Winterdiebe - Gisela Garnschröder - E-Book

Winterdiebe E-Book

Gisela Garnschröder

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Eigentlich ist Burghard Fosser ein Gauner. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, braucht er aber erst einmal Geld. Und bevor er den nächsten Coup planen kann, heuert er kurzerhand beim Bauer Schultenbaum an. Kurz vor Weihnachten ist auf dessen Tannenbaumfeldern viel zu tun. Die Arbeit ist simpel, die Bezahlung gut. Doch dann lernt Burghard aber Susanne kennen, die Halbschwester des Bauern, und auf einmal gibt es einen weiteren Grund für ihn zu bleiben. Die beiden kommen sich schnell näher und Burghard versucht seine kriminelle Vergangenheit vor ihr zu verbergen. Doch auch Susanne hat Geheimnisse, die sogar ihr Leben bedrohen. Gemeinsam wollen beide sich eine Zukunft aufbauen, aber die Vergangenheit holt sie unaufhaltsam ein. Und plötzlich schweben sie in großer Gefahr.

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Die AutorinGisela Garnschröder ist 1949 in Herzebrock/Ostwestfalen geboren und aufgewachsen auf einem westfälischen Bauernhof. Sie erlangte die Hochschulreife und studierte Betriebswirtschaft. Nach dem Vordiplom entschied sie sich für eine Tätigkeit in einer Justizvollzugsanstalt. Immer war das Schreiben ihre Lieblingsbeschäftigung. Die berufliche Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt brachte den Anstoß zum Kriminalroman. Gisela Garnschröder wohnt in Ostwestfalen, ist verheiratet und hat Kinder und Enkelkinder. Sie ist Mitglied bei der Krimivereinigung Mörderische Schwestern, beim Syndikat und bei DeLiA.  Von der Autorin sind bei Midnight außerdem erschienen: Steif und Kantig Kühe, Konten und Komplotte Landluft und Leichenduft 

Das BuchEigentlich ist Burghard Fosser ein Gauner. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, braucht er aber erst einmal Geld. Und bevor er den nächsten Coup planen kann, heuert er kurzerhand beim Bauer Schultenbaum an. Kurz vor Weihnachten ist auf dessen Tannenbaumfeldern viel zu tun. Die Arbeit ist simpel, die Bezahlung gut. Doch dann lernt Burghard aber Susanne kennen, die Halbschwester des Bauern, und auf einmal gibt es einen weiteren Grund für ihn zu bleiben. Die beiden kommen sich schnell näher und Burghard versucht seine kriminelle Vergangenheit vor ihr zu verbergen. Doch auch Susanne hat Geheimnisse, die sogar ihr Leben bedrohen. Gemeinsam wollen beide sich eine Zukunft aufbauen, aber die Vergangenheit holt sie unaufhaltsam ein. Und plötzlich schweben sie in großer Gefahr.   Midnight - Seite für Seite Nervenkitzel!

Gisela Garnschröder

Winterdiebe

Fast ein Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Midnight. Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2015 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-057-3  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.   Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

I

Der Tür zur Freiheit öffnete sich automatisch. Burghard Fosser, ganz Gentleman, winkte der jungen Beamtin an der Pforte der Justizvollzugsanstalt freundlich zum Abschied zu, nahm seinen schäbigen, veralteten Koffer in die Hand und ging zum Parkplatz auf der anderen Seite der Anstalt hinüber. Fast ein Jahr lang hatte er sich in der Obhut des Staates mehr oder weniger wohl gefühlt. Er war es gewohnt, sich immer mal wieder einige Monate in der Haft von seinem unsteten Leben auszuruhen. Da er den Rummel kannte, war es für ihn auch nicht weiter schlimm gewesen. Er hatte sich gleich zu Anfang für eine Arbeit in der Großwäscherei der Anstalt beworben und dadurch immer über ausreichend Geld verfügt, um sich beim monatlichen Einkauf einige Annehmlichkeiten seines früheren Lebens zu gönnen.

Er bezog eine Zeitschrift, um immer die neueste Herrenmode zu kennen, und war gut informiert, wenn es um die Qualität von Rasiercremes, Aftershaves und die neuesten Hemden ging. Burghard Fosser liebte es, aufzufallen, allerdings nur äußerlich. Er war ein stattlicher Mann von 45 Jahren, der bei den Frauen beliebt war.

Als er nun so an der Straße stand und an sich hinunterschaute, war er zufrieden mit seinem Aussehen. Die Lederjacke war aus dem besten Material und erst direkt vor seiner Inhaftierung in seinen Besitz übergegangen, genauso wie die Jeans. Und da jetzt Oktober war, und die Witterung kühl, hatte er sich noch vor der Entlassung einen neuen Pullover mit dazu passendem Hemd in die Anstalt schicken lassen.

Burghard schaute in sein Portemonnaie und zählte die Scheine. 750 Euro hatte ihm der Beamte in der Zahlstelle ausgezahlt. Das würde locker für das Taxi zum Bahnhof reichen. Von dort wollte er nach Lippstadt fahren, wo schon eine kleine Wohnung auf ihn wartete, die ihm der Sozialarbeiter der Anstalt besorgt hatte. Es konnte also losgehen mit der Freiheit und all ihren Annehmlichkeiten.

Als Burghard Fosser jedoch die kleine Wohnung in einem schäbigen Miethaus in der Nähe des Bahnhofs betrat, wusste er, dass er es hier nicht lange aushalten würde. Er hatte nicht viel erwartet, und war dennoch enttäuscht.

Die Wohnung war zwar sauber und besaß eine kleine Küche, die er gleich nutzen konnte, aber das Bad war uralt und übersät von abgeplatzten Fliesen, die Türen verkratzt und die Wände hatten keine Tapeten, sondern der Putz war lediglich mit weißer Farbe überstrichen worden. Eine Frau oder einen Bekannten mit hierherzubringen, war undenkbar. Dafür war ihm die Wohnung einfach nicht gut genug.

Burghard holte den Schein aus der Tasche, der es ihm erlaubte, im Recycling-Hof der Stadt Möbel zu erstehen. Er legte seine wenigen Habseligkeiten in der Küche ab und machte sich auf den Weg.

Schon am späten Nachmittag hatte er ein Bett, Bettzeug, einen schmalen Schrank, sowie zwei Stühle und einen Tisch für die Küche ergattert, und die netten Leute dort hatten ihm die Möbel sogar bis in die Wohnung transportiert.

Nun saß er vor seinem kleinen Fernseher, den er sich bereits in der Haftanstalt gekauft hatte, knabberte Nüsse und trank dazu einen guten Wein, den er im Supermarkt hatte mitgehen lassen. Er hatte einfach eine Kiste Wasser gekauft, in der Mitte eine Flasche ausgetauscht, sie unten in den Einkaufswagen gestellt und war an die Kasse gegangen. Die Verkäuferin hatte kurz hingesehen, sich über das Kompliment gefreut, das er ihr wegen ihrer Frisur gemacht hatte, das Wasser eingetippt und ihm die Rechnung präsentiert.

Burghard genoss den Abend, denn die Matratze war gut und der erste Tag in Freiheit durchaus ein Erfolg, wenn auch die Wohnung keinesfalls seinen Wünschen entsprach. Am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach einem Job. Natürlich war er in vielen Dingen versiert und seiner Meinung nach konnte sich jeder Arbeitgeber glücklich schätzen, ihn als Mitarbeiter einzustellen. Selbstverständlich kam für ihn aber auch nicht jede Arbeit infrage.

Burghard war in einem Waisenhaus in der Nähe von Arnsberg aufgewachsen und hatte immer die schönen Häuser und Villen in der Stadt bewundert und sich geschworen, irgendwann einmal auch in einem schönen großen Haus zu wohnen. Die Heimleiterin, die von allen Kindern TanteRosalie genannt wurde, hatte den Jungen mit dem blonden Haar und den großen braunen Augen ins Herz geschlossen – und verzieh ihm so manche Unart, für die andere Kinder bestraft wurden. Sie hatte ihn gedrängt, die Realschule zu besuchen und ihm nach seinem durchaus passablen Abschluss die Ausbildungsstelle in einem großen Betrieb in der Stadt besorgt. Er enttäuschte sie nicht und schloss seinen Industriekaufmann mit einer guten Note ab. Sein erstes Gehalt nach der Ausbildung reichte allerdings gerade für eine kleine Wohnung und das täglich Notwendige. Extras waren einfach nicht drin und Burghard wurde immer unzufriedener.

Als er sich endlich das Geld für den Führerschein zusammengestottert hatte, war er schon zwanzig und wohnte noch immer in seiner kleinen Wohnung. So konnte es nicht weitergehen, entschied er, und lieh sich einen Geldbetrag aus der Firmenkasse, um sich ein Auto zu kaufen. Leider kam der Boss dahinter und Burghard wurde fristlos gekündigt. Allerdings verzichtete der Chef auf die Anzeige, als er das Auto wieder verkaufte und das Geld zurückzahlte. Aber in der Stadt wollte ihn niemand mehr als Kaufmann einstellen.

Burghard zog um nach Soest und arbeitete eine Zeitlang in einem Getränkebetrieb als Mädchen für alles, bis er dort Anita traf. Anita war eine schüchterne, reizlose junge Frau aus gutem Hause, die ihren Lebensunterhalt als Bankkauffrau verdiente und über eine komfortable Eigentumswohnung verfügte, die sie von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte.

Burghard lernte endlich den Luxus kennen, den er sich immer gewünscht hatte und ging großzügig damit um. Doch Anita war kleinlich und störte sich an dem großspurigen Lebensstil, den er mit ihrem Geld finanzierte. Die Beziehung ging in die Brüche und Burghard zog weiter. Er scheute sich von nun an, eine geregelte Arbeit anzunehmen, und verdiente seinen Unterhalt stattdessen als liebenswerter, gut aussehender Schwindler und Hochstapler, dem die Frauen gern ihr Herz und ihr Geld schenkten. Hin und wieder ging das schief und Burghard Fosser fand sich im Gefängnis wieder. Aber er hatte es geschafft, sich über zwanzig Jahre ohne festen Beruf durchzuschlagen.

Nach diesem letzten neuerlichen Aufenthalt in staatlichen Gefilden schwor er sich, etwas zu ändern. Also musste zuerst einmal eine ordentliche Arbeit her. In der Haftanstalt hatte er neben seiner Tätigkeit in der Anstaltswäscherei einen Kurs für moderne Bürokommunikation belegt und mit Auszeichnung bestanden. Im Jobcenter machte man ihm allerdings wenig Hoffnung, mit dem Papier eine Anstellung in der Verwaltung oder eine Stelle in einem Büro zu finden.

»Mit Ihrer Haftstrafe werden Sie nirgendwo eine Vertrauensstelle in einem Büro bekommen«, machte der Sachbearbeiter seine hochfliegenden Pläne zunichte. »Ich habe hier eine Stelle als Mitarbeiter in einem Getränkebetrieb in der Bahnhofstraße und eine Anstellung auf einem Bauernhof in der Nähe von Meschede als Aushilfe für die Weihnachtsbaumaktion im Angebot.«

Burghard überlegte nicht lange und stellte sich bei dem Getränkebetrieb vor, weil er diese Arbeit schon in jungen Jahren gemacht hatte und sich damit auskannte. Er konnte gleich anfangen, musste Kisten stapeln, Flaschen sortieren und Lkws beladen. Nach drei Wochen war Burghard um einige gut ausgebildete Muskeln reicher und hatte den ganzen Kram bereits satt. Er ließ sich sein Geld auszahlen und fuhr mit dem Bus zu dem Bauernhof mit den Weihnachtsbäumen. Das erste, was er bei seiner Ankunft in dem kleinen Ort sah, waren riesige Nadelbäume beidseitig der Straße. Der Bus brachte ihn zu einer Haltestelle mitten im Wald.

»Schultenbaum«, rief der Busfahrer, und Burghard stieg mit gemischten Gefühlen aus. Als der Bus weg war, sah Burghard Fosser sich um und entdeckte hinter dem hölzernen Bushäuschen einen schmalen Weg, der den Hang hinaufführte. Nach einer Viertelstunde des Anstiegs hörte der Wald abrupt auf und vor ihm lag inmitten von grünen Weiden ein Hof, der so versteckt unter hohen Eichen lag, dass man nur die roten Dachpfannen durchblitzen sah. Burghard legte einen Schritt zu und hatte nach einer weiteren Viertelstunde den Hof erreicht. Beim Näherkommen stellte er fest, dass der Hof noch eine befestigte Zufahrt zur anderen Seite hatte und komplett mit Steinen gepflastert war.

Was hatte der Mann vom Jobcenter gesagt? Wie hoch sollte der Anfangslohn sein? Burghard wusste es nicht mehr und überlegte, ob der augenscheinlich aufgeräumte Hof nun einen guten oder schlechten Lohn versprach. Noch bevor er seine Überlegungen beendet hatte, kam ein riesiger Bernhardiner auf ihn zu und bellte ihn lautstark an. Burghard mochte Hunde, doch dieser war ziemlich groß und schien nichts von seiner Tierliebe zu spüren. Am liebsten wäre Burghard gleich wieder umgekehrt, aber der Riese mit der faltigen Schnauze baute sich vor ihm auf und knurrte bei jedem Schritt, den er machte, so bedrohlich, dass er es nicht wagte, sich auch nur zu bewegen.

»Bano, hier her!«, schrie plötzlich eine energische Stimme und eine Frau kam durch die weit geöffnete Dielentür auf ihn zu. Der Riese ließ sich brav neben ihr nieder, aber seine wachsamen Augen richteten sich unverwandt auf Burghard Fosser. »Kommen Sie nur, der tut nix!«, fuhr die Frau ihn mit ihrer Befehlsstimme an.

Endlich wagte er es weiterzugehen. In aller Eile besann er sich auf die Höflichkeitsfloskeln, die ihn bei Frauen so unwiderstehlich machten, doch die Frau ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Was suchen Sie hier? Sind Sie von der Versicherung?«

»Ich, äh, nein«, antwortete Burghard völlig perplex, dann fuhr er stotternd fort: »Ich komme vom Jobcenter.«

Der Hund knurrte zu seinen Worten noch lauter und spitzte bedrohlich die Ohren. Sie sah ihn entsetzt an. »Sie wollen hier arbeiten?« Dann begann sie schallend zu lachen.

Er wurde unsicher – was ihm zuvor noch nie passiert war –, und in seinen Gedanken entstand das Bild einer Erzieherin aus dem Kinderheim, die ihn immer an den Ohren gezogen hatte, wenn er Unsinn gemacht hatte. »Ohrenkneifer« hatten die Kinder sie genannt, und alle hatten sie gefürchtet. Warum ihm ausgerechnet jetzt dieser Gedanke kam, konnte er nicht sagen, denn die Frau vor ihm hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Schreckgestalt seiner Kindheit.

Sie war um die 40 und hatte lange dunkle Haare, die sie mit einem übergroßen Kamm zu einem unordentlichen Gewirr auf dem Hinterkopf zusammengehalten hatte. An allen Seiten quollen die zerzausten Strähnen hervor und umspielten ihr ebenmäßiges Gesicht, in dem zwei tiefblaue Augen ihn belustigt ansahen.

Langsam ebbte das Lachen ab und wich einem Kopfschütteln. »Sie wollen wirklich bei uns arbeiten? In dem Aufzug?«

»Gibt es hier kein Arbeitszeug?«, fragte er noch immer irritiert.

»Natürlich«, sagte sie und wischte sich glucksend die Tränen ab. »Haben Sie denn schon mal auf einem Bauernhof oder in einer Gärtnerei gearbeitet?«

»Nein«, sagte er. »Sie müssen mir schon zeigen, was ich tun soll!«

»Kommen Sie mit!« Sie ging durch die große Tür voraus und er folgte ihr in eine riesige Diele, wie er sie schon auf alten Bauernhöfen gesehen hatte. In der Mitte war ein hoher Raum, der oben beidseitig eine Empore hatte, die durch angestellte Leitern zu erreichen waren. An der rechten Seite waren flache Tröge und ein Gitter angebracht, hinter dem früher wohl einmal Kühe gestanden hatten. Jetzt war dort allerhand Gerümpel untergebracht. An der linken Seite waren die Gitter entfernt worden und hinter den Trögen lagen aufgestapelt bis zur niedrigen Decke Tannen, die einen wundervollen Duft nach Harz und Weihnacht verbreiteten.

»Hier wird Ihr Arbeitsplatz sein«, sagte sie und blieb plötzlich vor einem langen Tisch stehen, der am Ende der Diele stand. »Momentan stellen wir aus dem Schnittgrün bundweise verschiedene Zeige zusammen. Sie werden in unserem Stand auf dem Markt verkauft oder an Einzelhandelsgeschäfte im Umkreis geliefert.«

»Was muss ich da machen?«

Er sah sie fragend an und sie schüttelte seufzend den Kopf.

»Marktgerechte Bunde zusammenstellen!«, antwortete sie. »Sie werden doch schon gesehen haben, wie Tannenzweige im Laden verkauft werden.«

»Ach so, ja, ja!« Er nickte, obwohl er immer noch nicht wusste, worin seine Arbeit bestand. Sie merkte es wohl, ging aber nicht darauf ein, sondern öffnete eine schwere eiserne Tür am Ende des Raums und betrat eine Art Umkleideraum, der über einen Spülstein in der Ecke und mehrere Haken an der Wand verfügte, die fast alle vollgehängt waren mit ziemlich verschmutzter Arbeitskleidung.

»Hier können Sie sich umziehen«, sagte Frau Schultenbaum. »Wann können Sie denn anfangen?«

»Sofort!«, antwortete er.

»Und wo haben Sie vorher gearbeitet?«

»In einem Getränkebetrieb!«

»Zeigen Sie mal Ihre Papiere, Herr …?« Sie runzelte die Stirn und sah ihn fragend an.

Erst jetzt fiel ihm ein, dass er sich nicht einmal vorgestellt hatte.

»Burghard Fosser«, murmelte er und holte die Papiere aus der schmalen Mappe, die er bisher verkrampft in der Hand gehalten hatte. Sie nahm sie an sich, ohne einen Blick darauf zu werfen, öffnete eine weitere Tür und betrat eine gemütliche Bauernküche mit weißen Gardinen an den Fenstern, einer modernen Küchenzeile und einer abgetrennten Ecke, in der eine mit roten Polstern bezogene Eckbank zum Verweilen einlud.

»Setzen Sie sich!«

Sie wies auf einen Stuhl, der am Ende des langen Tisches stand. Sie setzte sich ihm gegenüber auf die Eckbank und blätterte in den Papieren. Burghard war so etwas nicht gewöhnt und rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. Und prompt kam die Frage, die er befürchtet hatte.

»Sie waren nur drei Wochen bei dem Getränkebetrieb, wo waren Sie denn vorher?« Noch bevor er antworten konnte, stieß sie empört hervor: »Sie waren im Knast! Zehn Monate?«

Er nickte ergeben. Warum sollte er ihr erklären, dass es nur neun Monate und wenige Tage waren, und das auch nur, weil einige Geldstrafen, die er nicht bezahlt hatte, mit eingerechnet worden waren? Es machte ihm plötzlich nichts mehr aus, dass sie ihn nicht wollte. Es war sowieso ein blöde Idee gewesen, ehrlich arbeiten zu wollen! Dieser Sozialarbeiter im Knast hatte doch keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging. Ohne die kleinen Betrügereien konnte man einfach nicht überleben. So war das nun mal.

Gerade als er schon in Gedanken überlegte, wie er als nächstes vorgehen sollte, sagte sie: »Wir brauchen unbedingt jemanden. Zumindest für die nächsten beiden Monate. Sie können bleiben! Aber nehmen Sie sich in Acht!« Sie drohte mit dem Finger, wie es die Heimleiterin in seiner Kindheit gemacht hatte. »Wenn etwas vorfällt, fliegen Sie sofort!« Sie grinste und setzte hinzu: »Mit Bano ist nicht zu spaßen!«

»Danke!«, stotterte er und dachte an den Hund, der ihn mit Argusaugen gemustert hatte.

»Also abgemacht!«, sagte sie und fuhr fort: »Sie helfen mir vorerst bei der Bündelung der Zweige und später können Sie wie die anderen raus aufs Feld zum Einschlag.« Sie stand auf. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer!«

»Ich kann hier wohnen?« Er war überrascht.

»Ja, natürlich! Oder wollen Sie etwa jeden Tag zwei Stunden mit dem Bus hin- und herfahren?«, sagte sie, sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und ging zur Tür.

Er folgte ihr langsam aus der Küche durch einen Hausflur, wo eine Treppe ins Obergeschoss führte. Unterwegs fiel ihm ein, dass er gar nicht nach dem Lohn gefragt hatte. »Was bekomme ich denn in der Stunde?«

Sie ging nicht darauf ein, öffnete eine Tür am Ende des Ganges im Obergeschoss und sagte: »Hier ist das Bad. Sie müssen es sich mit dem anderen Mann teilen.« Gleich darauf öffnete sie die Tür rechts davon und er blickte in ein schlichtes sauberes Zimmer mit hübschen Gardinen, dessen Mobiliar aus einem Schrank, einem Bett, einem Tisch und zwei Stühlen bestand. »Das ist Ihr Zimmer. Sie bekommen zu Anfang fünf Euro die Stunde und zusätzlich Unterbringung und Verpflegung.«

Burghard hatte schon schlechtere Angebote gehabt und sagte zu. Am Nachmittag fuhr er mit dem Bus zurück nach Lippstadt, sammelte seine geringe Habe ein, informierte den Vermieter über seinen Auszug und verließ die Stadt.

Eine Woche später hatte Burghard Fosser Harzflecken an den Händen und Oberarmen, die er nicht mehr abbekam. Und durch das gute Essen, das Frau Schultenbaum den Arbeitern vorsetzte, hatte er zugenommen, was er deutlich an seinem Gürtel merkte, den er bereits um ein Loch weiter stellen musste. Drei Tage lang hatte er Frau Schultenbaum bei der Bündelung des Schnittgrüns unterstützt und sich gewundert, wie viele Bunde sie in der Stunde schaffte.

Herr Schultenbaum war mit den beiden anderen Männern im Wald gewesen und hatte immer neuen Nachschub gebracht.

Schultenbaum war ein großer kräftiger Mann mit graumeliertem Haar und misstrauischen grauen Augen. Er wusste anzupacken und duldete keine Widerrede. Grummelnd hatte er die Einstellung seiner Frau akzeptiert und Burghard argwöhnisch beobachtet. Die beiden anderen Arbeiter waren der etwa 50-jährige Hugo, der aus dem Dorf kam und als festangestellter Landarbeiter überall mit anpackte, und Janusz, der wie schon im Jahr zuvor zur Vorweihnachtszeit für drei Monate aus Polen angereist war. Die Männer nannten sich beim Vornamen und arbeiteten gut zusammen. Jeden Morgen lieferte Schultenbaum das frisch gebündelte Schnittgrün an die Geschäfte aus. Hugo übernahm das Kommando und die ersten Weihnachtsbäume wurden eingeschlagen.

Am ersten Wochenende auf dem Hof lernte Burghard auch die beiden Kinder des Bauernpaares kennen, die wegen der weiten Entfernung zur Stadt unter der Woche bei der Schwester von Frau Schultenbaum wohnten und nur die Wochenenden zu Hause verbrachten. Fabian war vierzehn und Vanessa sechzehn Jahre alt.

Die Familie bewohnte die Räume an der anderen Seite des Hauses. Burghard hatte sie noch nie betreten und sich immer nur oben in seinem Zimmer aufgehalten. Er war es zwar gewohnt, in der Stadt hin und wieder wertvolle Kleidung oder teure Kosmetikartikel mitzunehmen, aber hier auf dem Hof brauchte er so etwas nicht, und eine Frau, der er den Hof machen konnte, war auch nicht da. Also begann Burghard ohne es zu wollen ernsthaft ehrlich zu arbeiten.

Trotzdem hatte er sich vorgenommen, nach den zwei Monaten den Hof zu verlassen, obwohl es ihm leid tat, dass er dann auf das gute Essen verzichten musste. Auch die Unterbringung war nicht schlecht, er zahlte weder Strom noch Wasser, konnte täglich duschen und sein kleiner Fernseher funktionierte gut, weil der Bauer über eine hervorragende Satellitenanlage verfügte. Da er die Stadt nur mit dem Bus erreichen konnte, gab er kaum Geld aus und sparte alles, was er verdiente. Und bei den zehn bis zwölf Stunden, die täglich gearbeitet wurden, kam mehr zusammen, als er anfangs gedacht hatte. Es störte ihn auch nicht, dass die Bauern im Umkreis wohl über sein Vorleben informiert waren. Er würde nach Weihnachten weit weg sein und hier niemals wieder auftauchen, das hatte er sich geschworen.

II

Am Samstag fuhr er in die Stadt, sah sich ein wenig um und entdeckte zu seinem Erstaunen vor einigen Supermärkten das zusammengebundene Tannengrün, an dem er einen guten Anteil hatte. Ein nie gekannter Stolz erfüllte ihn. Ein Geschäft müsste man haben, dachte er. Und plötzlich war er wieder da, der alte Traum vom Häuschen mit Garten.

Burghard bestellte sich einen Latte Macchiato in der kleinen Kaffeebar am Eingang des Supermarktes und betrachtete gedankenverloren die Leute, die draußen vorbeigingen. Es war noch nicht zu kalt, aber man konnte schon spüren, dass Weihnachten nicht mehr weit war. Im Laden lagen ganze Berge von Nikoläusen und Lebkuchen, und oben über der Theke der Kaffeebar hing ein riesiges Plakat mit einem Nikolaus, der in einer von zwei Rentieren gezogenen Kutsche durch eine verschneite Landschaft fuhr.

Weihnachten war auch in Burghards Kindheit ein Erlebnis gewesen. Jedes Jahr hatte er sich etwas gewünscht und inständig gebetet, dass er es bekommen würde, aber immer war er enttäuscht worden. Statt der heiß ersehnten Eisenbahn gab es eine warme Winterjacke und wollene Strümpfe, und die Schlittschuhe, die er so gern gehabt hätte, bekam eines der Mädchen, das kurz darauf von einem netten Ehepaar adoptiert wurde. Er selbst erhielt stattdessen nur neue Stiefel und eine wärmende Mütze. Nichts was ein Jungenherz begehrt, hatte er je erhalten, nicht einmal der ganz geheime Wunsch, einmal Eltern zu haben, wurde ihm erfüllt. Die einzige, die ihm immer wieder etwas Liebe gab, war die Heimleiterin Rosalie, die ihm später die Ausbildungsstelle besorgt hatte. Burghards Mutter war bei der Geburt gestorben und niemand wusste, wer sein Vater war.

Burghard trank seinen Kaffee, zahlte und verließ die Kaffeebar. Das gute Essen der Bäuerin machte ihn sentimental. Spätestens nach Weihnachten, wenn er wieder irgendwo anders war, und endlich sein altes Leben wieder aufnehmen konnte, würde das vorbei sein. In großen Schritten verließ er die Einkaufszone und ging zur Bushaltestelle. Der letzte Bus zum Hof fuhr um 18 Uhr.

Auf der Bank an der Haltestelle saß eine Frau, die sofort alte Instinkte in Burghard weckte. Nicht weil sie so schön war, denn er konnte ihr Gesicht gar nicht sehen. Ihre Erscheinung faszinierte ihn und er konnte nicht einmal sagen, warum. Die Dame war zwischen 30 und 40 Jahre alt, trug feste hohe Stiefel, einen braunen verschlissenen Mantel, und unter ihrer ebenfalls braunen Baskenmütze quoll langes dunkelblondes Haar hervor. Sie hatte ihre abgegriffene Handtasche aus hellbraunem Leder im Schoß und spielte gedankenverloren mit ihren Fingern.

»Guten Tag!« Sie hob den Kopf und gab den Gruß zurück.

Burghard rieb sich die Hände. »Ziemlich frisch heute, nicht wahr?«, sagte er.

»Finde ich nicht«, gab sie lächelnd zurück. »Für November ist es doch noch ganz angenehm!«

Burghard ließ sich neben ihr nieder und grinste. »Stimmt!« Er lachte jetzt und zeigte seine strahlend weißen Zähne. Er wusste, dass gepflegte Zähne bei Frauen immer Eindruck machen. »Fahren Sie auch zu Schultenbaum?«

Sie nickte und fragte: »Arbeiten Sie da?«

»Ja, aber nur bis Weihnachten. Sie wissen schon: Tannengrünsaison!«, sagte er und fuhr mit einem Augenzwinkern fort: »Ist ganz gut. Man muss schließlich wissen, wie die Tanne ins Wohnzimmer kommt!«

Sie lachte und stand auf. »Der Bus kommt!«

Der Bus war ziemlich leer und sie setzten sich weit auseinander. Als sie später nebeneinander den schmalen Weg hinaufgingen, fragte sie: »Sind Sie auch auf dem Fest?«

»Fest? Welches Fest?«

»Das Tannenfest!«

»Nie gehört. Wo findet das denn statt?«, fragte Burghard interessiert.

»Bei Schultenbaum in der Scheune! Da kommen aus allen umliegenden Bauernhöfen die hübschesten Mädchen und eine von ihnen wird zur Tannenkönigin gekürt. Das ist ein tolles Fest jedes Jahr am Samstag vor dem ersten Advent«, sagte sie und schlug einen kleinen Weg ein, der Burghard bisher nicht aufgefallen war und sich gleich darauf im Wald verlor.

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