Wo die Zeit beginnt - Amelie C. Vlahosz - E-Book

Wo die Zeit beginnt E-Book

Amelie C. Vlahosz

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Beschreibung

Everilda. Ein junges Mädchen in einer Welt, wo Frauen noch unter ihren Männern standen. Wo Väter ihre Töchter noch verheirateten. Wo das Leben noch anders lief, wenn man als Mädchen geboren wurde. Eine Geschichte in der ein Mädchen versucht die Regeln zu brechen. Das oft scheitert, aber dennoch immer wieder aufsteht. Eine Geschichte eines Mädchens, das ihr Leben selbst bestimmen will.

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Amelie C. Vlahosz

Wo die Zeit beginnt

Roman

Für Gini, denn du hast mich auch aufgenommen.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Anfang

Prolog

Neue Bekanntschaft

Das Verschwinden

Die Nachbarin

Rückkehr

Welpe

Streit

Hochzeitstag

Auf Suche

Hütte

Strafe

Sommerfest

Verliebt, verlobt, verheiratet (geschieden)

Teil 2: Neuer Weg

Prolog

Vater

Rückblick

Kuss

Anwalt

Versuch

Bereit

Teil 3: Wiedersehen

Prolog

Verdacht

Untersuchung

Wiedersehen

Eigenheim

Gericht

Ex-Verlobter

Überraschung

Charlotte

Beerdigung

Feier

Epilog

Nachwort

Teil 1 Anfang

Prolog

"Ich konnte die Vögel draußen hören, so ein Zwitschern, das sich so aufmunternd anhörte. Es war, als hätten sie meine Trauer gespürt. In diesem Bett. Diesem Leben. Als würden sie alles hören und auch nichts.

Es war der Geburtstag meiner Schwester. Um genau zu sein ihr sechzehnter, die Zeit, wo frau in diesem Haushalt als Geschlechtsreif galt. Wie Vater immer sagte: „Die Gefahr ist nun niedriger bei der Geburt zu sterben, denn das Becken ist vollständig entwickelt.“ Wirklich aufregend.

An diesem Tag gab es viel Trubel am Tisch. Alle waren neugierig. Und in dieser Zeit war Klatsch und Tratsch mit an oberster Stelle, (besonders bei der weiblichen Gattung) genauso hier. Und bei fünfzehn Mädchen (sieben weitere schon verheiratet und aus dem Haus), wird es sehr laut im Raum.

Ich, mit meinen Honigblonden Haar und einem leichten rot Stich.

Ich, die wie immer am hintersten Platz von Vater saß. Die mit ihrem dunkelblauen Auge und ihrem dunkelbraunen alles und jeden beobachtete.

Und ich, die eigentlich gar nicht in diese Familie gehörte und es nie tat. Und immer, wenn ich ihn sah, erinnerte es mich daran. Ich weiß nicht viel von meinen wahren Eltern und das würde ich wohl auch nie wirklich, aber ich kannte ihn, ich wusste, was er und wie er war. Wie wenig ich ihm Wert war, denn es kam auch immer zu einem bestimmten Gespräch an solchen Tagen und immer hoffte ich, dass er es dieses Jahr sein ließe. Aber das tat er nicht.

„Ihr fragt euch bestimmt schon, wer der Bräutigam ist, Mädchen“, fing er an.

Alle fingen zu schreien an. Vor Aufregung und Freude natürlich.

Unsere Schwester schien rot zu werden. Aber sie sah auch nicht sehr begeistert aus. Ich wäre aber auch nicht sonderlich begeistert an ihrer Stelle (und mir sollte es nach diesem Mann irgendwann genauso gehen, nach Vaters Wunschvorstellung). Sie kannte ihren Mann - ich korrigiere: ihren zukünftigen Mann - nicht. Sie würde es auch erst bei der Hochzeit erfahren. Und dann würde sie auch erst den Rest erfahren. Wo sie wohnen würde. Wie ihre neue Anrede lauten würde. Ob sie ins Ausland gehen müsste. Ob sie einen ganz reichen oder mittelreichen Mann heiraten würde. Aber er würde definitiv reich sein, denn andere Standards hatte dieser Mann (Vater) nicht.

Natürlich kommt da noch einiges mehr dazu, aber ich werde lieber keine Zeit dafür verschwenden.

Sie selber durfte zu nichts etwas sagen. Sollte es Honigkuchen geben oder Schokoladenkuchen? Sollten die Blumenmädchen geflochtene Zöpfe oder einfache Locken tragen? Wer sollte neben wem sitzen?

Egal, sie durfte das alles ja eh nicht entscheiden. Sie durfte sich nicht mal ihr eigenes Hochzeitskleid aussuchen.

„Da müsst ihr wohl leider noch etwas warten“, sagte er weiter und lächelte uns alle an.

Ich verdrehte nur meine Augen. Die anderen seufzten enttäuscht. Unsere Schwester brummte etwas, verschränkte dann ihre Arme und ließ sich gegen ihren Stuhl fallen. Ihre dunklen Locken wirbelten dabei zurück.

Johanna konnte einem ja schon irgendwie leidtun. Aber ich konnte einem definitiv mehr leidtun.

„Everilda, Mädchen. Keine Sorge, dir finden wir auch jemanden. Er wird zwar nicht den Stand haben, den deine Schwestern sonst bei ihren Männern haben, aber du kommst ursprünglich ja auch nicht von so hoher Geburt“, konnte ich ihn sagen hören. Er wollte mich schon verheiraten. Aber das hatte nicht so funktioniert, als rauskam, dass ich nur adoptiert wurde.

Ich konnte sie streiten hören. Alles ging um die Herkunft. Den Stand. Den Namen. Das Geschlecht. Nicht um Liebe. Nicht um die Persönlichkeit. Und auch nicht um das Können.

Ich wollte da einfach nur raus. Raus aus diesem Haus. Raus aus diesem Leben. Weg davon. Weg von all dem. Und besonders weg von ihm.

Ich sah ihn mit einem finsteren Gesichtsausdruck an. Meine Augen so eng zusammengekniffen, dass ich es nicht einmal merkte. Damals zumindest nicht. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass ich es tat. Er sah mich nämlich ernst an, fasst böse, auch wenn es nur für einen Augenblick war. Er wollte etwas sagen, ich unterbrach ihn aber, bevor er auch nur ganz dazu kam, seinen widerlichen Mund zu öffnen.

„Hör endlich auf, das die ganze Zeit zu sagen! Jedes Jahr aufs Neue! Ich kann es nicht mehr hören!“ Ich schlug meine Hände auf den Tisch. Meine Tasse mit diesem roten Früchtetee fiel um und ergoss sich auf meinen Frühstücksteller, wurde dabei auch sofort von allem Saugfähigen in sich aufgenommen.

Es gab wie immer denselben Tee und dasselbe Gebäck, dieselben Früchte, egal, welche Jahreszeit. Dabei gab es im Winter keine Erdbeeren – und besonders nicht so große rote. Aber bei uns gab es ein Glashaus, mit Gärtnern. Er war ein reicher Mann, der sich einfach alles leisten konnte, egal wie Kostenaufwendig es war. Im normalen Fall konnten sich die einfachen Leute sich sowas nicht leisten. Aber das war einfach kein Problem, nicht für ihn, und ich hatte das Glück, dabei sein zu können.

Ich hatte meinen Stuhl beim Aufstehen geräuschvoll nach hinten geschoben. Bevor er darauf etwas erwidern konnte, stürmte ich schon aus dem großen (nach Reichtum schreienden) Zimmer, mit diesen großen Fenstern, den Verzierungen an allen Wänden, dem Silbergeschirr in den Schränken, sowie dem Keramikgeschirr zum Frühstück und zur Teezeit.

Ich ging durch den Flur, vorbei an der Hausfrau, die den jüngsten und einzigen Sohn von Vater in ihren Armen hielt. Mit seinen zwei Jahren nuckelte er sich noch an seinen kleinen Fingern. Er war süß. Hatte helle blonde Haare und grüne große Augen. Seine Mutter war bei der Geburt gestorben. Nur, weil Vater unbedingt einen Sohn wollte um seine Männlichkeit beweisen zu können und einen Erben zu haben. Seiner Meinung nach waren Frauen nichts wert, wie von vielen anderen Männern auch - wenn nicht, dann hatte sogar jeder Mann diese Meinung. Ich für meinen Teil kannte keinen Mann, der eine andere Meinung gegenüber Frauen hatte.

Sie hatte so viele Mädchen bekommen. Bei Emma - der Jüngsten - wurde schon vor einer weiteren Geburt gewarnt, aber Vater wollte nicht hören.

An diesem Tag gab es einen entsetzlichen Lärm. Alle hatten Angst um Mutter, aber Vater hatte sich nur über sie beschwert, dass sie nicht so laut schreien sollte, dass er am Arbeiten war und eine Geburt ja nicht so anstrengend und schlimm sein konnte, wenn sie vorher schon so viele hinter sich gebracht hatte.

Ich hasste ihn. Er hatte nicht ein bisschen Trauer gezeigt. Er war nur froh endlich einen Sohn bekommen zu haben.

„Na wenigstens hat sie mal etwas Gutes geschafft, bevor sie starb“, waren seine Worte, bei ihrem Begräbnis.

Ich war so wütend. Ich wollte ihn schlagen mit meinen elf Jahren. Meine Fäuste hatte ich vor Wut geballt, dass mir die Hände zu bluten anfingen, weil sich meine Nägel in die Haut gruben. Meine Knochen blitzten weiß durch die dünne Haut, als gäbe es nur den Knochen und nicht mehr. Auf meine Lippe hatte ich mich gebissen und meine Augen waren zu Schlitzen geformt. Ich hörte auf zu weinen. Ich konnte keine Trauer mehr empfinde, so viel Hass empfand ich für diesen Mann. Ich habe ihm den Tod gewünscht. Und noch mehr. Qualen. Unerträgliche Qualen. Mehr als Mutter ertragen musste. Mehr als je eine Frau sonst ertragen musste.

Damals habe ich ihn nicht geschlagen, weil ich von Charlotte zurückgehalten wurde … Charlotte. Sie ist – war - Schwester. Meine beste und auch einzige Freundin (damals zumindest).

Sie wäre mir in diesem Moment hinterhergerannt. Ich hatte es in ihrem besorgten Blick gesehen. Wie sie da neben Vater saß und zu mir sah. Sie wäre mir sofort gefolgt, aber sie hatte Angst. Angst vor Vater. Sie war seine Tochter - ein Mädchen, ein Mädchen, das nichts zu sagen hatte. Vierzehn, sowie ich.

Aber ich machte mir nichts aus diesem Mann. Sollte er mich doch schlagen, wie er es sonst getan hätte.

Charlotte, die mir ohne Strafe hinterherrennen hätte können, wenn sie nur ein Junge gewesen wäre.

Ich hasste dieses Leben. Ich hasste es so sehr.

Immer noch hasse ich es (so unglaublich), wenn ich daran zurückdenke.

Ich weiß, die Zeiten sind hart. Damals, wie heute. Ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich unter einem Dach lebte, ein eigenes Bett hatte, täglich gutes Essen und Trinken bekam, schöne Kleider hatte. Dass ich nicht in der Gosse verrottete.

Aber so war es nun mal. Ich fühlte mich so gefangen. Da war diese innere Leere, die nicht gehen wollte. Sie erdrückte mich.

Ich rannte raus, in den Stall. Mein Pferd stand dort. Ich wusste bis vor kurzem nicht, dass es mir gehörte. Ich hatte es durch Zufall erfahren, dass es meinem leiblichen Vater gehörte. Vater hatte es als seins ausgegeben, Jahre lang, obwohl es meins war. Ich war so wütend. Und er meinte nur: „Was regst du dich so auf? Du bist doch nur ein Mädchen, was willst du denn mit einem Pferd? Und dann auch noch so einem Guten?“

Ich habe natürlich auf mein Eigentum (auch wenn ich dagegen bin, ihn als Eigentum zu bezeichnen – für mich war er immerhin mein bester Freund -, aber in seinen Augen war er nur ein Objekt, wie eine Frau) bestanden und als Wiedergutmachung gefordert, dass er für Unterkunft und alles weitere aufkommt, bis ich meinen eigenen Haushalt führen würde.

Er war nicht gerade begeistert darüber und meinte, dass ich keinen Haushalt gründen würde, nur weitergegeben werden würde.

Ich bestand dennoch auf mein Pferd. Natürlich musste er einwilligen. Er hatte keine andere Wahl. Ich hatte ein paar Drohmittel.

Damals ging ich zu ihm, wie ich es immer tat, wenn es mir schlecht ging - was keine Seltenheit war.

Mit meinem Kopf an seinem gelehnt, strich ich über sein weiches Fell.

Ich sattelte ihn, zog mein Kleid etwas hoch, damit es mir nicht im Weg war, und sprang auf seinen Rücken. Im Männersitz wie immer. Deswegen gab es schon einige Beschwerden. Ein Mädchen hatte gefälligst im Damensitz zu reiten oder gar nicht! Aber wie meistens interessierten mich auch dort die Meinungen anderer nicht.

Ich ritt in den Wald, der hinter dem großen Anwesen lag. Ich überquerte große Wiesen, feuerte den Schwarzen an, bis in den Wald rein.

An diesem Tag fing leider ein Sturm an, von dem ich nichts merkte. Es war ein sonniger Tag, kaum Wolken am Himmel. Wie sollte ich da an einen Sturm denken? Besonders, da ich zu sehr damit beschäftigt war, meinen ganzen Frust von mir zu lassen.

Ich ritt wie eine Wilde, war schon eine große Strecke vom Anwesen entfernt, als es zu regnen anfing. Ich war auf einer Wiese. Sie war voll von Hügeln und kleinen Bergen. Es hatte erst leicht zu regnen begonnen, aber der Schutt kam schneller, als ich hätte zwinkern können. Davor dachte ich noch, dass ich es vielleicht zum Anwesen rechtzeitig schaffen könnte - oder zumindest noch rechtzeitig in den Wald kam, um etwas vor dem Regen geschützt zu sein.

Schnell ritt ich los, aber der Schwarze rutschte aus. Das Gras der Wiese war durch den Regen so schnell nass und rutschig geworden, dass er nicht mal richtig stehen konnte.

Ich ließ einen erschrockenen Schrei von mir, der nicht gerade leise war. Was wohl mein Glück war, was ich allerdings zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste.

Der Schwarze versuchte Halt zu finden. Er stampfte auf den, mittlerweile matschigen, Boden. Immer wenn er dachte, dass er Halt gefunden hatte, rutschte er nur noch weiter ab. Es war so schlimm, dass er schon anfing in Panik zu geraten. Sein rabenschwarzes Fell hatte den Regen schon komplett aufgenommen. Ich hatte mich in der Zeit schon an seiner Mähne festgeklammert.

Er war wild. Wobei, wild ist nicht das richtige Wort, aufgebracht, ja, er war aufgebracht.

Der Regen war kalt und meine Finger wurden langsam taub. Ich hatte nur mein dünnes Kleid an und meine Stiefel. Ich durfte sie eigentlich nicht tragen. Ich hatte Damenschuhe zu tragen, aber unter diesen schrecklich langen Kleidern fielen sie eh niemanden auf.

Meine langen Haare hatten sich auch bereits mit Wasser vollgesogen.

Meine Lippen bebten und Zähne klapperten vor Kälte. Meine Sicht war durch den Regen verschwommen.

Und dann kam es zu einem weiteren Rutsch, der dafür sorgte, dass der Schwarze mich vom Sattel warf.

Ich konnte mich nicht mehr festhalten, ich hatte bereits kein Gefühl mehr in meinen Fingern. Ich hatte nicht mal Kraft zum Schreien.

Ich flog durch den Regen, spürte kaum eine Landung, da ich vom Matsch aufgefangen wurde, sah aber wie auch der Schwarze sich nicht länger halten ließ.

Er war runter gekullert. Aber er stand schnell wieder auf und übersah mich.

Neue Bekanntschaft

Der Schwarze erhob sich und wollte gerade seine Hufe auf mich herab stampfen, da sah ich eine Hand nach seinen Zügeln greifen. Wie sie ihn aus meiner Richtung zerrten und vor meinem Tod – oder zumindest einer großen Verletzung - bewahrten.

Der Schwarze stampfte nach unten und spritzte dabei Schlamm umher, von dem ich auch direkt eine Ladung abbekommen hatte.

Ich konnte eine verschwommene Gestalt erkennen. Die Gestalt sagte etwas, aber ich hörte nichts, außer den Regen, der auf mich nieder strömte. Ich versuchte ein Gesicht zu erkennen, aber meine Sicht war zu verschwommen. Ich sah nur, wie er den Schwarzen unter Kontrolle brachte.

Mittlerweile weiß ich, dass es ein Junge war. Mit strohblondem Haar, blau-grauen Augen und Sommersprossen, die auf seiner Nase wie frisch gefallener Schnee lagen.

Damals war ich vierzehn - kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag.

Und er hatte ein Lächeln, das wie von der Sonne persönlich geformt wurde. Aber damals ... Damals wusste ich es nicht, konnte nur versuchen aufzustehen.

Er hatte den Schwarzen mittlerweile unter Kontrolle gebracht.

Beim Aufstehen blieb ich auf dem langen Saum des Kleides stehen und fiel zurück in den Matsch.

Eine Hand wurde mir hingehalten. Eigentlich wäre ich dankbar gewesen, aber als ich hochsah, konnte ich trotz des Regens ein Lächeln erkennen. Er trug einen Hut, seine Sicht musste daher deutlich besser sein als meine, da ihm nicht die ganze Zeit Regen in seine Augen lief. Die mir hin gehaltene Hand schlug ich daher weg.

Warum sollte ich auf die Hilfe von jemanden angewiesen sein, der mich auslachte?

Das dachte ich damals. Ein schrecklicher Gedanke. Heute würde ich es wohl nicht anders machen. Ich war schon immer ein Hitzkopf.

Ich zog den Saum hoch und sorgte dabei dafür, dass ein großer Riss entstand. Dieser reichte bis zu meinen Knien. Jedem Weiblichen Wesen wäre es wohl peinlich gewesen, nur mir nicht. Ich war zu aufgebracht.

Heute muss ich immer lachen, wenn ich daran zurückdenke.

Ich riss ihm die Zügel aus der Hand und lief mit erhobenem Haupt davon.

Ich konnte ein Lachen hören. Mir wurde außerdem etwas hinterhergerufen, aber ich verstand immer noch nichts. Ich hätte gerne gewusst, was er gesagt hatte, aber ich wollte mich nicht wieder umdrehen und fragen. Das wäre für mich nicht in Frage gekommen. Das wäre ja, als würde ich etwas von ihm wollen.

Ein dummer Gedanke, ich weiß. Aber damals war nach etwas zu fragen, wie nach Hilfe zu betteln. Und um Hilfe fragen war etwas, was ich … Ich wollte alles alleine schaffen, ohne fremde Hilfe. Man kann das nicht vergleichen, das muss ich zugeben. Aber in diesem Alter denkt man erstmal nicht, man handelt nur. Nach Hilfe zu fragen war für mich also so ziemlich unmöglich.

Ich war voller Matsch und ganz nass.

Nach diesem Moment hatte mir meine Wut, die ich gegen dieses Lächeln hatte, so den Körper gewärmt, dass ich nicht mehr zitterte. Wobei, ein bisschen musste ich wohl vor Wut zittern.

Ich lief den ganzen Weg zurück. Der Schwarze war ganz ruhig und lief entspannt neben mir her.

Als ich dann am Anwesen ankam, war es schon dunkel und der Regen hatte aufgehört. Ich konnte Licht in den Fenstern erkennen.

Eigentlich wollte ich den Schwarzen zuerst in den Stall bringen, aber dann wurde die Eingangstür aufgerissen und die Hausfrau kam mit Kind im Arm und einigen meiner Schwestern nach draußen gestürmt. Der Rest meiner Schwestern sah aus der Tür raus. Bei ihnen allen lag Neugier im Blick.

„Ach Mädchen, wie siehst du denn aus?“, fing die Haushälterin mich mit zusammen gezogenen Augenbrauen ab. Sorge lag in ihrer Stimme.

Sie war für alle wie eine Mutter. Besonders für mich (vor allem nachdem ich erst meine leibliche Mutter und dann meine Adoptivmutter verloren hatte).

Sie nahm meine Haare und hielt sie hoch, ließ sie wieder fallen und lief um mich. Sie packte mich an einer Schulter. „Du hast heute noch gar nichts gegessen. Du bist doch eh so mager, du solltest die Mahlzeiten nicht vergehen lassen. Komm mit rein, überlass das Pferd Mister-“

„Keine Sorge, ich kann ihn selber in den Stall bringen.“ Mit diesen Worten ging ich los. Keiner sagte noch etwas, aber ich sah Charlotte, wie sie mir unauffällig in den Stall folgte, damit es niemand mitbekam.

Als ich dabei war den Schwarzen von seinem Sattel zu befreien, fing sie auch schon an zu fragen, nachdem sie die Tür hinter ihrem Rücken schloss und sich dagegen drückte: „Und? Was ist passiert? Geht es dir gut? Ich habe mir so schreckliche Sorgen um dich gemacht.“

„Ich bin ausgeritten, es hat angefangen zu stürmen, ich bin vom Pferd gefallen, ich-“

„Du bist was?“, fragte Charlotte ganz aufgebracht, drückte sich dabei von der Tür weg und lief auf mich zu. Sie sah mich von allen Seiten an und hob meine Arme hoch, nachdem ich den Sattel an seinen Ursprünglichen Platz legte. Ihre grünen Augen funkelten. „Tut dir was weh? Geht es dir gut?“

„Mach dir keine Sorgen, mir geht es prächtig.“ Ich schloss meine Augen und seufzte. Ich stellte mir die Frage, ob ich ihr von dieser neuen Bekanntschaft erzählen sollte.

Aber wie bereits erwähnt, war sie meine einzige und beste Freundin.

„Da war noch jemand.“

Ihre Augen wurden größer und ihr Mund öffnete sich. Dann fragte sie verwundert: „Wie noch jemand? Was meinst du? Bist du heimlich verlobt?“

Heimliche Verlobung? Das ist bestimmt gerade eine groß geschriebene Frage. Warum sollte man sich denn heimlich verloben? Aber warum sollte man es nicht, ist wohl die bessere Frage.

Heimliche Verlobungen sind gar nicht so unüblich bei uns gewesen. Wenn einem der Zukünftige Partner von den Eltern - oder wohl eher vom Vater - ausgesucht wird, man aber selber entscheiden will, kommt es zu diesen Verlobungen. Das ist einer der Gründe, warum man die Töchter so früh wie möglich mit jemandem verheiraten oder zumindest verloben möchte (dann kommen sie gar nicht erst auf solche Ideen). Meistens wird schon bei der Geburt der Mädchen nach guten Partien gesucht.

Mutter hat einmal drei Mädchen auf einmal bekommen, da gab es Probleme für alle jemanden zu finden. Etwas leichter war es dafür bei den Zwillingen.

Aber so etwas wie mich heimlich zu verloben oder überhaupt zu verloben, hatte so überhaupt nicht in dieser Zeit zu mir gepasst.

„Nein! Bist du verrückt? Quatsch mit Soße! Warum sollte ich?“ Ich war ganz aufgebracht. Ich wollte nicht heiraten. Ich wusste wie Vater war. Ich wusste wie seine Freunde waren. Ich kannte ein paar Männer aus der Stadt.

Bei dem Gedanken an einen Mann, dem ich dazu auch noch untergeordnet war und mit mir machen durfte, was er wollte, wurde mir schlecht.

Nein, heiraten kam für mich überhaupt nicht in Frage. Besonders nicht, wenn ich an Mutter denke musste und wie Vater bei ihr reagiert hatte. Dabei krampfte sich mir der Magen immer wieder aufs Neue zusammen.

„Stimmt schon. Du magst ja keine Männer.“

Dass ich sie nicht mochte war eine Untertreibung. Ich hasste sie regelrecht. Warum sollten Frauen unter Männern stehen? Das war total unfair. Ich war für Gleichberechtigung (vielleicht hört sich das widersprüchlich an, doch wenn Männer nicht dafür waren, dann lag mein Hass nun mal auf diesen). Aber als Mädchen und auch als Frau hatte man nun mal nichts zu sagen.

„Du drückst das viel zu freundlich aus. Aber es stimmt schon.“

Ich wandte mich an den Schwarzen, strich ihm seinen Kopf und sagte: „Du bist ganz schmutzig, aber das kann ich dir erst morgen rausbürsten, besonders, weil der Matsch noch nicht richtige getrocknet ist. Da würde ich es nur noch schlimmer machen.“ Ich küsste ihn noch mal auf die verstaubte Stirn und verabschiedete mich dann von ihm.

Ich lief raus und Charlotte kam mir hinterhergerannt.

Wir waren gerade auf dem Weg zur Hintertür. Es war eine Sternenklare Nacht. Der Mond war nicht zu sehen. Das fand ich traurig. Ich mochte den Mond. Er hatte so was Verlassenes an sich, genau wie ich. Von vielen Sternen umgeben, aber doch so einzigartig und allein.

Wenn man stirb, dann kommt man angeblich in den Himmel. Was wenn ich sterbe? Komme ich dann vielleicht zum Mond? Ob wir dann gemeinsam einsam sein können?

„Kanntest du ihn denn?“, unterbrach mich Charlotte; riss mich aus meinen Gedanken und brachte mich zurück in die Realität zurück.

„Nein. Ich glaube nicht. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es hatte zu stark geregnet.“ Als ich das sagte, fiel mir plötzlich wieder dieses Lächeln ein. Eine innere Wut machte sich wieder bei mir breit. Mein Gesicht verfinsterte sich Augenblicklich. „Nur dieses verdammte Grinsen in seinem Gesicht.“ Zähneknirschend sah ich in die Leere vor mir und sah es wieder wie in diesem Moment vor mir.

Das schien Charlotte aber ganz anders zu verstehen. „Er hat dich angegrinst? Oh wie romantisch.“ - Hände an ihren Kopf geschmiegt, verträumter Blick, leichtes hin und her Schwingen – „Ist er jetzt dein heimlicher Verehrer?“ - anfangendes Stottern, Geste ändert sich in erklärende Handzeichen und ich die nur ganze Zeit ihre Augen verrollte und sie nachäffte (sie lief hinter mir und konnte es daher nicht sehen) – „Also nicht für dich heimlich ... Also ich meine ja wegen Vater, aber ... Also für dich ja auch irgendwie, du hast ihn ja schließlich nicht erkannt. Ich meine natürlich, du hast etwas von ihm erkannt, aber nur sein Lächeln. Also nicht ganz so heimlich. Du würdest ihn sicher an seinem Lächeln erkennen. Das wäre zumindest möglich ... Oder? Also-“

Ich hielt ihr meinen Finger vor ihren Mund und sie hielt abrupt inne, während sie meinen Finger anstarrte. „Shhh. Wir sollten darüber nicht reden, wenn Vater, unsere Schwestern oder irgendwer sonst in der Nähe ist.“

Charlotte merkte, dass wir schon an der Hintertür angekommen waren. Ein Ausdruck der Sorge erschien auf ihrem Gesicht und sie ließ ihre Schultern hängen. „Vater war nach dem Frühstück ziemlich aufgebracht. Er hat uns alle rausgeschickt ... Wir konnten ihn trotzdem schreien hören. Es war schrecklich. Der kleine Prinz musste sogar anfangen zu weinen.“

Wir nannten unseren Bruder so (der kleine Prinz), weil wir fanden, dass er wie ein kleiner Prinz war.

Heute macht mich die Erinnerung an ihn traurig. Ich hatte damals nicht lange Zeit mit ihm, was es noch trauriger machte, aber zu dem Grund kommen wir später.

„Dann hat er ja wegen mir weinen müssen. Auch wegen Vater, aber ich habe ihn so wütend gemacht, wobei er mich ja zuerst wütend gemacht hat.“ Ich sprach schon mehr zu mir selbst, als zu Charlotte.

„Eve, bitte mach dir deswegen nicht so große Gedanken, du wirst dir jetzt mehr Gedanken um dich selber machen müssen. Vater ist stinksauer auf dich. Und seine Wut ist bestimmt nicht kleiner geworden. Maria versucht ihn bestimmt schon zu beruhigen. Besonders nach deinem jetzigen Auftauchen.“ Sie sah mich von oben bis unten an, sah besonders auf die schmutzigen Stellen.

Maria, war wie eine Mutter. Besonders für mich. Ich nannte sie trotzdem nur die Hausfrau oder Haushälterin. Es würde zu sehr weh tun, wenn ich wegmüsste. Ich brauchte wenigstens bei ihrer Bezeichnung einen gewissen Abstand.

Ich sah ernst aus, ließ aber meinen Fuß ein wenig auf dem Boden kreiseln, als wäre ich ganz nervös. „Dann hoffen wir mal, dass sie ihn beruhigen konnte. Du weißt doch, er hört nicht gerne auf Frauen.“

„Ja, aber auf Maria. Auf sie hat er doch bis jetzt immer gehört. Zumindest ein bisschen.“

Ich nickte ein paar Mal, wobei ich meinen Kopf immer mehr zur Seite legte und verzog dabei meine Lippen. „Wir hoffen einfach mal, dass es so ist“, sagte ich und drehte mich gerade zur Tür.

Doch ich schaffte es nicht ganz, da spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz an meiner Wange.

Ich taumelte etwas zurück und fasste an die schmerzende Stelle. Charlotte hatte derweil schon erschrocken ihre Hände vor den Mund gehalten und sah dem Schauspiel schockiert zu. Ich wurde mir langsam bewusst, was in diesem Augenblick geschehen war. Ich drehte meinen Kopf zum Übeltäter und sagte nur Fassungslos: „Vater ...“

„Ich habe es so satt mit dir. Immer bringst du mir nur Ärger. Ich hätte dich schon viel früher härter rann nehmen müssen. Dann würdest du mir jetzt nicht so auf der Nase herumtanzen. Johanna wird bald heiraten und für dich habe ich noch nicht einmal im Ansatz jemanden gefunden! Kein Mann will eine Frau, die ihm auf der Nase herumtanzt und nicht auf seine Befehle und Worte hört“, sagte Vater zornig. Eine Ader auf seiner Stirn pulsierte und sein Kopf war so rot, dass die Mädchen ihn schon eher für eine reife Tomate halten mussten. Dann fuhr er etwas ruhiger fort: „Du musst dabei jemanden heiraten. So schnell wie möglich. Noch vor deiner Volljährigkeit. Das ist bei dir besonders wichtig.“

„Warum ist das denn bei mir besonders wichtig? Die anderen müssen doch erst zur Volljährigkeit heiraten!“

Vater, der bis eben noch nachdenklich zur Seite schaute, als wären diese Worte eigentlich nicht an mich, sondern an sich selber gerichtet gewesen, drehte sich abrupt zu mir um. Und seine darauffolgenden Worte, schienen meine Annahme auch noch zu bestätigen, dass er seine Worte nicht an mich gerichtet hatte. „Warum das bei dir so wichtig ist? Das geht dich gar nichts an!“

„Natürlich geht es mich was an! Es ist schließlich mein Leben! Es geht hier um mich und sonst niemanden!“, sagte – oder wohl eher schrie - ich und flüsterte noch zerknirscht: „Außer vielleicht noch den Kerl, der mich heiraten soll.“ Dann sprach ich wieder lauter weiter: „Und außerdem will ich gar nicht heiraten! Und wenn, dann nur, wenn ich es mir aussuchen darf, wen und wann ich heirate.“

„Das hast du ja wohl nicht zu entscheiden“, lachte Vater höhnisch.

„Ja aber warum denn nicht? Es geht hier ja schließlich nicht um dich, sondern um mich. Ich will selber über mein Leben entscheiden dürfen. Warum soll jemand anderes das für mich übernehmen, wenn ich selber entscheiden will?“ Verzweiflung stand in meinem Gesicht. Ich versuchte es mit Handgestiken auszudrücken, indem ich mit meinen nach innen gerichteten Armen und Händen gegen meine Brust klopfte. Aber er lachte nur weiter.

„Du bist ein Mädchen; ein weibliches Geschlecht. Du hast weder Rechte zu entscheiden noch irgendwas anderes. Ich bin der Mann im Haus. Ich habe zu entscheiden. Frauen sind zum Kinder gebären da und nichts weiter, außer sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern; dem Mann zu dienen; alles ordentlich zu halten; sich nach den Bedürfnissen des Mannes zu richten. Ihr könnt keine Stellungen haben. Wir Männer haben das alles über euch Weibsbilder zu entscheiden. Ich sage dir, wen du heiratest, wann du heiratest und wie du heiratest. Ich entscheide deine Bildung und ob du überhaupt eine bekommst. Du bist ein Mädchen, später eine Frau. Ihr braucht das eigentlich gar nicht. Frauen sind bekanntlich ja eh nicht so intelligent wie Männer. Frauen haben zu machen was ihre Männer ihnen sagen und Töchter das, was ihre Väter ihnen sagen. So wird auch später dein Mann über dich bestimmen, wenn ich dich in seine Obhut übergebe.“

„Aber warum ist das denn so?“, fragte ich betont. „Ich will selbst entscheiden dürfen. Warum sollen Männer so viele; all diese Rechte haben und Frauen nicht? Das ist komplett ungerecht! Ich soll nicht über mein eigenes Leben entscheiden dürfen, aber ein Mann schon? Warum ist das denn bitte so? Ich will das nicht!“

„Es kommt nicht darauf an, was du willst, sondern darauf, was ich sage. Männer verstehen nun mal mehr von der Welt, als Frauen es jemals auch nur im Geringsten könnten. Wir sehen auch hinter die Berge, nicht nur davor. Das wirst du wohl aber leider nie verstehen. Du bist ja kein Mann. Dein Kopf kann damit nicht umgehen.“

„Was soll das denn nur heißen!?“

„Wie gesagt, du bist kein Mann, du verstehst nicht viel. Deine Frage hat es gerade ein weiteres Mal bestätigt.“

„Da hast du recht. Ich bin kein Mann. Deswegen verstehe ich eure dumme Art zu denken nicht! Ihr seid doch alle nur idiotische Schweine, die sich für etwas Besseres halten, ohne es zu sein, geblendet von ihrer Eitelkeit!", brüllte ich ihn außer mir vor Wut an.

Da fing ich auch schon die nächste Ohrfeige. Diesmal eine noch stärkere. Die Haut riss leicht auf und die Wange schwoll dick an. Er funkelte mich wütend an. Seine schwarzen Haare sahen nun noch dunkler aus. Er stampfte auf den grauen Kies unter seinen Füßen. Die Umrisse seines Körpers waren von dem Licht des Hauses gut beschienen. Er schnäuzte seinen Bart und befahl dann: „Ihr geht jetzt beide auf euer Zimmer. Und dass ich ja nie wieder solche unerhörten Worte und Widersprüche aus deinem Mund kommen höre! Du hast gefälligst nicht auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden!“

Am liebsten hätte ich darauf erwidert: „Dafür müsste ich doch erst einmal denken können, wozu das weibliche Geschlecht deiner Meinung nach ja nicht fähig ist.“ Lautausgesprochen hatte ich es allerdings nicht, er war immerhin schon wütend genug und mein Körper hatte für diesen Tag ohnehin schon genug Schläge aushalten müssen, also beließ ich es nur bei einem wütenden Funkeln.

Er drehte sich nach seiner kurzen Rede um.

All seine anderen Töchter standen schweigend an und in dem Türrahmen. Maria, die Hausfrau, hielt sich eine Hand vor den Mund und versuchte ihre Tränen zu unterdrücken.

Leise Schluchzer entflohen meiner Kehle.

Ihr Gesicht war voller Falten, dadurch, dass sie ihre Augen so sehr zusammenkniff, sogar noch stärker, als normalerweise.

Vater sagte in strengem Ton: „Und ihr geht jetzt gefälligst auch alle auf eure Zimmer!“

Das Verschwinden

„Sie ist doch, ganz ehrlich, selber dran schuld, wenn sie eine gescheuert bekommt. Da hätte sie mal früher draufkommen sollen“, sagte eins der Mädchen mit üppigen, dunklen Haaren.

„Aber sie kann man wohl auch gut verstehen. Oder findest du nicht?“, kam es von der Jüngeren.

„Nein, wohl kaum. Es ist wie Vater es gesagt hat: Wir Frauen haben keine Rechte und nichts zu sagen, weder zu unserem Leben, noch zu unseren Wünschen.“

„Hast du denn gar kein Mitleid für sie übrig?“

„Nein. Warum sollte ich? Sie hat sich da selber reingeritten. Dann soll sie es auch selber ausbaden.“

„Aber sie gehört doch eigentlich gar nicht zu uns. Vater hat sie nie als eine von uns angesehen. Sie darf doch nur hier sein, weil Vater gut mit ihrem Vater befreundet war.“

„Dann braucht sie erst recht nicht so ein Theater zu machen. Sie sollte sich lieber glücklich schätzen. Ohne ihn hätte sie jetzt nichts.

Immer versucht sie sich in den Mittelpunkt zu rücken. Das ist so nervig. Denkt sie etwa, uns passt das? Ich würde auch lieber selbst entscheiden können. Nur wird das leider nie passieren. So einfach ist das.“

„Dann versucht sie aber wenigstens für ihre Rechte zu kämpfen, im Gegensatz zu dir. Im Gegensatz zu allen von euch – uns“, kam nun eine Stimme durch die Tür herein.

Alle verstummten und sahen erschrocken zur Tür. Charlotte stand darin und sah sie alle mit ernstem, sogar leicht wütendem Gesicht an.

Alle waren in unterschiedliche Zimmer eingeteilt. Immer je zwei Mädchen in einem Zimmer.

Diesmal waren die meisten im Zimmer der Ältesten. Johanna hatte ihr eigenes, da sie bald heiraten würde. Sie war nicht darunter.

Charlotte ging ins Nebenzimmer. Es war von ihr und mir.

Sie sah mich im Bett liegen, mit dem Gesicht zur Wand. Eine Decke lag über mir, bis über die Ohren gezogen.

„Alles gut bei dir?“, fragte Charlotte und schloss die Tür hinter sich.

„Ich kann sie reden hören.“