Zeit zu verzeihen - Hera Lind - E-Book
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Hera Lind

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Beschreibung

Eine wahre Liebesgeschichte aus der dunkelsten Zeit der DDR: Bestseller-Autorin Hera Lind erzählt in ihrem Tatsachen-Roman »Zeit zu verzeihen« von einem unvorstellbaren Verrat, einer qualvollen Zeit im DDR-Gefängnis und von der Kraft wahrer Liebe. Im Sommer 1965 wird die Welt der 18-Jährigen Clara in ihren Grundfesten erschüttert: Auf Rügen taucht der westdeutsche Victor auf und enthüllt ihr ein unfassbares Familiengeheimnis. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit wissen die beiden jungen Menschen, dass sie ineinander die wahre Liebe gefunden haben. Sie riskieren alles und wagen die Flucht aus der DDR in den Westen. Claras Welt zerbricht ein zweites Mal, als sie dabei denunziert und verhaftet wird. Im berüchtigten Frauen-Gefängnis Hoheneck bringt Clara schließlich unter fürchterlichen Umständen ihren Sohn zur Welt – und muss monatelang auf einem Lager aus Stroh auf dem nackten Betonboden um das Überleben ihres Babys kämpfen. Wortlos wird ihr das Kind schließlich weggenommen. Doch tief in Claras Herz ist die Kraft wahrer Liebe ungebrochen. Und Viktor hat sie all die Jahre nie aufgegeben … Die wahre Geschichte von Clara und Viktor: Erschütternd und zu Herzen gehend versöhnlich lässt uns Bestseller-Autorin Hera Lind an einem Schicksal teilhaben, das in der Nachkriegszeit und später der  DDR Tausende getroffen hat.

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Seitenzahl: 579

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hera Lind

Zeit zu verzeihen

Roman nach einer wahren Geschichte

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

ERSTER TEIL

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Barbara

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Rosa

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Viktor

Ostern 1949. Wartenburg

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Ein paar Monate später

Rosa

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Rosa

Zwei Wochen später

Rosa

Barbara

Rosa

ZWEITER TEIL

Clara

Margit

Rosa

Viktor

Clara

Clara

Ein paar Tage später, Sassnitz auf Rügen

Clara

Clara

Clara

Clara

Clara

Klemens und Margit

Clara

Clara

Clara

Clara

Clara

Clara

Clara

Clara

Clara

Zwei Tage später, Biberach an der Riß

Clara

Clara

Clara

Ein halbes Jahr später, 1. Advent 2010

Clara

NACHWORT DER AUTORIN

Herzlich willkommen in meiner Roman- und Schreibwerkstatt im Herzen Salzburgs!

Nachworte und Danksagungen

Nachwort

Nachwort Mama und Papa

Danksagungen

Vorbemerkung

Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht.

Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser und Leserinnen erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagenhaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

 

* Im Text kommen die Wörter »Zigeuner«, »Hasenscharte« und »Rassenschande« vor. Diese Bezeichnungen gelten heute als despektierlich und abwertend und werden nicht mehr verwendet. Die Wörter werden jedoch wiedergegeben und weder umschrieben noch vermieden oder nur angedeutet, da es das Anliegen der Autorin ist, durch die ausdrückliche Benennung und Wiedergabe die Zeit, die Zustände und die Gepflogenheiten darzustellen.

ERSTER TEIL

Rosa

25. Januar 1945. Wartenburg, unweit Allenstein, Ostpreußen

Nebenan warf die Nachbarin ihr Hab und Gut zum Fenster hinaus. Dicke Bündel in Kissenbezügen, Koffer und Kisten plumpsten auf den dick verschneiten Hof hinaus. Igor, der ihr zugeteilte ukrainische Kriegsgefangene, der längst unser gemeinsamer Freund und Helfer war, ließ die Tiere frei. Unwillig trotteten sie in der eisigen Kälte in der Dunkelheit des frühen Morgens herum und wussten nicht, wohin. Die Adern an seinem Hals traten hervor und sein Gesicht unter der Fellmütze war rot, als Igor das ganze Gepäck auf einen bereitstehenden Planwagen wuchtete und das letzte lahmende Pferd davorspannte. Das sah eindeutig nach Flucht aus, und Flucht war bei Todesstrafe verboten. Artilleriefeuer und Schüsse waren die ganze Nacht zu hören gewesen, und der Feuerschein züngelte am Himmel.

Ich setzte meinen kleinen Viktor neben seine Brüder auf den Fußboden und riss das Fenster auf. »Ida? Was soll das werden? Du haust doch nicht etwa ab?«

»Doch, Rosa, und das solltest du auch schleunigst tun! Hast du nicht gehört, dass die Russen bereits in Hirschberg sind? Heute Nacht war dort ein entsetzliches Massaker!«

Ida strich sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht und stopfte sie unter ihr dickes wollenes Kopftuch. Die kompakte Frau war in mindestens drei Mäntel und Schals gehüllt. Der Atem stand in kleinen weißen Wölkchen vor ihrem Mund. Die Panik ließ ihren Blick hart werden. »Sie haben die jungen Frauen vergewaltigt und viele getötet, die Häuser angesteckt und das Vieh verbrannt. Spätestens morgen sind sie hier! Auch unser kleines Dorf wird nicht verschont werden, glaube mir!«

»Um Gottes willen, Ida!« Während ich durch den Fensterspalt spähte, klopfte mir das Herz bis zum Halse. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und, dicht an meine drei Jungs gepresst, versucht, ihnen Halt und Geborgenheit zu geben. »Aber Flucht ist strengstens verboten, im Radio haben sie gesagt, dass jeder, der jetzt das Heimatland verlässt, ohne Vorwarnung erschossen wird.«

Mit einem besorgten Blick auf meine drei kleinen Söhne, die ahnungsvoll am Boden kauerten, versuchte ich, meine Stimme zu senken. »Entweder die Russen erledigen es oder die eigenen Landsleute. Da bleibe ich mit meinen Kindern lieber in meinen eigenen vier Wänden.«

Mit meinem Ehemann Paul hatte ich vor zehn Jahren dieses Haus gebaut, Stein für Stein, und mühsam unseren Garten bewirtschaftet. Wir besaßen zwei Kühe, zwei Kälber, Federvieh und Ziegen. Es ging uns gut, wir waren eine bescheidene, aber glückliche Familie, bevor Paul in den Krieg einberufen wurde. Seit fünf Jahren versorgte ich nun den Haushalt und die Kinder allein. Ich war stark und selbstständig geworden, es gab nur uns und dieses Haus, dieses Stück Heimat, und ich wollte mich nicht aus unseren vier Wänden vertreiben lassen. »Ida, ich schaffe das nicht mit den drei Kleinen! Wir kommen niemals die ganzen siebzehn Kilometer bis nach Allenstein, und dann … Wo sollen wir denn hin!«

»Rosa, du kannst hier unmöglich bleiben!« Ida schloss nun von außen ihre Haustür ab und stand direkt unter meinem Fenster. »Pack deine Jungs und komm mit! Igor hilft dir!«

Der gutmütige, treue Igor, der sich als unser gemeinsamer Hausmeister stets nützlich machte, schaute zu mir herauf. »Ja, Rosa, pack schnell zusammen, ich helfe dir!«

»Du fährst doch sicher mit Ida mit?« Wie die gesamte Dorfgemeinschaft wusste, war Igor inzwischen längst mehr als nur der Ida zugeteilte Kriegsgefangene. Die beiden waren ein Paar.

»Nein, ich bleibe hier. Als ukrainischer Zwangsarbeiter werde ich von den Russen so oder so erschossen.« Er schob sich die Mütze in den Nacken. »Der Jean, der ist Franzose, den werden sie befreien, aber ich habe keine Chance.«

Jean war der französische Zwangsarbeiter, der mir zugeteilt worden war, und wir wussten nie, ob wir dem jungen Mann trauen konnten. Er tat nur das Nötigste und saß meistens rauchend irgendwo in der Ecke. Nachdem ich mich geweigert hatte, mit ihm etwas anzufangen, ließ er sich schwerlich zur Arbeit überreden und ignorierte mich und die drei Jungen einfach. Der würde uns nicht helfen, so viel war sicher.

»Rosa, die Russen werden dich vor den Augen der Kinder … und sie sind nicht zimperlich! Was wird aus deinen drei Jungs, wenn sie dich … nun mach doch schon, reich die Kinder aus dem Fenster!«

»Aber sie sind noch nicht angezogen, ich muss erst packen …«

Von fern peitschten bereits Schüsse und Artilleriefeuer in den dunklen eiskalten Morgen. Der Feuerschein zuckte am Horizont und züngelte in die Schwärze des wolkenbedeckten Himmels hinein. Die Kinder schreckten auf und weinten. »Mama! Wir haben Angst!« Sie klammerten sich an meine Beine.

»Rosa! Es heißt, von Allenstein geht ein letzter Zug in den Westen! Schau doch nur, die Leute rennen alle in diese Richtung!« Ida kletterte auf ihren Planwagen und hüllte sich in Decken. »Ich will auf jeden Fall noch mit!«

Plötzlich gab sie ihrem Pferd die Peitsche, und der Wagen setzte sich ruckartig in Bewegung, ohne uns. Igor riss seine Mütze vom Kopf und starrte ihr fassungslos nach. Wollte sie uns doch nicht mitnehmen? Ida drosch in Panik auf den Gaul ein, und das Gefährt holperte und klapperte um die nächste Ecke.

Tatsächlich sah man nun aus den umliegenden Häusern ebenfalls dick vermummte Gestalten ihre Wagen und Schlitten beladen und verstohlen ihr Vieh freilassen. Zwischen das Artilleriefeuer, die Schüsse und die Explosionen aus der Ferne mischten sich jetzt unwilliges Muhen und Meckern der verängstigten und frierenden Tiere, die im tiefen Schnee versackten. Es war ein erbärmliches Bild, wie Kälbchen, Zicklein und Federvieh fassungslos über das dicke Eis rutschten und nicht wussten, wohin. Genau wie wir!

Wie sollte ich da mit meinen drei kleinen Kindern zu Fuß nach Allenstein kommen? Unser Pferdegespann war längst beschlagnahmt worden, Pauls Moped auch, und auf dem Schlitten konnte ich alle drei doch nicht ziehen, mitsamt dem Gepäck. Es war so bitterkalt, dass wir Bettdecken und Kissen brauchten, um nicht auf dem Schnee zu erfrieren!

Manisch begann ich, Eingemachtes in Gläsern aus dem Vorratsschrank in ein Betttuch zu wickeln, Brot und Wurst abzuschneiden und die Milchkanne mit Gummibändern zu umwickeln. Wie sollte ich das alles transportieren? Plötzlich war Igor auch nicht mehr zu sehen!

»Kinder, zieht euch an, wir müssen hier weg.«

»Aber wohin denn, Mami?«

»Bitte, tut, was ich euch sage. Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein. Zieht euch alles an, was übereinanderpasst, so schnell ihr könnt.«

Mit zitternden Händen quetschte ich den armen Viktor, der keine drei Jahre alt war, in Hosen, Strümpfe, Hemd und Pullover, zwängte ihm noch einen zweiten und einen dritten über den Blondschopf und zerrte sein Mäntelchen darüber. »Halt still, die Mama muss dich zuknöpfen. Jetzt wird nicht mehr geweint, hört ihr!«

Draußen mischten sich immer mehr panische Rufe in das Pferdegeklapper, Tiergeschrei und die Geräusche von Flüchtenden. »Sie kommen, sie kommen!«

Mir gingen die Nerven durch. Wenn sich alle aus dem Dorf davonmachten, konnte ich wohl kaum alleine hierbleiben! Ich durfte die Kinder nicht im Stich lassen. Ich hatte es Paul versprochen.

So oder so war unsere Lage aussichtslos. Panisch drehte ich mich zu meinen Kindern um, die weinend und schockiert am Boden saßen und mit ihren Strümpfen und Hosenbeinen kämpften. Walter war sieben, Heinz war fünf und der kleine Viktor nicht ganz drei Jahre alt. »So macht ihr das gut, warte, ich helfe dir mit den Stiefeln und den Schuhbändern …« Meine Finger zitterten so sehr, dass ich kaum zurande kam, zumal sich die Kinder heftig wehrten. Es war noch nicht mal sechs Uhr früh und draußen unter minus zwanzig Grad.

»Aber wir haben nicht gefrühstückt!« Heinz heulte Rotz und Wasser. »Mir ist kalt, und ich will zurück ins Bett!« Der kleine Kerl hatte Schüttelfrost.

Ach, wenn doch nur mein geliebter Mann da wäre! Paul war im Sommer das letzte Mal auf Urlaub hier gewesen, in unserer dörflichen Idylle, wo wir mit den polnischen Nachbarn in schönster Eintracht nebeneinanderlebten, bevor meiner sich auf jugoslawischen Boden zurückbegeben hatte.

»Du weißt, dass ich es hasse, für die Nazis zu kämpfen, und dass ich niemals eine Waffe in die Hand nehmen wollte, aber auf Fahnenflucht steht die Todesstrafe, und die Familien von Deserteuren werden im Krieg nicht versorgt. Also tue ich es notgedrungen für euch.«

Wir hatten noch ein Abschiedsfest in unserem Garten gefeiert, mit selbst gepflanztem Gemüse, Apfelmost und meinem legendären Kartoffelsalat mit Frikadellen, alles aus Eigenanbau und Eigenzucht. Wir hatten noch gesungen und getanzt mit unseren freundlichen Nachbarn, mit Ida, Igor und all den anderen. Jean hatte sich abseits gehalten und nicht mitgefeiert, er hatte nur meinen Mann von der Seite angestarrt.

Paul hatte unseren kleinen Viktor auf dem Arm gehalten und genau gewusst, dass es das letzte Mal war. Beim Tanzen hatte er mit Tränen in den Augen zu mir gesagt: »Rosa, sie haben mich nun zur Waffen-SS gesteckt, ganz bewusst, damit ich schieße. Wir haben schon viele Partisanen erschossen, sogar ein kleiner Junge war dabei, aber den haben wir leben lassen. Der stand schon vor seinem offenen Grab, da hat ein Offizier geschrien: ›Die Deutschen erschießen keine Kinder!‹ – Der Kleine war höchstens acht und ist seit Jahren mit den Partisanen in den Wäldern unterwegs gewesen! Seine Eltern sind bei grauenvollen Angriffen der eigenen Landsleute in die Luft geflogen, er selbst war jahrelang schwer verletzt, das hat der kleine Kerl uns alles erzählt.« Mit einem Blick auf unsere drei Söhne, die in ihrem liebevollen Elternhaus aufwachsen und sorglos spielen durften, fuhr er fort: »Wir haben ihn richtig ins Herz geschlossen, den kleinen schwarzen Lockenkopf mit den braunen Augen. Mein Kamerad Gustav kam dann auf die Idee, ihn als Maskottchen mitzunehmen in unser Lager, da haben sie dem verlumpten kleinen Kerl sogar eine SS-Uniform geschneidert, und jetzt läuft er stolz im Lager rum und übt den Hitlergruß …«

Ich hatte ihm nur kopfschüttelnd zugehört. »Was der Krieg mit unseren Kindern macht …«

Paul hatte nur traurig den Kopf geschüttelt. »Die Schlinge zieht sich zu.« Er hatte sich über die Augen gewischt: »Ich weiß, dass ich meine Kinder nicht wiedersehen werde. Pass auf sie auf, Rosa, versprich mir das. Du bist stark!«

»Paul, bitte, sag so was nicht …« Ich hatte mich an ihn geklammert. »Wir brauchen dich doch, du musst zu uns zurückkommen!«

»Die Partisanen haben alle Brücken gesprengt, sie kämpfen aus dem Hinterhalt, wir sind ihnen auf den schmalen Gebirgsstraßen und in den dichten Wäldern ausgeliefert, und ich werde aus dieser Hölle nicht mehr lebend zurückkehren.« Dann hatte er mit Viktor auf dem Arm mit mir verzweifelt weitergetanzt und uns mit Küssen überdeckt. »Bleib mir treu, Rosa. Ich liebe dich. Du wirst und musst das schaffen.«

Paul war sechsunddreißig Jahre alt, als man mir die Nachricht überbrachte, er sei für Volk und Vaterland heldenhaft kämpfend gefallen. Zeit zum Trauern hatte ich nicht. Mein Lebenswille für meine drei Jungs war umso stärker. Ich würde sie großziehen und anständige Männer aus ihnen machen, so wie Paul einer gewesen war. Das war ich meinem Mann schuldig.

So schuftete ich weiter auf dem Hof, auf dem Feld, im Garten und im Haus und ernährte meine drei Söhne ganz allein. Wir waren Selbstversorger, und ich fühlte mich autark.

Und oft fragte ich mich noch, was aus dem kleinen schwarzhaarigen Jungen wohl geworden war, der ja jetzt die Seiten gewechselt hatte und genauso unfreiwillig wie mein Mann zur Waffen-SS gehörte. Was für ein Wahnsinn, dieser unsinnige, grausame Krieg. Und was das mit den armen Kindern machte, die rein gar nichts dafür konnten.

»Mama! Ich habe Angst!«

»Wir haben alle Angst, Viktor. Aber wir müssen jetzt von hier weg. Haltet euch aneinander fest.«

Ich setzte meine drei Jungs auf den Schlitten, band das Bettzeug auf ihnen fest und ergriff das Seil. In völliger Verzweiflung setzte ich mich zu Fuß mit ihnen in Bewegung.

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Die Parteiführung verbot dem Volk 1945 unter Todesdrohung, das Land zu verlassen. Es hieß, die Russen kämen nicht so weit und das Vaterland würde bis auf den letzten Mann verteidigt. Nachdem jedoch die Front durchbrochen war, flüchtete auch Gauleiter Koch, und erst dann, nachdem die Sowjettruppen die Grenze zu Ostpreußen überschritten hatten und die vielen grausamen Massaker an der Zivilbevölkerung bekannt geworden waren, setzte der große Exodus der Menschen ein. Trecks wurden eilig zusammengestellt und zogen im Verbund mit Hunderten und Tausenden Flüchtlingen zu Fuß und auf Planwagen Richtung Westen. Als bekannt wurde, dass auch die Trecks unterwegs angegriffen, von Panzern überrollt, die Frauen vergewaltigt und die Menschen massakriert und auch auf der zugefrorenen Ostsee die Trecks beschossen und versenkt wurden, beschlossen viele Leute, darunter meine Mutter Rosa, damals vierunddreißig Jahre alt, lieber zu Hause zu bleiben.

Meine Mutter Rosa hatte schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht und erlebt, wie sich die Kosaken der Zivilbevölkerung gegenüber tadellos verhalten hatten.

Zu ihrer Nachbarin Ida und zu uns Kindern sagte sie immer: »Die Russen sind doch auch nur Menschen, die haben auch Kinder, und uns werden sie schon nichts antun.«

Die Frontführung wurde in Form von Kesselschlachten vollzogen. Größere Gebiete wurden von mächtigen Militärverbänden eingekreist und dann die kleineren Kreise durch Panzerverbände und Infanterie umzingelt und durch einen Ring geschlossen.

So zog sich langsam, aber sicher auch die Schlinge um Ermland mit der Hauptstadt Allenstein in Ostpreußen bedrohlich zu. Wir waren in einem kleinen Dorf zu Hause, sieben Kilometer von Hirschberg und siebzehn Kilometer von Allenstein entfernt. Unser Dorf hieß Wartenburg.

Als am 17. Januar 1945 Allenstein durch Artilleriebeschuss brannte, sah man das Feuer kilometerweit purpurrot am Himmel leuchten. Es fanden noch schwere Kämpfe am Verteidigungsring um Allenstein statt, zu der, als topografisch verteidigungsgünstige Kampfzone mit Wäldern, Seen und hügeligem Gebiet, Orte wie Hirschberg gehörten. Das Gebiet wurde an strategisch wichtigen Punkten massiv vermint, auch in Wartenburg, hinter unserer Scheune, wo sich am 1. April 1946 eine unfassbare Tragödie ereignete.

Zweimal wurden die Russen um den Ring von Allenstein zurückgeschlagen, bevor die Stadt, heute Olsztyn, am 22. Januar 1945 fiel.

Am 24. Januar 1945 war die Front bis auf ein paar Häuser von unserer Haustür entfernt herangekommen. Die Armee lieferte sich mit den russischen Truppen mitten im Dorf Gefechte, einige Häuser sind abgebrannt und zerstört, und fast die gesamte Bevölkerung von Hirschberg ist umgebracht worden.

Nach diesem entsetzlichen Massaker in Hirschberg beschloss der Rest des Dorfes Wartenburg, nun doch, noch am gleichen Tag, jeder, wie er kann, zu flüchten. Bei Temperaturen von minus 20 Grad und Schneetreiben ging es für uns am 25. Januar mit einer Kiste mit Dokumenten, Lebensmitteln und den drei Kindern auf dem Schlitten Richtung Allenstein. Von dort aus sollte noch ein Zug in den Westen gehen. Rosas letzte Hoffnung.

Rosa

25. Januar 1945. Auf dem Weg nach Allenstein

Kinder, haltet euch gut fest, ich biege jetzt auf die Landstraße ab, hier auf den Feldwegen kriege ich euch keinen Meter mehr von der Stelle!«

Ich zog und zerrte an der Schnur, die mir trotz der Wollhandschuhe längst blutige Striemen in die Hände geschnitten hatte. »Walter, steig ab und hilf mir ziehen.«

Der Siebenjährige krabbelte sofort hilfsbereit vom hintersten Teil des voll beladenen Schlittens, kämpfte sich durch die von allen Seiten wie Nadelstiche auf ihn einprasselnden Schneeflocken. An manchen Stellen schienen sie sogar von unten zu kommen. Er stemmte sich mit mir gemeinsam gegen den heulenden Sturm. Inzwischen war ein grauer, trostloser Tag heraufgezogen, und nur weit hinter uns schimmerte noch am Horizont der Feuerschein, unter dem gerade unser Dorf in Schutt und Asche fiel.

»Hoo-ruck, hoo-ruck, hoo-ruck … es geht nicht, Heinz, du musst auch absteigen.«

»Aber dann fällt Viktor runter in den Schnee …« Die beiden Kleinen heulten vor Kälte und Schmerz. Beide saßen eingepfercht und festgezurrt zwischen der schweren Holzkiste mit den Papieren, den Wertsachen und dem Bettbezug mit den Einmachgläsern. Ich stapfte durch den hüfthohen Schnee, hob einen nach dem anderen herunter und trug die armen Seelen, die sich trostsuchend an mich klammerten, die fünfhundert Meter zur Landstraße hin. Hier schob sich stoisch der nicht enden wollende Flüchtlingstreck aus der weiten Umgebung, zu Fuß oder mit völlig überladenen Planwagen, mit vollgepackten Fahrrädern oder Kinderwagen, im Zeitlupentempo der Stadt Allenstein entgegen.

»Bleibt hier stehen, rührt euch nicht von der Stelle, ich hole den Schlitten!«

In panischer Angst, sie könnten überrollt oder überfahren oder in dem endlosen Pulk verängstigter Menschen mitgeschleift werden oder verloren gehen, schrie ich in dem Lärm von Sturm und menschlichen Schreien auf sie ein: »Bleibt hier stehen! Haltet euch fest! Lass deine Brüder nicht los, Walter! Verstanden?«

»Mamaaa, bleib, ich habe Angst!«

Meine armen Kleinen klammerten sich an mich, denn ich hatte sie mitten in die furiose stampfende Hölle gebracht: ohne Rücksicht auf Verluste trappelten die Pferde vor den Schlitten auf sie zu, fast wären sie von einer völlig überladenen Kutsche gerammt worden.

»Walter, halte Viktor fest, ich hole unsere Sachen!« Ich drückte die drei Kinder in eine mannshohe Schneewehe, vor der die Wagen zum Stehen kamen, Pferde scheuten und mussten zurücksetzen.

Gegen den eisigen Wind, der mir ins Gesicht peitschte und an meinem Kopftuch riss, kämpfte ich mich erneut durch den hüfthohen festgefrorenen Schnee über den Acker, um unseren Schlitten zu holen. Er war bereits vom Winde verweht eine Böschung hinuntergerutscht und schwebte nur wenige Zentimeter über einem von einer dicken Eisschicht bedeckten Bach. Die Schnur hatte sich in eisigen Tannenzweigen verfangen, die sie im tobenden Sturm nicht freigeben wollten.

Fluchend riss und zerrte ich an den peitschenden Zweigen, bis ich endlich den Schlitten wieder auf das Feld hinaufgezogen hatte. Als ich eine halbe Stunde später endlich an der Landstraße ankam, standen meine drei Jungs weinend und schockiert von all dem Elend, das an ihnen vorbeigezogen war, irgendwo im dreckigen Eiswasser am Straßenrand. Längst pflasterten menschliche wie tierische Leichen den Weg. Die russischen Panzer, die hier überall in Stellung lagen, schossen einfach auf die unschuldigen Flüchtenden oder fuhren sie schlichtweg zu Brei.

Ich biss die Zähne zusammen und warf mich gegen den tosenden Sturm. Der Wind peitschte mir die Schneeflocken in die Augen, und meine Nase war schon fast abgefroren, genau wie die Nasen der Kinder. Ihre Lippen waren aufgeplatzt, Frostbeulen zierten ihre kleinen runden Gesichter. Der Schock stand ihnen in den weit aufgerissenen Augen.

»Los, Kinder, wieder aufsitzen, festhalten, ich ziehe euch bis nach Allenstein …« Mit letzter Kraft stemmte ich mich gegen die morsche Schnur. Der Schlitten wollte sich einfach nicht mehr weiterziehen lassen, er war völlig überladen!

Als ein deutsches Militärfahrzeug von hinten heranpreschte, ging ein Aufschrei durch die Mengen, und alle stoben zur Seite, warfen sich kreischend in die Böschung.

»Jetzt erschießen sie uns, unser letztes Stündlein hat geschlagen … eine Schande, dass Deutsche auf Deutsche schießen, völlig wehrlos, wie wir sind …« Lautes Schreien, Beten und Jammern wehte mit dem kalten Wind über die Tausende von Menschen.

»Mamaaaa! Ich habe Angst!«

Instinktiv warf ich mich über meine drei Söhne auf dem Schlitten und bedeckte ihre kleinen Körper mit meinem Mantel. Zuerst mussten sie mich erschießen! Aber was würde dann aus meinen Kindern? Ich hatte Paul doch versprochen, auf sie aufzupassen!

Plötzlich hielt der Militärjeep, spritzte Eis und Schnee auf und rutschte noch ein paar Meter in der eisigen Fahrspur. Zwei deutsche junge Soldaten sprangen heraus. Sie rissen an den Kindern, ich ließ sie nicht los, während ich sicher annahm, jetzt hätte unser letztes Stündlein geschlagen.

»Steigen Sie auf, schnell!«

»Wie? Meinen Sie uns?«

»Ja, machen Sie schon, wir nehmen Sie mit in die nächste Stadt! Dort soll noch ein Zug in den Westen gehen!«

Ehe wir es begriffen hatten, wuchteten die beiden jungen Männer meine drei Jungs auf die Ladefläche und warfen den Schlitten samt Kiste, Koffer und Bettbezug hinterher.

Mit zitternden Knien kletterte auch ich auf den Wagen und schlang meine Arme um die Kinder.

»Danke«, brüllte ich nach vorn, wo die beiden Soldaten saßen. »Ich hätte es ohne Sie nicht mehr geschafft!« Meine Zähne schlugen vor Kälte, Angst und Stress aufeinander. Aber ich durfte mir vor den Kindern nichts anmerken lassen. »Na, seht ihr?« Ich rüttelte die armen Kerlchen bei der Schulter. »Das hättet ihr nicht gedacht, was? Eine feine Autofahrt und ein Service bis zum Bahnhof! Jetzt sind wir schneller da als Ida und die anderen!«

»Wir haben den Befehl, die Zivilbevölkerung in Sicherheit zu bringen«, schnarrte der Beifahrer über die Schulter zurück.

»Und das ist jetzt keine Wehrkraftzersetzung mehr?« Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm diese Bemerkung durch den Fahrtwind zuzuschreien.

Plötzlich scherte der Jeep aus und bog in einen Feldweg ein. An den inzwischen Tausenden von Flüchtlingen vorbei war wohl kein Weiterkommen mehr. »Haltet euch fest!« Ich presste meine Kleinen an mich und versuchte gleichzeitig, die wertvolle Kiste festzuhalten, die herunterzufallen drohte. Es holperte und rumpelte, und unsere Köpfe stießen an die Stangen, an denen wir uns festkrallten. Von ferne ertönte unverdrossen Kampflärm, Schüsse und Artilleriebeschuss. Der Himmel stand in Flammen.

»Au, Mama, der Mann soll anhalten, das tut mir weh … ich muss Pipi!«

»Wir sind gleich da, zieht die Köpfe ein und legt eure Arme darüber, schaut … so …«

Der Höllenritt durch den peitschenden Eissturm war alles andere als angenehm, aber ich rechnete doch innerlich mit einem Zeitgewinn und sah mich schon mit den Kindern als Erste in den viel gepriesenen Zug nach Westen steigen. Ich presste die Zähne aufeinander, schloss die Augen und zwang mich, einfach weiterzuatmen.

Das Heulen und Schreien der Kinder überhörte ich, so gut ich konnte. Meine Finger bohrten sich in ihre kleinen Ärmchen, als könnte ich ihnen damit noch einen Funken Kraft übertragen. Plötzlich krachten auch hier wieder Schüsse, Granaten schlugen ein, Feuer züngelte in den metallisch kalten Himmel hinein. Man hörte Artilleriedonner und heftigen Kampflärm in der Nähe. Schüsse peitschten über uns hinweg. Es stank grauenvoll nach Feuer, Ruß und verbranntem Fleisch.

Mitten auf dem Feld hielt der Jeep, sodass wir gegen den rückwärtigen Fahrersitz geschleudert wurden. Der Beifahrer sprang so schnell raus, dass wir gar nicht reagieren konnten. Er kletterte auf die Ladefläche, packte die Kleinen, einen nach dem anderen, und warf sie in den Schnee. »Schnell, runter, wir müssen wenden.«

»Ja aber …« Schon hatten sie mich gepackt und über die Stange gezerrt.

»Machen Sie schon! Der Ring beginnt sich zu schließen, und wir dürfen kein Leben der Bevölkerung mehr riskieren!«

»Mamaaa, ich will nach Hause!«

»Ja, nehmen Sie uns mit zurück, lieber will ich mit den Kindern zu Hause sterben als hier in dieser Hölle!«

»Wir müssen euch leider hier aussetzen. Wir selbst werden versuchen, uns durch die Kampflinie zurückzukämpfen.«

Die Kiste wurde vom Wagen gezerrt und einfach zu Boden geschmissen, der Bettbezug mit den Einmachgläsern und der Koffer krachten auf harten Grund und kullerten eine steinerne Böschung hinunter. »Viel Glück!«

Der Jeep wendete, indem er uns Schnee und Eis ins Gesicht spritzte, und holperte, nach Schwefel und Abgasen stinkend, über den Feldweg zurück.

»Mamaaa!« Die Kinder brüllten vor Schmerzen, Schreck und Panik, hatten sie sich doch beim Aufprall wehgetan, und der kleine Viktor hatte das Gesicht voller Eissplitter und Steinchen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich der Koffer im Fallen öffnete, und unsere Dokumente und wichtigen Papiere in alle Winde flatterten.

»Ich versuche, sie zu retten …«

»Mamaaaaaa!«, brüllten die Kinder dreistimmig. Sie taten mir so unendlich leid! Aber es blieb keine Zeit, sie zu trösten.

Im hüfthohen Schnee versinkend, stapfte ich verzweifelt hinter den Papieren her, die unser Leben dokumentierten: Geburtsurkunden, meine Heiratsurkunde, das Familienstammbuch, meine Besitzurkunde von Haus und Grundstück, und schließlich der Totenschein von Paul, der mir vielleicht irgendwann eine bescheidene Witwenrente einbringen würde.

Der Sturm hatte sie jedoch in alle Richtungen fortgezerrt, und ich konnte kein einziges Blatt mehr retten. Das letzte Papier flatterte noch minutenlang an einem Stacheldraht, doch gerade als ich es zu fassen versuchte, löste es sich und flog weit über meinem Kopf davon.

»Kinder, wir müssen nun zu Fuß weiter, kommt, wir dürfen nicht aufgeben, sonst frieren wir hier fest!« Nachdem ich Erste Hilfe bei blutenden Wunden geleistet hatte, indem ich einfach nur darauf pustete, wuchtete ich ein Kind nach dem anderen aus seiner Schneewehe und trug sie in Richtung Landstraße, wo wir schließlich humpelnd und völlig erschöpft wieder auf den kilometerlangen Flüchtlingstreck stießen. Nun hatten wir buchstäblich nichts mehr, außer unser nacktes Leben und die eiskalten, nassen Sachen, die wir auf dem Leibe trugen. Und in die die Kinder längst in ihrer Angst hineingepieselt hatten.

Ich hatte meinen kleinen Viktor huckepack genommen und schleifte an der einen Hand den heulenden Walter, an der anderen den brüllenden Heinz hinter mir her. Hilfreiche Männer waren weit und breit nicht zu sehen, nur Frauen mit kleinen Kindern wie ich oder alte Leute, die versteinert auf Schlitten oder Planwagen saßen oder an Stöcken stoisch vor sich hin humpelten. Immer wieder schraken wir zurück, wenn hinter der nächsten Schneeverwehung ein nächster russischer Panzer stand, bereit, seine Kanone auf uns zu richten oder uns niederzuwalzen, ganz nach Gutdünken der jungen sowjetischen Soldaten, die vielleicht Langeweile hatten. Man konnte sie ja nicht sehen!

So zogen wir wie die Lemminge in Richtung der Stadt Allenstein, die zum Großteil in Flammen stand. Unter dem Geheul der Sirenen zerrte ich die Kinder im Strom der schreienden und kreischenden Frauen am Bahnhof die Treppen hinunter, um in einer Unterführung Schutz zu suchen. Wir waren fast die Letzten, die noch ein Plätzchen fanden. Dicht an dicht standen wir gepresst an fremde andere Leute, die wiederum ihre Kinder an sich pressten. Babys wurden im Stehen gestillt, damit sie aufhörten zu schreien, und Kleinkinder mit heftigem »Pscht!« und »Sei still!« zur Ruhe gebracht. Es stank ganz fürchterlich nach menschlichen Exkrementen. Sicher war kaum eine einzige Person hier, die sich nicht vor Angst in die Hose gemacht hatte.

»Mama, ich kann nichts sehen!«

»Mama, wo bist du, ich habe Angst!«

»Mamaaaa, ich will nach Hause, mein Bein tut so weh!«

»Psst, halten Sie doch die Kinder ruhig!«

»Warte, mein Schatz, ich habe noch ein Streichholz in der Manteltasche, ich mache es kurz an, damit du sehen kannst, wo ich bin!«

»Unterstehen Sie sich!«

»Nur eine Sekunde!« Mit zitternden Fingern und letzter Kraft ließ ich ein Streichholz gegen die Zündfläche schnarren. Nur damit meine Kinder mich sehen konnten. Nur eine Sekunde!

In dem Moment flog auch schon eine sirrende Kugel ganz dicht an meinem Kopf vorbei, und der Knall barst als Echo von jeder Wand, dass mir fast das Trommelfell platzte.

Geschrei und Gekreisch von Kindern und Müttern war die Antwort.

»Sind Sie WAHNSINNIG! Machen Sie das DING aus!«

»Entschuldigung …« Jetzt brach ich selbst in Tränen aus. Ich hatte den ganzen Luftschutzkeller beleuchtet und damit in Gefahr gebracht!

»Verhalten Sie sich ruhig, ducken Sie sich auf den Boden und bleiben Sie da, wo Sie sind!«

Meine wimmernden Kinder fand ich schließlich auch im Dunkeln, zog sie alle drei an mich und breitete meinen nassen, schweren Mantel über ihnen aus. So verharrten wir zitternd und schluchzend die ganze Nacht in diesem eiskalten und stinkenden Loch unter dem Bahnhof, wo an den nassen Wänden die Ratten herumhuschten. So sah also die Hölle aus! Was hatten meine drei Jungs getan, dass sie das erleben mussten? Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Irgendwann am Morgen glitten von oben an der Treppe die Scheinwerfer von Taschenlampen über uns schwarze nasse Menschentraube hinweg. Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen das grelle Licht. Russische Uniformen schälten sich aus der Schwärze.

»Frauen! Raufkommen!«, bellte es Befehle mit eindeutigem Akzent. »Du, Frau, und du, und du. Mitkommen!«

Die Frauen fingen jämmerlich an zu weinen und zu schreien, als die Russen herunterstolperten und sie einfach von ihren Kindern wegzerrten. An den Armen, an den Haaren, mit Gewehrkolben auf den Rücken und den Hinterkopf, mit Fußtritten wurde nachgeholfen. Ich machte mich ganz klein, warf mich unter meinem Mantel über die Kinder und hielt die Luft an. Mich hatten sie noch nicht gesehen …

»Du! Frau! Mitkommen!« Eine lüsterne Stimme war ganz nah an meinem Ohr. »Dawai, dawai!«

Der Mantel wurde weggerissen, und ich blickte auf die Spitze eines Bajonetts.

»Das geht nicht, ich habe drei Kinder!«

Ratsch, hatte das Bajonett mir einen blutigen Strich über das Gesicht gezogen. Ich schmeckte Blut und fühlte, wie sich das Rinnsal von der Schläfe über die Wange bis an den Hals hinunter schlängelte.

»Mammmaaaaaa …«

»Wenn du willst leben, du jetzt mitkommen.«

Um mich herum wurden andere Frauen unter Geschrei und lautem Weinen abgeführt.

Ich drehte mich zu meinen Kindern um. »Ihr seid jetzt ganz stark und tapfer. Ich komme wieder. Ehrenwort.«

Den Gewehrkolben im Rücken, den widerlichen Atem des Soldaten im Nacken, stieg ich vor ihm her wie ein Lamm zur Schlachtbank, die kalte steinerne Treppe hinauf. Jeder Widerstand war zwecklos, und ich wollte meinen Kindern den Anblick ersparen.

Der bullige Russe, den ich nun endlich im Neonlicht der Bahnhofsunterführung zu Gesicht bekam, führte mich hart am Arm in Richtung Damentoilette. In meiner Not hätte ich diese sowieso seit Stunden dringend aufsuchen müssen, doch alle drei Kabinen waren bereits besetzt. Drinnen wurden Frauen vergewaltigt, geschlagen und misshandelt, und ihre entsetzlichen Schreie drangen durch die gesamte Unterführung. Mein Peiniger stieß mich durch eine andere Tür in einen fensterlosen, muffigen Raum, in dem einige Koffer und Kisten, Säcke und rostige Fahrräder standen. Sogar ein paar Schirme und Spazierstöcke lagen herum. Offensichtlich der Raum für verlorene Gegenstände.

Der Mann verschloss die Tür und packte mich lüstern, drängte mich zu einem Tisch, fegte sämtliche Gegenstände herunter und riss mir Rock und Bluse vom Leib. Den Mantel hatte ich bei den Kindern gelassen. Mit einem Ratsch fetzte er auch noch meine Strumpfhalter vom Mieder und drückte mir brutal die Beine auseinander.

Ich wehrte mich mit aller Kraft, die mir geblieben war, biss ihn, so fest ich konnte, in die Hand, was mir einige schallende Ohrfeigen einbrachte, und strampelte und trat, so fest ich konnte, zwischen seine Beine. Dabei verlor ich einen Schuh, den er wütend griff und damit auf mein Gesicht einschlug. Ich drehte es weg und spuckte Galle vor Ekel, wobei er anfing mich zu würgen. Die Schimpfworte, die er auf Russisch aus seinem alkoholgeschwängerten Atem auf mich schleuderte, konnte ich nicht verstehen, aber der Tonfall und die Wut und Gier in seinen Augen waren eindeutig zu verstehen. Während der ganzen schrecklichen Szene hatte ich meinen Mann Paul vor Augen, und ich hörte seine letzten Worte: Du schaffst das, Rosa. Du bist stark. Bringe unsere Söhne heile durch den Krieg.

Dabei war ich nur eins zweiundsechzig groß und ein Leichtgewicht, wie so viele Frauen am Ende des Krieges. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Nicht von diesem primitiven Menschen mit dem aufgedunsenen roten Gesicht.

Doch ich war ihm unterlegen und unter seinem Gewicht auf dem kalten Tisch gefangen. Er hatte bereits seinen Gürtel mit einem Ratsch aus seiner Uniformhose gezogen und schlug damit auf meine nackten blutenden Schenkel ein. Ich schrie aus Leibeskräften.

In dem Moment polterte es von draußen an die Tür. Mein Peiniger ließ sich davon nicht abhalten und versuchte mit aller Kraft, in mich einzudringen, doch immer wieder stieß ich ihm meine Beine in den Unterleib.

Es pochte heftiger und immer fester, und jetzt waren es eindeutig keine Fäuste mehr, die gegen die Tür donnerten, sondern ein Gewehrkolben. Russische Befehle aus tiefer Männerstimme befahlen, sofort die Tür zu öffnen.

Der Kerl glitt von mir ab, fluchte, zog seine Hose wieder hoch und drehte den Schlüssel um. Die Tür flog auf, und der Bullige bekam einen Hieb mit dem Gewehrkolben, dass er gegen die Wand flog. Ein junger russischer Offizier sah mich fast nackt auf dem Eisentisch liegen, eilte zu mir und zog mich hoch. Instinktiv bedeckte ich meine Blöße mit den Fetzen meiner Bluse. Das Blut lief mir am Bein herunter.

»Njet Kultura!«, schimpfte der Offizier und schien sich gleichzeitig bei mir zu entschuldigen.

Da ich ja ein paar Brocken Polnisch konnte, verstand ich die Standpauke, die er dem Bulligen hielt. »Das ist keine russische Kultur, so etwas machen wir nicht mit deutschen Frauen!«

Der Soldat verzog sich auch sofort aus diesem schrecklichen dunklen Verlies, und ich suchte auf allen vieren meine Sachen zusammen und kleidete mich notdürftig wieder an. Der russische Offizier, mein Retter und Schutzengel, war bereits weitergestürmt und donnerte an die nächsten Türen. »Njet Kultura!«

Mit weichen Knien und unendlich gedemütigt schlich ich mich durch das Inferno zurück in den Luftschutzkeller, wo meine drei Kinder zitternd und heulend unter meinem Mantel kauerten.

»Da bin ich doch schon wieder!« Wie es mir gelang, eine tröstende Wärme in meine Stimme zu legen, weiß ich nicht mehr. »Ich habe euch doch versprochen, dass es ganz schnell geht und ich gleich zurück bin!«

»Mami, haben sie dir wehgetan?«

»Aber nein, ich musste nur etwas unterschreiben …«

»Aber du blutest ja!«

»Ach, das war die dumme Stehlampe, gegen die ich gestolpert bin …«

Auch andere Frauen kamen nun zurück, gedemütigt, geschlagen, übel zugerichtet, mit zerzausten Haaren, blauen Augen und Beulen, stolperten sie schluchzend oder völlig apathisch mit toten Augen die Treppe wieder herunter.

Ich versuchte, meinen Kindern diesen Anblick zu ersparen. Innerlich dachte ich an meinen Schutzengel, den russischen Offizier, der noch Anstand im Leib hatte und die Menschenwürde achtete. Vielleicht hatte Paul ihn mir geschickt?

Nach Stunden wurden erneut Befehle laut.

»Der Zug steht bereit«, übersetzte jemand. »Alle raustreten und fertig machen zur Abreise!«

Ich packte mir meine drei Kleinen, richtete sie halbwegs wieder her und schob sie vor mir her, die Treppe hinauf, in das dichte Gewühl hinein. Nicht nur die Frauen, Kinder und Alten aus dem Luftschutzkeller, auch ein neuer Strom von Flüchtlingen, die die vergangene Nacht aus allen umliegenden Dörfern und Orten herbeigekommen waren, drängelten sich nun in der Unterführung. Manche hatten noch richtig viel Gepäck dabei, schoben sogar Fahrräder oder überladene Kinderwagen und spähten nach einer Möglichkeit, an den anderen vorbei schnell die Treppe hinauf auf das richtige Gleis zu kommen.

Doch mitten in der Unterführung, direkt gegenüber der Damentoilette, kam der Menschenpulk zum Stehen.

»Was ist da los, Mama?« Keines meiner Kinder konnte ja mehr sehen als Hintern und Beine.

»Da ist eine Militärkontrolle. Wir haben ja leider keine Papiere mehr …« Skeptisch blickte ich zu den bewaffneten Russen, die die Leute aussortierten wie Viehhändler. »Alte Männer nach links, alleinstehende Frauen ganz nach vorn, Frauen mit Kindern nach rechts, alte Frauen nach hinten … Gepäck hierlassen, Fahrräder und Schlitten abstellen.«

Plötzlich durchschoss mich hell und scharf ein innerer Warnton. Das war kein Zug in den Westen. Sie sortierten die Leute nach bestimmten Kriterien aus … Arbeitslager!

»Sie da, ganz nach vorn, wie viele Kinder?«

»Drei! Aber ich habe es mir anders überlegt, ich möchte nicht mehr …«

»Weiter!«

Rüde wurde ich in meine Schlange geschubst mitsamt den Kindern, die mir mit weit aufgerissenen Augen folgten wie geschlagene kleine Hunde. So glitten wir im Pulk der anderen, sicher über hundert junge Frauen mit Kindern, wie ein endloser Bandwurm die Treppe hinauf auf den Bahnsteig, wo schon ein ellenlanger Güterzug stand.

Vorne an der Lok zischte und qualmte es, mehrere Arbeiter in abgerissenen Uniformen fegten mit groben Besen das Stroh und die Abfälle aus den Waggons, und trotz der eisigen Kälte fraß sich ein beißender Gestank nach Fäkalien und Urin auf den Bahnsteig. Ein strohbeladener Karren fuhr die Wagen ab, und mehrere Männer warfen frische Strohballen hinein. Vorne an der Lok wurde Kohle in den Brikettwagen geschaufelt.

Panisches Geschrei wurde laut.

Immer deutlicher wurde mir bewusst, dass dieser Zug nie und nimmer in den Westen fahren würde. Alle meine Antennen standen auf Warnung und Flucht! Doch wir wurden unter harschen Befehlen und Schlägen von Gewehrkolben immer weiter gedrängt, bis wir schließlich ganz am vordersten Wagen angekommen waren.

»Mama, da will ich nicht rein, der ist kalt und stinkt!«

»Kinder, warten wir es ab, vielleicht gibt es noch eine Lösung …« Verzweifelt stellte ich mich auf die Zehen und versuchte, mir einen Eindruck von unserer Lage zu verschaffen. Gab es nicht irgendwo ein Schlupfloch? Zurück, raus aus diesem Höllen-Bahnhof?

Ich wischte Tränen und Rotz aus allen Kindergesichtern, tröstete und pustete auf Beulen und Wunden. Dabei tat mir selbst jede Faser meines erschöpften Körpers weh, und jede Zelle schrie nach Ruhe und Wärme. Mein Magen rebellierte, und ich fühlte immer noch die widerlichen Hände des Russen auf meinen Schenkeln, roch seinen fauligen Atem an meinem Hals und spürte seine harten Schläge mit dem Gürtel.

»Wann gibt es etwas zu essen!«

»Ich will nach Hause!«

In dem Moment peitschte ein Schuss direkt neben uns, und der Lokführer fiel vor unseren Augen aus seinem Lokführerhäuschen auf den Bahnsteig. Mehrere uniformierte und bewaffnete Russen schrien und brüllten und traten nach ihm, und jetzt schälte sich auch in mein Hirn, warum da vorne so lange und böse geschrien worden war. Der Lokführer wollte nicht nach Sibirien fahren! Denn dahin sollte die Reise gehen! Alle meine inneren Sensoren hatten recht gehabt, und aus den Brocken Russisch, die gebrüllt wurden, hatte sich in meinem Unterbewusstsein die Gewissheit manifestiert, dass hier alle Menschen getäuscht wurden!

Mit dem »letzten Zug in den Westen« rannten sie wie die Lemminge in die Falle!

Während ich meine panisch brüllenden Jungs an mich presste, gaben sie dem Lokführer den Rest. Sie erschossen ihn vor unseren Augen, keine fünf Meter von uns entfernt, und traten ihn dann auf die Schienen hinunter.

Offensichtlich musste jetzt Ersatz gefunden werden. Ich wollte die Gunst der Sekunde nutzen und unauffällig den Rückweg antreten, doch inzwischen hatte man Viehgatter aufgestellt und uns zu einem Menschenknäuel zusammengepfercht, für das es nur noch eine Richtung gab: in den Zug zu steigen! Und das taten die Menschen, willig und hoffnungsvoll. Mithilfe der Russen, die an jedem Wagen standen, wurden Frauen, Kinder und Gepäck, soweit noch vorhanden, in die Waggons gehoben, gezogen oder auch geworfen. Alles ging plötzlich rasend schnell. Sie wollten wohl verhindern, dass noch mehr Leute darauf kamen, wohin die Reise in Wirklichkeit gehen sollte.

Während hinter dem Gatter ein neuer Lokführer herangezerrt wurde, der offensichtlich in den Diensträumen ausfindig gemacht worden war, stopften sie siebzig, achtzig Frauen und Kinder in die Viehwaggons, aus denen es eiskalt tropfte. In jedem Waggon stand ein Eimer, der wohl für die Notdurft vorgesehen war. Sonst gab es keinen einzigen Sitzplatz, keine Fenster und natürlich keine Heizung.

»Los, jetzt ihr, worauf wartet ihr! Dawai Dawai!« Kräftige Hände packten mich und wollten mich und die Kinder als Letzte in den Waggon quetschen.

»Nein! Ich will da nicht rein!« Ich wehrte mich mit Händen und Füßen und schrie, so laut ich konnte. »Der Zug fährt nicht nach Westen!«

»Rein mit dir!«

In der Sekunde sah ich den jungen russischen Offizier hinter dem Gatter stehen, der mich gerettet hatte, und unsere Blicke trafen sich.

»Njet Kultura!«, brüllte ich aus Leibeskräften. »Das sind kleine Kinder! Die kommen doch niemals lebend in Sibirien an!«

Meine polnischen Brocken schien er verstanden zu haben. Und er hatte mich erkannt! »Njet Kultura!«

Mein Schutzengel zog das Gatter zur Seite und ließ mich und die Kinder hindurchschlüpfen. Bevor die Umstehenden so recht mitbekommen hatten, was geschehen war, schob er das Gatter wieder zu.

Barbara

25. Januar 1945. Am selben Ort zur selben Zeit

Er steht noch da, er wartet! Kommen Sie, Frau Kozlowski, wir schaffen das!«

Die junge Frau, die heute Nacht aus dem Inferno davongelaufen war, presste ihr Baby an sich und rannte die Stufen zur Unterführung herunter. Sie waren nass und glänzten vor Urin und Fäkalien.

»Vorsicht, fallen Sie nicht, es ist glatt!«

»Halten Sie sich an mir fest, lassen Sie die Kleine nicht los!«

»Haben Sie den Koffer?«

»Ja, ich habe ihn!«

Sie und ihre ältere Nachbarin waren die Letzten gewesen, die lebend aus dem Luftschutzkeller des brennenden Mehrfamilienhauses in Allenstein entkommen waren. Kurz nachdem sie den Vorgarten verlassen hatten, barsten die Fenster, und das Haus krachte in sich zusammen. Im Bombenhagel und unter Artilleriebeschuss, während die Kugeln ihnen um die Ohren sausten, waren die beiden Frauen weitergelaufen, Hand in Hand, über Leichen und Sterbende, die um Hilfe flehten, an verendenden Tieren und tiefen Kraterlöchern vorbei durch die Dunkelheit und Kälte, immer den rettenden Zug in den Westen vor Augen.

»Meinen Sie, ich schaffe es schnell noch einmal auf die Toilette? Mein Gott, stinkt das hier.«

»Nein, das können Sie nicht riskieren, der Zug fährt jeden Moment los!«

»Aber ich hätte die Kleine gern noch mal frisch gemacht!«

»Das können Sie doch im Zug tun! Und da gibt es auch Toiletten!«

»Laufen Sie, es steht ja schon niemand mehr auf dem Bahnsteig! O Gott, da kommen schon Leute zurück, hoffentlich ist er nicht zu voll!«

»Er ist überfüllt, schauen Sie doch! Halt! Warten Sie auf uns! Wir kommen!«

Frau Kozlowski wedelte mit dem Koffer und dem Schal, der ihr im Eifer des Gefechts von den Schultern gerutscht war, und Barbara, dreißig Jahre jünger als sie, galoppierte langbeinig neben ihr her. Ihre blonden langen Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und tanzten um ihren Kopf herum wie wild gewordene Geister. Ihre kleine Tochter Ilona fest an sich gedrückt, nahm sie immer zwei Stufen auf einmal. Es war nicht zu erahnen, dass hier noch vor einer halben Stunde vor lauter Menschen, die sich Schulter an Schulter weitergeschoben hatten, keine der ausgetretenen Stufen zu sehen gewesen war.

Ein russischer Offizier stand noch einsam ganz vorne an einem Gatter und winkte sie mit großen Gesten heran. »Dawai, Dawai!«

»Danke, dass Sie auf uns gewartet haben«, strahlte Barbara den gut aussehenden jungen Mann an. In einer anderen Welt hätte sie ihm jetzt wohl einen Kuss auf die Wange gedrückt.

Barbara war auffallend groß und hübsch, und ihr langes weißblondes Haar wallte ihr beim Rennen über die Schultern wie kostbares Seidengewebe.

Der junge Offizier stemmte zuerst die alte füllige Frau Kozlowski in den völlig überfüllten Wagen, sodass die anderen Frauen und Kinder, die darin standen, ihre Füße noch weitere Zentimeter nach hinten schieben mussten. Dann griff er nach der jungen Frau, die schon ein Bein auf den hohen Einstieg gestellt hatte. In dem Moment fiel sein Blick auf das Baby, das sie unter dem Mantel an sich presste.

Es hatte ein rotes Mützchen auf und lächelte ihn aus einem rot gefrorenen Gesichtchen zahnlos an, wobei sich zwei Grübchen bildeten. Der Offizier blickte auf die junge Frau zurück, und auch diese lächelte ihn dankbar an, woraufhin sich genau die gleichen Grübchen auf ihrem Gesicht bildeten. Sie versuchte, in der Masse der Frauen im dunklen Wagen Halt zu finden, und strauchelte einen Moment.

Njet Kultura, hörte er eine innere Stimme, und in dieser Sekunde packte er das kleine Mädchen, riss es von seiner Mutter los, drehte sich um und verschwand hinter dem Gitter.

Barbara war wie versteinert. Erst begriff sie es gar nicht und streckte suchend die Arme nach ihrem Baby aus, aber der Schrei blieb ihr im Halse stecken, als sie sah, wie der russische Offizier hinter dem Gitter einen Finger auf seine Lippen legte, ein internationales Zeichen zum Schweigen. Noch einmal lächelte er sie an und nickte, als wolle er sagen: Das hat schon alles seine Richtigkeit.

In dem Moment wurden die eisernen Türen von außen zugeschlagen und verriegelt.

Die Frauen standen in völliger Schwärze und Dunkelheit.

»Mein Baby … ILLOOONAAA!«

Barbaras markerschütternder Schrei ging in dem Geschrei und Weinen der anderen Frauen und Kinder unter.

»Er fährt nicht nach Westen, er fährt nach Osten!«

»Sie haben uns reingelegt!«

»Anhalten, anhalten, ich will hier raus!«

»Meine Ilona, er hat meine Ilona! Frau Kozlowski, helfen Sie mir!«

»Er fährt nach Sibirien! O Gott, wir sind alle verloren!«

»So seien Sie doch still und hören auf, so hysterisch zu schreien! Sie machen uns ja noch die Kinder verrückt!«

»Barbara, wo sind Sie? Ich habe hier Ihren Koffer, darauf können Sie mit dem Kind sitzen … Frau Urban? Wo sind Sie? Sie liegt am Boden, o Gott, Ich glaube sie ist in Ohnmacht gefallen … So wachen Sie doch auf, Mädchen, Hilfe, hat jemand einen Schluck Wasser …?«

Das waren die letzten Geräusche und Wortfetzen, die auf dem nun völlig verlassenen Bahnsteig von Allenstein aus dem Inneren des Zuges zu hören waren.

Ein junger Offizier verließ mit langen Schritten das Bahnhofsgebäude, während auf den Gleisen quietschend und schlingernd der endlos lange Güterzug in die graue Einöde zwischen Trümmern und kahlen Bäumen an Häuserruinen entlang verschwand.

Rosa

25. Januar 1945. Am Bahnhof von Allenstein

So Kinder, hier biegen wir noch mal ab, auch wenn es stinkt und grausig ist. Aber ihr braucht alle einen Schluck Wasser.«

Die Türen der Damentoilette hingen schief in den Angeln und quietschten im Wind traurig vor sich hin. Es war ekelerregend, mit meinen kleinen Buben durch Lachen von Blut, Urin und Kot zu steigen, aber es blieb uns nichts anderes übrig. Wir waren alle verdreckt, verfroren und nahe am Verdursten.

»Bitte wascht euch, so gut es geht, die Hände, aber vorher machen wir alle einmal Pipi.«

»Mama, da liegt was.«

»Ja, bitte guckt nicht hin.« Überall lagen noch abgerissene Wäscheteile, BHs, Gürtel, Schnallen, aber auch Schnapsflaschen und Spuren männlicher Gewalt. Es stank bestialisch.

»Mama, da liegt ein Baby!«

»Walter, bitte. Wasch dich und gib Heinz und Viktor etwas zu trinken, und versucht, euch nicht so nass zu machen.« Ich verschwand in einer der grässlichen Kabinen und versuchte, meine schmerzenden Wunden notdürftig zu reinigen.

»Da liegt aber wirklich ein Baby.«

»Das wird eine Puppe sein, Schatz. Die Leute haben in der Eile hier so einiges vergessen.«

Ich kam wieder heraus, hob meinen kleinen Viktor an den Wasserhahn, und er lechzte regelrecht nach dem eiskalten Wasser, das spärlich aus dem Hahn tröpfelte. »So mein Kleiner, und jetzt waschen wir dir einmal die Hände und das Gesicht …« Obwohl mein armer Jüngster schon durchnässt und verfroren war, ließ er sich artig von mir säubern. Sein Hosenboden war völlig klamm und enthielt so ziemlich alles, was er seit der gestrigen Flucht in seiner Not von sich gegeben hatte.

»Mama, das ist keine Puppe, das ist ein Baby.«

»Bitte, Walter, ich kann mich jetzt nicht auch noch darum kümmern.« Mir wollte schier das Kreuz durchbrechen, als ich meine drei Jungs wieder halbwegs angezogen und auch mich selbst menschenwürdig hergerichtet hatte. »Wir gehen jetzt nach Hause, das habe ich euch versprochen.« Die siebzehn Kilometer zurück nach Wartenburg wollte ich unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit in Angriff nehmen. Vielleicht fanden wir sogar irgendwo einen zurückgelassenen Schlitten oder Karren. Alles war besser als der Zug nach Nirgendwo. Übernachten mussten wir sowieso unterwegs in einer Scheune.

Ich zog meine Meute aus dem grässlichen Raum und versprach ihnen das Blaue vom Himmel, wenn sie sich jetzt mit mir in Bewegung setzen würden, als es eindeutig aus einer Ecke des Raumes raunzte. Ich stutzte. Es war ein lebendiges Wesen. Und selbst wenn es eine Katze war: Die konnte ich doch hier nicht so elendiglich in der Kälte verrecken lassen!

Mein Blick fiel auf die offen stehende erste Kabine, und da lag, neben der Toilette auf einem eilig zusammengekehrten Haufen Stroh: ein kleines Mädchen. Es hatte ein rotes Mützchen auf und spielte mit seinen Händchen und lallte und krähte vor sich hin.

»Um Gottes willen, das ist ja ein Baby!« Ich fasste mir an den Hals.

»Siehst du, Mama, ich habe es dir gesagt!« Walter zerrte an meinem Ärmel.

Fassungslos hob ich das kleine Bündel auf und reinigte zuerst seine Händchen, mit denen es in allerlei Dreck gegriffen hatte. Dann gab ich ihm schlückchenweise von dem Wasser zu trinken.

Es griente mich zahnlos an und brabbelte etwas Unverständliches. Offensichtlich war das kleine Wesen erfreut, wieder Gesellschaft zu haben.

»O Mama, ist die süß! Können wir die behalten?«

»Aber Walter, das schaffen wir beim besten Willen nicht!«

»Aber wir können sie doch auch nicht hier liegen lassen!«

»Nein, das können wir nicht.«

Ich drehte und wendete das Kind, ob nicht doch irgendwo ein Zettel vorhanden war, aber außer einem ordentlich gewickelten Popo und nahezu unversehrten Stramplern, Mäntelchen und Mützchen, alles Ton in Ton selbst gestrickt, war an dem Kind nichts zu finden.

Es biss sich aufs Fäustchen und lallte »Laa krah lala kraaa« und lachte uns an. Es hatte ganz hinreißende Grübchen, und als ich das Mützchen lüftete, kamen hellblonde dünne Härchen zum Vorschein.

Andächtig und gleichzeitig um eine Sorge mehr beschwert, trug ich das Bündel die Treppe hinauf in die menschenleere Bahnhofshalle, wo die Jungs sofort auf eine hölzerne Bank sanken und sich anschickten zu schlafen.

»Nicht einschlafen, Kinder, wir müssen nach Hause!« Alles in mir schrie danach, meinen Kindern ihr Zuhause wiederzugeben, unser Haus, das Paul und ich für sie erbaut hatten. Vielleicht war es nicht zerstört. Und wenn doch, würde ich es neu aufbauen. Es gab keinen anderen Ort auf der Welt, an den wir hätten gehen können. Ich fühlte, dass ich das tun musste. Nur zurück. Nach Hause.

In dem Moment wurden Stimmen laut, und trappelnde Schritte stürmten in die Bahnhofshalle.

»Er ist weg! Mutter, er ist weg! Wir haben ihn verpasst!«

Eine junge Frau, oder vielmehr ein junges Mädchen, ließ frustriert einen Koffer fallen. »Du brauchst dich nicht mehr zu beeilen, es war alles umsonst!« Sie kämpfte mit den Tränen und warf die Arme in die Luft.

Eine abgehetzte Frau um die vierzig erschien keuchend und schnaubend, und die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Der letzte Zug in den Westen. Und wir haben ihn verpasst. – Ach, Elvira, wir müssen sehen, dass wir zu Fuß weiterkommen!«

»Ich kann nicht mehr, Mama, und ich will nicht mehr! Überall sind Russen!«

Erst jetzt nahmen sie mich und die Kinder wahr. »Haben Sie ihn auch verpasst? Ist das nicht furchtbar? Wir haben so gebetet, dass Gott uns Hilfe und Rettung schickt, und jetzt ist er weg.«

»Ich bin sicher, er ist nicht in den Westen gefahren.« Ich schaukelte automatisch das Baby, dessen Brabbeln sich langsam in Weinen verwandelte. »Sie haben die Leute reingelegt, wissen Sie. Der Zug ist eindeutig nach Osten gefahren. Den Lokführer haben sie erschossen. Die Leute werden alle nach Sibirien gebracht.« Ich warf Mutter und Tochter einen verschwörerischen Blick zu. »Sie haben Glück gehabt, das kann ich Ihnen sagen!«

»Mama, jetzt heult sie! Mach doch was!«

»Um Gottes willen, und Sie stehen hier mit vier kleinen Kindern?!« Die Frauen sahen mich fassungslos und gleichzeitig mitfühlend an. »Wo wollen Sie denn jetzt hin? Meinen Sie, es kommt noch ein weiterer Zug?«

Ich erklärte ihnen, dass ich gestern nach siebzehn Kilometern von Wartenburg hierhergekommen war und dass ich jetzt mit meinen dreien die siebzehn Kilometer auch wieder zurückgehen würde.

»Wir haben nämlich das Baby im Klo gefunden«, krähte Heinz. »Das gehört uns nämlich gar nicht.«

»O Mutter, dann nehmen wir es!« Die junge Frau streckte schon die Arme nach der Kleinen aus. »Sag Mutter, dass wir es nehmen!«

»Meinst du wirklich, Elvira? Das ist eine große Verantwortung!«

»Ich wäre Ihnen unendlich dankbar«, stammelte ich. »Ich könnte es nicht tragen, wir haben selbst kein Gefährt!«

Die beiden, Mutter und Tochter, liebkosten und tätschelten jetzt das fremde Kind mit dem roten Mützchen.

»Wie heißt du denn, Kleine? Und sollen wir dich mitnehmen?«

»Kra la kla«, machte das Kind und biss hungrig auf seine Fäustchen.

»Es heißt bestimmt Clara!« Die junge Frau, die Elvira hieß, sah fragend in die Runde. »Es hat uns vielleicht gerade seinen Namen gesagt!«

In dem Moment wurde von innen ein Vorhang im Fahrkartenschalter aufgezogen, und die Tür öffnete sich knarrend. Ein alter Fahrkartenverkäufer schälte sich aus dem Verschlag.

»Ein russischer Offizier hat das Kind hier abgelegt.« Er rieb sich seine schmerzenden Gelenke, als habe er lange im Versteck ausgeharrt und sei nun erst sicher, dass die Luft rein war. »Sie haben den Lokführer erschossen und nach einem Ersatz für ihn gesucht, da bin ich abgetaucht. Aber kurz darauf kam der Offizier mit dem Kind und wusste nicht, wohin damit. Dann ist er damit zur Damentoilette gelaufen, hat sogar noch Stroh zusammengekratzt und das Kind daraufgelegt. Bestimmt dachte er, dass bald jemand kommt und es findet.«

Da dachte er richtig, mein Lebensretter und Schutzengel. Natürlich geht jede Mama mit ihren Kindern als Erstes aufs Klo. Er wollte also, dass ICH es finde.

»Wo ist der Offizier denn jetzt?« Ahnungsvoll schaute ich mich um.

»Oh, der ist in einen Militärjeep gesprungen und weggefahren.« Der Fahrkartenverkäufer zog seine zerschlissene Dienstuniform glatt. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf; machen Sie alle, dass Sie wegkommen. Es werden bald wieder Menschen hierhergetrieben und neue Züge nach Osten eingesetzt, um sie zu verfrachten. Ich werde jetzt auch verschwinden.«

»Elvira, wir können so froh sein, dass wir nicht in diesen Zug gestiegen sind!« Die Mutter riss ihren Schal ab und wickelte die kleine Clara fest hinein. »Wir wollen nämlich nach Rügen, zu den Verwandten meines Mannes. Die haben ein Haus in Sassnitz. – Ich bin übrigens Margit.«

In aller Eile packten wir unsere Bündel und die Kinder zusammen.

Vor dem Bahnhof standen zwei Schlitten. »Hier, gute Frau, nehmen Sie einen davon für Ihre Jungs, wir kommen mit einem zurecht.« Margit bettete ihre Tochter Elvira mit dem Baby auf dem einen und überließ uns den anderen. »Wir sind so erleichtert, dass wir jetzt nicht in dem Zug nach Sibirien sitzen!«

»Sie würde nicht einmal sitzen.« Ich packte meine Jungs auf den Schlitten und band sie aneinander fest. »Alles Gute für Sie, und Gottes Segen.«

Wir Mütter umarmten einander, beide unendlich erleichtert, diesem Schicksal entkommen zu sein.

»Danke für den Schlitten. Ohne Sie würde ich wohl nicht mehr nach Hause kommen.«

»Passen Sie auf sich auf!«

So legte ich mir die Schnur um den Bauch, atmete einmal tief ein und aus und stapfte durch die rauchenden Trümmer in Richtung Osten davon.

Margit selbst ging mit ihrem verbliebenen Schlitten mit Elvira und der kleinen Clara in die andere Richtung.

Aus Viktors Erinnerungen, fast siebzig Jahre später, aufgeschrieben für seine Enkelinnen

Die Entscheidung des Offiziers, Rosa und die Kinder nicht nach Sibirien zu schicken, war für die ganze Familie lebensrettend. Noch immer fassungslos darüber, dass sie als Einzige von mehreren Hundert, wenn nicht Tausenden Frauen wieder nach Hause gehen durfte, zog Rosa die drei Kinder auf dem Schlitten, den die nette Margit ihr überlassen hatte, auf der Hauptstraße aus Allenstein hinaus zurück Richtung Hirschberg. Zwischen den Panzern, die rechts und links auf der Straße zwischen den Bäumen postiert waren, zog sie stoisch weiter. Noch immer war sie in höllischer Gefahr. Die Geräusche vom Laden der Panzerkanonen erschreckten Rosa und die Kinder derart, dass sie alle wieder in die Hose machten. Aber jetzt nur nicht anhalten, beschwor Rosa, sich selbst der Tatsache wohl bewusst, dass sie die einzige Chance nutzen musste, die sie vom Schicksal erhalten hatte. Es ging also wieder den knarrenden Panzern entgegen, die unverdrossen auf sie zukamen, bei heftigem Schneetreiben und minus zwanzig Grad, Schritt für Schritt zurück, nach Hause. Und plötzlich fuhren auch einige Lastwagen in diese Richtung. Ob Rosa noch einmal Glück haben würde?

Trotz der seltsamen Lage, in die sie sich gebracht hatte, nämlich in die Gegenrichtung des gestrigen Flüchtlingsstromes stur nach Hause zu ziehen, hielt sie die Hand beim Gehen hinaus und versuchte, einen Laster aufzuhalten, dieser scherte jedoch aus und fuhr auf den Schlitten zu, rammte ihn, sodass er kippte und die Kinder in den zugeschneiten Graben fielen. Die Kinder weinten, und Viktor hörte einfach nicht auf zu brüllen, er hatte wohl etwas mehr abbekommen als »nur« den Schreck. Rosa zog ihre Kinder aus dem Graben, klopfte sie ab, tröstete sie, wuchtete den Schlitten zurück auf die Straße und stemmte sich weiter gegen Artilleriebeschuss, Granaten, Schüsse und das Schneetreiben, das ihr aus der Heimat entgegen und ins Gesicht peitschte. Innerlich hörte sie die Stimme von Paul: Du schaffst das, Rosa. Wenn eine das schafft, dann du. Bring mir die Kinder heile durch den Krieg.

Während sie noch die brüllenden Jungen mit letzter Kraft hinter sich herzog, hielt plötzlich ein Laster an. Der russische Beifahrer sprang heraus und fragte Rosa, wohin sie wolle.

»Nach Wartenburg!«

Der Soldat nickte, packte die Kinder und warf den Schlitten auf den Laster, zog ein Stück Schwarzbrot heraus und einen Hering, der mit einer dicken Salzkruste bedeckt war.

Freundlich reichte er den Kindern und Rosa das Essen, nachdem er den Hering mit seinem Filzstiefel abgeklopft hatte.

Nachdem Viktor immer noch brüllte und nicht essen wollte, kramte er in seiner Tasche nach einer Tablette und reichte sie Rosa. »Der Junge braucht Aspirin, sonst schafft er die lange Fahrt nicht.«

Wieso lange Fahrt, dachte Rosa, es sind doch höchstens noch zwölf Kilometer …

Da wendete der Soldat und fuhr wieder in Richtung lichterloh brennendes Allenstein!

»Nein, wir wollen nach Wartenburg!«, deutete Rosa verzweifelt, aber der Soldat verstand entweder nicht oder wollte nicht verstehen!

»Allenstein! Zug!« wedelte er mit dem Arm. »Zug in den Westen! – Alle Frauen und Kinder Zug in den Westen!«

Rosa ließ sich nichts anmerken, immerhin hatten die Kinder jetzt etwas zu essen und Viktor ein Aspirin. Sie sammelte ihre Kräfte und dachte nach. Zwei Schritte vor, einer zurück. Wie beim Schach. Ich bringe euch zurück nach Hause, Kinder, das schwöre ich euch. Vor dem Bahnhof von Allenstein, an dem sie vor Stunden losgegangen war, ließ sie sich und die Kinder absetzen, bedankte sich höflich bei dem Russen und wartete, bis er weggefahren war. Dann band sie die Kinder wieder auf dem Schlitten fest und machte sich erneut auf den Weg.

Als Rosa und die drei Kinder drei Tage später in der bereits einsetzenden Dunkelheit mit buchstäblich letzter Kraft Wartenburg erreichten, trafen sie als Erstes auf den erschossenen Igor, der mitten auf der Straße beim Ortseingang lag. Jean war, wie Igor vorhergesagt hatte, von der russischen Armee befreit worden. Überall waren Spuren von Kämpfen, ein deutscher Tiger-Panzer am Ortsrand, den die deutschen Soldaten wegen Spritmangels gesprengt zurückließen, eine Feldhaubitze, ein ausgebrannter legendärer russischer T34