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Eine Winterromanze in New York Lexi und Liam treffen sich zufällig auf der Eisbahn im verschneiten Central Park und verlieben sich. Leider müssen sie sich ganz überhastet trennen. Zum Glück kritzelt Lexi gerade noch Liams Handynummer in ihr Notizbuch – nur um es an der Eisbahn zu verlieren. Liam findet es und macht sich auf die Suche nach ihr
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Seitenzahl: 154
Susanne Mischke
Winterküsse in New York
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Der Himmel über der Skyline ist blau und klar, und es ist so eisig kalt, dass sogar mein Atem am Schal gefriert. Tapfer beschließe ich, die Kälte zu ignorieren, während ich … elegant über die Eisfläche gleite …
Das würde sich hier gut machen, aber die Realität sieht ein bisschen anders aus. Mit der gesteppten Daunenjacke und dem dicken Wollschal sehe ich aus wie ein Pinguin im Winterspeck, und so ähnlich bewege ich mich auch: Ich watschle übers Eis. Es muss an den neuen Schlittschuhen liegen, die Grandma mir geschenkt hat. Die Kufen sind so scharf geschliffen, sie verzeihen nicht die kleinste Unachtsamkeit. Dazu kommt, dass ich zum letzten Mal vor einem Jahr Schlittschuh gelaufen bin, bei mir zu Hause. In meiner Erinnerung hat es ziemlich gut geklappt und in der Subway auf dem Weg von Brooklyn hierher sah ich mich im Geist schwerelos und grazil wie eine Eisprinzessin dahinschweben. Wahrscheinlich habe ich zu viele Disney-Filme gesehen.
Zwischendurch halte ich immer wieder an, verschnaufe und betrachte die Kulisse: die dünne Schneedecke auf den Rasenflächen, die von Raureif glitzernden Bäume des Parks und dahinter die Wolkenkratzer; strenge, aufwärtsstrebende Linien, die scharf in die klare Winterluft schneiden. Normalerweise stehe ich auf Naturlandschaften und nicht so sehr auf Städte, aber mit New York ist das etwas anderes. Wie so oft in den letzten Tagen berührt mich die Schönheit dieser Stadt tief in meinem Innern, und schon ist da wieder dieser lästige Kloß in meinem Hals. Ich wünschte, Mum wäre hier, oder wenigstens Grandma.
»Du weißt, dass sich Granny nicht die ganze Zeit um dich kümmern kann, sie hat schließlich ein Hotel zu führen«, hat mich meine Mutter vor der Abreise gewarnt. Und ich habe erwidert, dass ich durchaus in der Lage sei, mich selbst zu beschäftigen, schließlich sei ich kein Kleinkind mehr, sondern sechzehn. Ich war voller Vorfreude und stolz darauf, dass ich allein zu Grandma nach New York fliegen durfte. Ich würde die Stadt auf eigene Faust erobern und kam mir allein schon bei dem Gedanken daran richtig cool und abenteuerlustig vor.
Tatsächlich habe ich mich in den vergangenen Tagen recht gut allein durch den Großstadtdschungel geschlagen. Ich bin nicht beklaut oder entführt worden, ich habe mich nicht verirrt und es sogar geschafft, mich mit den Mysterien der Subway vertraut zu machen. Bei alledem habe ich mich nicht einsam gefühlt, sondern eher wie ein Pionier. Oder wenn doch, dann nur für einen flüchtigen Augenblick, und seltsamerweise immer dann, wenn ich etwas besonders schön fand.
Aber allein eislaufen ist irgendwie nicht so toll. Niemand lacht, wenn man hinfällt, keiner ist da, mit dem man lästern könnte über die, die sich noch ungeschickter anstellen als ich. Stattdessen bin ich umgeben von Paaren, Familien und Freundescliquen, die in den immer gleichen Posen für ihre Selfies posieren. Das muss einen ja runterziehen. Trotzdem, ich bereue es nicht, in den Park gekommen zu sein. Welche von meinen Freundinnen zu Hause kann schon von sich behaupten, im Central Park Schlittschuh gelaufen zu sein? Okay, das mit dem Laufen ist relativ, und dass der Wollman Rink zum Trump-Imperium gehört, muss man halt ausblenden. Gar nicht so leicht, wo doch der Name in fetten Lettern auf der Bande steht. Im Geist beschließe ich, diesen Neujahrs-Nachmittag als »tolles Erlebnis« abzuspeichern.
Ursprünglich hatte die Eisbahn am Rockefeller Center auf meiner Liste gestanden. Aber Grandma meinte, dort würde man um die Feiertage herum das Eis vor lauter Menschen nicht mehr sehen. Das hätte immerhin den Vorteil gehabt, dass es keinen Platz mehr zum Hinfallen gibt, erkenne ich jetzt. Inzwischen bin ich schon einige Male auf meinem Hintern gelandet. Aber auch hier ist es ganz schön voll, und ich muss höllisch aufpassen, um nicht dauernd Leute anzurempeln. Dabei hatte ich gehofft, die New Yorker würden ihren Silvesterkater auskurieren und zu Hause bleiben, aber das war ein Irrtum.
Da! Ein Inder mit Steppjacke und Turban rudert windmühlenartig mit den Armen und rast auf mich zu! Der gute Mann hat die Sache anscheinend noch weniger im Griff als ich. Ich kann ihm noch gerade so ausweichen, komme aber selbst ins Trudeln, und genau in dem Moment prallt etwas von hinten gegen meine Beine. Ich schieße nach vorn wie eine angestoßene Billardkugel. Das kann nicht gut gehen. Prompt lege ich eine perfekte Bauchlandung hin, schlittere noch ein paar Meter übers Eis und werde erst von einem Paar Beinen in Jeans gestoppt. Deren Besitzer verfügt zum Glück über ausreichend Standfestigkeit, um dem Aufprall von sechzig Kilo Lebendgewicht standzuhalten. Ein kleines Mädchen in einem pinkfarbenen Anorak knallt mir jetzt auch noch direkt in den Rücken. Wir murmeln beide ein paarmal »sorry«, ich noch öfter als sie,obwohl sonnenklar ist, dass sie es war, die mich zu Fall gebracht hat. Aber die New Yorker sind überaus höflich, das habe ich in den vergangenen zehn Tagen gelernt. Werden sie auf dem Gehweg angerempelt, entschuldigen sie sich, anstatt, wie bei mir zu Hause in Bayern, dem Rempler etwas Unfreundliches hinterherzurufen.
»Ist dir was passiert?«, frage ich die Kleine, nachdem wir uns genug entschuldigt haben.
Sie sieht mich mit großen blauen Augen neugierig an. Ihre Nase ist übersät mit Sommersprossen, rote Locken ringeln sich unter ihrer weißen Bommelmütze hervor. Sie schüttelt den Kopf und ist schon wieder auf den Beinen, während ich noch dabei bin, meine Gliedmaßen zu sortieren und meine Füße so in Position zu bringen, dass ich beim Aufstehen möglichst nicht gleich wieder hinfalle.
»Wirklich, Norah, du musst schon ein bisschen aufpassen!«
Ich lege den Kopf in den Nacken, um zu sehen, woher diese sympathische Stimme kommt, gleichzeitig spüre ich, wie mich jemand an den Ellbogen hochhievt und mich wieder aufs Eis stellt, so mühelos, als bestünde ich aus Styropor. Es ist der Jeansträger, gegen den ich geknallt bin.
»Bist du okay?«, fragt er.
Statt zu antworten, starre ich meinen Helfer an wie ein Schaf. Er dürfte so knappe zwanzig sein und genau wie seine Begleiterin hat auch er ein paar Sommersprossen auf der Nase und … grüne Augen! Sehr grüne Augen. Mit braunen Sprenkeln darin. Wow!, denke ich und stottere dann auf Deutsch: »Ich … ich glaube schon, ja, geht schon wieder«, ehe ich mich darauf besinne, wo ich bin, und ihm nochmals auf Englisch versichere, dass mit mir alles in Ordnung ist. Glaube ich jedenfalls. Probehalber bewege ich meine Handgelenke, die ein wenig schmerzen, weil ich mich beim Fallen gerade noch aufgestützt habe. Aber der Schmerz lässt bereits nach.
»Das kleine Trampeltier, das dich umgefahren hat, ist Norah, meine Nichte«, stellt der Typ die Kleine vor. »Sie kommt aus Little Falls in Upstate New York, dort ist man es gewohnt, mehr Platz zu haben. Norah, entschuldige dich bitte.«
»Das hat sie schon«, versichere ich eilig. »Ist ja nichts passiert. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich heute hingefallen bin.«
»Hab ich gesehen.«
Ich merke, wie meine Wangen heiß und rot werden. Aber das könnte man auch der Kälte zuschreiben.
»Ich bin schon sieben«, lässt mich Norah wissen. »Wie alt bist du?« Sie schaut mich fragend an.
»Sechzehn«, antworte ich. »Ich heiße Lexi.«
»Ich bin Liam«, kommt es von Grünauge. Er schiebt eine Strähne seines dunklen, etwas borstigen Haars unter sein Stirnband. Dieses Lächeln!
»Lexi«, sage ich erneut und erwidere sein Lächeln. Genau genommen strahle ich ihn an wie ein Stadionscheinwerfer.
»Liam und Lexi, Liam und Lexi …«, singt Norah vor sich hin.
Liam und Lexi … hört sich gut an, denke ich.
»War das eben Deutsch?«, fragt Liam.
»Ja, ich komme aus Deutschland. Ich bin über die Weihnachtsferien zu Besuch bei meiner Großmutter.«
Sehe ich da so etwas wie Enttäuschung in seinem Blick? Bin ich jetzt, da ich mich als Touristin geoutet habe, in seinem Ansehen gesunken? Dabei fühle ich mich eigentlich gar nicht wie eine gewöhnliche Touristin. Vielleicht sollte ich noch einmal extra darauf hinweisen. »Ich besuche meine Grandma, sie wohnt in Brooklyn«, erkläre ich.
»Da wohne ich auch. Und woher aus Deutschland kommst du?«
»Daglfing«, sage ich.
»Dägel …?«
»München«, korrigiere ich rasch. Daglfing! Mensch, Lexi!
»Ah, Munich!«, wiederholt er und nickt.
»Weltstadt mit Herz«, füge ich hinzu.
»Wie bitte?«, fragt er in holprigem Deutsch.
»Nichts«, lache ich, denn nach zwei Wochen in der Stadt habe ich gelernt, dass es für einen New Yorker keine andere Weltstadt gibt als die eigene.
Liam sieht mich ein wenig irritiert an. Kein Wunder, bei dem Blödsinn, den ich daherrede. Warum bin ich eigentlich plötzlich so nervös?
»Können wir weiterfahren? Mir ist kalt«, quengelt Norah.
»Ja, ja«, sagt Liam, aber er rührt sich nicht vom Fleck, sondern sagt zu mir: »Du bist Deutsche, hast aber einen irischen Akzent. Wie kommt das?«
»Meine Mutter und meine Großmutter stammen aus Dublin.«
Seine Augen leuchten auf. »Meine Vorfahren stammen aus Fair Isle. Das ist in Schottland, ziemlich weit im Norden. Allerdings war ich da noch nie.«
»Schottland kenne ich auch nicht, aber ich bin ab und zu in Dublin, weil da meine Tante wohnt. Meine Großmutter lebt allerdings schon seit dreißig Jahren in Brooklyn. Sie und mein Großvater sind hierher ausgewandert. Sie hatten ein kleines Hotel mit einem Restaurant, drüben in Williamsburg.« Ich deute nach Osten in Richtung Brooklyn.
»Und jetzt haben sie es nicht mehr?«, fragt Liam.
»Mein Großvater ist schon lange tot, deshalb führt meine Grandma es inzwischen allein. Jetzt, über die Feiertage, ist viel zu tun, deshalb bin ich heute allein hierhergekommen«, erkläre ich, geradeso als müsste ich mich dafür entschuldigen, dass ich allein hier bin. »Und weil sie Manhattan nicht mag«, setze ich hinzu. »Sie ist manchmal ein bisschen schrullig.«
Norah scheint sich zu langweilen, sie umkreist uns wie ein Trabant und singt in einem fort: »Liam und Lexi, Liam und Lexi …«
»Ich kann deine Grandma gut verstehen«, sagt Liam. »Ich bin auch nur hier, weil dieser kleine Quälgeist unbedingt im Central Park Schlittschuh laufen wollte.«
Unsere Blicke begegnen sich und ich spüre, wie meine Wangen noch röter werden.
»Liam und Lexi sind verlie-hiebt!«, treibt es Norah auf die Spitze.
Ich schmunzle verlegen vor mich hin.
»Es reicht, Norah!«, sagt Liam. Die Kleine zieht eine Schnute und verstummt. Liam wendet sich wieder an mich: »Und? Wie gefällt es dir hier?«, fragt er.
»Gefallen?«, wiederhole ich mit weit aufgerissenen Augen, und schon bricht es aus mir heraus: »New York ist die tollste Stadt der Welt. Mir kommt so vieles vertraut vor, aus den ganzen Filmen … Aber wenn man dann da ist, ist es trotzdem ganz anders. Es ist, als würde hier, auf diesem Fleck, die ganze Welt zusammenkommen.« Wenn ich enthusiastisch werde, neige ich zum Herumfuchteln, und auch jetzt illustriere ich meine Worte mit einer weit ausholenden, »die ganze Welt« umfassenden Geste. Dabei kreuzt mein ausgefahrener Arm die Laufbahn des Inders mit dem Turban, der, shit happens, genau in diesem Augenblick nah an mir vorbeifährt. Er gerät ins Taumeln und reißt im Fallen vier Chinesen um, die gerade für ein Selfie posieren. Ehe ich »ups« sagen kann, liegen fünf Menschen ineinander verknäult auf dem Eis, während ich erschrocken meine Handschuhe auf meinen Mund presse. Was habe ich da wieder angerichtet?
Liam blickt für einen Moment verblüfft auf das Menschenknäuel, dann lacht er leise in sich hinein, während Norah ungeniert losprustet.
Verschämt ziehe ich meinen Schal tiefer ins Gesicht. Am liebsten würde ich ganz darin verschwinden. Gleichzeitig spüre ich Liams Hand durch die dicke Jacke auf meiner Schulter.
»Los, nichts wie weg«, flüstert er mir zu, und schon hat er mich untergehakt und wir bewegen uns übers Eis. Ich bin so darauf konzentriert, nicht wieder hinzufallen, dass ich mich lieber nicht an der Unterhaltung zwischen Norah und Liam beteilige. Es schadet bestimmt nichts, wenn ich mal meinen Mund halte. So laufen wir drei Runden. Ich genieße es, und mit Liam, der mich festhält, klappt es auch schon gleich viel besser. Ich habe klammheimlich meine Mütze ausgezogen und in die Tasche meiner Jacke verschwinden lassen, damit meine Haare ein bisschen im Fahrtwind wehen. Mein Haar ist nämlich das Schönste an mir, wie ich finde. Es fällt mir über die Schultern, ist kräftig und haselnussbraun mit einem Stich ins Rötliche. Der Fahrtwind kühlt meine Wangen und jetzt fühle ich mich wirklich wie eine Eisprinzessin. Ich bin glücklich. Von mir aus könnte es ewig so weitergehen.
»Ich will was essen«, quengelt Norah.
»Dann hol dir was«, sagt Liam.
»Nein, du musst mitkommen!«
»Gleich, mein Schatz. Lass uns noch etwas fahren, okay?«
Wir schaffen es noch eine Runde, aber dann rüttelt Norah an Liams Arm wie an einem Glockenseil. »MIR! IST! KALT!«
Ich hätte mich schrecklich gern noch mit Liam mit den grünen Augen unterhalten. Etwas mehr über ihn zu erfahren erscheint mir auf einmal ganz furchtbar wichtig. Aber Liam zuckt bedauernd mit den Achseln und meint, er müsse seinem Babysitter-Job nachgehen.
»Schon gut, ich brauche auch eine Pause«, sage ich.
Ich muss mich wirklich kurz hinsetzen, denn meine Knie zittern und mir ist auf einmal so komisch im Magen. Vielleicht sollte ich einen von diesen Energieriegeln essen, die Grandma mir eingepackt hat. Eigentlich könnte Liam mich ruhig fragen, ob ich mitkomme, denke ich.
»Okay«, sagt Liam. »Wir sehen uns bestimmt nachher noch.«
»Ja, sicher«, sage ich und versuche, nicht enttäuscht auszusehen.
Er lächelt mir noch einmal zu, ich lächle zurück und winke Norah, die mir sogar eine Kusshand zuwirft, hinterher. Dann gleiten die beiden Hand in Hand übers Eis davon.
Vorsichtig bewege ich mich an der Bande entlang zum Ausgang und finde wie durch ein Wunder ein Plätzchen auf einer der Bänke, die nah bei der Bahn stehen, sodass ich nicht extra die Schlittschuhe ausziehen muss. Das spanische Pärchen neben mir, das eben noch herumgeknutscht hat, wäre bestimmt lieber für sich geblieben, das signalisieren mir ihre Blicke überdeutlich. Aber ich kann jetzt keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten Frischverliebter nehmen. Außerdem habe ich inzwischen gelernt, dass man in dieser Stadt um alles kämpfen muss: um ein Taxi, einen Tisch im Restaurant, einen Platz auf einer Bank.
Andere Leute fotografieren, ich zeichne. Okay, hin und wieder mache ich auch mal ein Foto, aber nicht ständig wie die anderen Touristen. Für meinen Aufenthalt in New York habe ich mir extra ein handliches Skizzenbuch mit einem coolen schwarzen Einband gekauft. Es ist schon ziemlich voll. Zum Teil mit bekannten Motiven wie dem Times Square und dem Flat Iron Building, der Brooklyn Bridge von unten, den Blicken auf Manhattan und Brooklyn beim Überqueren der Brooklyn Bridge. Die meisten Zeichnungen sind auf der High Line entstanden, einer ehemaligen Hochbahntrasse, die durch den sogenannnten »Meatpacking District« führt. Der Blick in die Hinterhöfe, die sonst verborgen sind, war so spannend, dass ich immer wieder anhielt und eine Skizze nach der anderen zeichnete. Außerdem ist die High Line üppig begrünt, und die vom Frost erstarrten Pflanzen waren so schön, dass ich mir wünschte, im Sommer da zu sein – dann soll es dort aussehen wie im Dschungel.
Ich habe mich ein wenig verzettelt, indem ich mich tagelang durch Stadtteile wie Chelsea oder Soho treiben ließ und quasi alles zeichnete, was mir in den Blick kam; einen besonders schönen Baum, eine Hausfassade, Wände voller Graffitti, eine Statue, ein Schaufenster, einen Dog Walker, der einen ganzen Strauß Hunde vor sich herführt … An Motiven mangelt es hier wirklich nicht.
Weil ich Pflanzen so gern mag, waren Grandma und ich vorgestern im Botanischen Garten von Brooklyn und danach noch im Brooklyn Bridge Park. Dort habe ich Skizzen von Jane’s Carousel gezeichnet, einem alten Karussell mit wunderhübschen Holzpferden – und wäre es nicht schon wieder so kalt gewesen, hätte ich bestimmt alle 48 Pferde einzeln skizziert.
Jetzt sind nur noch vier Tage Zeit bis zum Heimflug, deshalb muss ich mich langsam beeilen, um noch ein paar der Standard-Sehenswürdigkeiten abzuklappern, solche, die man gesehen haben muss.
Ich ziehe meine Handschuhe aus und werfe eine Skizze von der Bahn und den himmelwärts strebenden Gebäuden im Hintergrund aufs Papier. Ich bin nicht so wie sonst bei der Sache, weil ich immer wieder nach Liam Ausschau halte. Doch ich kann ihn und Norah nirgends entdecken, weder auf dem Eis noch bei den Fressbuden. Auf einmal ertappe ich mich dabei, wie ich auf einem neuen Blatt Liams Gesicht zeichne. Durch das viele Zeichnen bin ich es gewohnt, genau hinzusehen, und unsere kurze Begegnung hat ausgereicht, um mir seine Züge einzuprägen: kräftige, geschwungene Brauen, ein breiter Mund, das Kinn etwas kantig. Bei der Nase bin ich mir unsicher. Im Grunde müsste ich sie mir noch einmal ansehen. Meine Blicke suchen die Eisfläche ab. Weit und breit kein Liam zu sehen, und auch kein rothaariges Mädchen mit weißer Mütze. Sind sie schon gegangen? Vielleicht wollte die Kleine nicht mehr eislaufen, weil ihr kalt war, und sie sind schon auf dem Weg nach Hause. Irgendwo in Brooklyn. Ich seufze. Schade, aber so ist das eben in einer so riesigen Stadt. Man trifft sich, man verliert sich …
»So spitz ist meine Nase aber nicht!«
Erschrocken fahre ich herum. Liam steht hinter mir und grinst, während ich flammend rot anlaufe. Gleichzeitig erfüllt mich eine irrwitzige Freude darüber, dass er noch nicht weg ist.
»Du zeichnest gut«, bemerkt er.
»Jedenfalls kann ich das besser als Schlittschuh laufen«, antworte ich und klappe dabei rasch das Buch zu. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was denkt er jetzt von mir?
Er streckt mir einen dampfenden Pappbecher entgegen. Darin ist eine kirschfarbene Flüssigkeit, die nach künstlichen Fruchtaromen riecht und wohl so eine Art Punsch sein soll.
»Ich dachte, du könntest etwas zum Aufwärmen gebrauchen.«
»Danke«, presse ich hervor und spüre, wie mein Gesicht warm wird. Ich umfasse den Becher. Wärme strömt durch meine klammen Finger. »Wo ist Norah?«
»Holt sich einen Hotdog. Darf ich?« Er deutet auf die Bank.
»Ja, klar«, sage ich hastig. Das Pärchen neben mir ist zum Glück gerade aufgebrochen. Liam hat jetzt braune Stiefel an. Wahrscheinlich hat er für heute mit dem Eislaufen abgeschlossen und die Schlittschuhe schon beim Verleih zurückgegeben.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragt Liam und fährt im selben Atemzug fort. »Ach ja, du bist begeistert von New York und findest es … mitreißend.«
Die boshafte Anspielung entgeht mir nicht, und prompt habe ich die Chinesen vor Augen, die umkippen wie die Dominosteine. Ich fange an zu lachen, Liams Humor gefällt mir.
»Mitreißend in jeder Beziehung«, betätige ich grinsend und wechsle das Thema. »Das letzte Mal war ich vor vier Jahren hier, da war ich immer mit meiner Mutter unterwegs. Es ist etwas völlig anderes, wenn man die Stadt auf eigene Faust kennenlernt.«
»Und es stört dich gar nicht, allein unterwegs zu sein?«, will Liam wissen.