Zeiten der Sehnsucht - Carmen Bellmonte - E-Book

Zeiten der Sehnsucht E-Book

Carmen Bellmonte

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Beschreibung

Die Geschichte der Familie Delgado geht weiter

Mallorca 1929: Nur mit größten Anstrengungen gelingt es den Delgados, sich über Wasser zu halten. Antonia und ihr Mann haben auf Kuba ein florierendes Geschäft aufgebaut. Antonias Bemühungen, ihre Familie zu sich zu holen, bleiben jedoch fruchtlos. Und auch auf Kuba zieht ein Sturm auf: Die Mafia gewinnt immer größeren Einfluss, Antonia muss sich entscheiden: Freiheit oder Sicherheit. Ihre Schwester Carla kämpft unterdessen auf Mallorca mit ihren Dämonen, und Bruder Leo verstrickt sich in heikle Machenschaften, die den Graben zwischen ihm und seiner Familie weiter verstärken.

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Das Buch

Mallorca 1929: Nur mit größten Anstrengungen gelingt es den Delgados, sich über Wasser zu halten. Antonia und ihr Mann haben auf Kuba ein florierendes Geschäft aufgebaut. Antonias Bemühungen, ihre Familie zu sich zu holen, bleiben jedoch fruchtlos. Und auch auf Kuba zieht ein Sturm auf: Die Mafia gewinnt immer größeren Einfluss, Antonia muss sich entscheiden: Freiheit oder Sicherheit. Ihre Schwester Carla kämpft unterdessen auf Mallorca mit ihren Dämonen, und Bruder Leo verstrickt sich in heikle Machenschaften, die den Graben zwischen ihm seiner Familie weiter verstärken.

Die Autorinnen

Hinter Carmen Bellmonte stehen die Autorinnen Elke Becker und Ute Köhler. Zusammen bringen sie 35 Jahre Inselerfahrung auf Mallorca mit. Die beiden sind seit über zehn Jahren befreundet, lieben das Reisen und guten Wein und schreiben beide Bücher, die auf ihrer paradiesischen Balearischen Insel spielen. So lag es nahe, sich zusammenzutun und all ihre Vorlieben in einer großen epischen Geschichte zu vereinen.

Carmen Bellmonte

Zeiten der

Sehnsucht

Die Mallorca-Saga

Band 2

Wilhelm Heyne Verlag München

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 08/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com (Somy Volodymyr, Maija Luomala, AnastassiaVassiljeva, irin-k, Zoonar GmbH) und Adobestock (Eléonore H)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27172-5V003

www.heyne.de

1

Kuba, Herbst 1927

Das Meer glitzerte in der Herbstsonne, und die Silhouette der alten Festung Castillo de los Tres Reyes del Morro wirkte wie gemalt vor dem azurblauen Herbsthimmel. Antonia bereitete der Spaziergang Mühe, und dennoch genoss sie die milde Luft. Sie schob den Kinderwagen mit Rodrigo an der alten Küstenstraße entlang. Der im Norden Havannas gelegene Malecón bezauberte sie immer wieder. Wie prachtvoll die Gebäude in den unterschiedlichen Pastellfarben waren. Alles leuchtete auf dieser Insel farbenfroh. Vor allem die Kleidung der kubanischen Frauen. Einen prunkvolleren Straßenzug als den Malecón kannte Antonia nicht.

Der Gedanke an ihre erste Verabredung mit Federico zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Die Kutschfahrt auf dieser Prachtstraße zu dem edlen Restaurant mit den erlesensten Speisen, die sie je gekostet hatte.

Die Zeiten änderten sich.

Sie war mit Federicos viertem Kind schwanger und sorgte sich um die Zukunft.

Der Blick auf die Uhr mahnte sie, sich auf den Weg nach Hause zu begeben. Federico gehörte die Zigarrenfabrik, in der sie auch ihren separaten Wohnbereich hatten, und er wollte ihnen beim Mittagessen Gesellschaft leisten.

Antonia spazierte durch die verwinkelten, kleinen Gassen nach Hause. Die meisten Häuser verfügten über mit kunstvollen Fresken verzierte Balkone. Auch die Rundbögen in der unteren Etage spendeten in den heißen Sommermonaten angenehmen Schatten.

So gerne sie auf Kuba lebte, so sehr vermisste sie ihre Familie auf der anderen Seite der Welt. Ihre Mutter kannte keines ihrer Enkelkinder, und ihre Kinder wiederum niemanden aus ihrer Familie. Mallorca lag weit entfernt. Mehr als regelmäßiger Briefverkehr blieb nicht. Ob es irgendwann die Möglichkeit gäbe, mit ihnen über ein Telefon zu sprechen? Ein verwegener Gedanke, aber ein schöner. Bis vor einigen Jahren hätte sie sich auch nicht vorstellen können, Musik aus einem Radiogerät zu hören.

Rodrigo greinte. »Du hast also auch Hunger?« Sie strich ihm über die pausbäckige Wange. »Wir sind gleich zu Hause.«

Die Fabrik lag in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof. Federico hatte beim Kauf des Gebäudes sehr weise entschieden. So mussten die Tabakblätter nach der Ernte nicht erst umständlich durch halb Havanna transportiert werden. Ein paar Ochsenkarren fuhren die Ladung die wenigen Häuser weiter in die Fabrik, was Kosten und Zeit sparte. Die guten Zeiten waren vorbei, seitdem der American Trust jedes Tabakfeld an sich riss, das er bekommen konnte. Allen anderen Fabrikanten legten sie Steine in den Weg. Antonia konnte kaum noch zählen, wie viele Angebote dieser schmierige García ihnen bereits für eine Übernahme unter- breitet hatte.

Schon am Eingang wehte ihr der würzige Tabakduft entgegen. Antonia nahm ihren Sohn aus dem Kinderwagen und ließ das Gefährt vor der Zugangstür zu ihrem Wohntrakt stehen. »Wir sind wieder zu Hause!«

Schon hörte sie das Getrappel von Kinderfüßen. Als ihr David und Valentina entgegenrannten, füllte sich ihr Herz mit Liebe. David und Valentina klammerten sich jeweils an einen ihrer Oberschenkel. Zwei Kinder an den Beinen, eines auf dem Arm und ein weiteres in ihrem Bauch machten Antonia bewegungsunfähig. Doch das Gefühl des Glücks, das sie empfand, erfüllte ihre Seele.

»Nun lasst eure Mutter doch los.« Luisa stand lächelnd in der Eingangshalle. »Das Essen ist bereit. Kommt, wascht eure Hände und setzt euch. Ich werde es gleich bringen.«

Antonia legte Rodrigo auf das kleine Sofa in ihrem Zimmer und wusch sich die Hände in ihrer Waschschüssel. Valentina und David standen neben ihr und verspritzten reichlich Wasser.

Die Tropfen auf dem Fußboden mussten von alleine trocknen. Bücken konnte Antonia sich nicht mehr, und ein Tuch auf den Boden werfen, um die Pfützchen aufzuwischen, würde zwar trockene Fliesen bringen, doch wie sollte sie mit ihrem dicken Bauch das Trockentuch wieder aufheben?

Sie nahm Rodrigo auf den Arm, und gemeinsam gingen sie ins Esszimmer, wo Federico am Fenster stand. Seine hochgewachsene Silhouette wirkte wegen der Lichtverhältnisse wie ein Scherenschnitt vor dem sonnendurchfluteten Fenster. Seine kraftvolle Statur ließ ihn jung und dynamisch wirken, wenn sich auch in sein volles Haar die ersten grauen Strähnen einschlichen. Mit den Händen in den Hosentaschen wirkte er nachdenklich. Vielleicht irrte sich Antonia aber auch. »Du bist schon da?«

»Ja.« Federico küsste erst die Kinder und dann Antonia. »Kommt Fernanda später?«

»Ja, warum?«

»Nur so.« Er setzte sich an die Stirnseite. Irgendetwas stimmte hier nicht. Federico verheimlichte etwas vor ihr. Für den Moment ließ sie ihn gewähren.

Luisa servierte den aufgeschnittenen Rinderbraten, dazu Kochbananen und buntes Gemüse. »Vielen Dank, Luisa, das sieht köstlich aus.«

Ihre Haushälterin lächelte und verließ geräuschlos den Raum.

Normalerweise störte Antonia ein schweigsames Essen nicht, doch dieses Mal fühlte sich die Stille bedrückend an. Selbst die Kinder gaben keinen Mucks von sich, aßen artig und verschütteten nichts.

Sie hatten fast fertig gegessen, als Antonia es nicht mehr aushielt. »Was ist los?«

»Der Trust hat mir ein neues Angebot vorgelegt.« Federico spießte ein Stück Fleisch auf. »Und ich werde es annehmen.« Ohne innezuhalten, schob er sich die Gabel in den Mund.

Antonia starrte Federico fassungslos an. »Das wirst du nicht tun«, rief sie, und der Löffel, den sie ihrem Sohn Rodrigo in den Mund hatte schieben wollen, schwebte in der Luft wie ein verharrender Kolibri vor einer Blüte.

David, ihr Fünfjähriger, spitzte die Ohren und hörte auf zu essen. Auch die vierjährige Valentina verzog das Gesicht und schien im Begriff zu sein, wegen Antonias lauter Stimme zu weinen. »Kinder, es ist alles in Ordnung«, versuchte sie die beiden zu beruhigen. »Mamá hat sich nur etwas erschrocken. Esst weiter.« Sie schob den Löffel zwischen Rodrigos geöffnete Lippen, bevor er anfing zu quengeln.

Antonia warf ihrem Mann einen Blick zu, der besagte, dass dieses Thema für sie nur aufgeschoben, aber keinesfalls vergessen war.

Fernanda hatte ihren Besuch nach dem Mittagessen angekündigt. Sie brachte ihren dreijährigen Sohn vorbei, damit die Kinder miteinander spielen konnten. Seit Fernanda mit Enrique verheiratet war, traf sich Antonia mit Federicos Schwester nur noch dreimal die Woche, oder sie verabredeten sich zu einem langen Spaziergang am Malecón. Gemeinsam konnten sie die Kinder beaufsichtigen. Allein traute Antonia sich das in ihrem Zustand nicht mehr zu. Die Autos ängstigten Antonia. Sie könnte den beiden Wirbelwinden nicht hinterherlaufen. Federico hatte nur am Sonntag für solche Unternehmungen Zeit.

Und nun wollte der Mann, der ohne Fehl und Tadel war, einen folgenschweren Fehler begehen. Eine Entscheidung treffen, die für sie beide seit Jahren nicht in Betracht kam.

Natürlich bot der Zusammenschluss der ausländischen Tabakfabrikanten viele Vorteile, doch wenn Antonia eines gelernt hatte in ihrem Leben, dann, dass diese Vorteile es niemals wert waren, sich in eine Abhängigkeit zu begeben.

»Oh, ihr seid noch am Essen?« Fernanda trug ihren Sohn auf dem Arm und sah sie entschuldigend an. »Bin ich zu früh?«

»Nein«, sagte Antonia milde, da sie ihre Kinder nicht noch einmal erschrecken wollte. In ihrem Haus gab es keine lauten Worte. Federico und sie führten eine traumhafte Ehe, eine liebevolle Beziehung, und dazu gehörte auch, dass keiner der beiden jemals die Stimme erhob. Bis gerade eben. »Könntest du nachher auf die Kinder aufpassen? Ich habe etwas mit Federico zu besprechen.«

»Alles in Ordnung?« Fernanda blickte Antonia forschend an. Als Antonia schwieg, nickte ihre Freundin. »Natürlich passe ich auf. Wir gehen in den Patio-Garten, nicht wahr, ihr Süßen?«

David und Valentina rutschten unruhig auf ihren Stühlen. »Dann geht mal los«, entschuldigte Antonia sie vom Tisch und zwinkerte ihnen aufmunternd zu. Fernanda stellte ihren Sohn auf den Boden, hob Rodrigo von Antonias Schoß und folgte den Rabauken, die bereits durch die Tür verschwunden waren.

Als Antonia mit ihrem Mann allein war, legte sie das Besteck beiseite. Der Appetit war ihr vergangen. »Du hast aber noch nicht unterschrieben?«

Federico schüttelte den Kopf. »Solche Entscheidungen treffen wir immer gemeinsam. Das habe ich dir versprochen, und daran halte ich mich. Aber was sollen wir machen? Die Umsätze gehen zurück. Der American Trust regelt fast das komplette Exportgeschäft. Zudem exportiert García den Tabak und lässt die Zigarren im eigenen Land fertigen. Wie man hört, sogar maschinell. Als ob das noch etwas mit den typischen Habanas zu tun hätte, die wir hier in hochwertiger Qualität herstellen.«

»Aus genau diesem Grund dürfen wir nicht nachgeben. Was denkst du, warum sie jährlich unsere Cleopatra anfragen und mit immer noch besseren Angeboten locken? Zudem drängen uns die Amerikaner aus dem Markt. Sie haben fast ein Freudenfest gefeiert, als die Briten wegen des Kriegs ihre Ware in Europa nicht mehr loswurden. Die Wirtschaftslage ist unsicher. Das lässt sich nicht leugnen. Aber geht es uns deshalb schlecht?«

Federico starrte auf den Tisch.

»Verheimlichst du mir etwas?«

»Nein, natürlich nicht«, wandte Federico schnell ein. »Aber wenn sich die Lage noch weiter verschlechtert, könnte es sein, dass wir Luisa entlassen müssen.«

Antonia schnaubte auf. »Dann putze und koche ich eben selbst. Die Firma ist in Ordnung?« Sie betrachtete den Tisch: feine Damastdecke, polierte Kristallgläser, aus Ebenholz gefertigte Stühle. Von der Decke hing ein gewaltiger Lüster. Als Tochter eines mallorquinischen Weinbauern war sie solchen Luxus nicht gewohnt; sie brauchte ihn auch nicht.

»Die Firma ja, aber es bleibt kaum Gewinn«, führte Federico weiter aus. »Ich habe versprochen, mich immer gut um dich zu kümmern.«

»Das tust du doch!« Antonia sah in Federicos gequältes Gesicht. Er grämte sich offensichtlich, weil er sie eventuell nicht weiter so verwöhnen konnte. Aber sie war harte Arbeit gewöhnt. Problemlos konnte sie ihren eigenen Haushalt bewältigen. Er wäre weniger perfekt als bei Luisa, doch das war auch unnötig. Es gab Wichtigeres als auf Hochglanz poliertes Besteck.

»Cariño, du bist schwanger«, wandte Federico ein. »Wie soll das mit vier Kindern gehen?«

Jetzt lachte Antonia laut auf. »Ich habe schon als Zwölfjährige auf meine kleinen Geschwister aufgepasst, gekocht und auf dem Feld geholfen. Wenn das dein einziges Argument ist, um in den Trust einzusteigen, bin ich dagegen. Der Trust ist so groß und einflussreich, wenn du dich ihm auslieferst, gewinnst du oder verlierst du mit ihm. Du gibst alles aus der Hand. Wohin dein Tabak geht, zu welchem Preis du verkaufen musst, und die Fabrik kannst du gleich schließen, weil sie dir die teure Handfertigung untersagen werden.«

Federico stand auf, ging zu ihr und kniete vor ihr auf dem blank polierten Parkettboden. Dann umfasste er ihre Hände. »Ich habe die wundervollste Frau auf Erden. Und es würde dir wirklich nichts ausmachen, wenn wir privat kürzertreten?«

Sie sah ihm in die verzweifelten Augen. »Nicht im Geringsten.«

Die Verzweiflung fiel von ihm ab wie ein loser Faden. Hoffnung und Erleichterung durchfluteten ihn.

»Du hättest das wirklich getan?«, fragte Antonia.

»Ja.« Federico erhob sich und umarmte sie. »Ich weiß nicht, ob sich die Lage weiter verschlechtert. Im schlimmsten Fall muss ich Arbeiter entlassen.«

Antonia wusste, wie schwer ihm diese Entscheidung fallen würde. »Verkaufst du so viel weniger Zigarren?«

»Die Importeure versuchen, den Preis zu drücken, doch dem verwehre ich mich. Deshalb greifen sie zu den günstigeren Angeboten, die ihnen der American Trust unterbreitet. Einige wissen die Qualität unserer Cleopatra zu schätzen, aber die Wirtschaftslage verschlechtert sich auch in den Staaten. Es fallen immer mehr Kunden weg. Selbst die Hotels nehmen uns weniger ab. Die Vertreter verkaufen weniger als die Hälfte.«

Antonia überlegte.

Der Gedanke lag nahe, wenn es auch ein verzweifelter Versuch war, die Fabrik zu retten. Sie stand auf, strich sich über den riesigen Bauch und blickte Federico an. »Warum verkaufen wir dann nicht günstiger? Mehr würde der Trust für dich auch nicht tun. Warum also den Preis nicht für einige Zeit senken, bis es wieder besser läuft? Du könntest die Kosten über die Menge decken. Wenn die Zigarren im Lager liegen, bringen sie nichts ein. Rede mit deinen Arbeitern. Frage sie, ob sie einverstanden sind, etwas weniger zu verdienen, um die Fabrik vor der Schließung zu retten. Und vergiss nicht zu erwähnen, dass es auch in unserem Haushalt Einsparungen geben wird. Luisa wird es verstehen, und ihr Mann auch. Wenn wir nicht handeln, stehen sie über kurz oder lang beide ohne Arbeit da.«

Federico legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Was für ein Wahnsinn.«

»Denk darüber nach. Um mehr bitte ich dich nicht.« Antonia stellte die Teller zusammen. Das Besteck hielt sie in der Hand.

Federico sah sie erneut verzweifelt an. »Ich gehe zurück in die Fabrik.«

»Federico. Ich brauche keine Hilfe im Haus. Die Kinder sind gesund, und das ist das Wichtigste.« Antonia dachte an den Brief ihrer Schwester. Sie kannte ihn zwischenzeitlich auswendig. Das Orakel vor einigen Jahren nagte immer noch an ihren Nerven wie eine Maus an einem reifen Käsestück. Einem Impuls folgend war sie ihrer Freundin Magdalena zu deren Familie nachgereist, als sie diese nicht erreichen konnte, und hatte sie krank vorgefunden. Zusammen mit Magdalenas Schwester Angelica und einem Arzt hatten sie die schwer an Grippe erkrankte Familie gesund gepflegt. Angelica, eine Priesterin der Santería, hatte ihr in einem Orakel eine Prophezeiung übermittelt.

Sie besagte, Antonia würde schwere Verluste ertragen müssen, bevor sie eine Versöhnung innerhalb der Familie herbeiführen würde. Das ließ sie regelmäßig innehalten und dankbar sein für das, was sie besaß. Gesunde Kinder und einen liebevollen Ehemann.

Die Tür schloss sich hinter Federico, und Antonia blieb allein zurück. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Familie nach Mallorca.

Seitdem Antonia wieder schwanger war, trug sie den Brief ihrer Schwester immer bei sich. Er sollte sie zur Vorsicht mahnen und ihr vor Augen halten, welches Glück ihr beschieden war.

Seit dem Erhalt von Carlas Brief waren über drei Jahre vergangen, und dennoch hatte er nichts von seiner Tragik verloren. Sie legte das Besteck auf einem Teller ab. Dann zog sie den Brief aus ihrem Blusenärmel, faltete ihn auseinander und las ihn erneut. Das Papier war zwischenzeitlich vergilbt und abgegriffen.

Geliebte Schwester,

eine Tragödie ist über uns hereingebrochen. Antonia, unser Sonnenschein, ist tot. Ich wachte morgens auf und ging an ihr Bettchen, da war sie bereits kalt. Es ist so schrecklich, und ich gräme mich, weil wir nichts bemerkt haben, während wir schliefen. Der Arzt meinte, wir hätten nichts tun können, denn der plötzliche Kindstod kommt ohne Vorwarnung. Doch ist mir das kein Trost. Sie fing gerade an, sich überall hochzuziehen. Bald hätte sie ihre ersten Schritte gemacht, und es war eine Freude zu sehen, wie sie mit einem Lächeln im Gesicht jeden Tag begrüßte.

Francisco leidet ebenso wie ich, und jeder Tag ist ein Kampf gegen die Trauer, denn gerade jetzt hat er in der Werkstatt so viel Arbeit, aber er will mich nicht allein lassen. Ich bin ihm zurzeit keine große Hilfe, und so bleibt die Buchhaltung liegen. Es fällt mir schwer, mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Wie kann Gott so grausam sein und ein so junges Leben auslöschen? Die Kirche ist mir kein Ort des Trostes mehr.

Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wenn die Spanische Grippe mich zu sich genommen hätte. Ich weiß, das sind Gedanken, die sich nicht geziemen, zumal Du und Dein Mann alles unternommen habt, mir beim Überstehen dieser Krankheit zu helfen – ich bitte um Verzeihung für diesen Gedanken. An manchen Tagen spricht die Hoffnungslosigkeit aus mir.

Da bereits die Geburt nicht einfach war, hatten mir die Ärzte schon damals die Hoffnung auf weitere Kinder genommen, und so fühle ich mich Francisco gegenüber schuldig, weil er sich immer eine große Familie gewünscht hat. Zwar ist unsere Liebe trotz der schweren Prüfung ungebrochen, doch ob ich ihm noch die Zukunft bieten kann, die er sich vorstellt, weiß ich nicht. Und das alles, wo das Leben es sonst so gut mit uns meint. Wir haben so viele Aufträge, dass wir sogar Mutter unterstützen können und zwei Arbeiter für sie eingestellt haben, die ihr die schwere Feldarbeit abnehmen. Sie liebt es, wenn die Aprikosenernte eingebracht wird und sie die Preise mit den Händlern aushandeln kann. Auch die Mandeln sind sehr begehrt und machen auch weniger Arbeit.

Obwohl es mir schwerfällt, so möchte ich doch nicht versäumen zu fragen, wie sich David und Valentina entwickeln. Ist Federico ihnen ein guter Vater, oder ist er, wie die meisten Männer, immer nur mit der Arbeit beschäftigt? Ich sehe ja schon in unserem kleinen Betrieb, wie wenig Zeit Francisco bleibt und wie erschöpft er abends ist. Wie muss das erst sein, wenn man eine ganze Fabrik mit so vielen Arbeitern leiten muss?

Liebste Schwester, ich lege Dir ein Foto des Gedenksteins bei, zur Erinnerung, und hoffe, dass Dir so ein Leid erspart bleibt,

Deine Dich liebende Carla

Als der Brief eintraf, hatte sie Rodrigo unter ihrem Herzen getragen. Das war kurz nach dieser Angst einflößenden Weissagung gewesen. Die Worte ihrer Schwester bewegten Antonia in der Schwangerschaft noch mehr. Sie hatte drei gesunde Kinder, das vierte war unterwegs, was sollte sie sich um eine Unterstützung im Haushalt sorgen? Es war sehr viel wichtiger, eine gesunde Familie zu haben, die in schweren Zeiten zusammenhielt, als einen nicht mehr vorhandenen Wohlstand und den gesellschaftlichen Ruf verzweifelt aufrechtzuerhalten. Ihr war es egal, ob sie künftig noch zu Dinnerpartys der Oberschicht eingeladen wurde oder nicht. Sie selbst würde keine mehr geben, und ohne eine Hilfe, die sich um die Kinder kümmerte, hätte sie auch gar keine Möglichkeit, hinzugehen. Im Grunde waren es sowieso die stets gleich langweiligen Gespräche. Auf die konnte sie verzichten. Zudem hatte sie sich nie wirklich zugehörig gefühlt. Sie war die Tochter eines Weinbauern. Das war sie immer gewesen, und das blieb sie. Genau deshalb liebte Federico sie. Er stammte aus ähnlich bürgerlichen Verhältnissen. Natürlich waren die gepflegten Beziehungen wichtig für die Fabrik. Aber er könnte diese Treffen auch anders arrangieren. Immerhin hatten sie ihren Männerklub, in dem ohnehin die meisten Geschäfte abgewickelt wurden. Bald würde auch das Asturianische Zentrum eingeweiht werden, das vor mehreren Jahren bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Die Kosten hatten die asturianischen Auswanderer getragen, um Neuankömmlingen auf Kuba eine gute Startmöglichkeit in ihr neues Leben zu ermöglichen. So wie zuvor auch ihnen. Das Zentrum war die erste Anlaufstelle für Asturier. Der Zusammenhalt beeindruckte Antonia immer wieder aufs Neue.

Sie brauchte kein Vermögen, um glücklich zu sein. In drei Wochen würde die Familie um ein weiteres Mitglied anwachsen. Nur das zählte. So, wie es strampelte, musste es ein Junge werden. Davon war zumindest Federico überzeugt. Antonia selbst glaubte ein Mädchen in sich zu tragen.

Ob Federico es über sich gebracht hatte, schon an diesem Nachmittag mit seinen Arbeitern zu sprechen?

Sie verbrachte die Nachmittagsstunden mit Fernanda, die wie gewohnt über den neuesten Klatsch und Tratsch Bescheid wusste. Antonia amüsierte sich gewöhnlicherweise darüber, doch diesmal konnte sie sich nicht auf die Geschichten konzentrieren. Sie sehnte den Abend herbei.

Bevor Fernanda sie verließ, hielt Antonia sie am Arm zurück. »Ich muss dich etwas fragen.«

»Schön. Ich dachte schon, du würdest nie mit mir darüber sprechen, was dich bedrückt.«

Antonia erzählte kurz, wie es um die Firma stand. Dann sah sie ihre Freundin an. »Würdest du dich um die Kinder kümmern, bis ich mich von der Geburt erholt habe?«

»Aber natürlich!«, rief Fernanda aus. »Welche Frage! Du weißt doch, ich bin immer für dich da.«

Antonia fiel ihrer Freundin in die Arme. Sie küsste deren Sohn und dann Fernanda. »Vielen Dank.«

Bei Einbruch der Dunkelheit legte Antonia die Kinder schlafen. Danach gönnte sie sich eine Tasse Tee und hielt am Fenster Ausschau nach Federico. Hoffentlich blieben ihm seine Arbeiter treu. Trotz der Lohnkürzungen überwog Antonias Zuversicht. Oft hörte sie die Klagen der kubanischen Zigarrendreher, sie hätten keine Arbeit, weil der Tabak nicht mehr im Land verarbeitet wurde, und als Erntehelfer gab es nur für wenige Wochen Arbeit.

Die Stimmung im Land kippte.

Langsam, aber spürbar.

Federico überquerte mit müdem Schritt den Hof, der die Fabrik vom Wohngebäude trennte. Er schien eine große Last auf seinen Schultern zu tragen. Antonia eilte, so schnell es ihr dicker Leib vermochte, zur Haustür. »Und? Hast du mit ihnen gesprochen?«

Federico bejahte.

»Ach, was bin ich dir eine schlechte Frau«, beeilte sich Antonia einzuwerfen und küsste ihn. »Möchtest du einen Rum und etwas zu essen?«

»Ein Rum wäre schön.« Federico lächelte. »Das Essen dann vielleicht später?« Er stellte seine Aktentasche im Flur ab und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo er sich erschöpft in seinen Lieblingssessel fallen ließ.

Antonia reichte ihm den Drink.

Er trank einen kräftigen Schluck. Dann sah er auf. »Die meisten Arbeiter stehen hinter uns. Etwa zehn Prozent haben gedroht, zu gehen. Ich habe es ihnen freigestellt. Es gibt so viele arbeitslose Zigarrendreher, dass wir die freien Stellen sicherlich besetzen können.«

»Das ist ja großartig«, freute sich Antonia. »Wunderbare Nachrichten. Du wirst sehen, es wird alles gut. Ein paar harte Jahre, und dann geht es wieder aufwärts.«

»Die kommende Ernte wird den Ausschlag bringen. Aber die Blätter machen einen hervorragenden Eindruck.« Federico drehte das Glas in Händen, bevor er es erneut an die Lippen hob und austrank. »Es war ein schwerer Gang.«

Antonia setzte sich zu ihm auf die Armlehne und strich durch sein volles Haar. »Nun hast du ihn hinter dir und kannst García absagen. Soll er den guten Tabak in seinen Maschinen ruinieren. Qualität setzt sich immer durch.« Sie dachte an die qualitativ minderwertigen Weinernten auf Mallorca, um die Mengennachfragen aus dem Ausland zu bedienen. So sehr ihre Familie sich damals dagegengestemmt hatte, so war ihnen letztendlich nichts anderes übrig geblieben, als auf Aprikosen und Mandeln umzustellen. Antonia wusste, dass die Entscheidung seinerzeit mangelnden Rücklagen geschuldet war. Um die Zigarrenqualität zu erhalten, mussten sie möglichst viele Einsparungen vornehmen, um Zeit zu gewinnen, bis sich die Situation wieder besserte.

»Ich hoffe, du hast recht.« Federico reichte ihr das Glas. »Kann ich noch einen haben?«

Antonia lächelte.

Ihr Mann war kein Trinker, doch selbst sie hätte in dieser Situation gerne ein Glas getrunken, obwohl sie den Rum nicht mochte und Wein bevorzugte. Ein zweites Glas konnte sie ihm nicht verdenken.

Diesen Drink genoss er sichtlich langsamer. »Es wird sich schnell herumsprechen. Die Arbeiter werden zu mir kommen und nach freien Stellen fragen, und sie werden den Job annehmen, weil sie kaum eine Alternative haben.«

»Warum wollen die anderen gehen?«

»Ihr Stolz steht ihnen im Weg. Genauso wie mir, als ich, um dich nicht zu belasten, in den Trust einsteigen wollte.« Federico schloss die Augen.

»Jetzt mache ich dir aber endlich das Essen warm. Du musst bei Kräften bleiben. Da Luisa erst in zwei Wochen aufhören wird, komme ich morgen mit in die Fabrik und unterstütze dich bei den Arbeitergesprächen. Es kann nicht schaden, wenn die Arbeiter sehen, dass sogar deine hochschwangere Frau in der Firma mithilft. Die meisten kennen mich ja noch als Vorleserin. Die enge Verbindung schafft Vertrauen.«

»Du hast recht. Aber du solltest dich schonen. Du wirkst so zerbrechlich.«

»Mit diesem Bauch?« Antonia lachte. »Ich sehe aus wie eine Kuh!«

Federico lachte an diesem Tag zum ersten Mal. »Du weißt, wie du mich aufmunterst. Aber sag so was nicht. Du bist wunderschön, obwohl du dir kaum noch die Schuhe anziehen kannst. Aber dafür hast du ja mich.«

Antonia wärmte den Braten auf. Auch beim Essen würde sie sehen, wo sie sparen konnte. Fleisch war teuer. Gemüse günstig. Also würden die fleischlosen Tage zunehmen, doch das schadete niemandem.

Antonia betrat die Küche. Das Frühstück stand bereits auf dem Tisch. All die Jahre hatte sie sich nicht überwinden können, das Frühstück wie eine feine Dame im Speisezimmer einzunehmen. Die Kinder ruinierten mit ihrem Kakao die Tischdecke, Federico verließ das Haus zu einer anderen Uhrzeit als Antonia, wenn sie in der Fabrik aushalf. Sie sah keinen Sinn darin, allein im Speisezimmer zu sitzen.

Anfangs hatte sich ihr Mann gegen ein Frühstück in der Küche gewehrt und weiterhin darauf bestanden, im Esszimmer einzudecken, doch schon bald schloss er sich Antonias Gewohnheit an.

An diesem Morgen ließ sie die Kinder schlafen. Ihre langjährige Haushälterin verdiente ein anständiges Gespräch. »Buenos días, Antonia«, begrüßte Luisa sie. Ihr Blick wirkte unruhig. Sicherlich hatte sie bereits von den Lohnkürzungen gehört.

»Buenos días, Luisa.« Antonia goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich. Luisa hantierte mit der Pfanne, in der sie die letzten Eierkuchen buk. »Setz dich bitte zu mir.«

»Ich muss gehen, richtig?«

»Ja.« Antonia lächelte gequält. »Uns bleibt leider keine Wahl. Mehr als einen Tag in der Woche kann ich dich künftig nicht beschäftigen. Das kann ich dir noch anbieten. Mehr geht nicht.«

Luisa nahm sich ebenfalls eine Tasse Kaffee. »Die Zeiten sind hart. Alles ist im Wandel.«

»Sobald es aufwärtsgeht, stelle ich dich wieder Vollzeit ein. Aber …«

»Ich verstehe schon.« Luisa presste die Lippen zusammen, bevor sie sich ein Lächeln abrang. »So kann ich meiner Mutter zur Hand gehen. Sie kommt nicht mehr so gut zurecht.«

Antonia wusste das. In den letzten beiden Jahren, in denen sie Luisas Mutter noch beschäftigt hatte, waren viele Sachen zu Bruch gegangen, bis sie von selbst gekündigt hatte. Antonia hatte nie darüber geklagt. Was war schon ein kaputter Teller? Die Frau hatte zeit ihres Lebens hart gearbeitet, oft mehr Stunden als vereinbart. Wie hätte sie dieser Frau kündigen sollen? Unmöglich. »Geht es ihr gut?«

»Dem Alter entsprechend, würde ich sagen. An manchen Tagen ist sie verwirrt, aber an den meisten noch klar.« Luisa lächelte. »So kann ich mehr Zeit mit ihr verbringen. Wer weiß, wie lange ich sie noch habe.«

Antonia schwieg. Ob sie ihre Mutter wiedersehen würde? Es waren viele Jahre vergangen. Mit vier Kindern war eine Reise nach Mallorca nahezu unmöglich. Fast beneidete sie Luisa dafür, ihre Mutter so nah bei sich zu haben. Aber sie wollte nicht undankbar sein.

»Wie lange kann ich noch bleiben?«

Antonia sah auf. »Zwei Wochen?«

»Danke. Das ist mehr, als ich erwartet habe.« Luisa stand auf. »Soll ich die Kinder wecken und mit ihnen frühstücken?«

Antonia wollte in die Firma, um ihrem Mann beizustehen. Federico saß sicherlich schon in seinem Büro. »Das wäre wunderbar. Ich werde Federico in der Fabrik helfen.«

Antonia erinnerte sich gut an ihre erste Begegnung. Luisa hatte sie angesehen, als sei sie ein aufdringliches Insekt. Antonia war für Federico nicht gut genug gewesen. Weder für die Upperclass noch für das Personal. Erst als sie wegen des verheerenden Brands des Asturischen Zentrums ausgezogen war, um den Menschen Platz zu machen, die ein Dach über dem Kopf benötigten, hatte sie sich den Respekt des Personals verschafft. Das war noch vor der Hochzeit mit Federico gewesen. Seither war Luisa eine loyale Angestellte. Antonia war ihr und ihrer Mutter dankbar für die jahrelange Unterstützung.

Es fiel ihr schwer, sie gehen zu lassen. Hoffentlich wäre es nur für eine kurze Zeit. »Danke für alles.« Sie stand auf, trank ihre Tasse leer und stellte sie in die Spüle.

Antonia überquerte den Innenhof. Der Duft der Tabakblätter stieg ihr in die Nase. Die Arbeitshallen waren gut besetzt, nur wenige Plätze leer. Sie ging zu Federicos Büro. »Buenos días, Cariño.« Sie zeigte mit dem Daumen hinaus zu den Fertigungshallen. »Wie viele sind nicht gekommen?«

»Achtzehn.«

Das waren weniger als befürchtet. In einer Stunde hätten sie die Arbeiter ausbezahlt. Der Vorarbeiter schickte einen nach dem anderen ins Büro. Antonia half Federico mit den Abrechnungen und zahlte die vereinbarten Summen aus, die sich ihr Mann quittieren ließ. Fünfzehn Mitarbeiter baten darum, doch bleiben zu dürfen. Federico akzeptierte diese Bitte, ohne die Männer zu maßregeln. Sie schienen in der ersten Enttäuschung eine vorschnelle Entscheidung getroffen zu haben. Ohne zu zögern gingen sie anschließend zurück an ihren Arbeitsplatz.

Nach der Auszahlung des Lohns stand vor dem Hauptportal der Manufaktur bereits eine Menschentraube. Antonia war überrascht, aber auch erfreut. Die Menschen wollten trotz des niedrigeren Lohns bei ihnen arbeiten.

Drei Zigarrendreher mussten sie ersetzen. Da weit mehr vor der Tür standen, konnte Federico sich die besten aussuchen.

Durch die Gespräche hatten sie erfahren, dass auch die Arbeiter, die für den Trust tätig waren, heftige Lohneinschnitte hinnehmen mussten. Zudem erhielten sie ihren Lohn in den letzten Wochen oft unpünktlich, was die Arbeiter unruhig werden ließ.

Davon hatten weder Federico noch Antonia bisher etwas gehört. García hatte das Unternehmen als gesund und finanzkräftig dargestellt. Machten sie auf Kosten ihrer Mitarbeiter Gewinne? Antonia konnte es sich nicht anders erklären. Wenn der Trust weiterhin so handelte, würde es bald zu einer Rebellion kommen. Lange würden die Arbeiter dieses Vorgehen nicht hinnehmen. So schlecht die Lage auch war, zu sehr durfte man die Mitarbeiter nicht ausnutzen. Die Cubanos waren ein stolzes Volk, sie würden sich von den Amerikanern nicht alles gefallen lassen.

Antonia traute es dieser Vereinigung durchaus zu, sich auf Kosten der Arbeiter zu bereichern, und sie war glücklich darüber, dem Trust erneut getrotzt zu haben.

2

Mallorca, Frühsommer 1928

Carla Delgado Ramis öffnete die Holzläden und die Fenster, um die wärmende Frühlingssonne in ihr Haus zu lassen. Von nebenan hörte sie das gleichmäßige Klopfen der Steinmetze im Betrieb ihres Mannes. Aufgrund der vollen Auftragsbücher beschäftigten sie einen neuen Lehrling.

Ihr Blick fiel auf den Zitronenbaum im kleinen Garten, der noch immer in voller Blüte stand und seinen verschwenderischen Duft ins Haus trug. Trotz der Blütenpracht hingen noch reife Zitronen an seinen Ästen. Ausreichend, um zwei Zitronenkuchen zu backen. Samuel würde sich freuen. Mit solchen kleinen Gesten vermochte Carla ihm ihre Dankbarkeit auszudrücken.

Wo wären sie ohne ihn?

Samuel hatte Francisco lange vor ihrer Hochzeit eine Ausbildung zum Steinmetz in seinem Betrieb in Binissalem ermöglicht; nach der Hochzeit ihnen sogar das Haupthaus für kleines Geld vermietet und war selbst in eine separate Wohnung in den ersten Stock gezogen, damit ihre Kinder im Patio spielen konnten.

Als kinderloser Witwer brauchte er nicht viel. Sagte er. Carla wusste aber, dass Samuel in Francisco den Sohn sah, den er niemals gehabt hatte.

Auch sie würden nie eigene Kinder haben, die im Patio spielen würden. Carla schluckte trocken. Zeit, sich mit Kuchenbacken abzulenken. Sie durfte der Traurigkeit keinen Raum geben. Die Nachricht des Arztes war damals eindeutig gewesen. Sie konnte keine Kinder mehr bekommen. Die Geburt von Antonia war ein Wunder gewesen. Ein kurzes Wunder. Jetzt mit über dreißig musste sie weiter nach vorne schauen.

Carla sah wieder hinaus in den Garten. Schmetterlinge und Bienen schwirrten umher. Das überbordende Leben des Frühlings, wie ein Erwachen aus dem Schlaf und immer ein Zeichen der Hoffnung. So wie sie hofften, ein Kind adoptieren zu dürfen. Es wäre bestimmt nur eine Frage der Zeit. Der Gedanke an ein Kind füllte ihr Herz mit Wärme.

Carla pflückte die Zitronen vom Baum. Sie würden sogar für drei Kuchen ausreichen. Einen davon bekäme ihre Mutter. Sie richtete ihren geflochtenen Zopf und drehte ihn am Hinterkopf zu einer Schnecke.

Mit dem Korb in der Hand schlenderte sie die kleine Dorfstraße in Binissalem entlang zum Markt. Vor der großen Kirche auf dem freien Platz herrschte reges Treiben, und Carla stellte sich zuerst an den Eierstand. Vor ihr unterhielten sich zwei Frauen angeregt über Schuhmode. Das Gespräch erinnerte sie an die Zeit, als sie in der Schuhfabrik neue Designs entworfen hatte.

Unter die Wehmut beim Gedanken an die kreative Arbeit mischte sich die Wut auf ihren damaligen Chef. Als sie nicht auf Isidoros Avancen eingegangen war, hatte sie ihre Anstellung verloren.

Agua pasada – Schnee von gestern, schalt sie sich, als sie an die Reihe kam und ihre Nachbarin Sofía sie ansah. Meist kaufte Carla die Eier bei ihr zu Hause. Doch heute wollte sie nicht warten, bis sie vom Markt zurückkehrte. »Ein Dutzend?«

»Drei Dutzend, heute ist großer Backtag.«

Sofía legte die Eier in Carlas Korb, kassierte, und Carla ging weiter, ihre Besorgungen erledigen. An jedem Stand erfuhr sie ein wenig vom neuesten Dorfklatsch, der Carla zwar amüsierte, dem sie jedoch keine Bedeutung beimaß. Schließlich erinnerte sie sich deutlich an das Getuschel, als sie den mittellosen Francisco dem reichen Isidoro vorgezogen hatte.

Die Sonne brannte mittlerweile vom Himmel, und Carla trat mit ihren Einkäufen den Rückweg an. Kurz bevor sie zu ihrem Zuhause einbog, öffnete sich der Blick zu den Bergen der Tramuntana. Klar umrissen zeigten sich die Bergspitzen, und kleine Wölkchen hingen wie getupft am Himmel.

Carla schloss die Haustür auf und stellte den Korb auf den Küchentisch, bevor sie Holz in den Backofen schob und mit geübten Handgriffen den Teig zubereitete.

Wenig später zog der Duft von frisch gebackenem Kuchen durch das Haus. Samuel legte sie den Kuchen als Überraschung vor die Tür im ersten Stock.

Francisco wollte in Palma mittagessen, da er eine Lieferung zu erledigen hatte. Carlas Magen knurrte. Sie schnitt sich eine Scheibe Brot vom Laib, träufelte Olivenöl darauf und belegte sie mit ein paar Tomatenscheiben.

Nach dem Essen wusch sie rasch ab, packte anschließend den Zitronenkuchen für ihre Mutter in einen Korb, klemmte ihn auf den Gepäckträger des Fahrrads und fuhr nach Sencelles.

Sobald sie an ihrem ehemaligen Weinfeld vorbeifuhr, dachte sie an die Zeit, als ihre Familie mit dem Weinbau ihr Auskommen gehabt hatte. Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit. An eine Zeit, in der sie jeden Morgen neben ihrer Schwester Antonia aufgewacht war. Eine Zeit, als Vater noch lebte und Leo nicht die Schuld an Vaters Tod trug.

Carla trat fester in die Pedale, um die Grübeleien, was in der Vergangenheit besser hätte laufen müssen, aus ihrem Kopf zu vertreiben. Der Kirchturm aus hellem Kalkstein überragte das Dorf und leuchtete am stahlblauen Himmel.

Carla stellte ihr Fahrrad am Haus ihrer Mutter ab, in dem sie mit ihrer besten Freundin Lidia wohnte. Bevor sie klopfen konnte, öffnete Lidia die Tür, und Carla hüpfte überrascht einen Schritt zurück. »Du hast ja deine Haare abgeschnitten.«

Lidia fuhr sich mit der rechten Hand in den Nacken. »Ja, schick, nicht? Die Friseurin musste nicht mal ondulieren, meine leichten Locken springen bei dieser Länge von ganz allein. Und praktisch ist es, man schwitzt nicht. Solltest du vielleicht auch versuchen.«

»Auf gar keinen Fall.« Francisco würde in Ohnmacht fallen, ließe sich Carla ihr langes Haar abschneiden.

»Na ja, muss ja nicht heute sein.« Lidia gab Carla zwei Wangenküsse und deutete auf den Fahrradkorb. »Hast du uns etwas mitgebracht?«

Carla lachte. »Gib zu, du hast mich bereits vom Fenster aus anradeln sehen und hinter der Tür gelauert, um mich zu erschrecken.«

»Erwischt.« Lidia grinste. »Komm rein, deine Mutter trinkt gerade den Nachmittagskaffee im Patio.«

»Da komme ich ja genau richtig. Der Kuchen im Fahrradkorb ist für euch.« Carla hob ihn heraus und lüftete kurz das Tuch darüber. »Zitronenkuchen.«

»Na, dann nichts wie rein mit dir.« Lidia nahm ihr den Kuchen ab und ließ ihr den Vortritt.

Carla ging durch die großzügige Küche, vorbei am offenen Kamin in den Patio. Ihre Mutter saß mit dem Rücken zu ihr im Schatten der Olivenbäume und schien vollkommen in Gedanken versunken.

Carla umarmte sie von hinten. »Bon día, Mamá.«

Ihre Mutter drehte sich zu ihr. »Das ist ja eine schöne Überraschung!«

»Ich bringe euch Kuchen.« Carla musterte ihre Mutter, die sich die in die Jahre gekommene schwarze Strickjacke enger um die Schultern zog. Sie setzte sich zu ihr. Obwohl Mutter lächelte, schien sie etwas zu bedrücken.

Bevor Carla nachfragen konnte, kam Lidia in den Patio und stellte den Zitronenkuchen und Teller auf den Tisch.

»María, magst du noch einen Kaffee?«

Mutter betrachtete den Kuchen. »Gerne.«

Beim Kaffeetrinken erfuhr Carla den neuesten Dorfklatsch. Der Pfarrer wollte sich bald zur Ruhe setzen, der Stier des Landwirts am Dorfende hatte den Zaun niedergerissen und sich zu den Milchkühen gesellt, und das halbe Dorf half, um die Kühe vom Stier fernzuhalten.

Carla schob lachend den leeren Teller von sich. Lidia hatte die Gabe, solche Geschichten anschaulich zu erzählen. »Wie läuft es auf der Plantage? Ein Teil der Aprikosen müsste doch schon im Lager zum Trocknen sein. Braucht ihr meine Hilfe?«

Lidia stand auf und stellte das Geschirr ineinander. »Wir sind mittendrin im Ernten und Trocknen. Ich vermisse die Zeit, als wir noch Aprikosenmarmelade verkaufen konnten. Mit Trockenfrüchten verdient man nicht halb so viel. Aber die Mandelernte ist vielversprechend.«

Mutter räusperte sich. »Ja, und das Ernterisiko mit der Trocknung liegt wieder bei uns.«

»Gibt es Probleme?« Carla horchte auf.

Lidia trat hinter Mutter und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Nein. Deine Mutter bedauert vielmehr, dass sich die Leute keine extravagante Marmelade mehr leisten können. Außerdem machte es großen Spaß, uns Rezepte auszudenken und mit Gewürzen zu experimentieren.«

»Nun kochen wir nur noch für uns ein.« Obwohl Mutter zustimmte, ließ Carla das Gefühl nicht los, ihr läge noch etwas auf der Seele. Aber sie wusste auch, wie wenig Sinn es hatte, ihre Mutter zu drängen. Sie würde reden, wenn sie den Zeitpunkt für gekommen hielt.

Die Rückfahrt führte Carla wieder an den Feldern vorbei. Diesmal stieg sie ab. Wehmütig sah sie zu der übrig gebliebenen Rebenreihe, die das Grundstück zu einer Seite begrenzte. Eine letzte Erinnerung, die herauszureißen auch ihr Vater nicht übers Herz gebracht hatte. Sie überließen die Stöcke des Cabernet Sauvignons, Mantonegros und Prensal Blancs sich selbst, schnitt sie nur einmal vor dem Winter zurück. Tatsächlich war ein großer Teil der Aprikosen geerntet. Die anderen Bäume hingen voll reifer Früchte, deren süßer Duft ihr in die Nase wehte. Die Mandelbäume bogen sich förmlich unter den Bündeln an reifenden Mandeln. Die Felder konnten ihre Mutter also nicht beschäftigen. Aber was war es dann?

Gedankenverloren knetete Carla den Brotlaib. Der Traum von ihrem verstorbenen Mädchen in der vergangenen Nacht verfolgte sie wie ein langer Schatten, der ihr Gemüt verdunkelte.

»Bon día.«

»Hmm, dir auch einen guten Morgen«, brummte Carla und hielt Francisco die Wange für einen Kuss hin.

»Was ist los?«

Carla schob das Brot in den Ofen. »Ach, ich bin nur in Gedanken. Hättest du gedacht, dass es so kompliziert ist, ein Kind zu adoptieren?« Sie sah zu Francisco und wischte sich die mehligen Hände an der Schürze ab.

Mit der Kanne ging sie zum Tisch, schenkte ihrem Mann den Frühstückskaffee ein und setzte sich zu ihm.

»Dabei können wir einem Kind hier alle Liebe und Fürsorge geben, die ihm im Waisenhaus fehlt.«

Francisco trank einen Schluck. »Hab Geduld.«

Carla sah auf ihre Hände. »Meinst du, es wäre vielleicht einen Versuch wert, auch in Inca anzufragen? Um uns nicht nur auf Palma zu verlassen?« Obwohl ihr Zusammentreffen mit Isidoro vor dem Waisenhaus zwei Jahre zurücklag, plagte Carla weiterhin das Schuldgefühl, durch ihren Ausbruch ihm gegenüber sich eine Adoption verbaut zu haben.

»Ay, Corazón.« Francisco fasste über den Tisch nach ihrer Hand. »Isidoro hätte als Unterstützer des Waisenhauses sowieso davon erfahren. Er hat dir nicht verziehen, mich geheiratet zu haben. Hoffentlich erfährt seine Frau nie, dass sie nur die zweite Wahl für ihn ist.«

Darüber hatte Carla schon oft nachgedacht. Ebenso, ob Isidoro noch immer Gefühle für sie hegte. Sie entzog Francisco ihre Hand und stand auf. »Wir werden es nie erfahren. Und jetzt«, sie ging zu ihm und gab ihm einen Kuss, »musst du rüber in die Werkstatt. Die Steine behauen sich nicht von alleine.«

»Ja, schinde nur deinen armen Mann.« Francisco blickte sie mit einer Leidensmiene an und rieb sich den Rücken.

Carla lachte. »Tu nicht so. Du stehst in der Blüte deines Lebens. Also, an die Arbeit.«

Er warf ihr eine Kusshand zu und verließ die Küche. Carla sah ihm nach. Unter dem Hemd zeichnete sich sein muskulöser Rücken ab. Nie klagte er über die anstrengende Arbeit, wenn er besonders kompakte Steine bearbeitete. Selbst Samuel bremste und mahnte ihn, sich nicht zu überfordern. Auf der anderen Seite war es genau Franciscos Zielstrebigkeit, die Carla so an ihm liebte.

Sie räumte die Aprikosenmarmelade in die Abstellkammer und zählte die restlichen Gläser. Viele waren nicht mehr übrig. Die mit Gewürzen verfeinerten Marmeladen ihrer Mutter schmeckten fantastisch. Nicht nur auf Mallorca, auch auf dem Festland und in den USA verkauften sie die Marmeladen- und Mandelspezialitäten auf den gleichen Wegen wie die Trockenfrüchte. Doch seitdem das Geld knapper wurde, gingen die Aufträge zurück, bis sie schließlich gar keine Abnehmer mehr fanden. Auf solche Genüsse verzichtete man zuerst. Zu schade, wie bald nach dem kurzen wirtschaftlichen Erfolg Mutter und Lidia die Produktion wieder hatten aufgeben müssen. Carla verstand nicht viel von wirtschaftlichen Zusammenhängen, sie sah nur, wie wenig nun gekauft wurde.

Die Zeiten wurden härter. Das Geld knapper. Jeder sparte, wo er konnte, um sich Notreserven anzulegen.

Carla schaltete das Radio ein. Pilar Arcos’ Lied Tango de la muerte ließ sie zu den bekannten Takten hin- und herwiegen. Sehnsüchtig überlegte sie, wann sie mit Francisco zuletzt in einem Tanzlokal in Palma gewesen war. Es musste schon Monate zurückliegen. Auch sie hielten das Geld zusammen. Bald feierten sie wieder die jährlichen Dorffeste, dann würde sie das kostenlose Vergnügen auskosten, bis ihre Füße schmerzten.

Bevor sie sich um Samuels Buchhaltung kümmerte, wollte sie die Zahlen ihrer eigenen Felder durchgehen. Sie holte die Kladde aus der Kommode und notierte die Kilopreise, die sie für die Aprikosen und Mandeln erzielen wollte.

Carla orientierte sich bei ihren Wunschpreisen an denen des Jahres, in dem sie das letzte Mal ausschließlich getrocknete Aprikosen verkauft hatten.

Die Amerikaner zahlten damals etwas mehr als die spanischen Zwischenhändler, doch wer wusste schon, wie es dieses Jahr aussah. Carla hatte sich gegen ihre Mutter durchgesetzt, die nur noch an die Amerikaner verkaufen wollte. So hatten sie den Verkauf aufgeteilt, und es blieben ihr in der jetzigen Krise neben den Amerikanern noch die Mallorquiner und die Festlandhändler als Abnehmer.

Carla drehte das Radio lauter, als der Nachrichtensprecher die aktuellen Meldungen verkündete. »Tatsächlich ist es einer Frau gelungen, den Atlantik zu überqueren.« Diese Flugzeuge waren Carla nicht geheuer. Aber sie faszinierten sie. »Amelia Earhart ist als erste weibliche Passagierin nach einem Nonstop-Flug in England gelandet. Der Flug von den Vereinigten Staaten nach Europa hat einen Tag gedauert. Bei der Landung sagte Amelia über den Kapitän: Stultz ist die ganze Strecke alleine geflogen – zwangsläufig. Ich war nur Gepäck, wie ein Sack Kartoffeln.« Diese Beschreibung ließ Carla auflachen. Die Frau hatte Humor.

Und sie besaß Mut.

Wie konnte sich ein so schweres Gerät überhaupt in die Luft erheben? Mit Wehmut dachte sie an Antonia. So viele Jahre hatte sie ihre Schwester nicht gesehen. Ob sie jemals das Geld aufbringen könnte, zu ihr zu reisen? Immer wenn Carla glaubte, es liefe gut, ließ eine Krise ihre Ersparnisse schrumpfen.

Mit einem Seufzer räumte Carla die Kladde weg. Sie hoffte, ihre kalkulierten Zahlen mit der diesjährigen Ernte erzielen zu können.

Es klopfte.

Vor der Tür stand ihre Mutter.

»Ich hatte dich heute gar nicht erwartet.«

»Ich habe eine Freundin in Binissalem besucht, und sie wurde weggerufen, weil irgendetwas mit ihren Enkelkindern ist.«

Die Erwähnung von Enkelkindern schnitt Carla kurz ins Herz. Auch ihre Mutter wünschte sich welche.

»Wie geht denn die Adoption voran?«

Carla seufzte. »Die Mühlen mahlen langsam. Aber jetzt komm rein. Die Hitze hier draußen ist ja nicht auszuhalten.«

Sie nahmen in der Küche Platz, und Carla füllte zwei Gläser mit Wasser. »Du bist aber nicht hier, weil deine Freundin zu ihren Enkeln musste. Dich bedrückt doch was. Was ist los?«

Mutter starrte auf das Wasserglas.

»Raus damit. Was liegt dir auf dem Herzen?«

»Ach, ich sollte das alleine regeln, ihr tut so viel für mich, habt selbst genügend mit dem Steinmetzbetrieb zu tun, aber …«

Warum stotterte ihre Mutter so herum? Hoffentlich war sie nicht krank. Carla bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Sag, was ist los?«

»Domingo ist das Problem.«

»Die Hilfskraft?« Domingo arbeitete bisher sehr zuverlässig auf den Feldern. »Ist er faul? Kommt er zu spät?«

Mutter trank einen Schluck. »Zuerst hat er gut mit José zusammengearbeitet, aber in der letzten Zeit verhält er sich seltsam.«

Carla beugte sich vor. »Inwiefern?«

»Er sabotiert die Ernte.« Mutter stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus.

»Wie kommst du darauf?«

»Er reibt Kupferstaub an die Stämme der Mandelbäume und ins Wasser.«

»Er tut was?« Er bekam regelmäßig seinen Lohn, und die Bezahlung lag in der üblichen Höhe für seine Arbeit. Warum versuchte Domingo, die Bäume zu schädigen? »Komm, den stellen wir sofort zur Rede.« Carla sah ihre Mutter auffordernd an.

»Das ist noch nicht alles. Die Aprikosen.« Mutter schien alle Energie verloren zu haben.

»Was macht er mit den Aprikosen?« Selbst als Vater gestorben war, hatte sie nicht so müde gewirkt. Diesen Gang würde sie besser alleine gehen.

»Pilzbefall.« Mutter holte tief Luft. »Heute Morgen hat er Wasser auf die Trocknungsbretter gegossen.«

»Ist er verrückt geworden? Hast du ihn nicht zur Rede gestellt?«

»Doch. Natürlich. Er behauptet, er hätte Ameisen weggespült. Ich habe aber gar keine gesehen. Er macht das nicht zum ersten Mal. Die zugeführte Feuchtigkeit erklärt den plötzlichen Pilzbefall.«

»Wie schlimm ist es?«

Die tiefe Sorge spiegelte sich auf Mutters Gesicht wider. »Über die Hälfte ist unverkäuflich.«

»Du hättest ihn sofort rauswerfen sollen!«

Ihre Mutter setzte sich und sackte auf dem Stuhl in sich zusammen. »Ich wollte das nicht ohne Rücksprache mit euch tun. Domingo ist immerhin der frühere Nachbar von deinem Mann.«

»Das spielt doch keine Rolle.« Carla stand auf. Nichts hielt sie länger hier. Sie würde diesen Kerl sofort entlassen.

»Warte. Da ist noch etwas.«

»Was?« Auffordernd sah sie zu ihrer Mutter. Das Zögern passte nicht zu der tatkräftigen Frau, die sie kannte. Etwas setzte ihrer Mutter zu. Und das war nicht ihr Alter. Die Falten in ihrem Gesicht stammten nicht erst von heute, sie hatten sich in den letzten Jahren jedoch tiefer gegraben. Verlor ihre Mutter den Biss?

»Ich habe Leo mit Domingo in einer Bar in Inca gesehen. Bevor Leo ging, hat er Domingo einen Umschlag zugesteckt.«

»Einen Umschlag?« Hitze kroch Carlas Hals hinauf, und eine Welle der Wut schnürte ihr fast die Luft ab. Hatte ihr Bruder nicht schon mehr als genug angerichtet?

»Leo bezahlt Domingo, um uns zu schaden«, brach es aus Mutter heraus. »Ich bin mir sicher.«

»Domingo muss unsere Plantage sofort verlassen.« Carla zeigte auf das Brot im Ofen. »Hol es raus, sobald es fertig ist.«

Für einen Wimpernschlag glaubte Carla, ihre Mutter würde protestieren, sich an ihre alte Stärke erinnern und sie begleiten wollen, doch sie nickte nur müde.

Auf dem Weg zum Feld beschloss Carla, Domingo auf keinen Fall mit ihrem Wissen zu konfrontieren.

Welchen Teufel trug Leo im Leib, um so etwas zu tun? Er hatte Vaters Tod zu verantworten und damit selbst das familiäre Band zerschnitten.

Warum kümmerte er sich nicht um seine eigene Familie? Im Dorf wurde geredet, Alba sei mit dem zweiten Kind schwanger. Leo saß in Palma im Haus von Albas Eltern im gemachten Nest. Was wollte er noch? Glaubte er, einen Erbanspruch auf ihr fruchtbares Grundstück zu haben? Vielleicht sollte sie mit Alba über die Angelegenheit sprechen.

Innerlich brodelnd erreichte Carla die Plantage. »Wo ist Domingo?«, fragte sie José, der Unkraut aus dem Boden zupfte. Sie zwang sich zu einem sachlichen Ton.

»Oh, Carla, schön, dich zu sehen.« Er stand auf, wischte die erdigen Hände an der Hose ab und reichte ihr die rechte Hand zur Begrüßung.

Sie erwiderte den Händedruck und sah in sein Gesicht, das im Schatten seines ausgefransten Hutes trotz der Falten des Alters eine kraftvolle Wärme ausstrahlte. »Mutter sagte zu mir etwas von Ameisen im Ernteschuppen. Stimmt das?«

»Ameisen? Nein, wie kommst du darauf?«

»Domingo hat es Mutter gegenüber erwähnt«, wich Carla aus.

»Keine Ameisen. Aber es gibt ein anderes Problem im Lager. Ich habe keine Ahnung, woher der Pilz kommt, doch ich werde alles tun, damit sich der Verlust in Grenzen hält.« José hatte also keine Schädlinge bemerkt. Die gute Seele sorgte sich vielmehr um die Ernte. Besser, er erfuhr nichts von Domingos heimlichen Schandtaten, für die er sich von Leo bezahlen ließ. Sie traute dem alten Mann zu, Domingo ein blaues Auge zu verpassen.

»Danke José, ich weiß das sehr zu schätzen. Es wird viel Arbeit auf dich zukommen.« Carla setzte eine bedauernde Miene auf. »Leider muss ich Domingo entlassen. Nachdem wir die halbe Ernte verlieren, kann ich ihn nicht mehr bezahlen.«

Auf Josés Gesicht spiegelte sich augenblicklich Sorge. »Das tut mir leid. Die Hälfte der Aprikosen ist noch am Baum, und da werde ich aufpassen, dass der Pilz nicht sein Unwesen treibt, wenn wir sie zum Trocknen bringen. Also …« José starrte auf seine Schuhspitzen. »Oder wirst du mich auch entlassen müssen?«

»Wie sollten wir nur ohne dich hier zurechtkommen?« Auf José konnte sie nicht verzichten. Er arbeitete gut und zuverlässig, obwohl er mit den Jahren an Schnelligkeit eingebüßt hatte. Aber sie wurden alle nicht jünger. »Wo ist Domingo?«

»Er holt gerade den Karren, damit wir das Unkraut zusammenrechen und aufladen können. Ach, schau«, er deutete das Feld entlang, »da kommt er.«

Carla drehte sich um und sah Domingo am anderen Ende des Grundstücks. »Danke, José.« Mit festen Schritten ging sie auf Domingo zu.

Er schloss das Gatter und blickte sie an. Unter seinem Hut kräuselten sich die Locken. Sie umrahmten sein Gesicht mit den großen dunklen Augen. Ein wahres Engelsgesicht. Doch sein Antlitz täuschte.

Carla streckte den Rücken durch. »Domingo, ich muss dich entlassen. Der Pilz kostet uns die halbe Ernte.«

»Das kannst du nicht machen.« Sein Gesichtsausdruck wirkte trotzig. »Es ist nicht meine Schuld.«

Am liebsten hätte Carla ihm widersprochen. Aber sie wollte ihn nicht wissen lassen, dass sie die Wahrheit kannte.

»Es tut mir leid. Ich kann die Aprikosen im Lager nicht verkaufen und folglich dich auch nicht bezahlen.« Die Ausrede für den Rauswurf klang plausibel. »Ich werde selbst mitarbeiten müssen.« Carla hoffte, er würde den Grund akzeptieren und öffnete das Gatter wieder. »Vielleicht klappt es nächstes Jahr wieder. Deinen Lohn wird dir Francisco geben.«

»Was fällt dir Weibsstück überhaupt ein?« Domingo verzog verächtlich die Mundwinkel. »Du hast gar nicht das Recht, mir zu kündigen. Das kann nur dein Mann! Außerdem habe ich meinen Wochenlohn bereits und denke nicht daran, auch nur eine Pesete zurückzuzahlen.«

Carlas Wut steigerte sich. »Du wirst hier nicht mehr arbeiten. Nicht, nachdem du so mit mir sprichst. Beklage dich bei meinem Mann, und du wirst sehen, was er dazu zu sagen hat.« Carla hegte keinen Zweifel an Franciscos Reaktion, doch dass er den Wochenlohn bereits im Voraus gezahlt hatte, ärgerte sie. Kurz überkam sie Unsicherheit ob ihrer Entscheidung. Aber es war ihr Land und nicht das ihres Mannes, also konnte sie bestimmen. Auch zum Wohle ihrer Mutter.

»Und nun geh.« Carla funkelte Domingo wütend an, schnappte sich den Karren und marschierte ohne ein weiteres Wort an den Aprikosenbäumen entlang. Ein wenig Zeit blieb noch, bevor die andere Hälfte der Früchte geerntet werden müsste. An diesem Tag würde sie José helfen, das Unkraut zu beseitigen, und schon morgen wollte sie nach einem Ersatz für Domingo suchen. Erst als sie bei José angekommen war, drehte sie sich um.

Domingo war verschwunden.

Carla bückte sich und warf die ersten Unkrautbündel auf den Karren. »Du musst das nicht alles allein bewältigen, José.«

Meter für Meter beugte sie sich zum Boden, um das Unkraut aus der trockenen Erde zu ziehen. Wie schaffte José diese Arbeit in seinem Alter? Ihr selbst schmerzte jeder einzelne Knochen. Dabei arbeitete sie erst drei Stunden auf dem Feld. Sie warf das letzte Unkraut auf den Wagen. Mit einem Seufzer drückte sie den Rücken durch und ließ die Schultern kreisen. Es brachte nur wenig Erleichterung. Carla war verweichlicht, diese Arbeit nicht mehr gewohnt.

José nahm aus einer Klappe unter dem Karren zwei Gläser und einen Krug Wasser und goss ihnen beiden ein. Sie leerte es in einem Zug. »Danke, José.« Sie gab ihm das Glas zurück. »Ich gehe jetzt nach Hause und bespreche mich mit Francisco. Am besten, wir vernichten die Aprikosen im Lager und waschen alles mit Essig ab, damit auch die letzte Pilzspore verschwindet.«

»Soll ich das übernehmen? Das mache ich gerne.« José lächelte sie an und entblößte seine nicht mehr vollständige Zahnreihe.

Carla zog ein Tuch aus ihrer Rocktasche und wischte sich den Schweiß vom Hals. »Ich gebe dir Bescheid. Wie lange bleibt uns, bis wir abgeerntet haben müssen?«

José schob den Hut in den Nacken und trat nah an einen voll hängenden Baum heran. Mit dem Zeigefinger strich er vorsichtig über die Haut einer Aprikose. »Eine Woche haben wir sicher noch Zeit. In den nächsten Tagen reiße ich den Rest des Unkrauts heraus.« José hob sein Kinn, es sah aus, als spräche er zu sich selbst. »Das packe ich schon.«

»Danke, José. Wir suchen eine Lösung, ja? Allein schaffst du das nicht.« Auf dem Heimweg hoffte Carla, Domingo wäre nicht gleich zu Francisco gerannt. Als sie in die Straße zur Werkstatt einbog, zerschlug sich ihre Hoffnung. Domingo verließ gerade den Werkstatthof. Carla duckte sich in einen Hauseingang, um ihm nicht noch einmal zu begegnen, und schämte sich für ihr Verhalten.

Als Domingo aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, betrat Carla den Hof und öffnete die Tür zur Werkstatt. »Francisco?«

Ihr Mann kam hinter einem großen Steinblock hervor. Wie Puder lag der Steinstaub auf seinen Haaren, überzog sein Gesicht und die Schultern. »Ich dachte, du machst die Buchhaltung, stattdessen wirfst du Domingo raus?« Er wischte sich den Staub mit dem Handrücken vom Mund. »Meinst du nicht, wir sollten solche Dinge vorher besprechen?«

Den Vorwurf wollte sie so nicht auf sich sitzen lassen. »Ach ja? Und seit wann bekommen die Feldarbeiter ihren Wochenlohn im Voraus? Findest du nicht, auch das hättest du mit mir besprechen sollen? Immerhin ist es mein Land und das Unternehmen meiner Mutter.«

Das gleichmäßige Hämmern eines Mitarbeiters war mittlerweile verstummt. Wahrscheinlich lauschte er ihrem Gespräch.

»Nicht hier.« Francisco deutete zur Treppe. »Das klären wir im Büro.«

Was dachte sich ihr Mann eigentlich? Sie war doch nicht sein Laufbursche, den er abkanzeln konnte. »Dann geh vor.«

Kurz starrte er sie an, bevor er sich schweigend umdrehte und die Treppe hinaufging.

Sie wollte keinen Streit, doch in diesem Fall war sie im Recht.

An der Bürotür blieb er stehen und hielt sie ihr auf. »Bitte sei nicht so.« Er bedachte sie mit einem warmen Blick.

Schweigend nahm Carla Platz.

Francisco zog einen Stuhl neben ihren und setzte sich ebenfalls. »Also, was ist geschehen? Warum hast du Domingo ohne Rücksprache gekündigt?«

»Du hättest genauso gehandelt, glaub mir.« Carla zwang sich dazu, die Geschehnisse sachlich zu erzählen.

Francisco erhob sich von seinem Stuhl und lief unruhig im Büro auf und ab. Carla endete und sah ihn an. »Und? Hättest du ihn behalten?«

Er wirkte zerknirscht. »Natürlich nicht, Corazón.« Er setzte sich wieder zu ihr. »Ich habe nur die Bitte, dass wir uns künftig besser absprechen.«

»Dann übernehme ich auch die Auszahlung des Wochenlohns.« Carla wollte nicht weiter einlenken.

»Einverstanden. Wir sind schließlich beide daran interessiert, dass das Geschäft deiner Mutter läuft.« Er strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Ich kenne einen Bauern, der Arbeit sucht. Den werde ich gleich morgen fragen.«

»Es reicht, wenn er in einer Woche anfangen kann. Ich werde bis dahin helfen, falls sich Domingo auf dem Feld herumtreibt und spioniert. Gemeinsam mit José vernichte ich die verdorbene Ernte, und wir waschen das Lager mit Essig aus.«

»Bist du dir sicher?« Francisco sah sie fragend an. »Du musst diese anstrengende Arbeit nicht übernehmen.«

»Ich will kein Risiko eingehen. Mutter und ich werden die Ernte untersuchen. Vielleicht ist ja noch nicht alles verdorben.«

»Gut. Wenn du das möchtest.«

»Ja, das möchte ich.« Carla hörte sich sicherer an, als sie war. Aber sie hatte Domingo entlassen, also musste sie das auch zu Ende bringen. »Doch was machen wir, wenn Leo keine Ruhe gibt?«

»Das wird er. Nachdem ich mit ihm gesprochen habe.«

»Wann kommst du zum Essen rüber?« Carla wartete an der Tür auf Franciscos Antwort.

»In einer guten Stunde.«

»In Ordnung.« Carla ging in ihre Wohnung, holte den Topf mit der Gemüsesuppe vom Vortag aus der Kammer und stellte ihn auf den Herd. Das Brot lag eingewickelt in einem Tuch auf dem Tisch. Ihre Mutter hatte es aus dem Ofen geholt, bevor sie gegangen war. Carla würde ihr am nächsten Tag von dem Rauswurf berichten.

Um auf andere Gedanken zu kommen, räumte Carla den Geschirrschrank aus und setzte einen Wasserkessel auf den Herd, um heißes Spülwasser zu haben. Eine sinnlose Tätigkeit, doch es lenkte sie ab. Häufig bekämpfte sie die innere Unruhe, die sie leider immer wieder mal erfasste, mit Haushaltstätigkeiten.

Der Kessel pfiff, und Carla goss das heiße Wasser in die Steinspüle, bevor sie etwas kaltes dazugab. Die ersten Tassen gingen ihr leicht von der Hand, und sie stellte sie zum Abtropfen daneben. Als sie die Teller aus dem Schrank nahm, spürte sie die altbekannte Taubheit in den Fingern, und ein Teller fiel auf den Rand des Spülsteins. Eine Ecke brach ab, und beim Blick auf das zerbrochene Geschirr verlor sie den letzten Rest ihrer mühevoll aufrecht erhaltenen Fassung. Fluchend warf sie den Spüllappen gegen die Wand. »Verdammte Finger! Wie soll ich nur die Ernte einbringen?« Am liebsten hätte sie ihre tauben Hände gegen den Stein geschlagen, nur um sie wieder zu spüren. Die Taubheit kam ohne Ankündigung. Immer. Oftmals vergingen Monate, in denen sie keine Beschwerden hatte. Carla wusste, sie war ungerecht. Hatten nicht alle sie unterstützt, damit sie damals die Spanische Grippe und die Hirnhautentzündung überlebte? Selbst Antonia und ihr Mann Federico hatten Geld aus dem fernen Kuba geschickt und einen Facharzt vom Festland organisiert, um ihr die bestmögliche Versorgung zu ermöglichen.

Carla blickte zur Anrichte und auf das Familienfoto von Antonia. Die kleine Isabel war das Nesthäkchen, und sie gönnte ihrer Schwester das Familienglück, was ihr selbst verwehrt geblieben war, von Herzen. Carla ging zu dem Foto, das neben dem ihrer Schwester stand. Mit dem Finger der gesunden Hand streichelte sie darüber. Was hatte sie sich gegen die Tradition gewehrt, ein Familienbild mit ihrer toten Tochter im Arm zu machen. Mit ihrem Liebling, dem Gott nur wenige Monate auf der Erde geschenkt hatte, bevor er das Mädchen eines Nachts zu sich geholt hatte. Mittlerweile war sie froh, dieses Foto zu haben, denn die Erinnerung an viele freudige Momente hatte sich über die Trauer gelegt.

Carla stellte es zurück neben das Tauffoto ihrer Nichte Xisca. Franciscos Schwester Blanca und ihr Mann Julián hatten nicht lange überlegt und Carla gebeten, Taufpatin ihrer Erstgeborenen zu werden. Bald stand der erste Geburtstag ihres Patenkindes an.

Carlas Wut auf ihre Hände verflog wie ein Vogel, der sich nach einer kurzen Pause wieder in den Himmel erhob.

An der Spüle betrachtete sie den Teller mit der abgebrochenen Ecke. Es gab Schlimmeres. Sie warf ihn in den Blecheimer neben dem Herd.

Vorsichtig spülte sie das restliche Geschirr, damit nicht noch ein Teil Schaden nahm. Dabei löste sich die Taubheit in den Fingern, und ihre Gedanken wanderten wieder zu ihrem Patenkind.

Sie sah zur Wanduhr.

Noch blieb Zeit, bis Francisco zum Essen käme.

Carla holte den neu gekauften Stoff hervor und übertrug das Schnittmuster mit Kreide. Mit der Schere schnitt sie an der Markierung entlang. Das Material war kuschelig weich. Sie hielt ihn sich verträumt an die Wange.

Beim Nähen vergaß sie die Zeit. Erschrocken fuhr sie hoch, als Francisco die Küche betrat, und stach sich in den Finger. Fast wie früher, als sie noch Schuhe aus hartem Leder nähen musste. Automatisch steckte sie sich die Fingerkuppe in den Mund.

»Du hast mit dem Essen gewartet? Entschuldige, dass ich so spät komme. Toni kam vorbei und hat einen Stein bestellt. Seine Mutter ist gestorben.«