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Ein wirklich gutes Leben führen – jeder will es, doch es lässt sich nur schwer erreichen und häufig nicht auf Dauer festhalten. Dennoch gibt es Menschen, die es besser hinbekommen als andere. Doch wie gelingt ihnen das? Autorin Petra Bartoli y Eckert hat sich auf den Weg gemacht, um Antworten zu finden: Drei Wochen lang. Mit dem Rucksack und zu Fuß. Durch das Salzburger Land, durch Bayern, Baden-Württemberg und Tirol. Bei herrlichstem Sonnenschein und nasskaltem Regenwetter. Durch wundervolle Landschaften und trostlose Industriegebiete. Dabei ist sie Menschen begegnet, die verstanden haben, wie das gute Leben funktioniert. 15 davon hat sie interviewt – bekannte und unbekannte. Eines haben all diese Menschen gemeinsam: Sie haben sich bewusst dazu entschieden zufrieden zu sein. Sie können loslassen, verzeihen, das Positive sehen. Das Fazit: Die Belohnung für ein gutes Leben bekommt man meist sofort – nämlich ein gutes Leben.
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Seitenzahl: 287
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Ein wirklich gutes Leben führen – jeder will es, doch es lässt sich nur schwer erreichen und häufig nicht auf Dauer festhalten. Dennoch gibt es Menschen, die es besser hinbekommen als andere. Doch wie gelingt ihnen das? Autorin Petra Bartoli y Eckert hat sich auf den Weg gemacht, um Antworten zu finden: Drei Wochen lang. Mit dem Rucksack und zu Fuß. Durch das Salzburger Land, durch Bayern, Baden-Württemberg und Tirol. Bei herrlichstem Sonnenschein und nasskaltem Regenwetter. Durch wundervolle Landschaften und trostlose Industriegebiete. Dabei ist sie Menschen begegnet, die verstanden haben, wie das gute Leben funktioniert. 15 davon hat sie interviewt – bekannte und unbekannte. Eines haben all diese Menschen gemeinsam: Sie haben sich bewusst dazu entschieden zufrieden zu sein. Sie können loslassen, verzeihen, das Positive sehen. Das Fazit: Die Belohnung für ein gutes Leben bekommt man meist sofort – nämlich ein gutes Leben.
Petra Bartoli y Eckert, geboren 1974 in der Nähe von Regensburg in Bayern, studierte Sozialpädagogik und arbeitete über 14 Jahre lang mit verhaltensoriginellen Kindern und Jugendlichen. 2007/08 machte sie eine Ausbildung zur Drehbuchautorin und denkt sich seitdem Geschichten aus – wenn sie nicht gerade ihrer Leidenschaft, dem Wandern, nachgeht. Von ihr sind zahlreiche Sachbücher, Rundfunkgeschichten, Kinder- und Jugendromane erschienen.
Petra Bartoli y Eckert lebt und arbeitet in Regensburg.
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© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022
ISBN 978-3-8000-7788-5
ISBN 978-3-8000-8220-9 (e-book)
E-Book-Ausgabe der 2022 im Carl Ueberreuter Verlag erschienenen Buchausgabe.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.
Lektorat: Maria-Christine Leitgeb, www.diesprachagentur.com
Cover: Grafik: © Pavel Konnikov /iStock, Foto: © privat
Innenteil: Karten: © s-stern.com, Zeichnungen: © shutterstock
Gestaltung & Grafik: Saskia Beck, s-stern.com
Satz: Sabina Karasegh, skgh.at
Konvertierung: bookwire.de
www.ueberreuter.at
PETRA BARTOLI Y ECKERT
Begegnungen auf der Suche nach dem guten Leben
Wie funktioniert ein „gutes Leben“?
Unterwegs in Oberbayern und Tirol
1. Sich Zeit lassen
Interview mit dem Fotografen Georg
2. Die individuelle „Bestimmung“ finden
Interview mit der Schamanin und Theologin Dr. Birgit Schneider
3. Dankbar sein für das, was ist
Interview mit Theaterwissenschaftler, Regisseur, Komponist, Schauspieler und Erzieher Harry Helfrich
4. Neues Lernen
Interview mit Qigong- und Tai-Chi-Lehrerin Silke
5. Teil von etwas Größerem sein
Interview mit Politikwissenschaftler, Schauspieler und Mitarbeiter der Kinderhilfsorganisation SOS-Kinderdorf Walter Anyanwu
Unterwegs in Baden-Württemberg
6. Dem Bauchgefühl trauen
Interview mit Hebamme Kathrin Stenger
7. Die eigene Endlichkeit annehmen
Interview mit Gärtner Dieter
Begegnungen in den Bergen und in Salzburg
8. Den kleinen Dingen Beachtung schenken
Interview mit der 80-jährigen Bergwanderin Anastasia Auer
9. Die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen
Interview mit Coach Willi Geisbauer
10. Zusammen zufrieden
Interview mit dem Ehepaar Aloisia und Alois Schnöll
Unterwegs in München und Umgebung
11. Verzeihen können
Interview mit Kriminalkommissar Manfred Schwarz
12. Im Innen sein, statt ständig im Außen
Interview mit Ordensschwester Veronika
13. Eintreten für mehr Würde
Interview mit Pfarrer Rainer Maria Schießler
14. Das, was man tut, mit ganzem Herzen tun
Interview mit Pferdehofbesitzerin Renate
Zurück in Regensburg
15. Das eigene Potenzial nutzen
Interview mit Journalistin Isolde
Eine Schatzkiste voller Fundstücke
Sieben Fragen, um dem guten Leben auf die Spur zu kommen
Mit Abstand betrachtet
Wie schön wäre es, wenn wir irgendwann auf unser Leben zurückblicken und ohne Abstriche sagen könnten: „Es war gut.“ Wenn letztlich die Freude überwiegen würde. Wenn unter all den Höhen und Tiefen, die wir erlebt haben, ein Teppich unerschütterlicher, tiefer Zufriedenheit liegen würde.
Diese Gedanken beschäftigten mich eines Morgens, als ich aus dem Fenster blickte, während die Umgebung hinter einem Vorhang aus Dauerregen verschwamm. Ich fühlte mich rastlos und gleichzeitig unfähig, etwas zu unternehmen. Dabei gab es keinen Grund, deprimiert zu sein: In meinem Leben lief es einigermaßen rund. Ich war gesund, hatte ein schönes Zuhause, eine Familie, in der alle füreinander da waren. Und dennoch nagte in mir eine dumpfe Sehnsucht nach besser, glücklicher, mehr … Doch allein der Gedanke daran, aus meinem Dasein noch etwas Besseres herausholen zu wollen, verstärkte meine innere Unruhe nur. Denn er führte mir gleichzeitig vor Augen, dass ich vielleicht gerade in diesem Moment die Chance vergab, dieses „Besser“ erreichen zu können. Ich tat mir plötzlich selbst sehr leid. Ich wollte Sonnenschein, jede Menge Endorphine, ein wenig Glamour – und zwar bitte sofort und frei Haus!
Der Regen hörte irgendwann auf, und meine Stimmung besserte sich wieder. Dennoch war dieser melancholische Abstecher eine Art Initialzündung für mich gewesen. Ich wollte es endlich wissen: Wie geht das mit Glück und Zufriedenheit denn eigentlich? Ist das überhaupt machbar? Ist Zufriedenheit gleichzusetzen mit einem „guten Leben“? Wie lässt sich ein gutes Leben führen, in dem man sich wohl fühlt und das Wohl der anderen mit berücksichtigt? Und ist gut nicht zu fade, zu wenig spektakulär in der heutigen Zeit? Wie schafft man es, dass gut gut genug ist und nicht immer super, mega oder perfekt sein muss? Ich fing an, Bücher über Wege zu mehr Lebenszufriedenheit zu lesen. Ich habe mich umgesehen, wo überall Glück und Zufriedenheit angepriesen werden: In der Werbung, in Horoskopen oder Fortbildungen zum Thema wurden Glück und Zufriedenheit geradezu auf dem Silbertablett serviert. Man musste nur zugreifen, das Richtige konsumieren, sich an Anweisungen halten. Wenn man es dann nicht schaffte, glücklich und zufrieden zu sein, wäre man ja eigentlich selbst schuld. Ich merkte, dass mich das alles andere als zufriedenstellte. Auch zum Thema „gutes Leben“ habe ich mich kundig gemacht. In den sozialen Medien werden unter #gutesleben Essensfotos, Kinder-, Tier- und Naturbilder, Sprüche, Poserfotos und diverse Selbstinszenierungen gepostet. Damit assoziierte ich mehr, dass allein guter Käsekuchen, eine tolle Bikinifigur und ein Glas Wein bei Sonnenuntergang ein gutes Leben ausmachen würden. Aus hedonistischer Sicht vielleicht – aber wenn überhaupt, dann ganz sicher nicht auf Dauer und nur für diejenigen, die es sich leisten konnten. Das brachte mich auch nicht wirklich weiter. Also musste ich anders an die Sache herangehen. Mein Leben war an sich gar nicht so schlecht. Aber war es wirklich gut? War ich damit zufrieden? Nicht immer. Viel zu oft war ich mit meinem Kopf in der Zukunft: Ich werde bestimmt absolut zufrieden sein, wenn endlich … (dieses oder jenes geschafft ist oder eintritt). Dabei übersah ich dann häufig Dinge, die schon jetzt gut waren. Denn so richtig gut würde es ja erst noch werden. Mir kam der Gedanke, dass ich mit der Einstellung vielleicht kleine Erfolge, gemeisterte Herausforderungen, schöne Begegnungen oder einfach einen Moment Ruhe ohne Beachtung vorbeiziehen ließ und mir so einiges entging, was ein gutes Leben eigentlich ausmachte.
Über Monate hinweg habe ich mich in meiner Umgebung umgesehen. Wie mir ging es vielen Menschen. Einigen schien nichts im Leben zu fehlen – außer Zufriedenheit. Aber dann sind mir da auch noch die anderen begegnet: Menschen verschiedenster Herkunft und mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen, die außergewöhnlich zufrieden und in sich ruhend waren, auch und vor allem den kleinen Dingen Beachtung schenkten und ein erfülltes Leben führten. Parallel dazu habe ich angefangen, zahlreiche Menschen zu fragen, wer aus ihrer Sicht denn ein gutes, gelingendes, zufriedenes Leben führen würde – ja vielleicht sogar so etwas wie alltagsweise sei. Denn diese Menschen müssten ja wissen, wie das mit dem guten Leben funktionierte. Ich habe sozusagen zufriedene Menschen gesammelt. Solche, denen ich selbst begegnet bin und solche, denen andere begegnet waren. Es kamen etliche zusammen. Die habe ich fein säuberlich notiert und abgespeichert. Es dauerte etwas, bis ich es schaffte, einen Plan zu entwickeln. Mir war klar, dass ich die besonders zufriedenen Menschen nicht so einfach zu ihrem Leben und ihren Erfahrungen befragen und Gespräche per Telefon oder Videochat führen wollte. Ich wollte mich im wahrsten Sinne des Wortes auf den Weg machen. Meine Suche nach Glück, Zufriedenheit und nach allem sonst, was es eben für ein gutes Leben braucht, sollte ohne Termindruck, ohne vorgegebenes Korsett stattfinden. Ich wollte – zumindest überwiegend – zu Fuß unterwegs sein. Und ich wollte Zeit für neue Erkenntnisse und Erfahrungen haben. Ich legte also die Regionen fest, in denen ich unterwegs sein wollte, schrieb die Menschen, die ich größtenteils gar nicht kannte, an und bat um ein Treffen. Und war wirklich erstaunt, denn die allermeisten sagten sofort zu. Ende Juni 2020 packte ich meinen Rucksack. Meine Suche nach dem guten Leben konnte beginnen.
Petra Bartoli y Eckert
An einem warmen Frühsommertag starte ich meine Suche nach dem guten Leben im Norden von Oberbayern. Der Rucksack drückt auf meine Schultern und fühlt sich noch etwas fremd an. Ich habe mich beim Packen sehr beschränkt: genau abgezählte Wechselwäsche, Waschzeug, ein kleines Notizbuch und ein Bleistift, Sonnenschutz und Regenkleidung, mein Handy mit Aufnahmeequipment und ein paar gespeicherte Hörbücher. Kein Buch zum Durchblättern. Dafür reichte der Platz nicht. Auf meiner Suche werden mich neun Kilogramm zusätzliches Gewicht begleiten. Ich ziehe die Schulterriemen zurecht. Die richtige Position habe ich noch nicht gefunden. Aber für die erste Etappe wird es schon gehen. Für heute ist ein Treffen mit Georg, einem Fotografen mit bewegter Biografie, geplant. Es ist nicht unsere erste Begegnung, es gab vor einigen Jahren bereits ein flüchtiges Kennenlernen. Damals war ich in Marokko unterwegs. Für einen Abstecher in den Jardin Majorelle habe ich mich einer Fotoreisegruppe angeschlossen, die Georg leitete. Ich war von seiner ausgeglichenen, besonnenen Art sofort beeindruckt. Damals dachte ich mir: Der ruht in sich und weiß, wie man es schafft, zufrieden zu sein.
Jetzt möchte ich wissen, ob ich richtig liege und was er dazu sagt. Am Telefon hat mir Georg sofort zugesagt, sich mit mir treffen zu wollen – allerdings gab er zu bedenken, dass er nicht wisse, ob er sich als Mensch, der ein gelingendes Leben führt, eignen würde. Aber ja, zufrieden sei er schon. Und von seinem Leben erzähle er mir gerne.
Mein Weg zu Georg führt mich an dunkelgrünen, ordentlich gereihten Hopfenfeldern vorbei. Die noch jungen Kletterpflanzen recken sich kraftvoll an den Rankhilfen nach oben, aber es wird noch etwas dauern, bis sie ihre endgültige Höhe von bis zu neun Metern erreicht haben werden und die Dolden im Spätsommer dann abgeerntet werden können. Die Sonne strahlt. Es ist ein schöner Tag. Ich bin in geradezu feierlicher Stimmung, als ich die kleinen Nebenstraßen, die links und rechts von saftigen Birken gesäumt sind, entlanggehe. Ich fühle mich so frisch wie das Grün der kleinen Blätter, die von einer sanften Brise hin und her gewiegt werden. Interessant, wie wach mich die Neugierde auf das Bevorstehende macht.
Das Haus von Georg finde ich auf Anhieb. Bevor ich auf den Klingelknopf drücke, atme ich erst einmal tief durch. Hoffentlich entpuppt sich meine Suche nicht als totaler Blödsinn, geht es mir durch den Kopf. Aber jetzt bin ich ja schon mal da. Ein Zurück wäre jetzt auch keine Option. Ich straffe meine Schultern unter den gepolsterten Rucksackriemen und klingle. Es kann losgehen. Die Tür öffnet sich schwungvoll, und ich werde mit einem warmen Lächeln von Georg in Empfang genommen. Nach ein paar Begrüßungsworten frage ich, ob wir lieber gemeinsam eine Runde gehen oder uns irgendwo hinsetzen sollen. Georg lacht. „Magst vielleicht erst mal einen Kaffee?“
Eine gute Idee! Mit einer Tasse zum daran Festhalten redet es sich schließlich leichter. Der Beginn des Gesprächs ist dann so locker-leicht, dass es sich anfühlt, als wären wir schon lange gute Freunde. Ich trinke einen Schluck und richte meine Aufmerksamkeit auf Georg. Im Internet habe ich gelesen, dass er Fotograf, aber auch Theologe und NLP-Trainer ist und Webseiten gestaltet.
„Das ist eine ganze Menge. Wer oder was bist du denn nun?“, will ich von ihm wissen.
Georg lacht. „Wenn ich das wüsste …“
Dann überlegt er eine Weile.
„Ja, das ist wirklich meine Krux, dass ich so viel Verschiedenes mache und immer noch auf der Suche bin: Wer bin ich eigentlich, wo möchte ich hin?“
Georg schweigt einen Moment. Es sieht so aus, als müsste er Anlauf nehmen. Dann redet er weiter. „Ich fange mal einfach von vorne an zu erzählen: Als ich ein kleiner Junge – drei Jahre alt – war, da haben meine Mutter und meine Oma einen Test mit mir gemacht. Sie haben einen Geldbeutel, ein Stück Brot und einen Rosenkranz auf den Tisch gelegt. Ich sollte mir eines davon aussuchen. Und ich hab mir den Rosenkranz genommen. Der hat mir am besten gefallen. Dann stand fest: Der Bub wird Pfarrer. Und in diese Rolle bin ich sozusagen ‚hineingewachsen worden‘. Ich hab dann auch tatsächlich mein Theologiestudium begonnen. In der Phase wollte ich wirklich Priester werden. Bis zu meinem Studium bin ich aus der Erwartung nicht mehr rausgekommen: ‚Der wird mal Pfarrer.‘ Und dann war das eben meine Rolle. Das hat mich geprägt. Meine Oma hat mir von da an auch immer Bücher geschenkt, zum Beispiel von Pater Pio, einem italienischer Wundmalträger. Das Schlimmste war für mich, dass ich während der Pubertät immer wieder einen Traum hatte: Da war ich verheiratet und hatte Kinder. Aber das durfte ich ja nicht, weil ich berufen war.“
Georgs und mein Blick treffen sich. Ich bin von Georgs Offenheit berührt. Schweigend trinken wir beide unseren mittlerweile lauwarmen Kaffee.
„Hast du dich damals berufen gefühlt?“, frage ich.
Georg überlegt. „Ich weiß nicht. Ich hatte eher das Gefühl, ich wachse da in ein Bewusstsein rein, dass ich etwas Besonderes bin“, meint er. „Im Nachhinein hat das meine Rolle als Ministrant noch gestützt. Da fühlt man sich tatsächlich als etwas Besonderes, wenn man in der Kirche vorne steht und den Altar vorbereitet.“
Ich sehe, wie Georg seine Schultern hochzieht. Dann seufzt er. „Ich glaube, das war nicht gut“, fügt er ergänzend hinzu.
Vor meinem geistigen Auge tauchen Textfragmente von Georgs Homepage auf. Dort schreibt er viel von Berufung. „Glaubst du, jeder Mensch ist irgendwie berufen?“, will ich wissen.
„Ja, das glaube ich. Aber damit meine ich eine andere Berufung als die Hinführung auf den Priesterberuf. Früher war mit ‚Berufung‘ auch wirklich nur gemeint, dass jemand Pfarrer wird. Da gab es nichts anderes. Dass jeder Mensch im Leben eine Aufgabe hat, diesen Gedanken gibt es noch gar nicht so lange.“
Jetzt bin ich neugierig geworden. „Und was ist deine Berufung?“, frage ich nach.
„Ich sehe es als meine Berufung, dass ich Menschen über Bilder an ihre eigene Kraft heranführe. Also über innere Bilder, über äußere Bilder und auch über Fotografie. Das ist der rote Faden, den ich gefunden habe.“
Bilder also. Das klingt stimmig. Ich lasse meinen Blick durch Georgs gemütliches Wohnzimmer schweifen. Warme Farben dominieren den Raum. Viele Fenster umrahmen den Blick in den Garten.
„Wann bist du denn zum ersten Mal bewusst Bildern begegnet und hast gemerkt, dass sie für dich eine Bedeutung haben?“, hake ich nach.
Georg lächelt. „Gute Frage“, meint er, lehnt sich zurück und reibt sich mit der Hand über den Nacken. „Bewusst haben Bilder für mich eine Bedeutung bekommen, als ich damals aufgehört habe, bei der Kirche zu arbeiten. Ich habe eine Fortbildung gemacht, bei der es um die eigene Berufung ging. Ein Thema war dabei der sogenannte Identitätsdiamant. Das Bild vom Diamanten hat mir sehr gut gefallen.“
Georg malt die Form eines Diamanten in die Luft. Dann fährt er fort. „Da habe ich auch eine Idee bekommen, was ich als meine Berufung sehe. Das hat sich in allen Lebensbereichen dann wiedergefunden: Ich möchte Menschen zu ihrem ‚Eigenen‘ hinführen. Als ich schließlich begonnen habe, Fotografie auch in Kursen anzubieten, ging das immer mehr in die Richtung Meditative Fotografie. Das bedeutet, dass ich nicht einfach drauflos fotografiere, sondern dass ich ‚meine Bilder’ finde, dass ich offen dafür bin, was und wem ich begegnen möchte. Dann entstehen Bilder, die Kraft vermitteln.“
Auch ich mache natürlich Fotos. Daran muss ich jetzt denken: Ich knipse. Immer dann, wenn mir etwas gefällt, öffne ich die Kamera meines Handys und drücke auf den Auslöser. Ich will den Moment einfach festhalten. Manchmal auch nicht einfach, sondern mehrfach. Dabei habe ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob diese Bilder mir später mehr sagen als das, was auf den Aufnahmen auf den ersten Blick zu erkennen ist. Das bringt mich ins Grübeln. „Kann man so etwas lehren? Bilder zu machen, die Kraft vermitteln?“, frage ich nach.
„Ja, ich glaube schon. Ich habe schon viele Kurse zum Thema Meditative Fotografie angeboten. Die Rückmeldungen waren meist, dass bei den Leuten während des Kurses viel passiert ist. Sie sagen: ‚Ich fotografiere jetzt viel bewusster. Ich habe Bilder, die mir etwas sagen.‘“
Georgs Blick wirkt für einen Moment nicht fokussiert. Er lächelt und seine Gesichtszüge erscheinen weich. „Wenn es um Meditative Fotografie geht, dann bin ich ganz bei mir selbst“, sagt er. Ob zu mir oder einfach in den Raum bleibt offen.
„Dann hörst du also immer wieder einen inneren Ruf, der dich in eine bestimmte Richtung begleitet?“, will ich wissen.
„Ja“, sagt Georg. Ohne weitere Erklärung. Es ist alles gesagt.
Eine Weile sehen wir beide schweigend aus dem Fenster. In Georgs Garten lassen sich ein paar Vögel auf einer Hecke nieder.
Ich versuche, noch ein wenig mehr über Georgs Leben, über seine Geschichte vor und hinter den Fotos zu erfahren.
„Ich gehe mit dir jetzt noch einmal zurück. Du hast dein Theologiestudium beendet. Danach war sicher eine Entscheidung notwendig“, stelle ich fest.
„Ja, ich hab – statt Priester zu werden – geheiratet und eine Anstellung als Pastoralreferent angetreten. Fünf Jahre war ich in einer Pfarrei. Danach habe ich ins Seelsorgeamt des Ordinariats gewechselt. Dort war ich 15 Jahre. Am Ende dieser Zeit hatte ich dann eine schwere Lebenskrise. In meiner Ehe wurde es schwieriger, und es gab Probleme. 1997 bin ich ausgezogen. 2000 war die Scheidung. 2003 habe ich wieder geheiratet.“
Georg schweigt kurz. Dann fügt er an: „Und das war gut.“
Ich sehe, wie Georg schmunzelt. Das verleiht dem „Gut“ Leichtigkeit.
„Ich habe wahrgenommen, dass du radikale Schritte in deinem Leben im Rückblick als gut für dich bezeichnest“, stelle ich fest.
Georg wiegt seinen Kopf hin und her. Dann meint er: „Der Weg an sich war nicht leicht. Aber im Rückblick sehe ich, dass ich drei tolle Kinder habe, für die ich sehr dankbar bin. Das fünfte Enkelkind ist gerade unterwegs.“ Georg lächelt. Es wirkt, als wolle er damit unterstreichen, dass in der Rückschau die Puzzleteile seines Lebens jetzt am richtigen Platz zu liegen gekommen sind. „Meine erste Frau und ich waren wahrscheinlich zu unterschiedlich, darum ist die Beziehung vermutlich gescheitert. Aber am Schluss hat alles irgendwie gestimmt. Oder überhaupt: Am Schluss stimmt es. Ich habe ein tolles Verhältnis zu meinen drei Kindern. Es war alles kein einfacher Weg, aber ein Weg, der wohl irgendwie richtig war. Ich denke oft, dass man – auch von schwierigen Situationen – im Nachhinein immer etwas mitnehmen kann.“
Georg schweigt einen Moment. Ich will schon etwas in die Stille sagen, halte aber dann doch inne. Georg fährt fort: „Mein Theologiestudium hatte vielleicht einfach nur den Sinn, dass ich für mich gemerkt habe: Ich möchte Seelsorge betreiben. Die ganze Dogmatik, die während des Studiums dabei war, hat mich ziemlich wenig interessiert.“ Jetzt lacht Georg und seine Augen lachen mit. „Das tut es bis heute nicht. Aber das Thema Seelsorge kommt bei mir auch beruflich jetzt immer wieder mit rein. Ich glaube, das ist irgendwie meine Berufung: Menschen zu begleiten.“
Mit dem Kinn deutet Georg auf meine Kaffeetasse. Dankbar halte ich sie ihm hin. Das Rattern der Kaffeemaschine untermalt die Pause. Würziger Duft von gemahlenen Bohnen erfüllt den Raum. Als Georg wenig später mit zwei aufgefüllten Tassen wiederkommt, setzen wir unser Gespräch fort.
„Du hast dich aber erst einmal bewusst von der kirchlichen Seelsorge verabschiedet. Ich meine, Scheidung und erneute Heirat bedeuten im kirchlich-katholischen Kontext ja, dass man seine Stelle verliert. Da hast du auf einen Schlag ziemlich viel verloren“, spreche ich meine Gedanken laut aus. Georg nickt.
„Ja. Der größte Verlust war mein Auszug. Meine Kinder waren gerade erst in der Pubertät. Das war für mich sehr schwer. Und schmerzhaft. Es war eigentlich das Schmerzhafteste überhaupt, meine Kinder zurückzulassen.“
Ich sehe, dass die Worte Georg nicht unberührt lassen. Auch mein Hals wird für einen Moment eng. Dann seufzt Georg und fährt fort. „Es hat dann auch lange gedauert, bis meine Kinder wieder Kontakt zu mir zulassen konnten. Ich wollte ihnen alle Zeit lassen, die sie brauchten. Es war gut, dass ich das durchgehalten habe. Es war wirklich ein langer Prozess bis zur Heilung. Ich glaube, mit den Kinder ist jetzt alles gut. Bei anderen Sachen braucht es noch Zeit.“
Dieses offene Resümee beeindruckt mich.
„Was hilft dir – damals und heute –, mit schweren Situationen umzugehen? Einen langen Atem zu haben?“, möchte ich wissen.
Georg lacht. „Ja, das mit dem langen Atem ist vielleicht meine Strategie.“
„Bist du ein geduldiger Mensch?“, lasse ich nicht locker.
Georg lässt mich gewähren. Er nickt mir zu, als wolle er meine Frage legitimieren. „Ja, manchmal zu geduldig. Die Krise hat bei mir fünf Jahre gedauert. Ich glaube, das war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Eine Zeit, eine Zwischenphase, wo nichts entschieden war. Wo du nicht weißt, wo du hingehörst. Was auch verwirrend war: Ich habe meine jetzige Frau genau in dieser Zeit an der Arbeitsstelle kennengelernt. Und wir haben festgestellt, dass wir seelenverwandt sind, oder wie man das auch nennen will. Das hat die Spannung aber noch erhöht. Ich war damals ja noch verheiratet. Das hat ziemlich viel Stress ausgelöst: Probleme zu Hause, eine neue Beziehung und die wachsamen Augen des Arbeitgebers Kirche.“
Georg schweigt kurz, ehe er den Faden wieder aufnimmt. „Es war eine gute Sache, dass ich damals schon als Computerbeauftragter der Diözese für den Aufbau der ersten Internetseite zuständig war. Die Kompetenzen, die ich dadurch erworben habe, waren dann das Sprungbrett in die Selbstständigkeit. Begonnen hab ich sozusagen als Pionier im Webdesign.“
Über das Webdesign zur Leidenschaft für Fotografie – und zu einer neuen beruflichen Aufgabe, die Georg erfüllt: Ich stelle fest, dass es manchmal einen Umweg braucht, um zu sich selbst zu finden. Und Geduld – etwas, das mir allzu häufig fehlt.
„Mir ist aufgefallen, dass ganz unten in deiner Vita steht, dein wichtigster Wert sei die Freiheit. Was ist das für dich?“, frage ich.
Georg muss nicht lange überlegen.
„Dass ich selbst entscheiden darf, wie und was ich lebe und was mir wichtig ist. Dass mir niemand vorschreibt, was ich zu tun habe. Dass ich meine Kreativität leben darf, so wie ich es mir vorstelle. Es ist nicht immer leicht, frei und selbstständig zu sein. Aber ich habe es noch keinen Tag bereut! Ich würde nicht noch einmal zurückgehen.“
Ist Freiheit aber auch gleichbedeutend mit Zufriedenheit? Geht das Hand in Hand? „Würdest du dich als zufriedenen Menschen bezeichnen?“, frage ich nach.
Georgs Antwort kommt schnell und mit fester Stimme: „Ja, schoo!“
„Was ist für dich der Unterschied zwischen Glück und Zufriedenheit?“, frage ich weiter.
„Das ist so ziemlich dasselbe für mich“, meint Georg und zuckt mit den Schultern.
Ich versuche es mit einem Umkehrschluss: „Dann bist du also ein glücklicher Mensch?“
Jetzt wirkt Georg nachdenklich. „Ein glücklicher Mensch?“, wiederholt er meine Frage. „Nicht in allen Bereichen. Manchmal wäre ich gerne noch ein bisschen freier, würde gerne noch mehr umsetzen. Und es gibt natürlich auch bei mir die Momente, in denen ich mich gestresst fühle. Besonders wenn beim Fotografieren die Technik nicht so mag wie ich.“
Georg schmunzelt und wird dann wieder ernst.
„Und es gibt Situationen, in denen ich Angst vor der Zukunft habe. Oder einfach ohne Ruhe losfotografiere.“ Georg denkt kurz nach. „Aber im Grunde bin ich schon richtig glücklich. Und ich bin für vieles dankbar. Jeden Tag. Wenn ich morgens aus dem Fenster schaue, wenn ich die Natur sehe, Blumen und Tiere beobachte. Dafür, dass ich das jeden Tag genießen darf. Ich bin dankbar für meine Kinder, für meine Frau. Es gibt so viel, für das ich dankbar sein darf.“
In sich selbst ruhen – das ist die Assoziation, die ich habe. Mir fällt wieder das „Zeit-Lassen“ ein, von dem Georg gesprochen hat. Darum muss ich noch etwas nachfragen: „Wie geht es dir, wenn es manchmal sehr hektisch ist? Was bringt dich zur Ruhe und erdet dich?“
Georg dreht beide Handflächen nach oben. „Ich erlebe wenig Hektik. Ich habe auch keine Angst, irgendwie unterzugehen. Überhaupt nicht. Da gibt es bei mir so ein Urvertrauen: Ich bin getragen. Das hilft.“
Was für eine tiefe Überzeugung! Ich sehe Georg an und weiß, dass er alles genau so meint, wie er es gesagt hat.
„Kommt das aus dir? Oder wurde dir das mitgegeben?“ frage ich.
Georg lächelt mich an. „Ich glaube, das ist die Verbindung zu Gott – oder wie man das auch immer nennen mag. Ich sehe Gott als einen sehr weiten Begriff. Das hat wenig mit dem Verständnis der Kirche von Gott zu tun. Spiritualität ist mir hingegen sehr wichtig: die Verbindung zu etwas Größerem. Ich meditiere jeden Tag. Das brauche ich für mich. Das ist dann anders als Gott, wie ich ihn in meinem Theologiestudium gelehrt bekommen habe. Der wurde damals in eine Schublade gelegt. Da hieß es: ‚So ist er, so ist er nicht, dieser Gott.‘ Das ist dann für mich nicht mehr Gott. Da kann ich als Mensch doch nicht darüber bestimmen, wie eine göttliche Instanz ist oder zu sein hat.“
Ich glaube, ich kann den Gedanken folgen. Dennoch möchte ich es noch etwas genauer wissen: „Was ist dann Gott für dich?“
„Schwer zu sagen. Ich will Gott nicht als Person begreifen. Für mich ist Gott so etwas wie der Sinn, der hinter allem steckt. Und ich weiß, er ist da. Und ich bin sehr offen für verschiedene Denkweisen. Dabei hilft mir auch das Meditieren. Das schaffe ich in letzter Zeit glücklicherweise immer regelmäßiger“, erklärt mir Georg.
Mit einer Hand streiche ich über den Tisch. Er steht zwischen uns, doch wo in anderen Situationen diese Barriere vielleicht hilfreich ist und die nötige Distanz schafft, ist er jetzt einfach wie ein Geländer, an dem wir uns beide entlangtasten können. Ich lege den Kopf schief und wende mich wieder an Georg. „Gibt es jemanden, der dich in deinem Leben geprägt hat?“
Georg nickt und sieht dabei entschlossen aus. „Ja, den gibt es. Ich war neun Jahre im Internat. Wir sind dort streng erzogen worden. In den letzten beiden Jahren bekamen wir an der Schule einen neuen Chef. Der hieß Georg Weinzierl. Der war für mich ein großes Vorbild. So stelle ich mir einen richtig guten Seelsorger vor. Was der uns an kleinen Zeichen gezeigt hat, das hat bei mir gewirkt.“
Georgs Augen wandern nach links oben. Er scheint einer Erinnerung nachzuspüren.
„Wir hatten einen großen Speisesaal. Vorne gab es eine Bühne“, fährt er fort. „Dort oben saßen der Chef und die Präfekten beim Essen. Wenn die etwas übrig gelassen haben, haben sie einen von uns ausgewählt, den sie hergewinkt haben und der dann den Rest des guten Essens bekommen hat. Die erste Amtshandlung vom neuen Chef Weinzierl war, dass er das abgeschafft hat. Er hat sich einen Tisch ganz hinten in den Speisesaal gestellt und hat dort gegessen.“
Weitere Szenen fallen ihm nach kurzem Nachdenken ein. „Draußen am Sportplatz lag einmal ein Betrunkener im Straßengraben. Weinzierl ging nach draußen, hat ihm aufgeholfen, sein Radl geschoben und ihn nach Hause begleitet. Einen hat er betreut, der schon viele Kircheneinbrüche gemacht hat. Den haben wir mit Weinzierl auch einmal im Gefängnis besucht. Als der Häftling wieder frei kam, hat er das nächste Ding gedreht. Da hat sich Weinzierl wieder mit ihm zusammengesetzt. Er hat ihn einfach nicht aufgegeben. Damals habe ich mir gedacht: Ja, so könnte ich mir mein Leben auch vorstellen. So stelle ich mir Seelsorge vor. Das war der Grund, warum ich überhaupt doch mein Theologiestudium mit Priesterseminar angefangen und den Weg als Pfarrer eingeschlagen habe. Sonst wäre ich wahrscheinlich vorher abgesprungen. Im Studium habe ich dann aber gemerkt, dass das in der Theorie gar nicht dasselbe ist. Meine erste Frau hat mich dann sozusagen aus dem Priesterseminar wieder rausgeholt.“
Die Geschichte über Georgs Vorbild erzeugt bei mir eine intensive Resonanz. Es muss ein Segen sein, wenn Menschen wie diese den eigenen Weg kreuzen.
„Glaubst du, Menschen haben auf andere Menschen einen Einfluss? Einen Einfluss darauf, dass sich diese verändern?“, frage ich.
„Ja, mit Sicherheit. Auch ich wäre gerne so ein Mensch. Ein guter Begleiter. Aber ich denke, das hat man nicht in der Hand. Ich möchte nicht planen oder steuern, jemanden zu beeinflussen. Aber es wäre schön, wenn ich vielleicht an einem Punkt ein Vorbild sein kann. Ich freue mich, wenn ich das dann sein darf.“
Georg steht auf und greift nach meiner Tasse. „Magst noch einen Kaffee?“, fragt er und zwinkert mir zu.
Da sage ich nicht Nein. Ich bin gerade rundum zufrieden. Und dankbar dafür, dass Georg mir von sich und seinem Leben erzählt hat. Nach einer weiteren Tasse Kaffee beschließen wir, doch noch eine Runde miteinander zu gehen. Georg zeigt mir den See am Ortsrand – für ihn ein besonderer Kraftort.
„Kurz vor Sonnenaufgang ist hier jede Menge los: Vögel zwitschern um die Wette, Enten flattern, an der Wasseroberfläche tauchen Fische auf. Da bin ich allein und doch in guter Gesellschaft“, erzählt er mir bei unserer ersten Seeumrundung. Bei der zweiten Runde weist er mich auf die Magie des Lichts hier am See hin. Ich merke, wie gut es mir tut, mir die Zeit zu nehmen, um darauf zu achten. Und habe plötzlich eine Erkenntnis, die so banal klingt, dass ich lachen muss: Sich Zeit zu nehmen kann tatsächlich glücklich und zufrieden machen. Vielleicht nicht sofort. Das hat der Zeitfaktor so an sich. Denn sich Zeit zu nehmen – oder besser: sich Zeit zu lassen – braucht eben auch Zeit. Georg hat das für sich in der Meditativen Fotografie gefunden. Er erzählt mir, er habe sich dadurch den Raum geschaffen, bewusst schauen und aufmerksam wahrnehmen zu können. Das eine würde das andere dann auch bedingen: „Wenn ich mir Zeit nehme, kann ich aufmerksamer sein. Wenn ich bewusst schaue, entdecke ich mehr.“
Für Georg bedeutet Meditative Fotografie ohnehin „weniger ist mehr“. Er nehme sich beispielsweise vor, nicht mehr Fotos zu machen, als auf einen analogen Film passen würden. Nicht alles müsse fotografiert werden, was vor die Linse kommt. Ein Reduzieren täte gut. „Es hilft mir dabei, Ballast abzuwerfen.“
Aber nicht nur die Zahl der Fotos möchte er in der Meditativen Fotografie beschränken. Auch das, was auf dem Bild schließlich zu sehen ist, sei reduziert. Und auch mit Farben sei Georg sparsam. Oft reichten Schwarz und Weiß. „Das Motiv wird dadurch deutlicher und pur.“
Manchmal fotografiere er auch „leeren Raum“: endlosen Himmel, nur eine Baumkrone am Bildrand.
„Mir gelingt es, durch diese Art des Fotografierens Stress abzubauen. Meine Gedanken finden Ruhe. Da reicht oft schon eine Viertelstunde, sich auf ein einziges Motiv zu konzentrieren“, meint Georg und beschreibt es als ein „In-die-eigene-Mitte-Kommen“. Für ihn sei Meditative Fotografie nicht eine Technik, sondern eine Haltung. So könne es gelingen, dass Bilder eine Energie entwickeln: während des Fotografierens, und auch wenn die Bilder dann später irgendwo hängen und betrachtet werden.
Ich bekomme Lust, auch mal einen Kurs Meditative Fotografie bei Georg zu besuchen. Und ich fühle mich rundum wohl, zufrieden und richtiggehend geborgen. Ob das an Georgs Ausstrahlung oder an der Stille am See liegt, kann ich nicht sagen. Vielleicht an beidem.
Der Abschied fällt mir irgendwie schwer und ist ebenso herzlich wie die Begrüßung. Ich schultere meinen Rucksack und mache mich wieder auf den Weg. Erst mal zu einer kleinen Pension, in der ich übernachten werde. Morgen dann zum Bahnhof. Denn ich will meine Tour 150 Kilometer weiter im Süden fortsetzen. Während ich weitergehe, hänge ich meinen Gedanken nach. Das geht im Rhythmus der Schritte besonders gut. Was mich dabei am intensivsten begleitet, ist ein großes Glücksgefühl: Ich habe Zeit! Und ich kann und darf mir die Zeit auch lassen.
Am nächsten Tag frühmorgens sitze ich im Zug nach München, um dann von dort nach Bad Tölz weiterzufahren, wo ich meine nächste Interviewpartnerin treffen werde. Langsam werde ich etwas unruhig. Der Zug müsste sich längst in Bewegung setzen. Tut er aber nicht. Irgendwann kommt eine Durchsage: „Wegen Signalstörungen verzögert sich die Abfahrt unseres Zuges auf unbestimmte Zeit.“ Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich bin noch gar nicht losgefahren und weiß jetzt schon, dass ich meinen Anschlusszug in München nicht erreichen werde. Gerade war ich noch so beseelt von meiner ersten Begegnung gestern und der Aussicht auf das Treffen heute. Jetzt merke ich, dass es mit meiner Ruhe schnell vorbei ist. Ich bin genervt und schaue immer wieder nervös auf die Uhr. Ich werde zu meiner nächsten Begegnung zu spät kommen. Meine Suche nach dem guten Leben geht ja gut weiter … Ich versuche, zu atmen und mich weniger von meinen stetig kreisenden Gedanken leiten zu lassen. Sich Zeit lassen – die Erkenntnis von gestern wiederhole ich sozusagen als Mantra gedanklich in Dauerschleife. Ich will entspannt und gelassen sein, verdammt nochmal! Das mag mir erst nicht wirklich gelingen. Aber dann sehe ich mich um. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, was im Augenblick da ist. In meinem Abteil sitzt eine Frau. Die habe ich vorhin nur flüchtig wahrgenommen. Sie sitzt mir gegenüber und sieht aus dem Fenster. Vor ihr auf dem Boden hat sich ein Hund breitgemacht. Und was für einer! Ein Labrador-Pudelmischling – groß wie ein Kalb. Ich registriere weitere Details. Die Frau hat neben sich ein Blindenhundgeschirr auf der Bank liegen. Ich mustere den Hund genauer. Er scheint meinen Blick zu spüren und hebt träge seinen Kopf. Dann sind seine Lebensgeister plötzlich geweckt, er erhebt sich in voller Größe, stupst mich mit seiner Schnauze an und macht dabei fiepende Geräusche. Die Frau richtet sich auf und dreht ihren Oberkörper in meine Richtung.
„Hat er Sie schmutzig gemacht?“, fragt sie besorgt.