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Die Kälte ist eingebrochen und mit ihr die Dunkelheit. Und mit der Dunkelheit neue Gefahren. Die Schattenkönigin taucht auf und sie wissen sicher: Es ist soweit, der letzte Krieg hat begonnen.
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Seitenzahl: 353
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Für alle, die bis hierhergekommen sind.
Blutzauber – die erste Auserwählte
Hexenzauber – der Geist der Verbliebenen
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Nachwort
Die kalte Zeit ist eingebrochen.
Sie werden aufeinandertreffen.
Sie werden sich jagen.
Sie werden sich hassen.
Es wird ein ganzer Krieg ausbrechen.
Schmerzhaft hob sie ihren Kopf, der so sehr dröhnte, als würde eine Herde von Pferden über ihn gerannt sein. Sie versuchte wieder zu Bewusstsein zu kommen und die Umgebung um sich wahrzunehmen. Wo war sie? Sie wollte sich an ihren Kopf fassen, doch es war ihr nicht möglich. Ihre beiden Hände waren gefesselt und nach oben an eine Wand gebunden. Ihr tat alles weh -besonders ihr Kopf und ihre gefesselten Gelenke, die sich bereits ganz wund anfühlten. Am liebsten würde sie in ihrem Bett liegen (warm und weich), denn sie wollte etwas Ruhe –oder mehr als etwas. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal solche unglaublichen Kopfschmerzen hatte, sie glaubte sogar, dass sie sonst nie Schmerzen hatte. Sie versuchte ihre Augen zu öffnen, doch es war ihr eine zu große Qual; ihr ging dann immer ein extremer Schmerz durch den Körper, besonders durch ihren Kopf. Jedes noch so kleine Geräusch fühlte sich für sie an, als würde sie mit vollster Wucht gegen eine Steinmauer geschlagen werden –mit ihrem Kopf voran und mit dem Rest durchkommen, dass all ihre Knochen brachen. Umso schlimmer wurde es, als sie ständig Wasser in einer Ecke tropfen hörte. Es kam ihr vor, als würde jeder neue Tropfen, noch lauter werden und damit auch noch unerträglicher.
Was ist passiert? Wo bin ich? Es ist so kalt?
Ich glaube, mein Kleid ist zerrissen. Wie schön es doch war und es wurde auch noch extra für mich angefertigt. Und jetzt das, einfach kaputt. So ein Mist aber auch.
Dieses Tropfen soll aufhören. Es tut so weh. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick zerplatzen.
Bei jedem Tropfen zuckte sie leicht zusammen. Ihr Gesicht verzehrte sich voll Schmerz.
Ich fühle mich wie damals. Eine schreckliche Zeit.
Ich wünschte, es würde aufhören. Aber irgendwie, hört es nie auf, egal wie sehr ich es mir wünsche oder versuche es zu verdrängen. Ich würde so gerne etwas dagegen tun können, aber selbst damals konnte ich schon nichts dagegen tun. Warum sollte ich es da jetzt können? Es wird einfach niemals aufhören.
Nie.
Und daran wird sich auch niemals etwas ändern.
Wie schrecklich ungerecht diese Gottverdammte Welt doch ist.
Und sie ist Gottverdammt.
Dieser verdammte Gott, den alle immer so lieben und ehren. Wie ich ihn hasse. Wie ich einfach alles hasse.
Sie hörte, wie ein Stein wegflog. Ein leises Klappern entstand, dass sich für sie wie eine große Erschütterung anhörte -und in ihrem Kopf anfühlte.
Ist hier etwa noch jemand? Werde ich etwa beobachtet? Mir kommt es nicht so vor, als würde jemand hier sein -wenn man die Schatten mal vergisst, die immer überall sind und durch die sowieso nie jemand alleine ist, es sei denn, niemand hätte einen Schattenzauber.
Sie versuchte zu sprechen, wollte wissen, ob da wer war, doch es kam nicht ein Ton aus ihrer Kehle. Es kam nicht einmal ein Krächzen heraus. Sie war völlig ausgetrocknet, als wäre ihre Kehle eine Sandwüste.
Was ist los? Warum kann ich nicht sprechen? Mein Hals, er fühlt sich so trocken an. Ich habe so schrecklichen Durst. Ich fühle mich ganz ausgetrocknet. Es fühlt sich schon beinahe so an, als wäre ich von der Sonne getrockneter Sand. Oder vielleicht eher schlimmer: Staub. Eine ganz feine Staub- oder Dreckschicht, die umherschwirrt und alles austrocknen und husten lässt.
Wie lange muss ich dann hier schon sein? Und wann bekomme ich etwas zu trinken? Warum ist das so schlimm? Ich will etwas trinken. Ich brauche etwas zu trinken. Ganz dringend.
Sie hüstelte ein wenig und versuchte sich auszudenken, wie lange sie schon da sein musste, aber ihr fiel nichts ein. Ihr Kopf war von dem Durst und Schmerz, wie benebelt.
Wie lange bin ich schon hier (ich kann es mich nur immer wieder fragen)? Mein Hals tut so schrecklich weh, vor Durst. Als würde mein Inneres aufreisen. Ich muss etwas trinken. Sofort, bevor ich noch verdurste.
Habe ich das nicht eben bereits gedacht?
Ach egal, aber ich will einfach nur hier raus.
Etwas Seltsames stieg ihr in die Nase, dass sie sie rümpfte.
Irgendetwas stinkt hier so furchtbar.
Sie rümpfte ihre Nase noch einmal, aber der Geruch verschwand nicht. Es war ein richtig stechender Geruch. Sie versuchte den Geruch ausfindig zu machen.
Ich scheine das zu sein.
Wie furchtbar. Dann brauche ich unbedingt ein Bad, sobald ich hier rauskomme.
Falls ich hier rauskomme.
Sofort fiel ihr etwas ein, wie sie ihre Sinne einsetzen konnte, ohne sie einsetzen zu können.
Ich nutze meine Kraft; nutze die Schatten, um zu sehen und zu hören, was um mich herum geschieht.
Sie versuchte einen Schatten ausfindig zu machen. Über ihre Augenlieder konnte sie erkennen, dass eine Fackel neben ihr flackerte.
Alles ist ausgeleuchtet, als würde jemand nicht wollen, dass ich etwas sehen kann.
Wer sollte denn wissen, was ich kann?
Ja, es ist schon klar, dass ich anders aussehe, dass ich anders bin. Aber es kann doch nicht sein, dass jemand von hier weiß, wie irgendetwas funktioniert.
Sie glauben doch alle nicht daran. Sie denken alle nur, dass es Märchen und Legenden wären.
Nur Johannes weiß etwas davon, aber er würde so etwas nie mit mir machen. Das weiß ich ganz genau.
Aber ich werde es schon irgendwie schaffen. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Ich werde einen Schatten ausfindig machen und ist er noch so klein.
Es dauerte nicht lange, da fand sie schon einen winzigen Schatten. Sofort nutzte sie ihn und sah etwas, das ihre Vermutung bestätigte.
So viele Fackeln. Unglaublich.
An fast jeder Ecke leuchteten Fackel. Sie erhellten den ganzen Raum. Wobei es eher wie eine Zelle aussah. Dennoch wirkte es so, als würde jeder Winkel und jede Ecke, so wie die Ritzen der Steine in der Wand beleuchtet sein. Ein leerer Raum, voller Fackeln.
Nur ein wenig feuchtes Stroh lag noch umher. Schimmel wuchs an den Wänden und es war ein nasser - und besonders ekelhaft, stinkender - Ort. Kleine Pfützen bildeten sich auf dem Boden. Überall tropfte Wasser von der Decke.
Es tropfte und nervte. Und es war einfach nur unerträglich.
Sie wünschte, sie könnte sich bewegen und diesem verdammten Tropfen ein Ende bereiten. Dazu wollte sie eigentlich dringend Wasser. Nur eben in ihrem Mund und nicht auf dem Boden am rumtropfen. Sie wollte so dringend Wasser, sie hätte alles getrunken.
Wirklich alles.
Und egal wie ekelhaft sie dieses Wasser auch fand, dass wie eine länger stehende Pisse aussah, hätte sie sogar das getrunken, selbst wenn sie danach eine immense Übelkeit empfunden hätte.
Überall Wasser, aber nicht da, wo ich es haben will.
Eine alte Tür mit Gittern, als kleines Rechteck nach oben. Aber niemand da. Oder irgendwas, abgesehen von diesen nervigen Pfützen. Und dann noch diese rostigen Dinger um meine Handgelenke.
Das bisschen Stroh, das hier rumliegt, ist auch schon am Schimmeln. Ein ekelhafter Gestank, der da entsteht, jetzt mal abgesehen von meinem Geruch.
Was wohl schlimmer riecht: Ich oder dieses ekelhaft versüfte Dreckswasser, das sicher eine super Feiermixalkoholmischung ist, eben nur in nicht alkoholisch, sondern mit Krankheiten, ganz vielen verschiedenen?
Sie hörte Schritte. Erschrocken hob sie ihren Kopf – schlimmer Fehler.
Sofort fühlte sie sich wieder komplett zerschlagen, von dem Schmerz, der sie durchströmte.
Oh Gott, tut das weh.
Wer ist das? Kommt diese Person jetzt zu mir?
Sie versuchte die Person auszumachen.
Da ist wer. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber er ist definitiv männlich.
Ein etwas klein geratener Mann.
Sie versuchte noch etwas mehr zu erkennen. Und man könnte sagen, dass sie das sogar geschafft hatte, eigentlich. Aber auch nur eigentlich.
Da ist noch jemand.
Diesmal ist es eine Frau. Sie läuft irgendwie seltsam. Ob sie behindert ist?
Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Aber draußen sind auch fast keine Fackeln -dabei müsste ich ja gerade deswegen etwas erkennen. Sie trägt diese verdammte Kapuze zu sehr ihm Gesicht, sie verdeckt es fast komplett.
Es sieht beinahe aus, wie wenn es draußen im Wald dunkel ist. Aber im Schloss muss ich dennoch sein. Solche Zellen kann doch nur ein Schloss besitzen, oder?
Ich kenne mich damit nicht aus. Ich habe noch nie in einem Schloss oder bei anderen solcher Menschen gelebt. Aber da scheint es schon diese Unterschiede zu geben. Also muss ich in einem Schloss sein.
Ganz bestimmt.
Aber das werde ich sicherlich ohnehin noch früh genug erfahren.
Die Schritte wurden immer lauter.
Sie scheinen nicht weit von mir entfernt zu sein. Aber wollen sie auch zu mir?
Ich wüsste nicht, was diese Leute von mir wollen könnten.
Ob es vielleicht irgendwelche Adlige aus einem anderen Königreich sind – oder überhaupt irgendwelche Adlige - die gerne Johannes zu ihrem Verbündeten gehabt hätten, indem sie ihre Tochter oder sonst irgendeine weibliche Verwandte mit ihm verheiratet hätten (wofür sie mich erst einmal beseitigen müssen, weil ich dem Ganzen im Weg stehe)?
Aber wie sind sie unbemerkt an mich herangekommen? Wenn Adlige in unser Schloss kommen, dann würde das doch auffallen? Oder etwa nicht?
Aber wenn sie so etwas planen, werden sie sich ja wohl kaum ankündigen. Vielleicht sind das auch nur ihre Handlanger.
Aber warum dann eine Frau? Von Frauen wird hier doch so wenig gehalten, so wie ich das immer mitbekommen habe, solange ich schon hier bin.
Und von unserer Verlobung weiß doch eigentlich auch niemand. Warum also jemanden auf mich ansetzen?
Es sei denn, es gibt Menschen, die einfach schon eine Vorahnung wegen uns und unserer Verbindung zueinander hatten und Sicherheitsmaßnahmen ergreifen wollten.
Ein Gedanke kam zum anderen.
Es war so seltsam. Sie kannte sich überhaupt nicht mit all dem aus. In diesem Moment wurde ihr wieder richtig bewusst, dass sie nicht da reingehörte, in diese Welt voll Adel und Leuten, die an der Spitze standen.
Also stellte sie sich wieder eine ganz bestimmte Frage, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
Sollte ich ihn wirklich heiraten?
Sie zuckte zusammen, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde.
Die sind also doch wegen mir hier.
Sie sah die beiden Personen an, die mit Umhängen und aufgesetzter Kapuze in die Zelle kamen.
Als sie ihre Augen öffnete, kam ein stechender Schmerz in ihre Augen, der sich anfühlte, als hätte sie tausende von winzig kleinen Nadeln in ihnen.
„Oh, sie ist endlich wach geworden.“
„Sieht so aus“, sagte der Mann dazu, nur um irgendetwas zu sagen.
Wenn die so geneigte Köpfe haben, kann ich die gar nicht erkennen. Und diese Stimmen. Besonders dieses Mädchen.
Sie scheint mir irgendwie bekannt vorzukommen. Aber mir will einfach nicht einfallen, woher.
Aber wie soll sie mir denn überhaupt bekannt vorkommen, ohne überhaupt ihr Gesicht zu sehen?
Hinter sich schlossen sie die Tür. Anscheinend wollten sie nicht, dass sie jemand hörte oder sah.
Umso mehr fragte sich Ciara, was das Mädchen von ihr wollte.
Das Mädchen, ihr sind Haare über ihre Schulter gefallen. Ich kann es nicht glauben.
„Wer seid ihr?“, krächzte sie. Sie hatte möglichst viel Speichel gesammelt, von dem sie kaum welchen hatte, um es fragen zu können.
Die Frau – oder das Mädchen - lachte ein wenig. Sie drehte sich zur Seite und wandte sich damit direkt an den Mann.
„Gib ihr mal ein wenig Wasser, man versteht sie ja gar nicht richtig.“
Der Mann holte eine Flasche unter seinem Umhang hervor, die an seinem Gürten, seitlich seiner Hüfte, befestigt war. Er hielt die Flasche an die Lippen des Mädchens.
Gierig trank sie das Wasser aus dieser, als gäbe es nichts Besseres auf der Welt.
Oh, tut das gut! Ich wusste ja gar nicht, wie gut Wasser schmecken kann. So schön kühl.
Es tut so gut.
Endlich bin ich nicht mehr so ausgedörrt. Und ich musste nicht einmal dieses ekelhafte, abgestandene Pisswasser trinken.
Der Mann nahm ihr die Flasche wieder ruckartig weg, dass einiges auf dem dreckigen Boden mit einem Platschen landete.
„Jetzt aber mal nicht gierig werden. So lange ist es ja nun auch nicht her, dass du hier bist.“
Das Mädchen wurde hellhörig. Da ihre Kehle nicht mehr so trocken war, konnte sie auch endlich fragen, was eigentlich vor sich ging. „Wie lange bin ich schon hier?“
„Vielleicht gerade mal zwei Tage.“
„Warum bin ich hier?“
„Das weißt du nicht?“
„Nein. Sonst würde ich es nicht fragen.“
„Ja, da könnte ich dir jetzt drauf antworten.“
„Aber?“
„Ich weiß es selber nicht.“
Ungläubig sah sie den Mann an, von dem sie endlich das Gesicht erhaschen konnte.
Ist das sein Ernst? Er weiß es selber nicht?
Warum bin ich dann hier? Hat er mich etwa einfach so aus Spaß entführt?
Dieser Arsch!
Man muss doch einen Grund haben, um jemanden zu entführen, oder etwa nicht? Ich kann das absolut nicht glauben! Einfach unfassbar.
Sind alle Menschen hier so?
Nichtzauberer sind wirklich ein seltsames Volk. Aber sie sind ja auch allen Anschein nach etwas - oder um einiges - dümmer als wir; diejenigen, die einen Zauber haben, so getrieben sind sie von ihrem Hass und ihrer Eifersucht.
Und selbst wenn wir von solcherlei Dingen getrieben sind, können wir dennoch klarer denken. Und wir haben auch immer einen Grund, um derlei Sachen zu machen.
„Wieso weißt du das nicht? Hast du mich denn nicht entführt?“
„Doch, stimmt schon, ich habe dich entführt.“
„Aber du weißt nicht, warum du das getan hast?“
„Doch. Das war ein Auftrag.“
„Wer hat dir diesen Auftrag gegeben?“
„Ich“, mischte sich das Mädchen mit in das Gespräch ein.
Seit wann geben Frauen denn Männern etwas in Auftrag? Seit wann wird denn überhaupt derlei Zeug mit einer Frau in Verbindung gebracht?
Aber ja, Frauen sind eher im Untergrund tätig, weswegen Männer nicht viel davon mitbekommen. Männer trauen Frauen sowas aber auch nicht zu. Sie glauben nicht, dass bei Frauen, das Gehirn großgenug dafür wäre.
Weitere Gründe, warum ich es nicht leiden kann, hier zu sein.
„Und warum hast du das getan?“
Das Mädchen trat etwas weiter an sie ran. Ciara konnte sich nur fragen, ob sie das tat, um einen größeren Auftritt zu machen und sich damit irgendwie bedrohlicher wirken zu lassen.
Der Mann ging mit eingezogenem Kopf zurück, als er bemerkte, wie sie nach vorne schritt.
Habe ich das gerade richtig gesehen?
Ihre Augen wurden größer.
Ist er ihr etwa untergestellt?
Ja, ganz offensichtlich. Das hätte ich jetzt aber nicht erwartet, eher das Gegenteil -besonders, da sie vorher nur in der Ecke gestanden hatte, ganz stumm und mit gesenktem Kopf, als wäre sie ihm unterwürfig.
Doch nun haben sich die Rollenbilder geändert.
Sie musste grinsen, bei diesem Anblick und dem Gedanken daran.
Lustig, dass ich das mal so sehen kann, das könnte ja beinahe wirklich meine Sicht auf die ganze Scheiße hier verändern, die ich mitbekommen und erlebt habe, seit ich hier bin.
Das Lachen verging ihr, als das Mädchen wieder in ihr Blickfeld trat.
Diese Frau, woher kenne ich sie nur?
Sie soll sich mir endlich zeigen. Sie soll mir ihr Gesicht zeigen!
Aber da sind ihre Haare. Solche Haare.
Ich weiß es.
Ich weiß es jetzt ganz sicher, wo sie herkommt.
Aber wer ist sie? Ich kann es mir nur denken, aber es muss nicht so sein.
„Hör lieber auf so zu grinsen. Dir wird sicher schnell bewusst, dass du keinen Grund dazu hast.
Dir wird sicher auch schnell bewusst, dass bei dir gleich wichtigere Gedanken im Kopf umher gehen werden. Dinge, um die du dir schwere Gedanken machen wirst. Denn du wirst schon sehen, dass es durchaus geschehen kann, dass du hier nicht mehr lebendig rauskommen wirst. Und niemand würde je deine Schreie hören.
Vielleicht wird ja nicht mal mehr deine Leiche gefunden werden, oder auch nur eins deiner schönen roten Haare, die bei diesem Blutzaubererstamm ja so üblich ist.
Wer weiß.
Also hör lieber auf.“
Was will sie von mir? Warum redet sie so was? Will sie mir Angst machen? Wer weiß, vielleicht macht sie das ja.
Aber ich werde ihr nicht den Gefallen tun und es ihr offen zeigen. Ich werde ihr mit starrer Miene entgegenblicken, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht sehen kann.
Nicht sehen kann?
Nicht sehen kann …
Obwohl sie so etwas dachte, musste sie dennoch schwer schlucken. Auch ein leichtes Zucken durchfuhr sie.
Die Frau hob leicht ihren Kopf. Ihr Kinn und ihre Lippen kamen dabei zum Vorschein. Ein leichtes Lächeln lag auf diesen, wie es normalerweise immer der Fall bei ihr war. Was das gefesselte Mädchen nur einen wütenden Blick erwidern ließ, der so finster war, dass sie einen Schatten erzeugte. Auch in ihrem Inneren entstand eine tief liegende Wut, die drohte, überzukochen. Begeistert war sie von diesem eingebildeten Lächeln nämlich ganz und gar nicht. Sie hasste so selbstgefällige und eingebildete Leute, die sich für etwas Besseres hielten und auf andere herabsahen, als wären sie nur ein lästiges Stückchen Dreck an den Schuhsohlen, das es schnell zu entfernen galt.
Was bildet sich diese Zicke eigentlich ein? Wurde wohl ein bisschen zu viel in den kleinen Hintern geschoben, als sie klein war.
Zicke!
Schlampe!
Hure!
Oh, wie sehr ich sie hasse und dabei kenne ich sie nicht mal. Oder vielleicht doch?
Sie scheint so zu tun, als würde sie mich kennen. Oder verwechselt sie mich vielleicht mit jemand anderem?
Hier in der Gegend gibt es zwar keine Rothaarigen, aber der Stamm ist ja unterwegs. Da können ja schonmal ein oder zwei Leute unterwegs verloren gehen.
Dennoch will dieses innere Gefühl nicht verschwinden, als würde ich sie kennen.
Das Mädchen dachte sich schon, was dieses gefesselte Mädchen dachte, die ganzen Beleidigungen und was das alles sollte.
Davon musste sie nur noch mehr grinsen.
Was die sich einbildet. Die sollte lieber hier an der Wand hängen.
Ich würde ihr am liebsten diese ganzen Fackeln in ihr blödes Maul stopfen oder es damit zu schmelzen oder zumindest verbrennen, damit sie ihre scheiß Fresse hält (oder halt ihre Gedanken), oder in andere Körperöffnungen reinstecken.
Mir egal wie, solang es nur qualvoll ist.
Und diesen eingeschüchterten Kerl will ich auch irgendwas Schlimmes antun. Am besten irgend so ein doppeltes Ding. Damit sie mich ja in Ruhe lassen würden.
Für immer. Denn sie beide nerven mich unglaublich, einfach nur mit ihrer Existenz, die möglichst schnell vergehen und verenden soll.
„Was ist denn hier los? Habe ich dir nicht gerade gesagt, was mit dir passieren könnte?
Ich weiß, dass ich dir verboten habe, zu lachen, aber so einen finsteren Blick stattdessen zu lassen?
Unglaublich.
Du solltest lieber wimmern und um dein Leben betteln.“
„Nein.“
„Nein?“
„Du hast mich schon verstanden. Nein!“
„Nein …“
Sie konnte die Ungläubigkeit auf den Lippen des Mädchens erkennen. Doch dann fing sie wieder zu grinsen an.
„Tapfer?
Glaubst du wirklich, so mutig zu sein, wäre klug? Mal davon abgesehen, dass Mut und Leichtsinn sehr nah aneinanderhängen.
Da solltest du vielleicht nochmal drüber nachdenken.“
„Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Wir werden es ja schon sehen, was von beidem der Fall sein wird.“
„Dann sie mal zu.“
Eingebildete Zicke! Glaubst du wirklich, dass du mich so brechen kannst (falls du das vorhattest)? Ich nämlich nicht und werde ich auch nicht! Und tue ich auch nicht! Weil es nicht so ist und auch niemals sein wird!
Überlegen wollte sie nicht weiter. Sie würde schon sehen, was auf sie zukam. Aber eins war ihr ganz klar: Sie würde sich nicht von diesem Weib unterkriegen lassen (Niemals!).
Soviel war ihr klar, aber nicht mehr.
Sie hatte bereits ihre Schmerzen vor lauter Wut vergessen können.
Die wird noch ihr Wunder erleben!
Ich werde hier rauskommen und sie wird untergehen. Dafür werde ich schon noch sorgen. Und darauf kann sie sich auch verlassen.
Sie spuckte das Mädchen vor sich an.
Ich lasse mich nicht unterkriegen und dieses blöde Lächeln kann sie sich sonst wo hinstecken!
Dieses Miststück!
Ihr sollte lieber mal bewusstwerden, in welcher Position sie sich befindet. Nur weil ich gerade gefesselt bin, heißt das nämlich noch lange nicht, dass ich auch diejenige bin, die hier untergebuttert wird.
Das Mädchen wischte sich die Spucke aus dem Gesicht, nachdem sie ein schockiertes Geräusch von sich gab. Damit hatte sie alles andere als gerechnet (und sie war mehr als angewidert!).
Der Mann war noch etwas mehr erschrocken. Er zuckte richtig zusammen und ließ einen leisen entsetzen Laut von sich. Sein ganzes Fett - besonders seine schwabbelige Haut am Hals - wackelte dabei rum. Er spielte mit seinen Händen rum und sein Gesicht wurde ganz rot. Sofort schritt er ein wenig nach hinten, mit kleinen und schnellen Schritten. Die Wut dieses Mädchens wollte er wohl nicht ausgesetzt werden, dafür war er ein zu verängstigter Mann.
Und dazu hatte er auch allen Grund.
Er zog sich die abgesetzte Kapuze wieder auf und zog sie sich so tief in sein Gesicht, dass es schon beinahe so aussah, als würde er sich vor ihr verstecken wollen -was er im Grunde genommen auch tat.
„Wie kannst du es wagen!“, schrie das angespuckte Mädchen sie an.
„Wohl eher: Wie kannst du es wagen!
Ich weiß nicht, was ich hier soll. Habe ich dir irgendwas getan (falls wir uns überhaupt kennen sollten) und wenn ja, was? Ich wüsste nämlich nicht, was es sein sollte.
Aber wenn ich mir deine Haare so ansehe, dann leuchtete es mir schon langsam ein.“
„Wirklich? Das hat aber lange gebraucht.
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum du hier bist. Da gibt es noch etwas. Weißt du?“
„Ach ja? Und das wäre? Denn ich weiß eben nicht! Ich habe absolut keine Ahnung, was ich hier mache und kann es nicht einmal erahnen. Weißt du?“
Was sollte es noch geben? Ich wüsste nicht, was es da noch geben könnte. Oder wen. Oder überhaupt, das Ganze im Allgemeinen.
Mir fällt nur das eine ein, aber nur, wenn sie es auch wirklich ist, so wie ich es vermutet habe.
Aber mein Verdacht verfestigt sich immer und immer mehr, je länger ich hier bin, sie sehe und reden höre oder allgemein irgendeine Form der Interaktion mit ihr führe.
Das Mädchen trat noch einen Schritt auf sie zu. Aber ließ ihr Gesicht dabei immer noch nicht erkennen.
Was sollte dieses ganze Theater eigentlich? Hatte das einen bestimmten Grund oder einfach nur so?
Glaubt sie etwas, dass mir das Angst machen würde? Wohl kaum.
Sie wollte ihr schon erneut ins Gesicht spucken, hielt sich dann aber doch zurück, denn sie tat etwas, was sie erst verwunderte, doch dann voll Neugier große Augen bekommen ließ.
Das ist doch … Ich kenne sie. Ich kenne dieses Mädchen. So eine würde man nicht so einfach vergessen können.
Dann hat sich mein Verdacht also bestätigt.
Aber ich muss schon sagen - oder vielleicht eher denken, ja, definitiv denken -, überrascht bin ich dennoch.
Sie legte ihre Kapuze ab, die sie die ganze Zeit über aufbehalten hatte, um ihr Gesicht zu verdecken, und enthüllte somit ihr Gesicht in voller Pracht, ohne, dass ein Schatten fiel.
Ganz zu sehen, von allen Fackeln überall hell beleuchtet. Ein großes Grinsen lag auf dem Gesicht der Entführerin, besonders, als sie den erstarrten Blick des Mädchens ihr gegenübersah. Ihr Gesicht war nämlich genauso von den Fackeln beleuchtet -auch wenn es für die Entführerin nun keinen Unterschied machte, ob mit oder ohne Licht.
„Ich sagte ja, dass du dich in Acht nehmen solltest.“
Der Baum war riesig; eine ganze Familie, nein, ein ganzer Stamm -ihr ganzer Stamm; ihr ganzes Volk- konnte in ihm wohnen, leben. Seit zwei neuen Generationen lebten sie bereits dort.
Zwei!
Das waren an die hundert Jahre oder so, vielleicht sogar mehr als das. Die Rechnung bei ihnen war ein wenig anders, irgendwie seltsam.
Sie selber war allerdings erst elf Jahre. Sie fand es so unglaublich. Sie hatte Geschichten von den Nichtzauberern gehört, die gerade mal dreißig Jahre alt werden konnten, manche sogar weniger. Nur selten wurden sie älter. In ihrem eigenen Stamm konnten sie bis zu zweihundert Jahre alt werden, manche weniger, manche mehr. Aber etwa zweihundert Jahre waren es immer.
Und die Nichtzauberer sahen auch anders aus.
In ihrem Stamm hatten alle rote Haare. Sie hatte rote Haare, wie alle anderen in ihrem Stamm.
Mit einem Lächeln im Gesicht, und ganz vielen Sommersprossen verteilt auf ihrer Nase, lief sie zu den Tieren, die sie schon immer unglaublich mochte. Sie hatte ihr Seelentier an ihrem elften Geburtstag gefunden -oder wohl eher hatte er sie gefunden.
Noch etwas, was die Nichtzauberer nicht hatten: Seelentiere.
Aber die anderen Zauber, von denen sie gehört hatte, hatten ebenfalls kein Seelentier. Dafür mochte sie ihr Seelentier nur umso mehr. Ein wunderschöner schwarzer Hengst.
Er war ein sehr kräftiges Tier, bei dem die Muskeln besonders zur Geltung kamen, wenn er umher rannte. Dann schimmerte sein Fell auch immer wunderschön in der Sonne. Seine Augen hatten ein so wunderschönes Braun, dass sie ständig hineinsehen musste. So intensiv, so kräftig, so einnehmend. Sie sah aber nicht nur gerne seine Augen an. Sie sah ihm allgemein gerne zu, besonders wenn er rannte und seine Mähne dabei so schön im Wind wehte. Er sah so prächtig aus.
Sie war richtig stolz auf ihn und das wusste er, immerhin waren sie miteinander verbunden.
Und da war sie wieder mal bei ihm, wie eigentlich immer. Sie tat nichts lieber, als bei ihrem Seelentier zu sein. Sie hatten eine ganz besondere Verbindung zueinander. Sogar noch eine etwas stärkere, als es bei anderen der Fall war.
„Hallo, mein Hübscher“, sagte sie und strich ihm über seine Stirn. Sie mochte dieses Gefühl und sie liebte sein schwarzes Fell. So ein wunderschönes Fell, das kein anderes Tier besaß. Zumindest kannte sie keines sonst, das so schwarzes Fell besaß -aber sie glaubte auch nicht, dass es sonst solch ein Tier nochmal geben konnte. So dunkel, schwarz und schimmernd. Nicht ein einziges weißes Haar zierte sein Fell, auch nicht an nur einer Stelle, auch kein graues oder irgendetwas in dieser Richtung. Nur schwarz.
Die Menschen von ihrem Stamm fanden ihn schön, aber genauso hatten sie Angst, sogar große Angst. Das Tier erinnerte sie an den Tod oder zumindest an dunkle Schatten. Manchmal wirkte er selber wie ein dunkler Schatten -ein großer dunkler Schatten, denn er war riesig und besonders in der Nacht war er beunruhigend verängstigend, besonders wenn er schnaubte oder sich irgendwie böse anhörte. Manche der Leute glaubten dann manchmal sogar, dass seine Augen rot im Mondlicht aufblitzen würden, als wäre er von irgendwas besessen. Immerzu sahen sie in ihm einen Todbringer, einen Todesengel, einen Dämon, der sie in die Hölle bringen würde -wie es die Christen immer so schön sagten (oder zumindest so ähnlich, sie hatten bereits seit ein paar Jahrzehnten nichts mehr mit den Christen zu tun gehabt).
Wer wusste es schon, vielleicht war er das ja sogar, denn kurze Zeit später entdeckte das Mädchen eine unglaubliche Kraft. Eine, die so stark war, dass niemand mehr etwas gegen sie ausrichten konnte. Und sie und er waren verbunden, also musste es etwas zu bedeuten haben. Und wenn er schon als solches von allen aus dem Dorf angesehen wurde, wie war es dann erst mit ihr der Fall?
•••
Sie spuckte ihr erneut ins Gesicht. Ciara trat ihr auch noch zusätzlich in den Bauch, mit voller Wucht, als das Mädchen erneut schockiert war, dass diese schmerzlich aufkeuchen musste.
Im nächsten Moment flog ein Kopf gegen die Wand, wodurch ein lauter Knall zu vernehmen war und im ganzen Raum widerhallte. Ihr war völlig schwindelig und die Blutbahnen, die sie bis vor kurzem noch gesehen hatte, war verschwunden.
Das Mädchen drehte sich schockiert um, völlig benommen, und versuchte langsam wieder zu sich zu kommen.
„Wo, wo ist er?“, fragte sie hysterisch. Sie hatte den Kerl aus den Augen verloren, doch sein Blut ergoss sich bereits über den ganzen Fußboden. Ciara hat ihn schnell zum zittern gebracht, genauso schnell hatte sie ihm sein Blut aus allen Körperöffnungen entweichen lassen, bis sich genauso schnell eine große Blutlache unter ihm gebildet hatte. Ciara fand es schon beinahe traurig, dass dieses Mädchen es nicht sehen konnte, denn sie war sich ganz sicher, dass sie nichts sehen konnte.
„In der Hölle, wo du ihm bald hin folgen wirst.“
Das Mädchen drehte sich wieder um.
„Du bist blind. Stimmt doch, oder? Du hast keinen Schein in deinen Augen. Und gerade hast du diesen Mann auch nicht mehr gesehen.“
Sie zuckte.
„Also habe ich recht“, grinste die Gefesselte. „Su bist es wirklich. Was willst du von mir?“
„Ich bin wegen einer Frau hier.“
„Wegen welcher?“
„Ich kenne sie nicht, aber ich wurde zu ihr gebracht, weil sie mir etwas sagen wollte. Sie sagte nur, dass sie mir bei meiner Rache helfen könnte.
Und du hast mir alles genommen. Du bist also ein Teil davon.“
„Ach ja?
Und ihr habt mir alles genommen. Bist du damals nicht von deiner eigenen Schwester erblindet worden? Das wusste doch niemand und glauben wollte es dir auch niemand, denn alle haben deine Schwester mehr gemocht und das tun sie immer noch. Es war immer so und so wird es auch immer bleiben, sogar wenn sie tot ist.“
Eine Ader pulsierte auf der Stirn des Mädchens. Sie ballte ihre Fäuste und ihr Blick wurde finster, durch ihre leeren Augen wirkte es noch beängstigender.
Sofort verstand Ciara, dass sie nicht mehr lebte. Sollte sie etwas sagen oder es doch lieber lassen? Sie entschied sich erstmal nichts zu sagen und nur zu grinsen.
„Woher weißt du, dass es stimmt?“
„Das Gericht hat eure Gedanken, eure Erinnerungen gelesen. Deine Schwester war damals schon so stark und mächtig, dass sie ihre eigenen Erinnerungen fälschen konnte. Du sahst nichts mehr, du hattest kaum etwas vorzuweisen. Aber ich bin in der Nacht zu ihr gekommen und habe es gesehen.“
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Um genauso verachtenswert angesehen zu werden, wie du? Außerdem kam doch durch mich selber plötzlich ein ganzes Chaos.“
Ich sollte nicht so lügen, aber ich bin nah genug an der Wahrheit dran. Wenn ich jetzt sagen würde, wie es wirklich war, würde es sowieso nichts ändern.
Die Blinde nickte.
„Aber darum sollten wir uns nicht weiter Gedanken machen. Du solltest dich eher darum sorgen, was ich jetzt mit dir mache.
Ja, ich bin blind, aber ich sehe deine Blutlinien. Ich sehe, wie es fließ.
Ich kann dich dennoch töten.“
„Und du solltest daran denken, dass ich zwei Zauber besitze und auch beherrschen kann.“
„Aber den einen kannst du nicht richt-“ Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, kam ein großer Schatten, der das Mädchen von ihren Fesseln löste.
„Was hast du gemacht?“
„Ich habe mich befreit.“ Sie rieb sich kurz ihre Handgelenke und sah dem blinden Mädchen dann wieder in die Augen, auch wenn dieses nicht ihr Gesicht und nur die Blutbahnen sehen konnte, so musste sie doch irgendwas sehen, irgendwelche Regungen oder Gefühle. Denn sie selber zeigte davon mehr als genug.
Sie war völlig verstört, ihre Augenbrauen waren zusammengezogen. Sie versuchte eine feste Stimme zu behalten, doch ein wenig zitterte sie dennoch. Doch das zwischen ihnen blieb dennoch mehr als verwirrend. In dem Kopf des Mädchens war alles plötzlich ganz verwirrend, nicht mehr so klar, wie vorher. „Wer bist du? Ich erinnere mich nicht an dich. Aber kurz nach meiner Erblindung ... Doch, ich erinnere mich, wer du bist?“
„Deine Verwirrung ist nicht grundlos da.
Ich bin nicht mehr die von damals. Ich heiße jetzt Ciara.“
„Ich bin auch nicht mehr die, von damals.
Aber es ist egal. Du warst weg.
Dein Name ist mir genauso gleich.“
„Dein Tod wird mir auch gleich sein.“
Sie wollte ihren Arm heben und die Blutbahn von Ciara verändern, doch Ciara war schneller. Mit nur einer Bewegung, sorgte sie dafür, dass sie ihren Schatten auf sie übertrug, ohne dass es das Mädchen im ersten Moment auch nur mitbekommen konnte. Dieser warf sie an die Wand, mit einem lauten Knall, wie es zuvor bei dem Kopf der Fall war, und hielt sie ein paar Zentimeter über dem Boden.
Keuchend versuchte sie sich zu lösen und den Schmerz der dabei entstand - und auch durch den Schlag, der den restlichen Schmerz auslöste - zu betäuben, doch es war sinnlos.
„Es ist wirklich schade, was aus uns geworden ist. Ich war mir sicher, dass wir wieder Freundinnen hätten werden können, so wie damals, zu alten Zeiten. Nur du und ich, gegen den Rest des Stammes oder der Welt -unserer Welt.
Der Stamm war damals unsere Welt, aber jetzt nicht mehr. Wir haben beide viel erlebt.
Ich hatte es wirklich geglaubt, dass es noch etwas hätte werden können.
Aber nicht so. Nicht auf diese Weise.
Irgendwie tut es mir ja schon leid. Ich habe dich wirklich gemocht.
Vielleicht haben wir ja im nächsten Leben mehr Glück.“
Ciara sah die Angst in ihren Augen.
„Es tut mir leid.“
Sie wusste nicht, ob sie es ernst meinte oder einfach so sagte, doch irgendwie erfüllte sie das Gefühl von damals. Diese Bindung zueinander. Ciara konnte sie ein letztes Mal spüren, so wie es bei dem Mädchen auch der Fall war.
Sie sah ihr ein letztes Mal in ihre Augen, wissend, dass es das letzte Mal sein würde. Ein letztes Mal atmen, ein letztes Mal die wichtigste Person in ihrem Leben bei sich haben. So ging es Ciara auch einst.
Dieses Mädchen war alles für sie, so sehr.
Ciara gingen diese Gedanken, ihre gemeinsamen Erinnerungen und Erlebnisse durch den Kopf. Eine leise Träne lief ihre Wange hinunter.
Ein letzter Abschied.
Ab da ging alles ganz schnell.
Krach.
Der Schatten verschwand und sie fiel tot zu Boden. Die Augen die sie zuvor ohne Glans ansahen, sahen nun völlig tot aus. Als hätten sie vorher doch eine Art Glanz gehabt, den sie nun endgültig verloren hatten.
Ciara musste schwer atmen. Mit einer Hand raufte sie sich die Haare und rutschte die Wand hinunter.
Wie gerne Ciara es anders gehabt hätte. Wie gerne Ciara doch eine andere Richtung eingeschlagen hätte.
Dieses Mädchen war ihre beste Freundin. Sie hätte es immer noch sein können, doch das Schicksal schien anderer Meinung zu sein -oder besser gesagt gegen sie zu sein.
Sie musste weinen.
•••
„Er ist wunderschön“, konnte das Mädchen eine ihr sehr bekannte Stimme hören. Eigentlich musste jeder diese Stimme erkennen, so ruhig und lieblich, wie ein warmer Frühlingstag, der den Sommer ankündigte.
Sie drehte sich mit einem breiten Lächeln um, das ihr über das ganze Gesicht ging. „Hallo!“
„Hallo.
Du bist irgendwie immer hier. Willst du deiner Mutter denn nicht helfen?“
„Nein. Ich fühle mich seltsam.“
„Wie meinst du das?“
„Ich habe so ein seltsames Gefühl. So eine Art Brodeln im Inneren.“
„Meine Schwester hatte das auch. Ich werde es sicher auch bald haben.“
„Was ist es denn?“
„Wir werden Frauen.
Meine Schwester wird es bereits. Ich werde es auch bereits. Und mit dieser Sache, kommt auch die andere.“
„Welche andere?“
„Unser Zauber wird bald soweit sein, dass wir ihn einsetzen können, dass er sich in uns entfaltet, wie die andere Blüte.“
Die Augen von ihr wurden größer. Ihre Mutter sprach nicht mit ihr über solche Sachen. Ihre Mutter sprach im Allgemeinen eher weniger bis gar nicht über irgendwas.
Umso besser war eine beste Freundin, mit der man über alles sprechen konnte. Eine wie dieses Mädchen vor ihr.
Das Mädchen ihr gegenüber war bereits ein paar Jahre älter als sie, dennoch waren sie beste Freundinnen. Immer machten sie etwas zusammen, seit ihrer ersten Begegnung, als sie gerade mal Laufen gelernt und dieses Mädchen an einem Fluss spielen sehen hatte.
„Wirklich? Dann kann ich auch all die tollen Zaubersachen machen? Dann kann ich Menschen heilen und so?“
„Ja, ganz richtig.“
„Gemein, du kannst das alles schon fast.“
„Aber auch nur fast.
Außerdem bin ich drei Jahre älter als du und da ist das ja auch nur fair. Oder meinst du nicht?“
„Stimmt“, sagte sie, während sie von dem Zaun sprang, der sie und ihr Seelentier voneinander trennte.
Am liebsten würde sie ihn freihalten – so wie es normalerwiese auch bei den anderen Seelentieren der Fall war, die großgenug oder einfach in der Lage waren, sich selber zu verteidigen -, ohne einen Zaun, der sie trennte, doch der restliche Stamm wollte es nicht. Sie fürchteten sich einfach zu sehr vor ihm.
„Dafür hast du dein Seelentier vor mir gefunden.“ Sehnsüchtig sah sie das schwarze Tier an, trat näher, bis an den Zaun und legte ihre Arme übereinander auf diesen, um ihren Kopf darauf abzulegen. So wie sie guckte, seufzte sie auch.
Wie sehr sie sich doch auch ein Seelentier wünschte. Sie träumte sogar von ihm, nicht direkt ihr Seelentier, aber wie es aussehen könnte, was es sein könnte. Sie hatte so viel davon gehört und auch gesehen. Sie würde dieses Gefühl so gerne selber mal spüren.
„Ja. Da bin ich dir Baum hoch überlegen.“ Sie pikte ihre Freundin in die Seite - dass diese erschrocken zusammenzuckte - und rannte lachend davon. Das ältere Mädchen rannte ihr lachend hinterher. So einfach würde sie sie nicht davon lassen, ohne es ihr nicht zurück zu geben.
•••
Ciara sah die Leichen an. Ihr Tränenfluss hatte bereits aufgehört. Ab einem gewissen Punkt starrte sie das tote Mädchen nur noch mit leeren Augen an, als wäre sie nur Luft; als würde da keine Leiche liegen.
Langsam stand sie auf und schlenderte zu der Tür. Ihre Gedanken wurden klarer; der Nebel lichtete sich langsam. Sie konnte wieder denken, durch das Weinen kamen allerdings ihre Schmerzen zurück.
Sie öffnete die Tür, draußen war es immer noch dunkel, nur die vereinzelten Fackeln, die an den Wänden hingen, boten ein wenig Licht und auch Sicht -auch wenn Ciara auch in der Dunkelheit sehen konnte.
Sie lief nach draußen, froh, endlich frei zu sein. In dem Zimmer hatte sie sich gefühlt, als würde sie jeden Augenblick ersticken können. Der Luftwechsel tat ihr gut. Tief atmete sie die kühle - allerdings nicht gerade frische - Luft ein und füllte ihre Lungen bis auf das letzte Stück mit dieser.
Sie rieb sich ihre Handgelenke, auch wenn diese schon fast nicht mehr wehtaten, aber es beruhigte sie ein wenig. Diese rostigen Fesseln hatten ihr dennoch übel zugerichtet. Ein rötlicher Ring war um jedes ihrer Handgelenke gelegt. Die Fesseln hatten richtig an ihrer Haut gescheuert, so sehr, dass sie schon beinahe blutete.
Sie lief den langen Gang entlang. Langsam und ihre Arme um sich geschlungen. Ihr Körper war schwach und sie fühlte sich so verletzt, so erschöpft. Sie war noch nie in einem Verließ; sie kannte sich mit diesen Orten nicht aus. Ein schöner Ort war es allerdings nicht und unbedingt länger als nötig dort bleiben wollte sie auch nicht. Überall stank es, nach Moder, Schimmel und Fäkalien. Ein beißender Geruch. Trotz der wenigen Fackeln war es recht dunkel. Sie konnte kaum bis in eine hintere Ecke sehen. Aber ihre Macht half ihr. Sie sah sich mit Hilfe der Schatten um, sie konnte mehr als hunderte an Metern mit den Schatten sehen, sowie hören. Sie konnte alles mit der Hilfe der Schatten wahrnehmen und auch in sich aufnehmen.
Sofort fand sie einen Ausweg und nicht nur den.
•••
Sie spielten gerade mit dem Hengst. Das jüngere Mädchen ritt auf ihm mit ausgestreckten Armen. Im Gegensatz zu ihm war sie recht klein.
Wäre die Angst vor dem großen Tier nicht gewesen, hätten die anderen sicher öfter zugesehen und es sogar belustigend gefunden -besonders diesen Größenunterschied. Im Gegensatz zu ihm sah sie wie eine kleine Maus aus und er wie ein großer Wolf. Sie klein und unscheinbar und er groß und gefährlich.
„Du siehst toll aus, wie ein Engel. Als könntest du wirklich fliegen. Und deine Arme sind deine Flügel.“
Die Ältere hatte ihre Arme überkreuzt auf dem Zaun liegen. Das tat sie immer. Entweder legte sie sie drauf oder stützte sie ab. Dabei saß sie meistens auch auf dem Zaun oder stand zumindest auf der untersten Leiste. Sie mochte dieses Gefühl, das sie dabei bekam. Irgendwie ein wenig schwerelos.
Diesmal stützte sie sich mit ihrem Bein an einem der unteren Balken ab.
„Es fühlt sich auch so unglaublich an!“ Ein breites Lächeln lag auf dem Gesicht des reitenden Mädchens und ein wohlig kribbelndes Gefühl in ihrem Magen.
Sie ritt noch ein paar Kreise, beide Mädchen mussten lächeln, ehe sie zu ihrer Freundin kam und von dem ihr viel zu großen Pferd sprang. Wenn sie neben ihm stand, reichte ihr Kopfende gerade mal bis zu seinem unteren Anfang vom Schulterbereich.
„Ich würde so gerne mal wirklich fliegen können. Das muss sich doch sicher unglaublich toll anfühlen.“ Verträumt sah das Mädchen in den Himmel hinauf, der hellblau leuchtete. Sie lief zu ihrer Freundin an den Zaun und stieg mit beiden Beinen auf denselben unteren Balken und stützte sich mit beiden Händen und durchgestreckten Armen ab.
„Ja, das würde sich bestimmt schön anfühlen.“
Einen Augenblick hingen beide verträumt ihren Gedanken nach. Die Vögel konnten fliegen. Ob jemand mit einem Vogel als Seelentier wohl dieses Gefühl vom Fliegen nachempfinden konnte? Oder wohl eher direkt empfinden und spüren konnte? Wie sich das wohl anfühlen mochte? Sie stellten es sich als ein unglaubliches Gefühl vor.
Nach einer Weile regten sie sich wieder.
„Wollen wir zum Baum?“, fragte die Ältere und drehte sich mit ihrem Kopf dabei zur Jüngeren -die immer noch in den Himmel starrte und dann zu ihrem schönen dunklen Schwarzen.
„Ja, ich will mich nur noch verabschieden.“
„Ist gut.“
Das jüngere Mädchen stieg von dem Zaun runter, ging auf ihr Pferd zu und strich über seine Stirn.
Sobald sie ihn berührte, erstrahlte ein rotes Licht, dass sie eigentlich hätte blenden müssen, es aber nicht tat.
Erschrocken wichen sie und ihr Pferd voneinander zurück.
Auch das ältere Mädchen hatte alles mit angesehen. Ihr Mund stand ihr offen. Mit großen Augen sahen sich alle drei