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Rüdigers Weihnachtsphobie: Rüdiger hasst Weihnachten. Ausgerechnet am Heiligabend hatte vor drei Jahren sein langjähriger Partner Günther verkündet: „Ich ziehe aus.“ Sein Herz brach und die Ente, die zum Auftauen im Kühlschrank lag, wanderte in den Mülleimer. Seit diesem Ereignis ignorierte er das Fest. Dann tauchte Alper auf und gab dem Tag eine völlig neue Bedeutung. ~ * ~ Ricos Silvesterüberraschung: Rico war nach Teneriffa gereist, um seinen leiblichen Vater zu suchen, doch der hatte sich mit einer Touristin vom Acker gemacht. Das Gleiche galt für seinen Großvater. Damit seine Oma nicht allein war, blieb er auf der Insel und arbeitete in einer Hotelanlage. Als sie jedoch in dem Restaurantbesitzer, bei dem sie arbeitete, einen neuen Gefährten fand, entschloss er sich zur Rückkehr nach Deutschland. An Silvester begegnete er Henning, an den er schon lange nicht mehr gedacht hatte. ~ * ~ Jesses Januarblues Nach der Beerdigung seines besten Freundes baute Jesse ziemlichen Mist. In einer Art Kettenreaktion fielen ihm unliebsame Geständnisse auf die Füße. Danach hatte er nicht nur mit seiner Trauer, sondern auch noch mit seinem schlechten Gewissen zu kämpfen.
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Inhaltsverzeichnis
Rüdigers Weihnachtsphobie
1.
2.
3.
4.
5.
Epilog
Ricos Silvesterüberraschung
1.
2. Vier Wochen später
3.
4.
5.
Jesses Januarblues
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Epilog
Winterkisses
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!
Text: Sissi Kaiserlos/Kaipurgay
Foto: Shutterstock, Depositphotos, IStock KI Bildgenerator
Coverdesign: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, dankeschön!
Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/
Sissi Kaiserlos/Kaipurgay
c/o Autorenservice Karin Rogmann
Kohlmeisenstieg 19
22399 Hamburg
Rüdiger hasst Weihnachten. Ausgerechnet am Heiligabend hatte vor drei Jahren sein langjähriger Partner Günther verkündet: „Ich ziehe aus.“ Sein Herz brach und die Ente, die zum Auftauen im Kühlschrank lag, wanderte in den Mülleimer. Seit diesem Ereignis ignorierte er das Fest. Dann tauchte Alper auf und gab dem Tag eine völlig neue Bedeutung.
Mal wieder half Alper abends im Lebensmittelladen seiner Eltern aus. Das Geschäft bestand seit über 25 Jahren, besaß treue Stammkundschaft und warf genug ab, um die beiden zu ernähren. Für eine Aushilfe reichten die Einnahmen jedoch nicht. Deshalb stand er, im Wechsel mit seinen Geschwistern, in den Abendstunden hinterm Tresen, um seine allmählich nicht mehr taufrischen Eltern zu entlasten.
Während er die Einkäufe von Rüdiger Streitmann, einem besagter treuer Kunden, in die altmodische Registrierkasse tippte, fragte er beiläufig: „Was gibt’s bei dir denn morgen zu essen?“
Den Namen wusste er, weil seine Eltern einen Lieferservice unterhielten. Entweder bestellten die Kunden telefonisch oder direkt im Geschäft. Es gab einige ältere Herrschaften, die zwar in der Lage waren vorbeizukommen, doch die Einkäufe nicht selbst nach Hause schleppen konnten. Das erledigten entweder sein Vater, Bruder oder er. Über diese Lieferungen führten seine Eltern akribisch Buch und verschickten zu Weihnachten Karten an solche Kundschaft. In Rüdigers Fall war es leider sein Vater gewesen, der die Waren an die Haustür gebracht hatte und es war bisher nur einmal geschehen. Vielleicht wegen Krankheit oder sonstiger Gründe.
„Das Gleiche wie immer.“
„Aber morgen ist Heiligabend.“
Rüdiger zuckte die Achseln. „Ja und?“
Seit einiger Zeit hatte er ein Auge auf den wortkargen Mann geworfen. Ob Rüdiger schwul war, wusste er allerdings nicht genau. Man munkelte zwar, dass vor einigen Jahren ein Mann bei jenem gewohnt hatte, aber was bedeutete das schon? Viele Leute vermieteten aus Geldknappheit mal ein Zimmer. Sein Gaydar reagierte jedenfalls unentschlossen.
„Bist du kein Christ?“
„Doch, schon, aber ich feiere eben nicht.“
Alper drückte auf die Summentaste. „Das macht 13 Euro 49.“
Rüdiger reichte ihm einen blauen Schein und begann, die Waren in einen Jutebeutel zu befördern. Es handelte sich um ein bisschen Obst, zwei Sorten Käse, Butter und einige Konserven, ganz klar der Einkauf eines Singles. Diesbezüglich kannte sich Alper aus, schließlich lebte er auch allein.
Er legte das Wechselgeld auf die Theke und überlegte, wie er das Gespräch wieder in Schwung bringen konnte. Sie waren allein im Laden, die Gelegenheit also günstig.
„Früher haben meine Eltern wegen uns Kindern Weihnachten gefeiert. Wir sollten nicht leer ausgehen, während unsere Freunde und Schulkameraden mit Geschenken überhäuft wurden. Inzwischen hat das aufgehört, schließlich sind wir alle erwachsen.“
„Aha“, murmelte Rüdiger, verstaute die letzte Dose und steckte das Wechselgeld ein.
„Für meine Nichten und Neffen gibt’s natürlich noch Heiligabend, aber die sind in einem Alter, in dem das echt keinen Spaß mehr macht. Der jüngste ist 14 und selbst der wünscht sich nur Geld.“
„Waren wir nicht genauso drauf?“
„Wohl wahr.“ Alper seufzte. „Trotzdem frustriert mich das. Irgendwie will keine rechte Stimmung aufkommen, wenn die Gören nach der Bescherung kontrollieren, ob sie auch ja alle die gleiche Summe bekommen haben.“
„Das stelle ich mir ganz schön traurig vor“, stimmte Rüdiger zu. „Ich wünsch dir dennoch schöne Feiertage.“
Der Kunde schulterte die Tasche und ging zur Tür.
„Wünsche ich dir auch“, rief er hinterher.
Die Türglocke schepperte. Durch die große Schaufensterscheibe sah er Rüdiger vorbeieilen. Es regnete bereits den ganzen Tag und gerade hatte es begonnen zu gießen. Das eklige Schmuddelwetter schlug einem aufs Gemüt. Wenigstens bewegten sich die Temperaturen über dem Gefrierpunkt, so dass kein Blitzeis drohte. Obwohl Alper in Deutschland aufgewachsen war, hasste er den Winter.
Neue Kundschaft betrat den Laden. Bis sieben herrschte ein bisschen Betrieb, dann kehrte Ruhe ein. Er fing an aufzuräumen. Erfahrungsgemäß kam in der folgenden Stunde kaum noch jemand vorbei. Seine Eltern würden daher im neuen Jahr die Öffnungszeiten verkürzen, womit er ihnen schon lange in den Ohren lag.
Pünktlich um acht schloss er das Geschäft und ging nach Hause. Seine Wohnung lag nur wenige Straßen entfernt, so dass er sie fußläufig innerhalb weniger Minuten erreichte.
Zwischen den Tagen hatte sein Arbeitgeber Betriebsferien angeordnet. Er musste also erst im Januar seinen Job wiederaufnehmen. Eigentlich würde er gern der Kälte entfliehen, doch dafür fehlten ihm die monetären Mittel. An einem Reisebegleiter haperte es ebenfalls. Seine letzte Beziehung war über ein Jahr her und seitdem Flaute eingetreten. Aber wo sollte man auch einen Partner herbekommen, wenn man auf Clubs keinen Bock mehr hatte? Online einen zu suchen stellte für ihn keine Option dar, dazu war er noch nicht verzweifelt genug. Außerdem war da Rüdiger...
Am folgenden Tag schlug er mittags im elterlichen Laden auf. Ursprünglich nur, um ein paar Lebensmittel zu besorgen. Es war jedoch derart viel los, dass er kurzerhand mit anpackte. Seine Eltern hatten beide die 60 überschritten und man merkte ihnen allmählich die ganzen Jahre an, die sie unermüdlich im Geschäft geackert hatten.
Gegen eins versiegte der Kundenstrom. Er kam endlich dazu, die benötigten Sachen zusammenzusammeln und legte sie auf dem Kassentresen ab.
„Sehen wir uns nachher bei Hülya?“, fragte seine Mutter, die dahinter stand.
Hülya war seine älteste Schwester und mit einem Lehrer verheiratet. Entsprechend waren ihre Kinder am unerträglichsten von seinen ganzen Nichten und Neffen geraten. Hier traf das Vorurteil, dass der Schuster die schlechtesten Leisten besaß, vollkommen zu. Die beiden Jungs kannten weder Bescheidenheit, noch irgendwelche Grenzen. Lieben tat er sie selbstverständlich trotzdem, aber gern mit reichlich Abstand.
„Nein. Ich hab Hülya bereits die Geschenke überwiesen.“ Schöne neue Welt. Statt einen Umschlag zu überreichen, tätigte er eine Online-Überweisung und vielleicht schickte seine Schwester die Knete gleich weiter auf die Konten seiner Neffen.
„Schade. Aber du kommst doch morgen zu Azra?“
Seine Zwillingsschwester hatte einen strenggläubigen Muslim geheiratet. Alper konnte seinen Schwager nicht leiden, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Typ war der einzige aus seiner Familie, der ihn offen wegen seiner Homosexualität anfeindete. Die restlichen Mitglieder hatten seine Neigung entweder akzeptiert oder schwiegen zumindest.
„Leider hab ich was anderes vor“, log er.
Seine Mutter zog eine enttäuschte Miene, drang aber nicht weiter auf ihn ein. Stumm packte sie die Waren in seine Stofftasche und schob ihm diese zu.
Er setzte gerade zu einem Abschiedsgruß an, als die Stimme seines Vaters vom Lager her ertönte: „Alper! Magst du mir mal kurz helfen?“
Obst und Gemüse musste in die kleine Kühlkammer geschafft werden, damit es nach den Feiertagen noch verkäuflich war. Anschließend kontrollierten sie die Ablaufdaten der eingeschweißten Frischfleischprodukte. Das Sortiment war in diesem Bereich auf ein Minimum beschränkt und lediglich deshalb vorhanden, weil sein Vater den Gedanken der Nahversorgung nicht aufgeben wollte. Am Ende sortierten sie drei Packungen Hühnertitten aus, die bereits abgelaufen waren.
„Nimm die mit und mach dir daraus was Schönes zu essen“, bat sein Vater. „Ich muss sie sonst wegwerfen. Unser Kühlschrank platzt bereits aus allen Nähten.“
Folgsam brachte er das Geflügel zum Tresen, obwohl er keine Ahnung hatte, was er mit solcher Menge anfangen sollte. Er trabte wieder zum Lager, in dem sein Vater emsig herumwühlte.
„Brauchst du mich noch?“
Das Scheppern der Türglocke kündigte neue Kundschaft an. Er spähte zum Eingang und sah Rüdiger Streitmann hereinkommen.
„Eigentlich nicht“, erwiderte sein Vater. „Aber es wäre schön, wenn du das hier noch schnell einsortierst.“
Nur halb bei der Sache, da seine Aufmerksamkeit auf Rüdiger gerichtet war, nahm er einen Karton abgepackten Reis entgegen. Das entsprechende Regal stand strategisch so günstig, dass es zum einen Deckung bot, er zum anderen den Kunden im Auge behalten konnte. Während er die Reispäckchen verstaute, bezog Rüdiger vor dem Alkoholika-Sortiment Aufstellung. Nacheinander landeten drei Flaschen Wein im Einkaufskorb.
Feierte Rüdiger nun doch? Obwohl ihn das nichts anging, fühlte sich Alper irgendwie betrogen. Er hatte doch nur freundlichen Smalltalk gemacht, keine Inquisition betrieben. Auf jeden Fall fand er es unhöflich zu lügen, selbst in derart profanen Dingen. Er packte ein letztes Päckchen ins Regal und lieferte den Rest bei seinem Vater ab.
„Danke. Ich nehme mal an, dass wir uns erst nach den Feiertagen wiedersehen, richtig?“ Sein alter Herr zwinkerte ihm zu.
Sie teilten die Abneigung gegen Azras Gatten, nur konnte sein Vater das gut verbergen. Unter vier Augen hatte jener ihm das mal verraten und auch, es nur für die Tochter zu tun. Obwohl seine Eltern keinen von ihnen bevorzugt behandelten, wusste er instinktiv, dass Azra und er für seinen Vater einen höheren Stellenwert besaßen. Vielleicht weil sie die jüngsten waren.
„Richtig. Ich wünsche dir schöne Festtage“, gab er zurück.
Er schenkte seinem Vater ein verschwörerisches Lächeln und verließ das Lager. Rüdiger stand noch am Kassentresen, die von den Flaschen ausgebeulte Stofftasche über der Schulter und redete mit seiner Mutter. Langsam näherte er sich den beiden.
„... schon wegen der Kinder haben wir das natürlich immer gemacht“, hörte er sie sagen. „Inzwischen habe ich mich so daran gewöhnt, dass etwas fehlen würde.“
„Tja. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier“, stimmte Rüdiger zu.
Seine Mutter nickte lächelnd und förderte ein Tütchen Halva unterm Tresen hervor, eine von ihr selbstgefertigte Spezialität, die nur besonderen Kunden vorbehalten war. „Ich wünsche frohe Festtage.“
„Dankeschön.“ Rüdiger nahm das Geschenk an. „Das wünsche ich auch.“
Mit flinken Schritten begab sich jener zur Tür. Alper erreichte den Tresen in dem Moment, in dem die Türglocke anschlug und sah gleich darauf Rüdiger am Schaufenster vorbeigehen.
„Ein wirklich netter Mann“, meinte seine Mutter. „Die Frauen müssen alle blind sein, dass sich noch keine den Junggesellen geschnappt hat.“
„Woher willst du wissen, dass er ledig ist?“
„Er trägt keinen Ehering“, klärte sie ihn im Brustton der Überzeugung auf.
In mancherlei Hinsicht war sie ganz schön altmodisch. Er verzichtete darauf, sie eines Besseren zu belehren. Die Tasche mit seinen Sachen war inzwischen um die Hühnerbrüste ergänzt. Seine Mutter fügte noch drei Tütchen Halva hinzu, kam um die Theke herum und nahm ihn in die Arme.
Zwei mütterliche Schmatzer auf seine Wangen später, verließ er das Geschäft. Wenigstens regnete es heute nicht. Gemächlich machte er sich auf den Heimweg. Eigentlich zog es ihn gar nicht in seine leere Wohnung. Sein Bruder mit Gattin hatte das einzig Richtige getan und das Weite gesucht. Die beiden waren mit ihren Kindern in die Karibik gereist. Ob drei pubertierende Gören eine Bereicherung auf solcher Fernreise darstellten, wagte er allerdings zu bezweifeln.
Er hielt am Ende der Straße, sah nach links und rechts und wollte sie gerade überqueren, als ihm ein rotes Kärtchen ins Auge fiel. Ganz eindeutig eine HVV-Abokarte. Seit man die Dinger beim Einsteigen in den Bus vorzeigen musste, trug er seine stets lose in der Jackentasche. Auf diese Weise ersparte er sich das lästige Kramen nach seiner Börse, dafür war das Risiko sie zu verlieren recht hoch.
Er bückte sich, hob die Karte auf und stellte fest, dass es sich nur um die untere Hälfte handelte. In dem abgerissenen Plastikumschlag steckte eine Marke für drei Zonen. Der Besitzer dürfte sich schwarz ärgern, da das immerhin einen Verlust von 90 Euro bedeutete. Oder konnte man heutzutage kostenfrei Ersatz bekommen, wenn man den Kassenbon präsentierte? Da Alper bislang – toi, toi, toi – keine solche Erfahrung gemacht hatte, war er diesbezüglich ahnungslos.
Unschlüssig drehte er das Kärtchen in seiner Hand, sah zur einigen Metern entfernten Bushaltestelle und scannte den Boden nach dem fehlenden Teil. Vergeblich. Es lag viel Müll herum, auch wegen der Fastfoodkette in unmittelbarer Nähe, aber nicht die zweite Hälfte. Er steckte die Karte ein und setzte seinen Weg fort. Auf der anderen Straßenseite überfiel ihn spontan eine Idee. Sein Fund war doch ein perfekter Vorwand, um bei Rüdiger zu läuten. Ein paarmal hatte er jenen gegenüber dem Laden aus dem Bus steigen sehen, also war seine Ausrede nicht mal allzu weit hergeholt.
Er kehrte um. Weitaus schneller als zuvor, legte er die Strecke zurück und zog sich, vorm Passieren des Geschäfts seiner Eltern, die Kapuze über den Kopf. Seine Mission war zwar legal, dennoch brauchten sie nichts davon mitzukriegen. Rasch studierte er die Klingeltafel und drückte auf den Knopf, neben dem ‚R. Streitmann‘ stand.
„Ja, bitte?“, erklang eine verzerrte Stimme aus dem Mikrophon.
„Ich bin’s, Alper. Ich glaube, du hast was verloren.“
Anscheinend konnte Rüdiger mit seinem Namen nichts anfangen, denn es folgte Stille. Wie auch? Schließlich trug er im Laden kein Namensschild. Für Rüdiger war er eben nur der Sohn des türkischen Lebensmittelhändlers. Nicht gerade aufbauend.
„Ist das eine neue Form von Klingelstreichen?“, erkundigte sich Rüdiger.
„Ich arbeite in dem Laden unter deiner Wohnung.“
„Ach so. Sorry.“
Der Türöffner brummte. Alper stemmte sich gegens Türblatt und trat ins Treppenhaus.
Rüdiger empfing ihn im ersten Stock in der offenstehenden Wohnungstür. „Was soll ich verloren haben?“
„Ich hab eben die untere Hälfte einer Monatskarte gefunden. Dachte, das ist vielleicht deine.“
„Ich schaue eben nach.“ In ausgeleierter Jogginghose und verwaschenem T-Shirt, Klamotten, die nach einem gemütlichen Nachmittag auf der Couch aussahen, ging Rüdiger zur Garderobe. Nach einer kurzen Kontrolle des Börseninhalts, kehrte er zur Tür zurück. „Nein. Meine Abokarte ist noch da. Aber danke, dass du nachgefragt hast.“
Und nun? Alper hatte nur bis hierhin gedacht. „Tja. Dann werde ich sie wohl beim Fundbüro abgeben.“
„Das wird das Beste sein.“
„Also: Nochmals schöne Weihnachten.“ Widerstrebend wandte er sich der Treppe zu, begann langsam die Stufen runterzugehen und betete um ein Wunder.
Nachdenklich sah Rüdiger seinem unerwarteten Besucher hinterher. Das mit der Monatskarte hatte er im ersten Moment geglaubt, doch nun kam ihm die Sache spanisch vor. Wieso wusste Alper überhaupt, dass er eine besaß? Sie waren nie über ein harmloses Geplänkel hinausgekommen. Konnte es sein, dass Alper den Fund nur als Vorwand benutzt hatte, um bei ihm zu läuten? Aber wozu?
Alpers Schritte waren inzwischen im Erdgeschoss angekommen. Plötzlich war es ihm scheißegal, worin dessen Intention bestand, Hauptsache, ein paar Minuten nicht allein sein.
„Alper? Warte mal!“, rief er, stellte sich vors Treppengeländer und spähte nach unten. „Tschuldige, dass ich so unhöflich war. Kann ich mich für deine Mühe irgendwie erkenntlich zeigen?“
Mist! Das klang ja wie ein eindeutiges Angebot. Im Geiste klatschte sich Rüdiger für seine Dämlichkeit mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Ein Käffchen wäre nicht schlecht“, antwortete Alper, glücklicherweise ohne süffisanten Unterton und kehrte um.
Vor Erleichterung seufzte er leise. Zum einen, weil Alper seinen Fauxpas nicht bemerkt zu haben schien, zum anderen wegen der Aussicht auf ein bisschen Gesellschaft. Die letzten drei Jahre hatten ihn ganz schön zermürbt. Mit seinen Eltern herrschte schon seit seinem Outing Eiszeit, ansonsten pflegte er lediglich oberflächliche Kontakte zu Arbeitskollegen. Nach Günthers schnödem Abgang hatte er sich komplett eingeigelt.
„Du bist ein totaler Langweiler“, hatte jener ihm vorgeworfen. „Ich vergeude doch nicht meine besten Jahre, nur weil du zu prüde für Experimente im Bett bist.“
Das tat weh. Vor allem, da er bis dahin in dem Glauben lebte, dass sie eine einigermaßen harmonische Beziehung führten. Ein paarmal hatte Günther ihn auf einen Dreier angesprochen, doch auf seine Ablehnung hin nicht weiter darauf gedrängt. Wenn er gewusst hätte, wie sehr sein Ex Abwechslung brauchte ... nein, auch dann wäre er nicht bereit gewesen, an irgendwelchem Rudelbumsen teilzunehmen. Besonders verletzend fand er, dass Günther ihre Partnerschaft aufs Sexuelle reduzierte. Als hätte alles andere nie existiert.
Alper erreichte den Treppenabsatz. „Ist dir gar nicht kalt?“
Es war tatsächlich ziemlich frisch im Treppenhaus.
„Ein bisschen“, stimmte er zu, löste sich vom Geländer und lief voraus in seine Wohnung. „Ich zieh mir schnell was Anständiges an. Geh doch schon mal in die Küche.“
„Für mich brauchst du dich nicht umziehen.“ Sein Gast stellte vor der Garderobe die Einkaufstasche ab und grinste ihn verschmitzt an. „Wäre ich zu Hause, würde ich jetzt auch so rumlaufen.“
In seinem Kopf tauchte ein verführerisches Bild von Alper auf, in tiefsitzender Jogginghose und fadenscheinigem T-Shirt. Sofort reagierte seine Libido. Während er im Schlafzimmer in eine kuschlige Jacke schlüpfte, versuchte er die sexy Vorstellung zu vertreiben, indem er an abturnende Dinge dachte. Stinkende Socken, Schleifspuren in der Unterwäsche, glitschige Banane mit Ketchup. Das funktionierte ganz gut, vor allem Letzteres verursachte einen angeekelten Schauer.
Als er den Raum verließ traf er auf seinen Gast, der die Bildergalerie neben dem Garderobenspiegel begutachtete. Kleine, von ihm gemalte Aquarelle, überwiegend Landschaftsmotive. Größere befanden sich in den anderen Räumen. Er ging weiter und setzte in der Küche den Kaffeeautomaten in Betrieb.
„Hast du die gemalt?“, wollte Alper von der Diele her wissen.
„Mhm.“
„Du bist talentiert.“
„Nur für den Hausgebrauch.“ Trotz aller Bescheidenheit freute ihn das Lob, insbesondere, da Günther seine Malerei stets als naiven Pfusch bezeichnet hatte.
Alper tauchte im Türrahmen auf und lehnte sich dagegen, die Füße überkreuzt und Hände in den Hosentaschen vergraben. Seine schwarzen Locken waren zerwuschelt, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben, so dass seine sehnigen Unterarme bloßlagen. Dunkler Flaum bedeckte die olivfarbene Haut. Im Ganzen das Sinnbild eines heißblütigen Latinlovers.
Rüdiger ertappte sich beim Starren und wandte rasch seinen Blick ab, doch zu spät. Sein Gast hatte bereits begriffen. Das hatte er an dem wissenden Aufblitzen in den dunklen Augen bemerkt. Somit stand fest, dass sie am gleichen Ufer fischten. Ein Hetero hätte sofort Reißaus genommen oder sein gieriges Glotzen als solches gar nicht erkannt.
Er unternahm einen Ablenkungsversuch: „Bist du eigentlich in Eile? Deine Mutter hat etwas von Bescherung bei deiner Schwester erzählt.“
„Nö. Ich streike dieses Jahr. Meine beiden Neffen habe ich unbar beschenkt und die anderen sind in der Karibik. Auf mich wartet nur eine leere Wohnung.“
Was wollte Alper damit andeuten? Auch in einem Singlehaushaushalt zu wohnen? Oder war der Partner lediglich über die Festtage ausgeflogen? Er hasste es, um den heißen Brei herumzuschleichen.
„Bitte sieh es mir nach, wenn ich etwas direkt bin: Das mit der gefundenen Fahrkarte glaube ich nicht so recht. Was ist der wirkliche Grund dafür, dass du bei mir geläutet hast?“ Sein Herz begann beim Sprechen ängstlich zu schlagen.
So sehr er Ungewissheit auch verabscheute, ahnte er bereits im Vorwege, dass ihm die Antwort noch weniger schmecken würde. Allzu viele Möglichkeiten, weshalb Alper erschienen war, gab es ja nicht. Entweder ging es um Mitleid oder Sex. Obwohl ... bis eben hatte Alper nicht mal gewusst, dass sie gleich tickten, also blieb nur Mitleid.
„Dann will ich auch ehrlich sein: Du interessierst mich“, erwiderte Alper, gab die lässige Pose auf und kam langsam näher. „Und das nicht erst seit gestern. Ich musste unbedingt rausfinden, ob wenigstens die Grundvoraussetzungen stimmen.“
Die Bewegungen glichen denen eines sich anpirschenden Raubtiers. Instinktiv wich Rüdiger zurück, bis die Fensterbank seine Flucht stoppte.
Auf Armeslänge entfernt blieb Alper stehen. „Guck nicht so verängstigt. Ich tu dir nichts. Ich hab schon so lange auf eine Gelegenheit gewartet dich besser kennenzulernen, dass ich sie keinesfalls durch überstürztes Handeln vermasseln werde.“
„Sprach die Schlange und verschluckte das Kaninchen“, murmelte er.
„Was macht der Kaffee?“
Überrumpelt von dem abrupten Themenwechsel, sah er zur Kaffeemaschine. Allerdings müsste er sich an Alper vorbeidrängeln, um dorthin zu gelangen. Der schien seinen Konflikt zu begreifen und trat beiseite, so dass seine Komfortzone gewahrt blieb, als er hinüberging und Becher aus einem Schrank nahm. Während er sie mit Kaffee füllte, überdachte er seine Lage. Durfte er Alpers Interessenbekundung Glauben schenken? Besser nicht. Falls sich die Sache als Finte eines gewieften Jägers herausstellte, saß er hinterher mit zerstörten Hoffnungen da. Dann doch lieber einen kühlen Kopf bewahren und sollten sie aus Versehen in der Kiste landen, den Sex genießen und gut.
„Ich kann leider keine Milch bieten“, meinte er bedauernd und reichte Alper einen der Kaffeebecher.
„Kein Problem. Ich trinke meinen Kaffee eh schwarz.“
Ihm wurde bewusst, dass er seine Pflichten als Gastgeber sträflich vernachlässigte. Er hatte Alper noch nicht einmal einen Sitzplatz angeboten.
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen, da ist es ein bisschen gemütlicher“, schlug er vor. „Ich suche nur schnell die Kekse, die mir deine Mutter geschenkt hat und komme gleich nach.“
„Das ist Halva, keine Kekse.“ Lächelnd zwinkerte Alper ihm zu und schlenderte aus der Küche.
Rüdiger holte das Tütchen hervor, schüttete den Inhalt in eine flache Schale und trug diese mitsamt seinem Becher ins Wohnzimmer. Vorhin, als er vom Einkaufen zurückkam, hatte er ein paar Kerzen im Raum verteilt und angezündet. Der flackernde Schein verbreitete heimelige Atmosphäre und vertrieb ein wenig die Düsternis des Tages. Seit dem Morgen hingen dicke Wolken am Himmel, so dass es gar nicht richtig hell geworden war.
Er lud seine Fracht auf dem Couchtisch ab und ließ sich daran nieder. Alper stand vor einem seiner Lieblingsbilder, ihm den Rücken zugewandt. Das gab ihm Gelegenheit, heimlich die ansehnliche Kehrseite in der engen Jeans zu begutachten.
„Wo ist das?“, erkundigte sich Alper.
„Auf Hallig Hooge. Im Sommer sind die Lichtverhältnisse dort etwas ganz Besonderes. Das Meer reflektiert die Sonne, so dass die Grenzen zwischen Wasser und Marschwiesen an manchen Stellen ganz verschwimmen.“
„Das Bild gefällt mir. Die Vorstellung, bei Sturmflut auf einer Warft zu hocken, allerdings weniger. Ich hab einen Heidenrespekt vor den Urgewalten der Natur.“ Alper drehte sich um, nippte am Kaffee und ließ den Blick über die anderen Wände schweifen. „Hast du dich da an etwas Abstraktem versucht?“
Offenbar war das Experiment gemeint, seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Er hatte das Bild kurz nach Günthers Auszug gemalt und als eine Art Mahnmal hängenlassen. Es bestand aus einer Ansammlung von kräftigen Farbklecksen. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man eine Fratze erkennen.