem Aechzen und unter einer schweren seelischen Depression suchte sie rings um das Gewölbe, sogar im Rinnstein nach den verschleuderten Waren, und der Fritzl musste nach dem Schreiner laufen, dem sie jedesmal sagte:

„Brunnhuber, da schau her, a Kreiz is, alles is hin! Gestern hat mir der Wind, der elendige, wieder alles umg’schmissen,“ worauf Brunnhuber jedesmal mit schönem Ernst erwiderte: „Ja ja, damisch is er gestern gangen, der Wind!“ ein paar Nägel einschlug, einige Kreuzer einsackte und wieder ins Wirtshaus trollte, aus dem ihn der Fritzl aufgestöbert.

Süss war der Aufruhr dennoch des öfteren für Fritzl. A conto des Wirrwarrs stopfte er sich die Taschen mit guten Sachen voll, die er später, freilich unter Tränen, in seinem Winkel hinabwürgte. Manchmal behielt er auch das eine oder andere Stückchen, das ihn nicht besonders anzog, zurück, um es seinem intimsten Freund, den hinkenden Maxl, gönnerhaft in Wort und Allüren, zu überreichen. So ungefähr waren die Höhen und Tiefen, war das „Auf und Ab“ in Fritzls Jugend, und als wohlbestellter nachmaliger Kampelmachermeister hat er nicht an dem Gewölbe vorbeigehen können, ohne auszuspucken und einen schnellen schiessenden Seitenblick nach der teuren Heimat zu tun.

Eigentlich wäre jetzt von seinem getreuen „Spezl“ und viellieben Freund, dem hinkenden Maxl, zu reden. Doch soll jetzt die Mahn-Rosine an der Reihe sein, und auf unserer Wanderung vom Rathaus und Marktplatz die Girgengass hinauf gegen die Paradeisgass zu steht ihr elterliches Haus auch gerade am Weg.

Wenn man das Palais Glocke zum Vergleich heranzieht, war freilich dagegen gehalten die Mahn Rosine, die bestimmt war, in Fritzls Leben eine Rolle zu spielen, „in Herrlichkeit geboren“.

Tochter des Tändlers und Kleiderhändlers Aaron Mahn und seiner Ehefrau Malche, geborene Blumenstätter, war man über ihren Vater nicht im unklaren, wie über den des pp. Fritzl. Die Hebamme hatte sofort die ordnungsgemässe Solidität und das durchaus zu billigende Bestreben des kleinen Kindleins, dem „Date“ ähnlich zu sehen, konstatiert. Nur die Peinlichkeit allein, mit der die Nase der kleinen Rosine sich bemühte, aufs Haar der des alten Aaron zu gleichen!

Die jüdische weise Frau konnte sich nicht enthalten, der Wöchnerin anerkennend zuzurufen: „Malche, des hascht de gut gemacht, ganz der zwett Alt’!“

Doch Malche, von der der spätere Hang Rosinens für alles Schöne und Ideale stammte, hatte für die Art Schönheit und für dieses Ideal kein Verständnis bekundet, sondern nur ein paar tiefe, ja beschämte Seufzer ausgestossen, die schon eher ihre Enttäuschung und Erbitterung bekundeten; ja, sie machte später ihrer Verwandtschaft gegenüber kein Hehl daraus, dass es ihr furchtbar bitter sei, dass das Rosinchen nicht ihr gleichen wollte, sondern hartnäckig fortfahre, immer tiefer in die Aehnlichkeit mit dem „Date“ hineinzugeraten. Diese fieberhaften Bestrebungen des Kindes, den Alten nachzuahmen, erlebte das schöne Malche freilich nicht allzulange. Acht Monate nach der Geburt des kleinen Mädchens legte sie sich hin und starb.

Die Verwandtschaft des alten Aaron, boshaft und schlagfertig wie er selber, die stets im Krieg mit dem ideal veranlagten Malchen gelegen hatte, behauptete, dass sie, eitel wie sie gewesen, aus Gram darüber gestorben sei, dass das Rosinche, eine echte „Mahn“, sich hartnäckig weigere, den idealen, aber bornierten Typus der Blumenstätter anzunehmen, und lieber aussehen mochte wie sie, die rassigen und siebengescheiten Mahns. Das hatte sie, die sich im Kinde wiederfinden wollte, nicht überlebt.

Frau Malchens Höchstes war freilich von jeher die Schönheit und die „Kunscht“ gewesen. Da kam sie allerdings bei Vater Aaron selbst sowie in seinem Tun und Treiben, Leben und Sein nicht auf ihre Rechnung. Ihre heissen Wünsche und Sehnsüchte fielen ganz aus dem Rahmen des geschäftigen, streng und eng geführten Lebens im Hause Mahn. Der alte Aaron jedoch, der seine viel jüngere schöne Frau nicht gern andere Pfade hätte wandeln sehen mögen als „zulässige“, erlaubte ihr, schlau und bequem, wie er zugleich war, alle Extravaganzen, die sie allein geniessen konnte und die ihr zugleich harmlos und dennoch prickelnd dünken sollten, ihm aber tauglich und angebracht erschienen für ihr etwas zu jugendlich überschäumendes Temperament. Sie konnte alle Konzerte besuchen, die sie wollte; sie konnte im Theater der kleinen Stadt die blonden und braunen Liebhaber anschwärmen oder im Laden und in der Wohnung Tränen über irgendein unnützes Buch vergiessen.

„Das koscht’t nit so viel,“ beschwichtigte er die Stichler und Hetzer aus seiner Familie, „müsst’ ich bezahle mit meiner Ehr’ wär’s mehr, so sind’s ä paar Grosche und sie is zufriede und ich auch.“

Also in ihren Gefühlen sanktioniert, schwärmte das schöne Malche für die meisten männlichen Mitglieder aller Truppen und Trüppchen, die ins Städtchen kamen und in der in einen Musentempel umgewandelten, ehemaligen romanischen Kirche ihre romantischen Schauspiele und verkürzten „aktuellen“ Lustspiele den hungrigen Kleinstädtern kredenzten. Auf diese harmlose Weise löste das Weib Aarons alle ihre unausgelösten erotischen Gefühle schamhaft und keusch aus. Dabei hielt sie streng dem Alten die eheliche Treue, stets demütig und dankbar, und das bisschen böse Gewissen, das sie meinte haben zu müssen, gab ihr in den Augen des alten Fuchses eine Charme mehr, obwohl er vom Theaterrennen und vom „Stuss“ seiner Frau sprach. Ihr Tod ging ihm sehr nahe, da auch seine Eitelkeit mit im Spiel gewesen und er sich gern prahlend neben ihr gezeigt hatte; er verkroch sich ganz ins Haus und ins Geschäft, während er sonst, besonders an hohen jüdischen Festtagen, mit dem Zylinder, das Malche schön geputzt, rauschend in Seide, auf der Promenade gewandelt war.

Jetzt kam er kaum vor die Ladentür; selbst als das Rosinche so weit war, ihren Wünschen Ausdruck zu verleihen, und das war ziemlich früh, und beständig bettelte, „hörschde Date, nemm mich mit,“ schielte er nur über die Brille auf die kleine Kreatur herunter, liess sich aber nicht erweichen. Er hatte das Kind gern auf seine Art, aber ausgehen mit ihm? Wozu? Staat war keiner mit dem Rosinche zu machen. Erstens blieb’s ewig ein Knirps, und nichts wollte wachsen an ihm, nur die Nase und der Kopf, und dann ging es knipp — knapp, und er, der alles gern im Sturmschritt nahm, kam mit dem hüftenlahmen Kreatürchen nicht vom Fleck. Nein, er war nicht zärtlich und nicht von der Sorte:

„Ich und mein Knipperlknapp

Geh’n mer spazieren,

Geh ner her Knipperlknapp,

Lass dich schön führen.“

Das schöne Führen hatte er niemals verstanden, auch zu Malchens Zeiten nicht, und ausserdem — was hätte er denn mit dem kleinen Ding reden sollen? Vom Geschäft wusste es doch nichts. Das sollte nur droben bleiben in der grossen Wohnstube, die, wie hinten die gute Stube, mit zwei Fenstern die ganze Front des engbrüstigen Hauses einnahm.

Unten war der Laden, daneben ein schmales Hinterzimmer und die Küche, im dritten Stock die Kemnate der alten Tante, die seit der Mutter Tod das Rosinchen betreute, das Schlafzimmer des Alten und des Töchterchens daneben, dazu eine Kammer für die Magd.

So waren in den drei Stöcken die Zimmer und Zimmerchen verteilt, und Treppchen und Stiegen und Absätze und Nischen und Gänge gab es noch genug innerhalb dieses Winkelwerks; denn die Hinterzimmer lagen niederer als die Vorderzimmer, und ausser der Treppe, die eng und schmal war und an den Ecken mit einem unerwarteten und energischen Ruck kehrtmachte, ehe sie weiter führte, bestanden noch Separathühnerleitern oder Stiegen von Stock zu Stock.

Das hatte für Frau Malche etwas sehr Heimliches und Romantisches gehabt, die alten Gänge und Stuben in die ihr Mann so viel schönes und altertümliches Gerät hinemtrug, aber das Rosinche sagte schon mit drei Jahren bestimmt und überlegen: „Ich möcht’ ä neu Haus; ich möcht’ ä schönes Haus und Plüschmöbel.“ Ja, das Rosinche hatte Ambitionen!

Als es anfangen sollte, in die Schule zu gehen, begann der Vater sich für das Kind zu interessieren. Wenn er mit ihm des Abends am Tische sass oder wenn er die Kleine im Ladenstübchen auf den Knien hatte und rechnen liess, grinste er über das ganze Gesicht. Das war Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blute! Und bald stand das Rosinche im Laden hinter der Theke. Allerdings schauten nur ein paar graue, etwas hervorquellende Augen und eine grosse Nase über den Ladentisch, und man sah den zehn Fingern, die sich ans Brett krallten, die Mühe an, sich so weit oben zu halten. Aber die grossen Augen wunderten und wunderten und liessen den Käufer nicht los, verfolgten ihn, wenn er etwas in die Hand nahm, wurden unruhig, wenn er handelte; ging er und hatte gekauft, so platzte das Rosinche heraus: „Was hat er gegebe for die Stiwwel?“

Ging er, ohne zu kaufen, so verliess das Kind lautlos seinen Platz, und in den grauen Augen war ein Ausdruck von Geringschätzung für den Vater.

Die Kleider Rosinchens behielten beharrlich den Geruch des Ladens, denn das kleine Mädchen war viel mehr unten als oben.

Da das Hinterzimmer auch noch mit Waren, vornehmlich mit Stiefeln, vollgepfropft und die Tür zwischen Laden und Hinterzimmer beständig in Bewegung war, hatte sich auch dort derselbe fatale Geruch festgesetzt, der im Laden dominierte, dem alten Mahn aber nicht mehr zum Bewusstsein kam, denn er kannte keine andere Atmosphäre; die sonntägliche Luft in den oberen Räumen schnaufte er misstrauisch ein, und sie erschien ihm unzuträglich.

Ueberhaupt die Sonntage hasste er. Die benutzte gewöhnlich die alte Tante, die sonst seiner nicht habhast werden konnte, sich an ihn zu hängen wie eine Klette. Da begann sie von den zahlreichen Krankheiten zu erzählen, die sie während der Woche überfielen, oder von den ebenso zahlreichen früheren Mägden, die es durchaus nicht hatten einsehen wollen, dass das Haus Mahn ein Eldorado — oder — aber das war ein gefährliches Thema — über das Rosinchen zu klagen; denn die alte Tante war weichen Gemütes und liebte das Kind, obwohl es, spottsüchtig und respektlos, einstweilen seinen Witz an der Alten ausübte.

Diese schüchternen Klagen aber passten dem Vater Mahn gar nicht; er war in dem Punkte sehr empfindlich; schön war das Rosinche nicht, also musste es doch brav und gescheit sein. Jetzt war die alte Schaluppe schon so lange Jahre im Haus und wollte das nicht einsehen!

„Des steckt dich zehnmal in de Sack, gelt, des sind dein Schmerze?“ spottete er.