Zeiten des Wandels - Carmen Bellmonte - E-Book
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Zeiten des Wandels E-Book

Carmen Bellmonte

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Beschreibung

Die bewegende Geschichte einer Familie im Wandel der Zeiten

Mallorca, 1913: Die Familie Delgado führt ein kleines Weingut am Fuße des idyllischen Tramuntana-Gebirges. Doch als die Konkurrenz auf dem Festland immer stärker wird, bricht die Weinwirtschaft auf der Insel ein. Die Kinder der Delgados müssen rasch handeln, um das elterliche Gut vor dem Ruin zu bewahren: Antonia und ihr Verlobter Mateo gehen nach Kuba, wo sie die Familie mit einem neuen Weingut unterstützen wollen. Carla sucht sich Arbeit auf der heimatlichen Insel. Leo schlägt seinen ganz eigenen, nicht immer legalen Weg ein, der ihn zunehmend von seiner Familie wegführt. Werden die Delgados die Krise überstehen? Und zu welchem Preis?

»Man fiebert bis zur letzten Seite mit.« – Marie Lamballe

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Seitenzahl: 612

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Das Buch

Mallorca, 1913: Die Familie Delgado führt ein kleines Weingut am Fuße des idyllischen Tramuntana-Gebirges. Das Weingeschäft läuft gut, besonders seitdem die Reblaus auf dem europäischen Festland wütet, wovon die balearische Insel dank ihrer isolierten Lage verschont geblieben ist. Doch dann wird die Reblaus in Europa erfolgreich bekämpft, die Preise fallen, die Weinwirtschaft auf Mallorca bricht ein. Die Delgados müssen schnell handeln, um das Familienunternehmen vor dem Ruin zu bewahren. Während die Eltern auf die Produktion anderer Lebensmittel umsatteln, gehen deren Kinder eigene Wege: Antonia und ihr Verlobter Mateo wandern nach Kuba aus, um dort ein neues Weingut zu gründen. Schwester Carla stellt ihr kreatives Talent hintenan und sucht sich Arbeit in einer mallorquinischen Schuhfabrik. Bruder Leo schlägt seinen ganz eigenen, nicht immer legalen Weg ein, der ihn zunehmend von seiner Familie wegführt. Werden die Delgados die Krise überstehen? Und zu welchem Preis?

Die Autorin

Hinter Carmen Bellmonte stehen die Autorinnen Elke Becker und Ute Köhler. Zusammen bringen sie 35 Jahre Inselerfahrung auf Mallorca mit. Die beiden sind seit über zehn Jahren befreundet, lieben das Reisen und guten Wein und schreiben beide Bücher, die auf ihrer paradiesischen Balearischen Insel spielen. So lag es nahe, sich zusammenzutun und all ihre Vorlieben in einer großen epischen Geschichte zu vereinen.

CARMEN BELLMONTE

Zeiten des

Wandels

DIE MALLORCA-SAGA

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Originalausgabe 02/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com (Somy Volodymyr, Maija Luomala, Zoonar GmbH, AnastassiaVassiljeva, oksana2010)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27171-8V002

www.heyne.de

1

Mallorca, September 1913

Mit der beginnenden Abenddämmerung versammelte sich das ganze Dorf auf dem Kirchplatz. Die sandsteinfarbene Kirche von Sencelles lag unmittelbar neben dem Rathaus. Unter den Schatten spendenden Platanen standen Tische und Bänke.

Das ganze Dorf war an diesem besonderen Tag auf den Beinen. Die Familie Delgado wartete, wie alle Dorfbewohner, auf den Einbruch der Dunkelheit.

Endlich ging die Dämmerung in nachtblaue Finsternis über.

Der Bürgermeister stellte sich neben die Statue, die das Kirchenportal zierte, und hob die Hände. »Liebe Dorfbewohner, es erfüllt mich mit großem Stolz, unser Dorf in ein neues Zeitalter zu führen. Aber sehen Sie selbst.« Er gab ein Zeichen an seinen Mitarbeiter, der im ersten Geschoss des Rathauses aus dem Fenster sah.

Ein Raunen ging durch die Menge, als zum ersten Mal die Straßenbeleuchtung aufflammte. »Ab heute kommen Sie ohne Petroleumlampe auch nachts immer gut nach Hause.«

Die Menschen standen von den Bänken auf, um die neue Beleuchtung ausgiebig zu bestaunen.

Antonia lehnte sich an Mateo. »Sieht es nicht zauberhaft aus?«

Wie diese elektrischen Lampen zarte Schatten an die Hauswände warfen und die Gassen dennoch hell ausleuchteten, beeindruckte sie.

»Schon, aber jetzt kann man sich gar nicht mehr im Schutz der Dunkelheit küssen«, flüsterte Mateo ihr ins Ohr. »Aber bald brauchen wir das auch nicht mehr.«

Antonia durchfuhr ein wohliger Schauer. Würde Mateo an diesem Tag tatsächlich mit ihrem Vater sprechen?

Hoffentlich machte er nicht im letzten Moment einen Rückzieher. Ihr Vater konnte sehr einschüchternd wirken. Es bedurfte schon Mut, Juan Delgado auf einem öffentlichen Fest um die Hand der ältesten Tochter zu bitten.

Aber Mateo war mutig. Und genau das liebte sie so sehr an ihm.

Nach einem kräftigen Applaus setzten sich die Dorfbewohner wieder auf die aufgestellten Holzbänke, um zu teilen, was jeder an Essen und Trinken mitgebracht hatte. Antonia liebte diese Tradition bei Festen, und sie wusste, ihr Vater würde bestimmt schon nach ihr suchen.

»Bist du bereit?«

Mateo sah sie nervös an. »Habe ich eine Wahl?«

»Nein.«

Schon sah sie ihren Vater die Bankreihen entlanggehen. Er war auf der Suche nach ihr. Seine Gesichtszüge entspannten sich, als er Antonia erblickte. Er winkte ihnen, und gemeinsam gingen sie zum Rest der Familie.

»Mach mal ein bisschen Platz«, forderte ihre Mutter Carla auf, rutschte selbst ein Stück von ihrem Mann weg und zog Antonias jüngere Schwester mit sich.

Antonia sah dankbar zu ihrer Mutter. Nun galt es, mit Vater zu sprechen.

Doch das war Mateos Aufgabe.

Sie setzten sich in die Lücke, und Vater schenkte beiden einen Becher Wein ein.

Eine Musikgruppe spielte zum traditionellen Tanz. »Komm, Diego, tanz mit mir!«, forderte Antonia ihren ältesten Bruder auf, damit Mateo ungestört mit ihrem Vater war. Das war die Aufgabe ihres künftigen Mannes. Sie wusste genau, wie schwer es ihrem Vater fiel, sie gehen zu lassen. Schon immer hatte sie um jede kleine Freiheit kämpfen müssen. Ihr Vater behielt lieber ein Auge auf alles. Selbst, wenn sie sich mit ihrer besten Freundin auf dem Dorffest treffen wollte.

Leider war die mit ihrem frisch angetrauten Ehemann nach Valencia gezogen. Auf Mallorca gab es nur in Palma Arbeit oder auf dem eigenen Land. Und das eigene Land brachte auch nicht viel ein.

Nicht mehr. Zumindest was ihren eigenen Weinberg betraf. Antonias Vater wirkte mit jeder Woche erschöpfter, die Reblaus war in Frankreich und Deutschland besiegt. Mallorca als Ersatzlieferant für den zuvor am Boden liegenden Weinanbau in Europa war nicht mehr gefragt. Die mallorquinischen Trauben verloren unaufhörlich an Wert. Wenn kein Wunder geschah, kamen harte Zeiten auf ihre Familie zu.

Wie gut, dass Mateo eine Arbeitsstelle als Buchhalter in Palma hatte. Eine gut bezahlte Arbeit in einer soliden Firma. Antonias Zukunft lag sicher vor ihr. Er würde problemlos eine Familie ernähren können, und sie selbst würde weiterhin auf dem Feld helfen, sobald die Ernte eingebracht werden musste.

Bevor sie mit ihrem Bruder Diego auf die hölzerne Tanzbühne ging, hörte sie noch, wie Mateo sagte: »Juan, ich weiß, hier ist vielleicht nicht der richtige Ort, doch ich muss mit dir reden.«

Ihr Vater sah zu Antonia, ahnte wohl, was kommen würde, und trank einen großen Schluck Wein, bevor er seinen Nacken rieb. »Nun?«, forderte er Mateo auf.

Antonia sah nervös zu den beiden Männern. Mateo schenkte ihrem Vater Wein nach, nachdem der seinen Becher geleert hatte.

Auf der Tanzbühne trat sie ihrem Bruder auf den Fuß. »Entschuldigung. Aber ich platze fast vor Neugierde. Was, wenn er Nein sagt?«

»Dann heiratest du ihn trotzdem.« Diego lachte. »Du und Vater, ihr habt den gleichen Dickkopf.«

Antonia konnte nicht anders und lachte mit. Denn da lag Diego richtig. Sie wollte und würde Mateo heiraten.

In dem Moment hob ihr Vater seinen Becher und stieß mit Mateo an. Nur mit Mühe unterdrückte Antonia einen Freudenschrei. Er hatte seinen Segen zur Hochzeit gegeben.

»Siehst du, er ist einverstanden.« Diego wirbelte sie um die eigene Achse. »Nun muss er nur noch meinen Plänen zustimmen.«

»Ach, Diego, er wünscht sich doch so sehr, dass du später mal die Weinfelder übernimmst. Wer sollte es denn sonst tun?« Antonia wusste um den Wunsch ihres Bruders, Fischer zu werden, doch würde ihr Vater in diesem Fall niemals nachgeben.

»Bis dahin vergeht hoffentlich noch viel Zeit, und so lange ist Vater derjenige, der verantwortlich ist. Außerdem wird auch Leo größer, und er ist schon jetzt jede Minute glücklich, die er helfen kann.«

Vielleicht hatte Diego recht, und ihr Bruder Leo würde einmal alles übernehmen. Dann würde Vater zwar nicht begeistert zustimmen, aber er könnte Diego gehen und ihn seine Träume verwirklichen lassen.

»Komm, lass uns zum Tisch zurückgehen«, bat Antonia. Sie konnte es kaum erwarten, wieder neben Mateo zu sitzen und unter dem Tisch verstohlen seine Hand zu halten. Endlich würden sie heiraten!

Den Abend über war Antonias Vater stiller als gewöhnlich, was sie auf dem Nachhauseweg etwas beunruhigte.

Kaum hatten sie das Haus betreten, machte er sich Luft: »María, du hast es gewusst!« Er zog seine Jacke aus und hängte sie an den Haken. Dann stieß er die Schuhe von sich und schlüpfte in seine Hauspantinen. Grummelnd schlurfte er in die Küche. »Meine Frau hat Geheimnisse vor mir. Ist denn das zu glauben?«

Mutter holte tief Luft, bevor sie sich umdrehte. »Ihr geht jetzt ins Bett, es ist spät geworden.« Sie gab jedem einen Kuss auf die Stirn. »Schlaft gut.«

Antonia hängte die Jacken ihrer Geschwister auf, und während alle in die Schlafzimmer stürmten, löschte sie die Laterne im Eingangsbereich und verharrte vor der angelehnten Küchentür. Durch einen Spalt sah sie den Tisch. Sie musste wissen, ob ihr Vater seinen Segen aus vollem Herzen gab oder er nur einen Streit auf dem Fest hatte vermeiden wollen.

Die flackernde Kerze auf dem Tisch ließ Schatten über das Gesicht ihres Vaters tanzen, als Antonias Mutter sich zu ihm an den Tisch setzte.

»Sag, Juan, was ist daran so schlimm?«

»Du bist meine Frau. Wie kannst du mir so etwas nicht sagen?« Er schüttelte den Kopf. »Wie stehe ich denn da?«

Mutter stand auf und goss sich Wasser in ein Glas. »Möchtest du auch eines?«

Vater schüttelte erneut den Kopf, und die Kerze flackerte noch mehr. »Ich bevorzuge Wein.«

Zögernd trat Mutter an den Tisch.

Es ging also darum, dass sie sich zuerst an ihre Mutter gewandt hatten, bevor Mateo bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte. Für so empfindsam hätte Antonia ihren Vater gar nicht gehalten. Er wirkte immer so gefasst und aufgeräumt.

»Irgendwann müssen die Kinder gehen. Das ist der Lauf des Lebens.« Ihre Mutter setzte sich ihm gegenüber und trank einen Schluck Wasser.

»Wo ist der Wein?«, fragte Juan.

»Da, wo er immer steht.« Offenbar glaubte Mutter, er habe dem Wein genug zugesprochen. Vielleicht wollte sie aber auch nur Vaters Einsicht erlangen, dass nicht alles nur nach seinen Vorstellungen geschehen konnte.

»Also muss ich ihn mir selbst holen?« Er starrte ihre Mutter an.

Antonia hörte ein Stuhlrücken. Besser, sie zog sich zurück, bevor sie beim Lauschen entdeckt wurde. Es gehörte sich nicht, und ihre Eltern wären enttäuscht von ihr.

»Du hast mich hintergangen, María.«

Antonia war kurz davor, doch noch in die Küche zu gehen und ihrer Mutter zur Seite zu stehen.

»Ich habe die Kinder nicht darum gebeten, zuerst mit mir zu reden. Du bist manchmal zu hart. Also finde dich damit ab, dass es nun einmal so geschehen ist.«

»Aber du hättest es mir sagen müssen, dann …«

»Dann was?«, unterbrach sie ihn. »Mateo ist es wegen deines weithin bekannten Starrsinns so schon schwergefallen. Wie hätte es wohl auf ihn gewirkt, wenn du nicht mehr überrascht gewesen wärst? Sollte ich das Vertrauen der beiden zu mir enttäuschen?«

»Nein, du hast ja recht. Bringst du nun dem sturen Esel noch einen Schluck Wein?«

Endlich lenkte er ein. Antonia schlich sich auf Zehenspitzen die Treppenstufen hinauf ins Zimmer.

Ihre Schwester saß aufrecht im Bett. »Wo warst du noch?«

»Das geht dich gar nichts an.« Antonia schlüpfte aus ihrem Kleid und goss Wasser aus dem Krug in die Waschschale. »Hast du dich überhaupt gewaschen? Die Schale war ganz trocken.«

»Ich habe sie schon ausgeleert.« Der Trotz in Carlas Stimme war nicht zu überhören.

»Ach, und wohin? Ich war unten, du wärst auf dem Weg in den Hof an mir vorbeigekommen.«

»Du hast unsere Eltern belauscht?« Carla riss entsetzt die Augen auf.

»Das geht dich nichts an. Und du lügst mich an, denn ich rieche bis hierher, dass du dich nicht gewaschen hast.« Antonia rümpfte übertrieben die Nase.

Carla zog grinsend die Decke über sich. »Und wenn schon, ich habe ja keinen Liebsten, der an mir schnuppert.«

Antonia löschte die Petroleumlampe. Die Neckereien ihrer kleinen Schwester war sie gewohnt. Und an diesem Abend war sie zu glücklich, um Carla erneut zurechtzuweisen.

Antonia streckte sich und gähnte. Endlich konnten Mateo und sie ihre gemeinsame Zukunft planen. Die Hochzeit würde in einem sehr kleinen Rahmen stattfinden, denn weder ihre noch Mateos Familie war mit Wohlstand gesegnet. Mateo hatte immer noch nicht geklärt, ob sie in das leere Stockwerk mit zwei Zimmern ziehen könnten, da Mateos Geschwister aufs Festland gezogen waren und die Räume leer standen. Zwei Zimmer wären herrlich, fast ein eigenes Reich. Und es gäbe ausreichend Platz für Kinder. In Antonias Elternhaus wäre es zu eng für alle. Sie konnte ja schlecht mit Mateo zusammen das Schlafzimmer mit Carla teilen. Antonia musste ausziehen, auch wenn es ihrem Vater das Herz brechen würde.

Carla riss die Zimmertür auf. »Steh auf, du Schlafmütze! Alle warten schon unten auf dich.« Sie zog an Antonias Bettdecke. »Immer bist du zu spät. Wenn du so weitermachst, wirst du noch deine eigene Hochzeit verpassen.« Dann streckte sie ihr die Zunge raus.

»Na, warte!« Antonia warf ihr Kissen nach Carla. Diese kleine Göre. Wer kam denn morgens sonst nie aus dem Bett? So nervig die kleine Schwester manchmal auch war, sie würde ihr fehlen, jetzt, wo der Auszug bevorstand.

»Du kriegst mich nicht«, rief Carla und rannte aus dem Zimmer.

Nachdem Antonia rasch ihre Morgentoilette erledigt hatte, lief sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab. »Bon dia«, rief sie, als sie die Küchentür öffnete.

Ihr Vater schob seinen Teller von sich. »Na, endlich kommst du. Wir müssen über deine Hochzeit reden.«

Ihre Mutter stellte ihr einen Teller mit einer Scheibe Brot und einer Tomate hin. »Lass sie doch erst einmal etwas essen, Juan.«

»Ich muss in den Weinberg, und ihr solltet auch schon längst dort sein.« Er stand auf. »Dann sag du es ihr!« Ihr Vater nahm den Hut und ging ohne einen Abschiedsgruß hinaus.

Antonia wusste nicht, was sie erwartete. Ihr Hungergefühl wich einem Unwohlsein. Dabei hatte sich am Vorabend doch alles geklärt. »Mamá, was müsst ihr mir sagen?«

Ihre Mutter stand auf und strich ihr über das lange Haar. »Ach, Kind, sosehr ich mich für euch freue, aber …«, sie beugte sich an Antonias Ohr.

»Aber?«, fragte Carla.

Mutter bedachte Carla mit einem vorwurfsvollen Blick. »Junge Dame. Es wird Zeit für dich, deinem Vater zur Hand zu gehen. Diego und Leo müssten auch fertig sein. Such deine Brüder, und geh mit ihnen aufs Feld. Wir kommen gleich.«

Carla verzog trotzig den Mund, stand betont langsam auf und schlurfte aus der Küche. Antonia wäre an ihrer Stelle auch neugierig gewesen. Sie hielt es selbst kaum noch aus.

»Mamá, nun sag schon, was los ist.«

Ihre Mutter zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Nun, du weißt, die letzten Jahre waren nicht sehr gut, und so eine Hochzeit, die …«

»Stopp!«, unterbrach Antonia erleichtert. Es ging nur um Geld. Sie umschloss die Hand ihrer Mutter mit beiden Händen. »Das ist nicht wichtig. Die Liebe ist es, die zählt. Ich brauche kein teures Kleid oder ein großes Festmahl. Ich will Mateos Frau werden. Mehr wünsche ich mir nicht.« Während sie die Worte laut aussprach, spürte sie in ihrem Herzen, dass es die pure Wahrheit war. Natürlich hätte sie sich über ein modisches Hochzeitskleid und eine große Feier gefreut, doch ihre Liebe zu Mateo war alles, was zählte. »Mateo holt mich gleich ab, wir wollen mit seinen Eltern sprechen. Auch darüber«, sie zögerte einen Moment, »ob wir bei ihnen in der ersten Etage wohnen können.«

»Antonia!« Ihre Mutter sprang auf. »Wir können doch zusammenrücken.«

In diesem Moment liebte Antonia ihre Mutter noch mehr. Das Angebot rührte sie sehr. Für ihre Mutter gab es nicht zu wenig Platz, bei ihr würde sich alles finden. Trotzdem wäre es für die ganze Familie unbequem.

Die Zeiten waren hart.

Aus diesem Grund konnten ihre Eltern nichts zur Hochzeit beisteuern. Wohin sollte das alles noch führen? Vielleicht wusste ihr zukünftiger Ehemann Rat. Ihr Puls beschleunigte, als sie Mateos Gesicht vor sich sah. Mit ihm würde sie es weit bringen. Er war klug und tüchtig. Dank dieser Eigenschaften hatte er es zum Buchhalter gebracht. Er war belesen und würde Rat wissen. Ja, ihn würde sie fragen. Sobald die Lese beendet war.

»Mamá, wir wissen doch beide, hier ist nicht ausreichend Platz für alle, und ich will euch nichts wegnehmen. Warten wir ab, was Mateos Familie zu unserer Idee sagt. Groß genug ist ihr Haus ja.« Antonia gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn. »Ich komme dann später zum Feld, ja?«

Mit einer geübten Bewegung schlang sich Antonia ihre Haare zu einem Zopf und steckte ihn fest. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel strich sie ihr Kleid glatt und warf die Haustür hinter sich zu. Sie nahm den kürzeren Weg am Rand des Weinfeldes entlang. In der Ferne arbeitete ihre Familie zwischen den Rebenreihen. Der knorrige Johannisbrotbaum in der Mitte ihres Weinguts besaß etwas Magisches. Schon als kleines Mädchen hatte der über allem thronende Baum sie angezogen, auch im Winter, wenn es wenig zu tun gab. Während der Lese schützten seine ausladenden Äste sie zur Mittagszeit vor der brennenden Sonne, wenn sie die Weintrauben im Bottich stampften. Doch bevor sie wieder in die Trauben trat, musste sie mit Mateo sprechen.

2

Obwohl es bereits September war, brannte die Sonne vom Himmel, und kein Lüftchen regte sich. Die Berge der Serra de Tramuntana erschienen durch die flirrende Hitze wie hinter einem Dunstschleier. Sosehr sich die Erde einen erfrischenden Schauer wünschte, so sehr hofften alle Weinbauern auf weitere trockene Tage, um die Weinlese beenden zu können.

»Wo sind Mamá und Carla?«, fragte Leo seinen Vater, der seit dem Frühstück mürrisch schien. Etwas, das Leo überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Was gab es Schöneres als die Arbeit in einem Weinfeld? Rispe für Rispe schnitt er mit der Schere ab. Sein Korb füllte sich, doch bevor er die frischen Trauben in den Bottich geben konnte, musste er ihn ausleeren.

Sein Vater streckte den Rücken durch und wies eine Reihe entlang. »Schau, da kommen sie.«

Mutter hatte das Weinfeld erreicht, rückte ihren Hut zurecht und stieg mit einer Schaufel in den Bottich. Carla nahm einen Korb und verschwand zwischen den Reihen, um mit Diego die Reben zu schneiden.

Leo stellte seinen gefüllten Korb am Bottich ab, holte die Schubkarre und ging zu ihr, damit sie die Traubenreste des Vortags hineingeben konnte. Er liebte den Geruch der Schalenreste und freute sich, dass er sie gleich als Dünger an den Stöcken verteilen konnte. Für ihn schloss sich hier der Kreislauf eines Jahres und bereitete den Boden für ein neues Erntejahr. Irgendwann würde er seinen eigenen Weinberg haben und ihn zu einem Weingut machen, das über die Inselgrenzen hinaus bekannt wäre. Er hätte Angestellte, die sich unter seiner Anleitung um die Rebstöcke kümmerten, er würde den besten Wein der Insel keltern.

Sein Vater trat neben den Bottich. »Und?«

»Nichts«, antwortete Mutter.

Mit schief gelegtem Kopf sah er sie an. »Wie? Nichts?«

»Sie reden erst noch mit Mateos Eltern.« Mutter sah Vater herausfordernd an. »Antonia meint, es sei zu wenig Platz bei uns. Und sie hat recht.«

Vater sog scharf die Luft ein. »Zu wenig Platz? Dann bauen wir eben an!«

»Und von welchem Geld?«

Streit lag in der Luft. Und alles nur, weil Antonia heiraten wollte. Man sollte doch glauben, alle wären froh, dass sie endlich einen Mann gefunden hatte. Immerhin war sie bereits zwanzig!

Diego umwarb noch keine Frau, dabei war es für ihn längst Zeit. Das würde ihm nicht passieren, davon war Leo überzeugt. Überhaupt hatte er seine Zukunft klar vor Augen: ein erfolgreiches Weingut, die hübscheste Frau der Insel und wundervolle Kinder. Ja, seine Eltern würden vor Stolz platzen!

Doch anstatt froh über Antonias Heirat zu sein, schüttelte Vater den Kopf und ging wortlos davon. In den letzten Wochen hatte er sich verändert. Er sah oft mit gerunzelter Stirn auf das Weinfeld. Auch seufzte er häufiger als noch vor einigen Monaten. Dabei waren die Trauben so gut wie nie!

Obwohl Leo nur hin und wieder heimlich einen Schluck des fertigen Weins probierte, wusste er genau, worauf es ankam. Selbst in die Gärbecken steckte er hin und wieder einen Finger und leckte ihn ab. Das schmeckte zwar scheußlich, aber auch sein Vater stellte so immer fest, wann es Zeit war, den nächsten Schritt zu einem guten Wein zu machen. Selbst die Unterschiede in der Fassreife konnte Leo mittlerweile gut erkennen und wusste um die Wirkung der verschiedenen Fassarten in Größe und Holzbeschaffenheit. Manchmal hatte er auch den Eindruck, er wüsste bereits viel mehr als Diego, der immer nur abwinkte, wenn er mit ihm über die Jahrgänge reden wollte. Etwas, das Leo nicht verstehen konnte. Zu spannend fand er den Einfluss des Wetters, den Zeitpunkt der Lese und alles, was danach noch kam. Schließlich schmeckten die Weine ja auch jedes Jahr anders.

Sein Vater sah zu den Bergen, Leos Blick folgte seiner Richtung. Die Berge wirkten klar und zum Anfassen nah. Doch dahinter ballten sich Wolken. Spätestens in zwei Tagen gab es Regen. Sein Vater müsste glücklich sein, die Erde brauchte den Regen, und in zwei Tagen wären sie mit der Lese fertig und die Ernte eingebracht.

Ohne Vorwarnung griff sich sein Vater ans Herz.

»Papá, was ist?« Leo rannte auf ihn zu. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er nackte Angst. Die Angst, seinen Vater zu verlieren.

3

Mateo öffnete ihr. »Ich wollte dich doch abholen.« Er nahm Antonia vor der Haustür seiner Eltern in die Arme. Sanft küsste er ihren Nacken.

»Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten.« Sie löste sich von ihm und fasste ihn an den Schultern. »Ich bin so aufgeregt. Du nicht?«

»Warum denn? Wir gehen jetzt rein und bereden alles.« Mateo nahm Antonias Hand.

Er war so von sich überzeugt, eine Eigenschaft, die Antonia sehr an ihm bewunderte.

Diese unverbesserliche Zuversicht. Mit ihm an ihrer Seite würde sie alles schaffen. »Glaubst du tatsächlich, sie lassen uns bei sich wohnen?«

»Aber selbstverständlich, Cariño! Und wenn nicht, findet sich schon alles. Wichtig ist doch nur, dass wir zusammen sind.«

Im Gegensatz zu Antonia schien sich Mateo keine Sorgen zu machen. Dabei war noch so vieles ungeklärt. Vermutlich nahm sie alles viel zu ernst. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe.

»Wollen wir?«, fragte Mateo. Als sie zustimmte, öffnete er die Tür zum Esszimmer.

Mateos Mutter Elisa kam gerade aus der Küche und stellte Gläser auf den Tisch. »Da seid ihr ja schon«, rief sie und begrüßte Antonia mit einer festen Umarmung und Wangenküssen. »Alberto, sie sind da! Komm runter«, forderte sie ihren Mann auf und eilte in die Küche.

Mit einer Flasche Wein kehrte sie zurück. »Setzt euch, Kinder, setzt euch.« Ihre Wangen waren gerötet. Sie ahnte offenbar schon, was sie ihnen sagen wollten.

Während sie den Wein in die Gläser füllte, kam Alberto, grüßte Antonia herzlich und nahm neben ihnen Platz. »Nun?«, wandte er sich an Mateo.

Unter dem Tisch wischte Mateo seine Handfläche an der Hose ab, was Antonia amüsierte. Er war also bei Weitem nicht so ruhig, wie er zuvor behauptet hatte. Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie aufmunternd.

»Wir müssen mit euch reden.« Mateo räusperte sich.

»Ach, Junge«, erlöste Mateos Vater ihn. »Wir wissen doch längst, wie ernst es euch ist. Ihr wollt also heiraten.« Er hob sein Glas. »Unseren Segen habt ihr.« Er sah zu Antonia. »Wir können uns keine bessere Schwiegertochter wünschen. Auf eure Zukunft!«

Mateos Mutter lächelte. »Und auf viele gesunde Enkelkinder!« Alberto prostete allen zu. »Lasst uns auf die Zukunft trinken!«

Ihre Herzlichkeit rührte Antonia. Mateo seufzte sichtlich erleichtert auf, bevor er anstieß und einen großen Schluck trank. Aber er schien vergessen zu haben, wegen des Obergeschosses zu fragen. Unter dem Tisch gab sie Mateo einen Tritt.

Mateo reagierte. »Da ist noch etwas. Bei Antonias Eltern ist kein Platz, und oben steht doch alles leer.«

»Oh«, unterbrach ihn sein Vater und blickte seine Frau Elisa an. »Sag du es ihnen.«

Antonia schaute gebannt von Alberto zu Elisa.

Mateo schien nicht weniger irritiert. »Was ist denn los?«

Elisa faltete ihre Hände im Schoß. »Wie du schon sagst, das Haus ist groß. Deine Geschwister sind aufs Festland gezogen. Deshalb haben wir es verkauft.«

Antonia erstarrte. Wo sollten sie nun wohnen? Im gleichen Augenblick kam sie sich schlecht vor. Dann würden sie eben bei ihren Eltern zusammenrücken müssen. Wie Vater schon vorgeschlagen hatte, könnte man auch anbauen. Irgendwie würde es sich schon finden.

»Das könnt ihr nicht machen!«, presste Mateo mit einer Wut in der Stimme hervor, die Antonia erschreckte. Mateos Eltern hatten jedes Recht, ihr Haus zu verkaufen, wenn das ihr Wunsch war.

»Warum nicht?« Elisa zog die Stirn in Falten. »Der Schuhmacher braucht ein größeres Haus und …«

Antonia sah, wie Mateos Gesichtsausdruck versteinerte. Sie wollte keinen Streit. Beschwichtigend legte sie ihm die Hand auf den Arm.

»Kinder, lasst uns doch ausreden.« Alberto hob die Hand. »Wir haben ein kleineres gefunden und Geld übrig, das wir euch geben möchten«, sprach er weiter. »Damit könnt ihr euch selbst ein kleines Haus leisten.«

»Wie großzügig von euch.« Antonia konnte es kaum glauben. Ein eigenes Haus? Davon hatte sie nicht zu träumen gewagt.

»Ihr sollt euer eigenes Zuhause haben«, rief Elisa. »Aber die Enkelkinder müsst ihr mir regelmäßig bringen.«

Übermütig sprang Mateo auf, umarmte erst seinen Vater und anschließend seine Mutter. »Jetzt hättet ihr mich beinahe angeschmiert!«

Nicht nur beinahe, dachte Antonia. Für einen Moment war er vor Wut und Enttäuschung leichenblass geworden. Wie hätte er reagiert, wenn sie nichts bekommen hätten?

»Antonia, Liebling, ist das nicht wunderbar?«, wandte er sich nun strahlend an sie.

Ihre Beunruhigung über Mateos Stimmungswechsel wurde von dessen ansteckender Begeisterung erstickt. Bald würden sie ihr eigenes Zuhause haben.

4

Leo stand über seinen Vater gebeugt. »Was ist mit dir?« Seine Stimme überschlug sich vor Panik.

»Nichts, Leo, gar nichts ist mit mir.« Sein Vater wischte sich über die feuchte Stirn. »Mir war nur kurz ein bisschen schwindlig. Bring mir ein Glas Wasser.«

Als Leo losrannte, verzog sein Vater erneut das Gesicht vor Schmerz. Er war immer stark gewesen; ihn nun so zu sehen jagte Leo eine Heidenangst ein. So schnell er konnte, goss er ein Glas Wasser ein und eilte zurück. »Hier.« Leo hockte sich neben ihn.

In kleinen Schlucken trank Vater. »Danke.« Er strich Leo über den Kopf. »Es geht schon wieder.«

Trotz seiner Sorge schüttelte Leo die Hand ab. Immerhin war er vierzehn, fast ein Mann. Kein Mann ließ sich tätscheln! »Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, protestierte er und wollte aufstehen.

Mit einem Griff zog sein Vater ihn zu sich heran. »Ach, Leo, ich weiß, du bist schon groß, aber manchmal will ich dir einfach nur zeigen, dass ich dich lieb habe.«

Die Worte seines Vaters stimmten Leos rebellisches Herz milde. »Ich dich auch.« Er legte seine Arme um ihn und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Stirn. »Doch über den Kopf kannst du künftig unserem Esel streichen.« Er kicherte wenig erwachsen.

Auch Vater lachte. Er schien wieder der Alte zu sein. Zumindest sah man ihm nichts mehr an. Vermutlich hatte er zu wenig getrunken. Leo wurde selbst ab und zu schwindlig, wenn er zu wenig gegessen oder getrunken hatte. Er wuchs im Moment schnell, und die Hitze des Sommers konnte einem zusetzen.

Trotzdem fragte sich Leo, ob er seiner Mutter von dem kleinen Schwächeanfall erzählen sollte. Er entschied sich dagegen, um Mutter nicht zu beunruhigen. Vermutlich war er nur nach der vielen harten Arbeit erschöpft. Sein Vater war stark und kräftig wie kein anderer. Den haute so schnell nichts um, davon war Leo überzeugt. Außerdem hatte er ja ihn an seiner Seite.

Leo wollte noch fleißiger helfen als jetzt schon, dann könnte sich sein Vater öfter eine kleine Pause gönnen. Diego arbeitete zwar hart mit, aber die Mühsal auf dem Weingut ging nie aus. Leo belastete es nicht, er liebte diese Arbeit, und er sog mit Begeisterung jede Information zum Weinanbau auf wie ein Schwamm.

»Ich habe Hunger.« Sein Vater stand auf. »Lauf zu deiner Mutter, und frag, ob es bald etwas zu essen gibt.«

Leo sah zu den Bergen. Die Wolkentürme über der Tramuntana bauschten sich immer höher. Sie mussten sich beeilen, wollten sie noch rechtzeitig mit der Lese fertig werden.

Besser, er half Mutter, den Bottich leer zu schaufeln, weil Antonia immer noch nicht gekommen war. Mutter stand die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. In den letzten Monaten schien sie gealtert. Auch sie sorgte sich wohl. Leo verstand seine Eltern nicht. Die Ernte war so gut wie nie! Sie sollten sich freuen und guter Dinge sein. Eifrig leerte er den Bottich, damit er wieder mit Trauben gefüllt werden konnte. Anschließend wollte er sich ums Mittagessen kümmern, damit Vater wieder zu Kräften kam.

5

Carla schleppte einen vollen Korb zum Karren. Ihr Magen knurrte. Zeit fürs Mittagessen. Der Tisch war noch nicht gedeckt. Von Antonia fehlte jede Spur. Wut stieg in ihr hoch. »Ist Antonia immer noch nicht hier?«, maulte sie und schüttete die Trauben auf die Ladefläche.

Nun durfte sie sich auch noch um den Mittagstisch kümmern. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Es war nicht fair, dass sich ihre Schwester zum Ende der Erntezeit einen faulen Tag mit Mateo machte, während sie hier schuftete wie ein Maulesel. »Alles muss ich allein machen.« Lieblos warf sie das Brot auf den Tisch.

»Carla!«, rief ihre Mutter sie zur Ordnung und stieg aus dem Bottich. »Es schadet dir nicht, wenn du auch mal hilfst.«

»Auch mal helfen? Ich mache doch den ganzen Tag nichts anderes!« Nun bekam sie auch noch Ärger, nur weil sie Antonias Aufgaben übernehmen musste. Wie ungerecht! Murrend holte sie Tomaten, Olivenöl und Wein aus dem Korb.

Ihr Vater schlurfte müde in den Schatten des Johannisbrotbaums, rückte den wackeligen Tisch zurecht und setzte sich auf die alte Holzbank.

Diego goss Wein und Wasser in die Gläser, als Antonia auf sie zueilte. Pünktlich zum Essen war sie natürlich da. Carla hasste es, wie Antonia sich im Moment aufführte. Alles drehte sich nur um sie! Um sie und ihre doofe Hochzeit!

Carla hatte gute Lust, ihrer Schwester das Brot an den Kopf zu werfen. Doch das würde ihr nur weiteren Ärger einbringen.

»Da bist du ja«, rief ihre Mutter. »Und? Was haben sie gesagt?« Sie setzte sich an den gedeckten Tisch und klopfte mit der Hand auf den leeren Stuhl, der neben ihr stand.

Antonia strahlte über das ganze Gesicht, was Carla nun doch neugierig machte. Vielleicht hatte sie das Schlafzimmer bald für sich alleine. Das wäre nicht die schlechteste Nachricht.

»Ihr werdet es nicht glauben, aber Mateos Eltern verkaufen ihr großes Haus. Von dem Erlös geben sie uns Geld für ein eigenes Zuhause, und die Feier können wir auch davon bezahlen.«

Carlas Groll wich Vorfreude. Ein eigenes Zimmer! Es würde herrlich werden, nicht mehr auf ihre große Schwester Rücksicht zu nehmen, wenn sie nachts mal aufs Häuschen musste und die Petroleumlampe anzündete. »Und wo wollen sie wohnen?«, fragte Carla misstrauisch. Irgendwo musste es einen Haken geben. Den gab es schließlich immer.

»Sie kaufen natürlich ein anderes Haus, ein kleineres. Dann bleibt genug übrig.«

»Und wo zieht ihr hin?« Ein nervöses Magenflattern breitete sich in Carla aus, der Hunger war verschwunden.

»Ich weiß es noch nicht.«

Was, wenn ihre große Schwester weit wegzog? Dann würden sie sich kaum noch sehen. Das war also der Haken. Mit wem sollte sie dann auf die Brüder schimpfen? Wenn Antonia fortging, müsste sie sich mit den beiden alleine herumschlagen. Mit Diego kam sie ja noch gut aus, aber Leo spielte sich in letzter Zeit auf, als wäre er der Gutsherr und könnte sie herumkommandieren.

»Das ist ja großartig!« Ihre Mutter klatschte begeistert in die Hände und umarmte Antonia. »Wie ich mich für euch freue!«

Mürrisch schnappte Vater sein Weinglas. »Ja, großartig, wirklich«, brummte er. »Nur wir können nichts dazugeben.«

»Ach, Papá, freu dich doch mit mir … also mit uns«, bat Antonia. »Wir wissen doch, dass ihr uns alle Unterstützung gebt, die ihr leisten könnt.«

Was reichlich wenig war, dachte Carla bei sich. Sie hatte durchaus mitbekommen, wie in der letzten Zeit gespart wurde, weil der Weinmarkt eingebrochen war. Längst hätte sie ein neues Kleid gebraucht. Doch ihr Wunsch blieb unerfüllt. Mutter hatte zu Nadel und Faden gegriffen und den überschüssigen Saum unten herausgelassen, damit die Länge mit Carlas Wachstum mithielt.

Carla betrachtete die von der Arbeit der letzten Wochen erschöpften Gesichter ihrer Familie. Für Antonia war es gut ausgegangen, sie hatte einen Mann, der ihr etwas bieten konnte. Was war mit ihr? Besser, sie suchte sich einen reichen Mann, der sie gut versorgen konnte. Vielleicht sogar ausreichend Geld hatte, das Weingut zu modernisieren. Augenblicklich verlor sie sich in Tagträumereien.

Leo saß neben Diego auf der Bank und schüttelte den Kopf. »Du ziehst also weg. Und wer soll deine Arbeit übernehmen?«

»Ich natürlich«, sagte Antonia. »Wir werden ein passendes Haus im Gemeindegebiet finden. Es muss ja nicht mitten im Dorf liegen. Ein wenig außerhalb gibt es bestimmt was. Aber selbst wenn es in Biniali wäre, ist das nur ein Katzensprung. Was würde ich nur ohne unseren Wein machen?«

Carla wunderte sich über Leo. Was interessierte es ihn, ob Antonia weiterhin auf dem Feld mitarbeitete? Er müsste auf keinen Fall Antonias Aufgaben übernehmen, sollte sie in einem Nachbarort eine andere Arbeit annehmen. Dafür war er noch nicht alt genug, und in einen Bottich steigen würde er sowieso nicht. Das Stampfen der Trauben war schon immer Frauenarbeit gewesen. Es würde also alles an ihr hängen bleiben.

Nach dem Essen stieg Carla mit Antonia in den Bottich. Diego und Leo brachten die Trauben.

Mit festem Tritt stampfte Carla mit ihrer Schwester im gleichen Rhythmus die Weintrauben zusammen. Der Duft des Rebensaftes stieg ihr fruchtig-süß in die Nase. Carlas Waden schmerzten von der Anstrengung, doch sie ließ es sich nicht anmerken, da Antonia unbeirrt weiterstampfte.

Manchmal fragte sich Carla, ob sich die viele Arbeit im Weingut noch lohnte. Ihr Vater legte seine Arbeitsschere ab und ging hinter Diego her, der mit dem vollen Korb auf sie zukam. Noch eine Fuhre Trauben. Carla stöhnte innerlich. Wie schon die vergangenen Abende würde sie nach dem Abendbrot völlig erschöpft ins Bett fallen.

Sie blickte nach unten. Ihre Waden versanken bis zur Mitte im dunklen Lilarot der Trauben. Noch diese Fuhre, dann hatten sie es geschafft.

Nur das letzte Drittel der Lese verarbeiteten sie direkt auf dem Feld, die anderen zwei Drittel brachten sie als ganze Trauben zur Weiterverarbeitung in die kühlere Halle mit den Gärbecken. So konnten sie die Qualität der Trauben gewährleisten, denn gerade zum Ende der Lese, wenn noch große Hitze herrschte, nahmen die empfindlichen Früchte leicht Schaden. Das wusste Carla, und nur, weil das Ende der Ernte in Sicht war, hielt sie das von Antonia vorgegebene Tempo durch.

6

Antonias Aufregung nahm zu, je näher der Tag ihrer Hochzeit rückte. Noch immer hatten sie kein passendes Haus gefunden. Ihre Eltern fragten sie täglich, ob sich in Sachen Hauskauf etwas getan hatte. Mateos Eltern waren längst ins neue Haus gezogen. Nur sie hatten kein eigenes Dach über dem Kopf.

Wo würden sie ihre Hochzeitsnacht verbringen? Im Haus ihrer Eltern?

Die Gedanken um ihre Zukunft begleiteten Antonia während des Essens.

Ein lautes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich gehe«, brüllte Carla und war schon auf den Beinen. Keine drei Minuten später stand sie mit Mateo in der Küche.

»Bon dia«, wünschte er der ganzen Familie einen guten Tag. »Ich muss mit dir sprechen, bevor du an die Arbeit gehst. Es ist wichtig.«

Mutter lächelte nachsichtig. »Aber natürlich, wir kommen in der Bodega schon zurecht.«

Antonia hörte Carlas Schnauben. Ihre kleine Schwester sah das offenbar anders, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Leider konnte sie Mateos Gesichtsausdruck nicht deuten. »Gut, lass uns gleich gehen.«

Antonia begrüßte Mateo mit einem Wangenkuss und verließ mit ihm das Haus. Da sie nun schon zusammen waren, wollte Antonia später die Gelegenheit nutzen, ihn zu fragen, ob er eine Idee hätte, wie man den elterlichen Betrieb wirtschaftlicher gestalten könnte.

Gewohnheitsmäßig blickte sie in die Berge. Dichte Wolken kündigten den lang ersehnten Regen an. Die Ernte war sicher in der Kellerei eingebracht.

»Was gibt es denn? Hast du ein Haus gefunden?« Egal, wie das Haus aussah, Antonia überlegte bereits seit Tagen, während sie die Trauben gestampft hatte, welche Stoffe sie gerne auf den Polstern hätte. In anderen Momenten sah sie sich bereits für die Familie, die sie sich beide wünschten, nach der Arbeit in der Küche stehen, um das Abendessen vorzubereiten.

»Es geht um etwas anderes.« Mateo blieb stehen und wies auf die Bank mit Blick auf die Tramuntana. »Setz dich doch bitte.«

Mit einer Handbewegung fegte er die Blätter von der Bank. Seine Stimme klang verunsichert, fast brüchig.

»Es geht nicht um das Haus?« Ihre neue Bleibe war doch das wichtigste Thema seit Tagen.

Etwas verlegen schüttelte Mateo den Kopf.

Antonias Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Was ist los? Du kannst mir alles sagen.«

»Setzen wir uns doch.«

Das letzte Licht der nachmittäglichen Sonne wurde von den dunklen Gewitterwolken verschluckt.

»Antonia, es tut mir leid, aber es wird hier kein Haus geben.«

»Was?« Sie glaubte sich verhört zu haben. Schnell fing sie sich wieder. »Dann bauen wir bei meinen Eltern an.« Antonia war in solchen Dingen sehr pragmatisch und suchte immer umgehend nach einer Lösung. Der Anbau wäre eine Lösung. Vorerst zumindest.

Nervös wischte Mateo seine Handflächen an der Hose ab, bevor er ihre in seine Hände nahm. »Ich habe meine Arbeitsstelle verloren.« Kaum hatte er es ausgesprochen, ließ er den Kopf hängen. »Es tut mir leid.«

»Was? Aber …« Das durfte nicht passiert sein. Es gab nicht viele Stellen für Buchhalter auf der Insel. Und schon gar keine gut bezahlten. »Was ist geschehen?«

»Antonia«, unterbrach Mateo. »Sie verlegen ihren Sitz nach Barcelona. Du weißt selbst, dass es die einzige Papiervertriebsgesellschaft hier ist, und sie setzen zu wenig auf Mallorca um.«

»Oh.« Zu mehr Reaktion war Antonia nicht imstande. Sie stand auf und ging einmal um die Bank herum. Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb sie vor ihm stehen. »Das Geld deiner Eltern wird nicht ewig reichen. Glaubst du, du findest hier bei einer anderen Firma eine Anstellung als Buchhalter?«

Mateo schüttelte den Kopf. »Die Zeiten sind nicht rosig. Es gibt nicht viele große Firmen, die einen Buchhalter beschäftigen.«

»Dann gehen wir eben mit deiner Firma nach Barcelona und bauen uns da etwas auf.« Sofort hielt sie sich die Hand vor den Mund. Ihre Ideen kamen mal wieder schneller, als ihr Verstand die Konsequenzen bedachte. So oft ermahnte sie sich selbst, ihre Vorschläge erst gründlich zu überdenken, bevor sie sie vortrug. »Also … ich meine … nein, so habe ich das nicht gemeint«, stotterte sie und setzte sich mit hängenden Schultern neben Mateo.

Der wiederum sprang auf. »Aber warum denn nicht? Das ist eine tolle Idee!« Er setzte sich wieder. »Ehrlich gesagt … Ich habe auch schon darüber nachgedacht.«

Antonia sah Mateo erschrocken an. Sie wollte nicht von hier weg. Von ihrer Familie. Von ihrem Weinfeld. Von der Insel.

»Antonia, ich weiß, du hängst an deiner Familie. Aber hier gibt es keine Zukunft für uns. Wir müssen fort. Barcelona wäre eine Möglichkeit. Allerdings nicht bei meiner Firma. Die Papierfabrik beschäftigt dort schon Buchhalter. Sie brauchen mich dort nicht.« Er nahm erneut ihre Hände. »Aber, wir könnten noch weiter weggehen«, flüsterte er. »Dorthin, wo wir gebraucht werden und wo unsere Arbeit Erfolg versprechend ist.«

Antonia zog die Augenbrauen zusammen. »Noch weiter weg?« Sie sollte ihre Familie verlassen? Ihr ganzes Leben aufgeben? Fortgehen?

»Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Erschrocken stieß sie Mateo von sich. »Bist du verrückt geworden?« Antonia fuhr herum und rannte los. Wie konnte er nur so eine wichtige Entscheidung treffen, ohne mit ihr vorher zu sprechen?

Erste Blitze zuckten in der Ferne und erhellten die Berggipfel. In wenigen Augenblicken würden die Wolken sich über der Insel ausschütten.

»Warte«, rief Mateo. »Lass uns doch in Ruhe reden.«

Doch Antonia hörte nicht auf ihn. Was gab es schon zu reden? Er hatte sich entschieden. Und sie sollte sich seiner Entscheidung beugen. Er entschied über ihr Leben, und das, noch bevor sie verheiratet waren. Sollte sie ihn überhaupt heiraten? Tränen liefen ihr die Wagen hinab, sie rannte tränenblind weiter, als wollte sie vor ihren eigenen Gedanken davonlaufen.

Carla sah sie neugierig an, als sie völlig außer Atem zu Hause ankam. »Was ist denn mit dir los? Ärger im siebten Himmel? Kommst du nun endlich noch in der Bodega helfen?«

Ohne ihr zu antworten, stürmte Antonia auf ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und lauschte dem heulenden Wind, der ums Haus pfiff. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie die Blätter, die der Wind von den Bäumen fegte.

Als Carla das Zimmer betrat, hatte Antonia immer noch keine Lösung gefunden. Sie gab vor, bereits zu schlafen. Noch wollte sie mit niemandem reden. Erst musste sie eine Lösung gefunden, eine Entscheidung getroffen haben.

Was sollte nur aus ihnen werden? Konnte sie Mateo unter diesen Umständen überhaupt heiraten? Liebte sie ihn genug, um ohne ihre Familie glücklich leben zu können?

Die ganze Nacht jagten Donner und Blitz über die Inselmitte, erst am Morgen lugte ein Stückchen blauer Himmel hervor. Die ersten zarten Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken, und Antonia riss das Fenster auf. Mateos Nachricht hatte sie die halbe Nacht wach gehalten. Aber sie war zu einer Entscheidung gekommen. Sie wollte sich seine Idee wenigstens anhören.

Zuversichtlich atmete sie die frische Luft ein. Der sonnige Morgen vertrieb auch die dunklen Schatten der durchwachten Nacht. Es würde sich schon alles finden, solange sie sich liebten. Davon war Antonia überzeugt.

Ihr Blick fiel auf Carla, die sich müde auf die andere Seite rollte. Bald würden sie nicht mehr gemeinsam unter einem Dach leben. Umso mehr sollten sie die Zeit zusammen noch genießen.

»Hey, du Schlafmütze. Die Sommerferien sind zu Ende, du musst heute in die Schule, also raus aus den Federn.« Antonia zupfte an Carlas Decke. Das missmutige Brummen brachte sie zum Lachen. »Wer soll dich künftig nur wecken?« Sie legte den Kopf schief. »Ich könnte Diego bitten, morgens einen Eimer Wasser über dir auszuschütten. Dann wärst du auch gleich gewaschen.«

»Du bist gemein.«

»Das liegt wohl in der Familie.« Immer noch lachend, verließ Antonia das Zimmer und ging hinunter in die Küche. Es schien, als hätte der Regen ihre Bedenken weggespült. Warum eigentlich nicht das Festland? Es boten sich dort sicher viel mehr Möglichkeiten als hier auf der Insel. Zwar trennte Mallorca und Barcelona bloß eine kurze Schiffsreise, doch gab es auf dem Festland noch viele andere Städte. Ein Familienbesuch wäre dann aufwendiger, da noch eine Zugfahrt hinzukäme, aber immerhin gäbe es diese Möglichkeiten.

Vor der Küchentür hielt Antonia inne. Ihre Eltern unterhielten sich flüsternd. Das taten sie sonst nie. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts verstehen, also öffnete sie die Tür. »Bon dia.«

Beide verstummten.

»Was ist los?« Antonia sah in die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern. »Ihr könnt mir nichts mehr vormachen.«

Ihr Vater rieb seine Hände aneinander. »Na ja«, fing er an, »ich habe da so eine Idee.«

Während des Frühstücks erläuterte er Antonia den Plan, die Trauben an den Brandyhersteller Suau zu verkaufen, der seinen Brandy nur aus selbst gekelterten und zu Wein vergorenen Trauben herstellte. Den bereits gepressten Teil müssten sie selbst zur Weinherstellung nutzen. »Das würde uns wenigstens einen Teil der Einnahmen absichern. Was sagst du dazu?«

Ihre Eltern brauchten keinen Rat von Mateo, sie würden es aus eigener Kraft schaffen, stellte Antonia erleichtert fest. »Das ist eine großartige Idee!«

»Morgen fährt dein Vater nach Palma, um das mit Suau zu besprechen.« Mutter reichte ihr eine zweite Scheibe Brot.

»Papá, schieb das nicht auf, sonst kommt dir noch ein anderer zuvor. Willst du nicht Jaume mit ins Boot holen?« Antonia biss in ihr Brot. Jaume war Vaters Freund. Er würde vermutlich ebenfalls auf seinen Trauben sitzen bleiben. »Oder fürchtest du, dass schon unsere Ernte zu viel ist, um sie an Suau zu verkaufen?«

Ihr Vater schluckte den letzten Bissen hinunter. »Ich wollte Jaume gestern bei der Ernte helfen, aber er war betrunken und hat mich angefahren, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern. Also werde ich genau das tun.«

»Jaume ist verzweifelt«, sagte Mutter. »Und wie du schon sagtest, er war betrunken.« Sie leerte ihr Glas Wasser. »Und trotzdem frage ich mich, ob er uns nicht doch belauscht hat, als wir über deine Idee gesprochen haben.«

»Wäre er nüchtern gewesen, hätte ich das mit ihm zusammen gemacht. Aber so? Er trinkt zu viel und lässt sich von mir nichts sagen. Stell dir vor, er würde so bei Suau auftauchen. Nein, das können wir uns nicht erlauben.«

Antonia setzte mit noch vollem Mund nach: »Suau könnte unsere Rettung sein. Er wird sicherlich gut für unsere Ernte bezahlen. Und sollte er noch Trauben brauchen, kannst du Jaume immer noch informieren.«

Mutter stimmte ihr zu. »Antonia hat recht. Außerdem müssen wir sonst mit der Verarbeitung der Trauben beginnen, damit der Saft in die Gärbecken kann. Soll ich dich begleiten?«

»Was habe ich nur für kluge Frauen um mich.« Vater erhob sich und lächelte. »Deshalb habt ihr kein Wahlrecht. Ihr würdet die Männer in die Knie zwingen.«

Er zwinkerte Mutter zu, und erneut erkannte Antonia die große Liebe zwischen den beiden. So würde es auch zwischen ihr und Mateo sein. Egal, wo sie leben würden, die Liebe gab ihnen die nötige Kraft, alles zu überstehen.

»Also gut, in einer Stunde fahren wir mit der Kutsche zur Bahnstation. Ich hole noch die Bilanzen der letzten Jahre.«

Antonia straffte den Rücken. Sie musste ihre Eltern über die letzten Neuigkeiten informieren. »Mateo hat seine Arbeit verloren.« Sie stand auf und stellte ihren Teller in die Spüle.

»Warum das denn?«, fragte ihre Mutter. »Hat er sich was zuschulden kommen lassen?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ach, im Dorf hat jemand gesagt, es hätte in der Papierfabrik Unregelmäßigkeiten gegeben.«

Davon hatte Antonia noch nichts gehört. Außerdem glaubte sie Mateo. Warum sollte er sie anlügen? »Die Firma schließt hier auf der Insel«, erklärte sie ihren Eltern. »Sie werden die Insel vom Festland aus beliefern. Nun müssen wir besprechen, wie es weitergeht. Aber macht euch keine Sorgen. Es findet sich schon alles.« So unbekümmert, wie Antonia sich gab, fühlte sie sich auf einmal nicht mehr. Ihre Zuversicht, die sie nach dem Aufstehen noch empfunden hatte, schien sich aufgelöst zu haben. Bestimmt war an diesem Gerede von Unregelmäßigkeiten nichts dran. Mateo war zuverlässig. Aber es half auch nichts, ihre Eltern noch zu beunruhigen und ihnen von Mateos Plänen zu erzählen, solange es noch gar nichts Konkretes zu berichten gab. Ob sie tatsächlich auf das Festland gingen?

Auch wenn Antonia versucht hatte, zuversichtlich zu klingen, bedrückte sie der Gedanke, gerade jetzt, wo auf dem Weingut jede Hand gebraucht wurde.

Carla rannte in die Küche, griff sich eine Scheibe Brot und winkte zum Abschied, bevor sie aus der Tür stürmte. Sie war spät dran für die Schule, wie so oft. Ob Carla jemals rechtzeitig aus dem Bett kroch, um in Ruhe zu frühstücken?

Leo war schon längst auf dem Weg in die Schule. Antonia betrachtete den vollgestellten Tisch. Ihre Eltern hatten sich nach dem Gespräch auf den Weg begeben. Der Abwasch blieb nun an ihr hängen. Im Grunde kam ihr der kleine Aufschub gelegen. Sie fürchtete sich, trotz ihrer Zuversicht, vor dem Gespräch mit Mateo.

Nachdem die Küche blitzte, das Brot für den Mittag gebacken und das reife Gemüse aus dem Beet abgeerntet auf dem Küchentisch lag, gab es für Antonia nichts mehr im Haus zu tun. Sie flocht sich den Zopf neu, kontrollierte ihr Kleid auf Sauberkeit und verließ ebenfalls das Haus. Auf dem kurzen Weg zu Mateos Eltern wollte sie ihre Gedanken nochmals ordnen. Antonia nahm deshalb einen Umweg über die Weinfelder.

Sie blinzelte gegen die Sonne. Kam ihr da jemand auf ihrem Feld entgegen? Mit der Hand beschattete sie ihre Augen. Der Gang, die Statur. Mateo ging auf sie zu. Als er sie entdeckte, beschleunigte er seinen Schritt. »Cariño, es tut mir so leid!« Er breitete die Arme aus, und sie warf sich hinein.

»Mir tut es auch leid. Ich hätte dich anhören sollen.«

»Und ich hätte keine Entscheidung treffen dürfen, ohne mit dir zu sprechen.«

Nach einem tiefen Blick in die Augen küssten sie sich leidenschaftlich. Ihr erster großer Streit entfachte nun ein Feuer in ihr, das sie am liebsten hier auf dem Feld gelöscht hätte. Erschrocken über sich selbst, löste sie sich von Mateo.

In Mateos Augen erkannte sie ebenfalls ein nie gesehenes Funkeln. Doch das musste warten, hier ging es um ihre Zukunft. »Also, was hast du für Pläne?«

»Danke, dass du mich anhörst.« Er griff nach Antonias Händen und zog sie erneut an sich. »Bei deinem Temperament hatte ich befürchtet, du würdest die Hochzeit platzen lassen.«

Antonia lächelte. Das hatte er verdient. Nur weil er ein Mann war, durfte er nicht so über ihren Kopf hinweg ihr Leben bestimmen. Das gehörte sich nicht.

Sie gingen zu dem ausladenden Johannisbrotbaum, unter dem sie sonst ihr Mittagessen einnahmen, wenn sie auf dem Weingut arbeiteten. Antonia setzte sich. »So, ich bin bereit.«

Mateo setzte sich zu ihr. »Erinnerst du dich an meinen Freund, der nach Venezuela ausgewandert ist? Er hat dort sein Glück gemacht. Ich hatte schon vor vielen Wochen Kontakt mit ihm, und er erzählte, auf Kuba könne man als Spanier gut sein Auskommen haben. Die Arbeitskräfte sind billig, die Schwarzen arbeiten fleißig, murren nicht, und wir könnten uns dort mit einem Weingut selbstständig machen.«

»Kuba? Wo liegt das?« Antonia hatte zwar schon davon gelesen, dass viele Spanier vom Festland nach Kuba auswanderten, aber wo das lag, wusste sie nicht.

»Das ist eine karibische Insel. Kolumbus hat sie entdeckt, und sie soll reich an Bodenschätzen sein. Die Erde ist fruchtbar, und die Erträge sind groß.« Mateos Augen leuchteten immer noch. Dieses Mal vor Begeisterung.

Kuba. Es sollte wie Mallorca eine Insel sein. Und sie sollten dort Wein anbauen? Davon verstand Antonia etwas, und wenn die Erträge wirklich so gut waren, könnte sie ihre Eltern nachholen. Und Carla. Auch Diego, denn wo eine Insel war, gab es auch Meer, und er könnte dort Fischer werden. Leo wäre überall glücklich, solange er Wein um sich hatte. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals. »Können wir uns mit dem Geld deiner Eltern überhaupt ein Grundstück mit Weinstöcken leisten?«

»Ich habe per Brief bei einem Grundstücksmakler angefragt, damit er mir einige Angebote zusendet.« Mateo rutschte von der Bank und kniete sich vor Antonia nieder. »Du würdest mitkommen?«

Für einen Augenblick zögerte Antonia. »Wenn du mir versprichst, dass wir meine Familie nachholen, wenn die Ernten gut ausfallen und wir Hilfe auf dem Weingut brauchen.«

»Versprochen. Ich werde alles tun, um dich glücklich zu machen.«

Antonia fiel ihm um den Hals und küsste ihn übermütig. Auch wenn sie nicht wusste, wo Kuba lag, sie würden ihr Glück finden. Davon war sie überzeugt.

Gleich am Abend würde sie diese Nachricht ihren Eltern beibringen. Und bis zu ihrer Abreise würden sie eben noch getrennt leben, obwohl sie dann verheiratet waren. In beiden Häusern war kein Platz für ein frisch vermähltes Ehepaar. »Wann bekommst du die Angebote?«

»Mach dir keine Gedanken, ich kümmere mich um alles. Ich weiß genau, worauf es ankommt.« Er zwinkerte ihr zu. »Weißt du, ich habe zufällig eine Verlobte, die Winzerin ist und die mir alles über den Weinanbau erklärt hat. Und was die Zahlen und Verträge angeht, hast du den passenden Mann an deiner Seite.«

Ja, wenn sich jemand mit Verträgen auskannte, dann wohl ein Buchhalter, der mit Zahlen und Paragrafen arbeitete. »Deine Winzerin muss sich nun an die Arbeit machen. Willst du ihr helfen?«

Mateo verzog das Gesicht. »Tut mir leid, meine Eltern brauchen mich.«

»Gut, dann sehen wir uns heute Abend?«

»Natürlich.« Mateo stand auf und ging durch den Weinberg zurück zu seinen Eltern.

Gedankenverloren spazierte Antonia nach Hause. Kuba. Wie es da wohl aussah? Und Mateo hatte schwarze Menschen erwähnt. In der Schule hatte sie auch von der Abschaffung der Sklaverei gehört, und sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie es Menschen gab, die glaubten, andere besitzen zu können. Gut, dass es das von Gesetz wegen nicht mehr gab. Seit ihr eine Freundin das Buch Onkel Toms Hütte zum Lesen geliehen hatte, wusste sie um die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Sklaverei. Der arme Tom wurde von seiner Familie getrennt und sah sie nie wieder. Was hatte sie mit ihm gelitten und geweint. Sie liebte dieses Buch, es war für sie eine Ermahnung, alle Menschen gleich zu behandeln. Dennoch war sie neugierig, wie diese Menschen in Kuba wohl waren? Hatten sie andere Traditionen? Feierten sie Weihnachten? Sie wusste nichts über dieses Land, und dennoch war sie bereit, mit Mateo dort hinzugehen.

Die Arbeit in der Kellerei ging ihr schlecht von der Hand. Sie war unkonzentriert.

Diego beobachtete sie, was ihr nicht verborgen blieb. Obwohl sie sich zusammennahm, merkte sie selbst, wie langsam sie die Fässer kontrollierte.

Irgendwann kam er auf sie zu. »Raus mit der Sprache. Was beschäftigt dich?«

»Nichts. Was soll schon sein?«

»Weil du schon seit zwanzig Minuten in das Gärfass starrst, ohne den Gärstand zu überprüfen.«

»Müssten nicht Vater und Mutter zurück sein?« Antonia prüfte die Gärung, gab etwas Zucker hinzu und legte den Holzdeckel auf das Fass.

»Raus mit der Sprache«, forderte Diego und nahm ihr die Zuckerkelle aus der Hand. »Was ist es?«

»Wir werden nach Kuba gehen«, platzte es aus Antonia heraus. »Und wenn wir uns dort eingelebt haben, dann kommt ihr alle nach. Die Ernten sollen dort ertragreich sein. Hier ist doch nichts mehr zu erreichen. Deshalb sind Vater und Mutter ja zu Suau gefahren, um ihm die Trauben zu verkaufen.« Je mehr Antonia ihrem Bruder von ihren Plänen erzählte, desto überzeugter war sie selbst davon. »Und du könntest dort auch als Fischer arbeiten. Wäre das nicht großartig?«

»Du bist noch nicht mal dort und willst mich schon überzeugen? Kuba. Weißt du etwas darüber?« Diego lehnte sich an das Zuckerfass. »Ich weiß nicht, ob das vernünftig ist. Ein fremdes Land. Keine Freunde.« Er schüttelte den Kopf. »So schlecht ist es hier auch wieder nicht.«

»Es ist aber auch nicht gut.«

Sie öffnete das nächste Gärfass und forderte Diego mit einem Kopfnicken auf, den Zucker einzustreuen. Das musste viermal am Tag gemacht werden, damit die Hefe den Alkoholgehalt perfekt erzeugte. Zu viel Zucker, und der Wein verdarb, zu wenig, und er würde wässrig schmecken. »Der Weinanbau kann nicht alle von uns ernähren. Nicht hier.«

»Aber auf Kuba? Wer sagt das?« Diego gab den Zucker in das Fass.

Antonia schloss den Deckel und ging zum nächsten Fass. »Mateo, seine Freunde sind ausgewandert, nach Venezuela, und sie empfehlen neuen Auswanderern Kuba, dort sei noch Geld zu verdienen.«

Diego hielt in der Bewegung inne. »Und das ist alles, was ihr wisst? Das ist Wahnsinn.«

»Den Mutigen gehört die Welt!« Sie sagte es leichthin, obwohl sie Diegos Bedenken teilte. Doch was war hier ihre Zukunft? Und wenn andere Erfolg hatten, warum nicht auch sie?

Leo stürmte in die Kellerei. »Vater wurde niedergestochen! Der versoffene Jaume hat ihn fast getötet.«

Antonia ließ den Gärdeckel fallen. Der Knall ließ sie zusammenzucken. »O mein Gott!«

»Wird Vater es überleben? Ist er schwer verletzt?« Diego hob den Deckel auf und verschloss das Fass. »Wo ist er?«

»In einer Klinik in Palma. Mutter hat einen Boten schicken lassen.« Leos Gesicht war feuerrot vor Aufregung.

»Was sagen die Ärzte? Wird er wieder gesund?« Antonia würde am liebsten die Informationen aus Leo herausschütteln.

»Ja, es wird ein bisschen dauern, doch er hat Glück gehabt. Mutter sagt, wir sollen uns um das Weingut kümmern. Sie wird Vater pflegen.«

Diego sah es wohl auch so. Er nahm eine Flasche Wein aus einem der Verkaufsregale und goss drei Gläser ein. »Wo ist Carla?«

»Sie hat noch mit einer Freundin gesprochen, da bin ich vorgelaufen«, erklärte Leo. Hastig trank er einen Schluck aus dem angebotenen Glas. »Oh, der ist gut. Vom letzten Jahr?«

Antonia schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnte Leo sich in einem solch tragischen Moment auf den Geschmack des Vorjahresjahrgangs konzentrieren? Es ging um das Leben ihres Vaters.

»Ach, da seid ihr.« Carla stellte die Schultasche auf dem Boden ab. Sie sah die Gläser auf einem Fass stehen und blickte ungläubig von einem zum anderen. »Was ist geschehen?«

»Vater wurde von Jaume schwer verletzt, und Antonia …«, er unterbrach seine Ausführungen, als sie heftig den Kopf schüttelte. Es war der falsche Moment, um ihren Geschwistern von ihren Plänen zu erzählen. Erst musste Vater wieder völlig gesund sein, vorher war an Auswanderung nicht zu denken.

»Jetzt trinkt jeder ein Glas Wein, um die Nerven zu beruhigen.« Antonias Stimme klang bestimmend. »Dann kümmern wir uns um die Arbeit, und morgen ist ein neuer Tag.«

Ohne zu murren, machten sich alle an die Arbeit. Als sie fast fertig waren, ging Antonia nach Hause, um das Essen vorzubereiten. Sie schnitt das am Morgen gebackene Brot, stellte eine Karaffe Olivenöl auf den Tisch, dazu etwas Käse und die Tomaten aus dem Gartenbeet. Das musste genügen. Es war schon spät. Der anstrengende Tag steckte ihr in den Knochen, und sie sehnte sich nur noch danach, nach dem Essen ins Bett zu gehen und bis zum nächsten Morgen zu schlafen. Sie hoffte, die Sorge um den Vater würde sie nicht die halbe Nacht wach halten.

Was, wenn er es doch nicht überlebte? Der Gedanke blieb hartnäckig in Antonias Kopf. Auf gar keinen Fall könnte sie Mutter im Stich lassen, niemals. Das durfte einfach nicht sein! Und wenn doch?

Dann müsste Antonia bleiben, und Diego auch. Ihre eigenen Wünsche müssten sie zurückstellen, bis Leo und Carla alt genug waren und sie zusammen mit Mutter das Weingut bestellen konnten.

Darüber sprachen sie nicht. Antonia fragte Leo und Carla über ihren ersten Schultag aus, um sie abzulenken. Beide berichteten vom neuen Lehrer und wie sehr sie sich darauf freuten, wenn die Schule vorbei und sie endlich erwachsen wären, um sich von den Lehrern nichts mehr vorschreiben lassen zu müssen.

Carla half Antonia beim Abwasch. Auch sie schien müde zu sein. Diego drehte noch eine Runde über den Hof, bevor auch er die knarrenden Treppenstufen nach oben stieg.

Antonia schlief ein, sobald ihr Kopf das Kopfkissen berührte.

7

Die Sorge um ihren Vater ließ Carla nicht schlafen. Dazu kam noch, dass ihr neuer Klassenlehrer sehr streng war. Ein Mitschüler war nur zwei Minuten zu spät zum Unterricht gekommen und musste nun zur Strafe vier Gedichte auswendig lernen. Dazu hatte er noch zwei Schläge mit dem Stock bekommen. Für jede Minute einen.

Wenn sie nicht aufpasste, drohte ihr das auch bald. Doch was konnte sie dafür, wenn sie ausgerechnet morgens immer so müde war? Zudem brauchte sie auch länger als ihre große Schwester, um in Schwung zu kommen. Antonia stand auf und strotzte nur so vor Energie. Das machte es für Carla noch schwerer, weil ihr allein vom Zusehen schon schwindelig wurde.

Carla lag wach und konnte mit niemandem reden, weil Antonia sofort eingeschlafen war. Wie es Vater wohl ging?

Und warum hatte Jaume überhaupt auf ihn eingestochen? Obwohl ihre Weinfelder aneinandergrenzten, kannte sie ihn kaum. Vor langer Zeit hatte er nach der Arbeit auf ein Glas Wein mit Vater zusammengesessen, aber das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Auch dafür kannte sie nicht den Grund. Es nervte Carla, dass man sie immer noch wie ein Kind behandelte. Immerhin besuchte sie nun das letzte Schuljahr, würde anschließend voll auf dem Feld mitarbeiten, wie Antonia und Diego auch. Das letzte Schuljahr musste sie aber noch irgendwie hinter sich bringen. Und um Prügel zu vermeiden, musste sie jetzt unbedingt sofort einschlafen. Allein der Gedanke setzte sie unter Druck, da war an Einschlafen gar nicht zu denken. Selbst die gleichmäßigen Atemzüge von Antonia halfen nichts. Im Gegenteil, jetzt beschwerte sich auch noch ihr Darm. Nichts hasste Carla mehr, als nachts über den Hof auf die Toilette zu müssen. Außer der Schule vielleicht.

Sie schlug die Bettdecke zurück, kroch heraus. Mit tastenden Fingern suchte sie nach den Zündhölzern und der Petroleumlampe. Beides nahm sie mit vor die Tür. Antonia könnte aufwachen, und wenn sie sie aufweckte, wäre ein Streit unvermeidbar.

Vor der Zimmertür entzündete sie die Lampe und schlich die Treppe hinunter. Sie schlüpfte in die Schuhe, öffnete die Tür und fröstelte augenblicklich, als sie auf den Hof trat. Die kalte Nachtluft kroch ihr in die Knochen. Eilig ging sie zum Plumpsklo hinter dem Haus.