Zwischen uns das Flüstern der Wellen - Janine Ukena - E-Book
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Zwischen uns das Flüstern der Wellen E-Book

Janine Ukena

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Beschreibung

Die Wellen flüstern von Liebe, Hoffnung und einer düsteren Wahrheit … Im zweiten emotionalen und spannenden New-Adult-Roman in Janine Ukenas Sylt-Suspense-Trilogie trifft Windsurfer Erik auf seine Ex-Freundin Hanna, die ihm immer noch Herzklopfen bereitet, gleichzeitig aber auch ein Geheimnis hütet, das sein Leben auf den Kopf stellen könnte … Eigentlich wollte Erik Sylt für immer hinter sich lassen. Doch als seine Familie ihn braucht, kehrt er schweren Herzens zurück. Um die Strandbar seines Vaters vor dem Bankrott zu retten, ringt sich der ehemalige Windsurf-Profi dazu durch, am Surf-Cup teilzunehmen und hoffentlich das Preisgeld zu gewinnen. Nur hat Erik seit einem Surf-Unfall keinen Fuß mehr ins Meer gesetzt. An das Unglück selbst hat er keine Erinnerung, er weiß nur: Ihn kostete der schicksalhafte Moment seine Karriere, und sein größter Rivale kam dabei ums Leben. Nun soll ihm ausgerechnet Hanna als Windsurf-Lehrerin helfen, seine Angst vor den Wellen zu überwinden. Hanna – seine Ex-Freundin, die den Unfall mit angesehen hat und verschweigt, was wirklich geschah. Beide kommen sich wieder näher, und nach und nach schließen sich Eriks Gedächtnislücken. Was sich Erik dabei offenbart, erschüttert ihn in seinen Grundfesten … Mitreißender New-Adult-Suspense-Roman auf der traumhaften Insel Sylt! Die Sylt-Suspense-Trilogie im Überblick: - Band 1: Vor uns das Rauschen des Meeres - Band 2: Zwischen uns das Flüstern der Wellen - Band 3: Über uns das Tosen des Sturms

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Seitenzahl: 448

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Janine Ukena

Zwischen uns das Flüstern der Wellen

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Wellen flüstern von Liebe, Hoffnung und einer düsteren Wahrheit …

Eigentlich wollte Erik Sylt für immer hinter sich lassen. Doch als seine Familie ihn braucht, kehrt er schweren Herzens zurück. Um die Strandbar seines Vaters vor dem Bankrott zu retten, ringt sich der ehemalige Windsurf-Profi dazu durch, am Surf-Cup teilzunehmen und hoffentlich das Preisgeld zu gewinnen. Nur hat Erik seit einem Surf-Unfall keinen Fuß mehr ins Meer gesetzt. An das Unglück selbst erinnert er sich nur bruchstückhaft. Sicher ist: Ihn kostete der schicksalhafte Moment seine Karriere, und sein größter Rivale kam dabei ums Leben. Nun soll ihm ausgerechnet Hanna als Windsurf-Lehrerin helfen, seine Angst vor den Wellen zu überwinden. Hanna – seine Ex-Freundin, die den Unfall mit angesehen hat und verschweigt, was wirklich geschah. Beide kommen sich wieder näher, und nach und nach schließen sich Eriks Gedächtnislücken. Was sich Erik dabei offenbart, erschüttert ihn in seinen Grundfesten …

Der eigenständig lesbare zweite Band der Sylt-Suspense-Trilogie. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Playlist

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Erinnerungen

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Erinnerungen

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Erinnerungen

39. Kapitel

40. Kapitel

Erinnerungen

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Danksagung

Für alle, die so lange stark waren,

bis es sie irgendwann kaputtgemacht hat.

 

Und für meine liebsten Windsurfer.

Danke für eure Geduld.

Playlist

Spring – Provinz

The Grudge – Olivia Rodrigo

Egoist – Jeremias

Nimm mit – Paula Hartmann, makko

Wenn du weinst – Berq

Winterherz – JAS

I Miss You, I’m Sorry – Gracie Abrams

Graues Papier – Levin Liam, Cato

Atlantis – Paula Hartmann, Trettmann

Baba – Apsilon

Poseidon – Schmyt

Mit dir kann ich alleine sein – Jeremias

Where’s My Love – SYML

Sowas von da (hellwach) – Casper

Für jeden aber nicht für dich – MAJAN

Helium – Traumatin, whosroman

Vermiss nicht mehr – Mika Noé

Utopie – Ennio

Medicine – Daughter

Am I A Ghost? – Juniper Vale

Da für dich – Jeremias

Please – Chelsea Cutler, Jeremy Zucker

Stille Leitung – moé, SOMA

Nur zu weit – Traumatin

Unsteady – X Ambassadors

Falling – Harry Styles

Dancing in the Kitchen – LANY

 

[...] we were together – all else has long been forgotten by me.

Walt Whitman

Prolog

Es war Vollmond, als das Meer seine Lunge mit Salzwasser füllte und er ertrank. Die Leiche tauchte erst auf, als der Himmel von Schwarz zu Blau wechselte. Doch die Erinnerungen an das Geschehen blieben vom Wasser verschluckt. Vielleicht meide ich aus diesem Grund die Wellen. Aus Furcht, was sie mir offenbaren könnten. Ihr leises Flüstern hallt wie ein lautes Echo in meinem Kopf wider, als wollte es mir etwas verraten. Und immer, wenn ich meine Augen schließe, kehren Bruchstücke von Erinnerungen an die Ereignisse zurück. Allerdings fügen sie sich nie zu einem vollständigen Bild zusammen. Ich erinnere mich nur daran, wie rasend schnell mein Herz schlug, als ich selbst im pechschwarzen Meer versank und der Mond mein einziger Anhaltspunkt war. Das Salzwasser brannte in meinen Augen, während jeder Muskel vor Schmerz zu schreien schien. Ich fürchtete, nie wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Angst und Schmerz verzerrten meine Gedanken. Auf unerklärliche Weise schaffte ich es ans Ufer, während er draußen zurückblieb. Mein Mund wollte sich öffnen, um die Wahrheit dieser Nacht preiszugeben, doch da war … nichts. Als hätten die Wellen nicht nur ihn, sondern auch die Wahrheit unter sich begraben. Alles, was mir bleibt, ist das Gefühl von Schuld.

1. Kapitel

Erik

Ein Mensch schläft im Durchschnitt sechsundzwanzig Jahre seines Lebens. Diese Zeit verbringen wir träumend, doch die meisten dieser Träume sind schnell wieder vergessen.

Ich wache auf, als ich gerade zu ertrinken drohe. Mein Traum verpufft nicht, er bleibt. Wie jede Nacht schrecke ich schweißgebadet aus dem Schlaf hoch und brauche einige tiefe Atemzüge, um zu realisieren, wo ich mich befinde. Statt Salzwasser füllt Sauerstoff meine Lunge. Ich befinde mich nicht auf dem Meer, sondern in meinem Bett. Ein Blick auf die Uhr an der Wand gegenüber verrät mir, dass ich nicht mal vier Stunden geschlafen habe, und trotzdem ist das mehr als die Nächte zuvor.

Mein Gedächtnis schuldet mir auch diese Nacht eine Antwort. Da ist nur dieses schmerzhafte Pochen in meinem Kopf, das sich schon viel zu vertraut anfühlt.

Erst ist es Erleichterung, die ich empfinde, dann das gewohnte Gefühl von Taubheit. Seit dem Unfall hat mich mein Unterbewusstsein oft zurück in jene Nacht geführt. Als wollte es, dass ich mich erinnere. Aber das tue ich nie. Manchmal wache ich auf und denke: Es war alles nur ein Traum. Es gab gar keinen Unfall, Wilke ist nicht gestorben, und mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin nie wirklich nach Kiel gezogen, habe nie ein Studium der Windsurfkarriere vorgezogen. In dieser Welt geht es meinem Vater gut, wir haben keine Probleme, und der Abendbrottisch ist stets reichlich gedeckt. Egal, wie fest ich die Augen schließe und es mir wünsche, diese Welt ist leider nicht die Realität.

Die Tatsache, dass ich wieder hier auf Sylt bin, ist der Beweis, dass Karma existiert.

Ein lautes Klopfen holt mich aus meinen Gedanken, und kurz erstarre ich, horche einige Momente, bis es sich wiederholt und ich mir sicher bin, dass mir mein Verstand keinen Streich spielt. Da fällt mir wieder ein, dass mich genau dieses Geräusch bereits aus dem Schlaf geholt hat. Oder waren es meine Albträume vom Ertrinken? Mein Kopf hat nach dem Aufwachen direkt in den Überlebensmodus geschaltet.

Schnell stehe ich auf, entriegele meine Schlafzimmertür, überprüfe die Vorrichtungen, die ich aufgrund meines Schlafwandelns dort angebracht habe, und nicke zufrieden. Diese Nacht bin ich zwar in die Vergangenheit zurückgekehrt, aber das Ferienhaus habe ich nicht verlassen.

Erneut klopft es. Hastig laufe ich barfuß in den Flur und schaue durch den Spion, wer sich auf der anderen Seite der Tür befindet.

Oliver.

Einer meiner ehemaligen Windsurftrainer und der Eigentümer dieses Hauses, in dem er mich gerade kostenlos wohnen lässt, damit ich Geld sparen kann. Die Wohnung über dem Wellenrausch haben Papa und ich vermietet, damit wir wenigstens etwas Geld wieder reinbekommen. Eine Wohnung über einer Bar ist zwar nicht besonders attraktiv, aber Georg, der neben mir gerade der Einzige ist, der dort arbeitet, hat sie gerne übernommen.

Da Papa seit einiger Zeit im Pflegeheim untergebracht ist, können wir durch die reinkommende Miete wenigstens dafür die Kosten stemmen.

Außerdem musste ich so nicht sofort all meinen Kram aus der Wohnung räumen. Der Nachteil an dieser Situation ist nun bloß, dass Olivers Ferienhaus in Westerland ist und sich unsere Bar in Kampen befindet. Eine Radfahrt von ungefähr einer halben Stunde. Gut für unser Konto, gut für meine Fitness, aber schlecht für meine Spontanität und Müdigkeit, vor allem, wenn ich mich nachts nach einer langen Schicht noch in der Dunkelheit aufs Fahrrad schwingen muss. Denn Papas Auto wurde bereits Anfang des Jahres verkauft, deswegen heißt es: öffentliche Verkehrsmittel und Radtouren, um über die Insel zu kommen.

Das Klopfen wird noch energischer.

»Moment!«, antworte ich mit kratziger Stimme und räuspere mich sofort.

Ich entriegele die Haustür, und als sie mit einem Klick nachgibt, erwartet mich Oliver.

»Guten Morgen!«, trällert er gut gelaunt. Ich hasse Menschen, die morgens gute Laune haben.

»Wenn das ein guter Morgen wäre, würde ich noch schlafen«, gebe ich nur zurück und lasse ihn herein.

Immerhin gehört das Ferienhaus ihm und ist sonst für die Windsurfer gedacht, die für den jährlichen Windsurf-Cup im Herbst anreisen oder zum Trainieren mit Oliver aus aller Welt nach Sylt kommen. Ich bin nur Gast, auch wenn er mir immer wieder sagt, dass ich mich ruhig wie zu Hause fühlen soll. Schwierig, wenn man so lange keins mehr hatte.

Oliver lacht bloß. »Du bist immer so eine Frohnatur.«

In diesem Moment sehe ich meine Reflexion im Spiegel neben der Garderobe und stelle fest: Meine Hautfarbe konkurriert mit der Farbe der Wand. Ich bin so blass, dass ich fast blende. Meine blonden Haare stehen in alle Richtungen ab, ein leichter Schweißfilm überzieht meine nackte Brust, und dank der dunklen Augenringe sehen meine eh schon hellblauen Augen so aus, als würde ich bei Game of Thrones einen weißen Wanderer spielen.

»Erde an Erik?«, höre ich Oliver rufen. War er nicht gerade noch neben mir? Irritiert laufe ich ins geräumige Wohnzimmer, wo er in diesem Moment die schweren Vorhänge zur Seite zieht. »Alles klar bei dir?«

Das grelle Sonnenlicht lässt mich instinktiv die Augen zusammenkneifen. »Mir geht es gut.« Ein kurzer Satz, aber eine große Lüge. Doch je öfter ich sie wiederhole, umso leichter geht sie mir über die Lippen. Vielleicht wird sie irgendwann zu meiner Realität werden, wenn ich nur lange genug daran festhalte.

In Olivers Gesicht kann ich deutlich ablesen, dass meine Lüge ihn nicht überzeugt.

»Ich wollte mit dir über etwas reden«, beginnt er. »Wollen wir uns vielleicht setzen?«

Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Er wird mich aus dem Ferienhaus werfen, weil der Windsurf-Cup bald vor der Tür steht. Oder er fordert einen Gefallen ein, weil ich hier kostenlos wohne. In meinem Kopf rasen sofort die Gedanken durcheinander.

»Klar«, bringe ich zustande. »Ich zieh mir nur schnell ein Shirt über.«

Mit schnellen Schritten entfliehe ich seinem Blick, der Situation und meinen Gedanken. Im Schlafzimmer angekommen, atme ich tief durch, vergrabe mein Gesicht in den Händen und versuche, mich zu beruhigen.

Mit zittrigen Händen ziehe ich mir ein Shirt über, und als ich wieder ins Wohnzimmer trete, sitzt Oliver auf dem Sofa und tippt wie wild auf sein Handy ein.

Seufzend lasse ich mich neben ihm nieder, vermeide jedoch den Augenkontakt. Um meine Nervosität in den Griff zu kriegen, balle ich meine zitternden Finger zu Fäusten.

»Worum geht’s? Sei nicht so geheimnisvoll, das steht dir nicht.« Um meine harschen Worte etwas abzumildern, zwinge ich mich zu einem Grinsen.

»Du hast recht, es ist nur … Da hat sich etwas ergeben. Ich weiß nicht genau, wie ich damit anfangen soll. Hast du die Wettkämpfe letzte Woche in St. Peter-Ording verfolgt?«

Wortlos nicke ich. Ich surfe selbst zwar nicht mehr, aber ich schaue mir jeden Livestream des Cups an, auch wenn ich es vielleicht nicht sollte. Jedes Mal führt es mir vor Augen, dass ich das Surfen vielleicht für immer verloren habe. Und danach werden die Albträume regelmäßig schlimmer, bis sie sich wie meine Realität anfühlen. Manchmal schlafwandle ich und weiß nicht, ob ich wach bin oder noch träume, und wecke mich durch meine eigenen Schreie auf.

»Es ist ein Platz frei«, höre ich Oliver sagen. Es kostet mich etwas Kraft, mich wieder auf ihn zu fokussieren. Er muss meine Verwirrtheit bemerken, denn er ergänzt: »Maria ist raus und wird nicht weiter am Windsurf-Cup teilnehmen. Weder hier auf Sylt noch an den weiteren Stationen, die für den Wettkampf geplant sind.«

Fragend schaue ich ihn an. »Wie meinst du das?«

Maria Graz gehört zu den Besten. Das weiß ich, weil ihre Punkte bereits jetzt unfassbar hoch sind und sie jeden Windsurf-Cup mit dem ersten Platz abschließt. Besonders in der Disziplin Freestyle. Der Gedanke daran schmerzt, denn das war auch meine beste Disziplin.

»Sie ist aufgrund einer Verletzung ausgeschieden und bis zum Ende der Saison raus.«

»Maria wurde von Hanna trainiert«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Oliver, denn wir beide wissen das natürlich. Ich denke nur laut. Manchmal hilft das … Gerade nicht. »Was macht Hanna jetzt?«

Wie ein gottverdammtes Klischee krampft sich mein Herz zusammen, als ich Hannas Namen ausspreche. Mehr als fair, wenn man bedenkt, dass ich ihres vor einem Jahr gebrochen habe. Es sollte mich nichts angehen. Das Recht, über ihr Leben Bescheid zu wissen oder auch nur an sie zu denken, habe ich längst verloren. Trotzdem schaue ich jeden Livestream in der Hoffnung, sie kurz am Ufer zu entdecken. Man könnte sagen, ich bin da etwas masochistisch veranlagt. Vor über einem Jahr hat sie dort gestanden und mich angefeuert, doch seit meiner Flucht hat sie in Maria Graz den perfekten Ersatz gefunden. Ein Mix aus Wut und bescheuerter Sehnsucht kommt in mir auf.

»Vielleicht sucht sie einen neuen Windsurfer«, erwidert Oliver schlicht, doch sein Blick ist jetzt voller Erwartung.

»Vergiss es«, schieße ich sofort zurück. Der Gedanke an Hanna tut weh. Aber der Gedanke daran, zurück aufs Board zu steigen und mit dem Wind in den Wellen zu surfen, bringt mich fast um den Verstand. Zumindest um das, was noch von ihm übrig ist.

Abwehrend hebt er die Hände »Sie kommt auf jeden Fall nach Sylt zurück. Ich dachte, du solltest das wissen. Wenn ihr beide jetzt wieder hier seid … Der Cup wäre die perfekte Gelegenheit, um …«

»Du weißt nicht, was du da von mir verlangst«, unterbreche ich ihn eine Spur zu laut und stehe auf. So schnell, dass mir kurz schwindelig wird. Mit wenigen Schritten bringe ich etwas Distanz zwischen uns. Panik kriecht mir die Wirbelsäule hoch und lähmt mich beinahe.

»Erik, ich glaube wirklich, dass es dir helfen könnte. Ich mache mir Sorgen um dich. Das tun wir alle.«

Das tun wir alle. Oliver hat so viel für mich getan. Als ich vor einem Jahr das Ende meiner Windsurfkarriere verkündet habe, waren meine Sponsoren nicht gerade glücklich. Oliver genießt einen guten Ruf in der Branche, seine Surfschule ist renommiert, und er hat bei allen ein gutes Wort eingelegt, um sie zu besänftigen. Schließlich war ich kurz davor, neue Rekorde in meiner Kategorie aufzustellen und wirklich was aus dieser Karriere zu machen. Der Gedanke daran fühlt sich so fremd an, dass mir übel wird.

Zitternd atme ich ein, wieder aus und habe das Gefühl, trotzdem keine Luft zu bekommen. »Ich kann nicht.«

Drei Worte.

Warum sind es immer drei Worte, die alles zerstören?

Ich liebe dich.

Ich muss weg.

Er ist tot.

Ich bin schuld.

Langsam tritt Oliver auf mich zu. Mein Fluchtinstinkt überkommt mich, meine Augen huschen durch den Raum, doch wo sollte ich schon hin? Meine Freunde sind allesamt nach diesem Sommer wieder von der Insel gegangen, alle nach Hamburg, wo sie studieren und ihr Leben auf die Reihe kriegen … nur ich bin noch hier, um für Papa da zu sein. Nur deshalb bin ich auf dieser Insel, und doch wiegt dieser Grund schwerer als alle meine Fluchtgründe. Ich wünschte nur, ich würde mich weniger allein mit allem fühlen. Mein bester Freund Max und seine Freundin Sophie kehren zwar zurück, aber sie sind noch mitten in den Umzugsvorbereitungen. Es wäre so schön, ihre Unterstützung schon jetzt zu haben. Gleichzeitig weiß ich: Als ich sie hätte haben können, habe ich sie auch so gut wie nie angenommen. Es gab diesen einen Abend, als ich Max angerufen habe … Der Abend, als mir mein Vater das komplette Ausmaß seiner gesundheitlichen Probleme schilderte und erwähnte, dass er eventuell die Bar verkaufen würde. Max kam sofort, doch als die Nacht vorbei war, blieb das Gefühl von Mitleid auf seinem Gesicht, und das ertrage ich noch weniger als das Gefühl, allein zu sein.

Sanft legt Oliver mir eine Hand auf die Schulter und holt mich aus meiner Gedankenspirale heraus. »Ich weiß, dass du … Schwierigkeiten hast, und natürlich kann ich dich nicht zwingen. Aber die Chance ist einmalig, die Sponsoren machen schon seit Wochen Druck, und egal, wie du und Hanna auseinandergegangen seid … ein gutes Team wart ihr immer. Vielleicht wird es Zeit, dass du zurückkommst.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich habe seit über einem Jahr nicht mehr trainiert. Es ist zu viel passiert.«

Jemand ist gestorben, denke ich. Die Welt der Windsurfer ist klein, man kennt sich. Doch es gibt nur wenige aus Deutschland, die an den Wettbewerben teilnehmen. Die Gerüchte haben sich schnell herumgesprochen, jeder kennt die Geschichte, wie Wilke gestorben ist, und auch wenn es keiner laut ausspricht, weiß ich: Alle denken, dass es meine Schuld ist. Da nehme ich mich selbst nicht aus.

»Die Sponsoren und ich sind trotzdem der Meinung, dass du es wenigstens versuchen solltest. Bis der Cup auf Sylt stattfindet, ist noch über einen Monat Zeit, in dem du dich vorbereiten könntest. Talent verliert man nicht.«

Natürlich weiß ich das. Wie gern würde ich all meine Zweifel beiseiteschieben und wieder in mein altes Leben zurückkehren. Die Zweifel beziehen sich nicht auf mein Talent, denn … ich war gut, und das bin ich mit Sicherheit immer noch. Das kann ich ohne jegliche Arroganz und voller Stolz sagen.

Insgeheim weiß ich, dass ich mich der Angst stellen sollte.

Und Papas Rechnungen werden nur zum Teil von der Krankenkasse abgedeckt, die Bar schreibt rote Zahlen, und damit könnte ich wenigstens etwas helfen. Es wäre eine gute Lösung …

Vor meinem inneren Auge spielt sich eine Montage meiner Erfolgsmomente ab. Ein Gefühl der Machtlosigkeit breitet sich in mir aus, als ich begreife, dass diese Augenblicke der Vergangenheit angehören. Das Preisgeld des Cups hier auf Sylt wäre genug, um die Bank zu besänftigen und den Kredit neu zu verhandeln. Wenn ich mich gut platziere, könnte ich selbst als Quereinsteiger an den nächsten Stationen mitsurfen und vielleicht sogar meine Sponsoren zurückgewinnen, und das war stets mit viel Geld verbunden. Geld, das ich verdammt gut gebrauchen könnte. Die Frage ist nur: So dringend, dass ich mich meinen Albträumen stelle? Meiner Vergangenheit, vor der ich zu fliehen versuche?

»Oliver, ich kann das einfach nicht mehr. Nicht nach …« Ich verstumme.

»Das, was passiert ist, war nicht deine Schuld. Keiner denkt das. Du hast so ein Talent, Erik. Bitte wirf es nicht weg.«

Eine Lüge, schreit die Stimme in meinem Kopf. Er ist deinetwegen ertrunken, also zahl gefälligst den Preis.

Mein Kopf ist laut, aber ich verstumme. Keine Überraschung, wenn man mich kennt. Je mehr ich fühle, umso stiller werde ich. Er weiß nichts von meinen Albträumen. Oliver weiß nicht, dass ich manchmal denke, ich löse mich zwischen meiner Vergangenheit und der Gegenwart auf, bis nichts mehr von mir übrig ist.

»Überlege es dir. Sprich vielleicht mal mit Hanna, wenn du sie siehst. Sprich überhaupt mal mit irgendjemandem darüber, was in dir vorgeht. Manchmal hilft das, glaub mir.«

Erneut nicke ich bloß, denn meine Worte sind verschwunden. Wie in jener Nacht. Wie immer, wenn mir alles zu viel wird.

Als Oliver sich verabschiedet und die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, schnappe ich nach Luft.

Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Er stellt dieses Ferienhaus normalerweise den Surfern zur Verfügung, und dazu gehöre ich nicht mehr. Ich wohne mietfrei hier, und insgeheim weiß ich, dass Oliver sich erhofft, dass ich mich wieder aufrapple. Wieder auf die Beine komme, Preise gewinne und mein Talent nutze. Mit zu wenig Geld hat man immer ein schlechtes Gewissen. Vor allem auf dieser verdammten Insel, wo Geld zu haben die Regel ist.

Max hat angeboten, mir zu helfen. Nick und Jette waren noch hartnäckiger. Aber sie sind meine Freunde, nicht meine Bankberater, und wie soll ich ihnen erklären, dass ich lieber alles verlieren würde als sie? Geld verändert zwischenmenschliche Beziehungen. Es macht alles kompliziert. Mein Vater ist das beste Beispiel.

Ich weiß nicht ganz, ob ich stolz darauf sein soll, es bis hierher geschafft zu haben, oder ob ich mich schrecklich fühle, weil es einfach nicht besser wird.

Es ist über ein Jahr her, dass Wilke ertrunken ist. Meinetwegen, schreit eine Stimme ganz laut und lässt alles andere verstummen. Mittlerweile kann ich das gut ausblenden und verdränge alles, was mit dem letzten Sommer zu tun hat.

Ich bin nach Kiel gezogen, habe ein Studium begonnen und war vor mir selbst auf der Flucht. Bis der Anruf meines Vaters kam, der alles veränderte. Mein Vater zeigte bis dahin niemals Schwäche, doch als er es tat, brach er fast auseinander. Es schien, als hätten sich die Gefühle in ihm aufgestaut und würden jetzt explodieren, sodass er es fast nicht mehr ertragen konnte. Also kam ich zurück, begleitete ihn ins Krankenhaus und anschließend ins Pflegeheim. Es geht ihm besser, doch auf eine Niere wartet er immer noch.

Die ersten Wochen zurück auf Sylt waren erstaunlicherweise wie eine kleine Auszeit für meinen Kopf. Ich hatte mich mit der Arbeit in der Bar arrangiert. Meine Freunde kamen für die Ferien zurück auf die Insel, und ich kam wieder etwas mehr unter Menschen, die meine Batterien aufluden, statt sie zu entladen. Doch dann geriet auch diesen Sommer alles in Schieflage. Max’ Vater, Leopold Rose, drehte durch, und Max landete mit einer Schussverletzung im Krankenhaus.

Ich frage mich, in welche Netflix-Serie sich unser Leben verwandelt hat und was auf dieser Insel los ist, dass wir gleich zwei Sommer erleben mussten, die von schrecklichen Ereignissen überschattet wurden. Aber im Gegensatz zum letzten Jahr bin ich dieses Mal nicht geflohen. Ich musste bleiben. Auch wenn dieser Gedanke etwas so Endgültiges hat, dass ich fast daran zerbreche. Mein Vater war mein ganzes Leben lang für mich da, war immer stark und hat nie Schwäche gezeigt. Da schaffe ich das jetzt wohl auch. Wenn nicht für mich selbst, dann für ihn.

Meine Freunde sind nach dem Vorfall mit Leopold Rose alle wieder nach Hamburg abgereist. Max, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, um seinen Umzug zurück auf die Insel vorzubereiten. Die Tatsache, dass er mit seiner Freundin zusammenzieht, freut mich zwar, aber gleichzeitig habe ich auch Angst, dass sich etwas zwischen uns ändern könnte. Die Power-Zwillinge Nick und Jette sind fürs Studium zurück nach Hamburg. Obwohl … das trifft eher auf Jette zu, die dieses Jahr ihr Staatsexamen abschließt, während Nick zwar an der Uni eingeschrieben ist, aber sich lieber auf Studentenpartys rumtreibt.

Alle haben irgendwie ihre Richtung gefunden, während ich meine immer mehr verloren habe.

Wie ferngesteuert hole ich mein Handy hervor und öffne Instagram. Der letzte Beitrag von Hanna zeigt sie und Maria. Ungefähr eine Stunde verbringe ich damit, jeden Artikel über Maria Graz und ihre Verletzung zu lesen. Über Hanna erfahre ich hingegen nichts. Der nächste Ort, an dem die Windsurfelite gegeneinander antritt, wäre Hawaii, und danach kommt sie hierher. Den Gedanken habe ich bisher verdrängt, aber Sylt gehört bei dem Windsurf-Worldcup als Station seit Jahrzehnten dazu. Die Wellen der Nordsee können nicht mit der Hawaii-Höhe mithalten. Doch der Sylter Wind hat so viele Knoten, dass man auf dem Board ordentlich Geschwindigkeit draufkriegt. Etwas, was bei den drei Disziplinen Wave, Freestyle und Slalom immer für waghalsige Sprünge gesorgt hat. Ich denke daran zurück, wie frei ich mich stets auf dem Meer gefühlt habe. Der Wind in meinem Rücken, die Geschwindigkeit und das Adrenalin. All das habe ich verloren. Die Gruppe der Surfer ist klein, aktuell müssten es weniger als einhundertfünfzig Windsurfer weltweit sein, die diesen Sport professionell betreiben. Das Preisgeld liegt insgesamt für alle Stationen in diesem Jahr bei über 85000 Euro. Mir ist klar, dass ich das nicht gewinnen kann. Am Ende geht es um Punkte, die in jedem Wettbewerb an den verschiedenen Orten gewonnen werden können – die Saison hat schon längst gestartet, und zwar ohne mich. Den Punkterückstand kann ich nicht aufholen, aber es gibt immer noch das Preisgeld pro Cup für den jeweiligen Ort. Bleibt nur ein riesiges Problem: Ich habe seit dem Unfall keinen Fuß mehr ins Meer gesetzt. Der bloße Gedanke daran versetzt mich bereits in Panik. Aber am Ende habe ich eigentlich keine Wahl. Ich brauche das Geld für meine Familie, für unsere Bar, und selbst wenn das Preisgeld nicht komplett ausreichen würde … Eine Teilnahme am Sylter Cup wäre ein Anfang. Ein Schritt zurück zu einer Karriere im Sport, die mir finanzielle Sicherheit geben würde. Und vielleicht wäre genau das der Beginn einer Veränderung, die ich brauche. Ein Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Eine Richtung, die ich für mich selbst wieder finden könnte.

Ich muss teilnehmen. Auch wenn sich das verdächtig nach Selbstzerstörung anhört. Aber vielleicht muss manches erst zerbrechen, um wieder zu heilen.

2. Kapitel

Hanna

Hin und wieder lasse ich mich zu dem romantischen Gedanken hinreißen, dass das Leben schon irgendwie nach einem Plan verläuft. Denn wenn mir jemand vor einer Woche gesagt hätte, dass ich nach Sylt zurückkehre … Ich hätte bloß gelacht. Natürlich wäre ich für den Job als Trainerin in einigen Wochen hierhergekommen, aber nicht, um zu bleiben. Es wäre bloß eine Station des Worldcups gewesen, doch jetzt habe ich meinen Koffer dabei und plane nicht so schnell wieder abzureisen. In mir sträubt sich alles gegen diesen Gedanken, aber das hat viel mehr mit dem zu tun, weswegen ich vor ungefähr einem Jahr gegangen bin, und weniger damit, dass ich es auf dieser Insel nicht lange aushalte.

»Hanna, es war die richtige Entscheidung zurückzukommen. Vertrau mir, du wärst sonst in diesem Hotelzimmer in St. Peter-Ording vereinsamt.« Olivers Stimme dringt verzerrt aus der Freisprechanlage, während ich den vollgepackten Jeep durch die Straßen von Westerland navigiere.

»In diesem Hotelzimmer hatte ich alles, was ich brauche. Netflix, guten Zimmerservice und Leinenbettwäsche. Was will man mehr?« Meine Stimme klingt zittrig, als hätte sie sich meinem Gemütszustand angepasst. Ich weiß nicht, wen ich hier überzeugen will, wenn ich es nicht mal mir selbst abkaufe, was ich hier rede. »Aber gut, in ein paar Wochen wäre ich ja eh für den Windsurf-Cup hergekommen. Keine große Sache.«

Das ist natürlich gelogen. Ich war immer ein Fan von Veränderungen, aber vor dieser hatte ich Angst. Sie schien so endgültig. Eine Karriere als Windsurftrainerin baut man sich mit den Erfolgen auf, und kurz vor dem großen Ziel ging alles in die Brüche. Vor wenigen Wochen hätte ich noch darum gebettelt, eine Pause zu bekommen … Der Kloß in meiner Kehle wird immer größer, wenn ich bloß darüber nachdenke. In den Hotelzimmern der Welt gehört mir nichts außer den Dingen, die ich in meinem Koffer habe, und vielleicht ist das der springende Punkt: der Gedanke von Freiheit, der mit jedem Kilometer, den ich gerade hinter mich bringe, immer mehr verblasst. Sylt ist nicht groß, viel zu klein für mich und meine Gedanken. Zu klein für meine Träume, aber eben groß genug für das Jetzt.

»Falls es dich interessiert: Ich freue mich, dass du wieder da bist.«

»Danke, dass du das sagst«, bringe ich hervor. »Aber du willst doch nur, dass ich in deiner Surfschule anfange und dir beim Organisieren des Cups helfe, damit du etwas mehr Privatleben hast.«

»Ertappt«, lacht Oliver. »Das Angebot steht.«

»Du weißt, dass wir gerade auf dem besten Weg zum Weltmeistertitel waren, oder? Kannst du mein Gehalt bezahlen?«

Vor einer Woche habe ich noch gedacht, mit Maria endlich den Durchbruch als Trainerin zu schaffen. Schließlich hat sie in jeder einzelnen der drei Disziplinen stets die höchste Punktzahl erzielt. So ein Talent für die Wellen habe ich zuletzt nur bei einer Person gesehen, deren Gesicht ich aus meinen Gedanken verbannt habe. Manchmal braucht es nur eine Welle, die alles verändert. Maria brach sich beim letzten Heat das Fußgelenk, und all die Hoffnungen auf den Weltmeistertitel zerbrachen ebenfalls.

»Hörst du mir zu?« Olivers Stimme lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch.

»Sorry, ich war …«

»In Gedanken woanders«, beendet er meinen Satz. Er kennt mich einfach zu gut. »Wann kommst du hier an?«

»Ich bin gerade am Saltkrokan vorbeigefahren.«

»Alles klar, ich warte einfach bei der Holzhütte am Strand auf dich.«

Sein Angebot schwirrt in meinem Kopf herum, als er auflegt. Oliver besitzt nicht nur die renommierteste Windsurfschule in ganz Deutschland, er ist auch ein guter Freund meiner Familie und will wahrscheinlich einfach nur helfen. In seiner Surfschule zu arbeiten könnte mir tatsächlich etwas Ablenkung verschaffen. Außerdem könnte ich einen guten Überblick über vielversprechende neue Talente gewinnen und darüber möglicherweise einen Artikel für das Surfmagazin schreiben. So wie du es eigentlich immer wolltest, flüstert eine Stimme, die in den letzten Wochen an Lautstärke gewonnen hat. Ich habe schon immer gerne über den Sport geschrieben, aber neben dem Job als Windsurftrainerin blieb kaum Zeit, mehr daraus zu machen. Vielleicht hätte ich jetzt die Chance, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Vielleicht wäre es mir aber auch anzumerken, dass ich Angst vor zu viel freier Zeit habe. Zu viel Zeit ist nie gut. Zu viel Zeit heißt, ich denke zu viel über alles nach. Mein Arbeitskalender lässt normalerweise keine Spontanität zu, und ein Privatleben bleibt durch die vielen Reisen ebenfalls etwas auf der Strecke. Aber ich habe meinen Beruf trotzdem geliebt. Schließlich ließ er sich perfekt mit meinem Kindheitswunsch verbinden: in allen Meeren der Welt zu surfen. Stets dem Sommer hinterherzureisen, niemals dem Winter in mir nachzugeben. Mit achtzehn Jahren hatte ich die Ausbildung zur Trainerin beim weltgrößten Surfverband absolviert. Es lag auf der Hand, dass ich das Surfen in meinen Beruf integrieren würde. Schließlich war es ein großer Teil meines Lebens, meiner Familie und allem, was ich kannte. Dass ich viel lieber darüber geschrieben hätte, habe ich verdrängt. Ein Studium schien mir genauso wenig ausreichend. Ich wollte reisen, mich beweisen, und als Trainerin konnte ich das, auch wenn mir das eigene Talent für die Wellen fehlte, das nötig gewesen wäre, um den Sport professionell zu betreiben. Als Trainerin konnte ich die Freude und den Kampf, den ich selbst beim Surfen erlebte, an andere weitergeben. So wie Papa es, seit ich denken kann, bei mir getan hatte.

Mit Maria als Surferin hatte ich endlich den Höhepunkt meiner Karriere als professionelle Trainerin erreicht, reiste mit der Elite des Sports um die Welt und konnte mir etwas Langfristiges in dieser Branche aufbauen.

Statt für den nächsten Wettkampf nach Hawaii zu fliegen, fahre ich jetzt allerdings die Straßen von Westerland entlang. Alles hier fühlt sich vertraut an. Etwas, von dem ich bis zu diesem Augenblick dachte, es wäre etwas Schlechtes. Aber ich fühle mich zu Hause. Und mit jeder Minute und jedem weiteren Blick durchs Autofenster wird mir klarer: Hier hat sich nur eine Sache verändert, und das bin ich selbst. Im Hintergrund rauscht leise das Radio, durch das nun die euphorische Stimme eines Sprechers statt der neuesten Hits zu mir durchdringt.

Heute haben wir eine aufregende Ankündigung für alle Sportbegeisterten und Wassersportfans. Der internationale Windsurf-Cup legt wieder einen Stopp auf der wunderschönen Insel Sylt ein!

Ich biege links ab, fahre auf die Landstraße und kann von hier schon das Wattenmeer in der Ferne sehen. Unser Haus in Keitum ist etwas abseits vom Trubel in Westerland. Man nennt den Ort auch das friesische Juwel. Grüne Felder, typische Reetdachhäuser und kleine Boutiquen. Das Inseldorf ist nicht so turbulent wie Westerland, nicht so exklusiv wie Kampen, und doch hat es so viel zu bieten und bringt genau die Ruhe, die ich gleichermaßen liebe und fürchte. Etwas, vor dem ich jetzt lange geflohen bin, und weil ich nicht darüber nachdenken möchte, drehe ich das Radio lauter und höre dem Nachrichtensprecher zu.

 

Vom 27. September bis 06. Oktober werden die besten Windsurfer der Welt ihre Fähigkeiten vor der beeindruckenden Kulisse der Nordsee unter Beweis stellen.

Sylt ist eine von vielen Stationen des Worldcups des Sportes, der auch Stopps in spektakulären Locations wie Hawaii, Japan und Südafrika beinhaltet. Doch Sylt hat mit seinen konstanten Winden und herausfordernden Wellen einen ganz besonderen Platz im Herzen der Windsurfer.

Ein solches Event wäre nicht möglich ohne die Unterstützung unserer großartigen Sponsoren, bei denen auch einige der größten Windsurftalente unter Vertrag stehen. Das Preisgeld für den gesamten Cup beträgt dieses Jahr übrigens 85000 Euro und wird sicherlich heiß umkämpft werden. Aber keine Sorge: Hier auf Sylt wird der erste Platz unabhängig vom Weltmeistertitel ebenfalls honoriert. Den Pokal und die Anerkennung gibt es obendrauf!

Für alle, die hautnah dabei sein wollen: Das Ganze wird am Strand von Westerland ausgerichtet. Wir freuen uns auf spannende Wettkämpfe, tolle Stimmung und …

Hastig schalte ich das Radio aus. Doch keine gute Idee, um auf andere Gedanken zu kommen. Das Preisgeld, die Weltmeisterschaft, die Anerkennung … All das wird Maria dieses Jahr nicht bekommen, und als ihre Trainerin verliere ich ebenfalls.

In Gedanken lenke ich den voll beladenen Jeep in eine Nebenstraße am Düneneingang, der nicht zu stark besucht ist. Sobald ich aussteige, umhüllt mich der Geruch von Salzwasser, den Hagebuttenbüschen am Straßenrand und etwas, das sich so vertraut anfühlt. Hier, wo der Wind alles beherrscht.

Mit einem Lächeln begrüßt mich Hannes, der in dem kleinen Häuschen sitzt und die Touristen auf ihre Kurabgabe hin kontrolliert. Als ich den Düneneingang passiert habe und die Strandpromenade entlanglaufe, erkenne ich die Windsegel am Horizont. Ich entdecke die Banner, die auf den Surfcup aufmerksam machen, und alles in mir zieht sich zusammen. Es fühlt sich wie eine Niederlage an, jetzt allein hier zu sein, ohne Maria, und ohne am Cup teilzunehmen.

Der Fokus in meinem Leben lag bisher immer auf dem Sieg. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass mein Vater den Weltmeistertitel im Windsurfen vierundvierzig Mal gewonnen hat und zu den erfolgreichsten Profisportlern der Welt gehört. Mein jüngerer Bruder Lennart und ich sind mit dem Ziel großgezogen worden, in die Fußstapfen unseres Vaters zu treten. Und Lennart ist mit seinen sechzehn Jahren auf dem besten Weg dahin. Was mich betrifft … Der unerwartete Sturz von Maria ist ein Riss in meinem Plan und wie ein Weckruf, dass ich mich verrannt habe. Denn eigentlich wollte ich in meinem tiefsten Innern immer lieber über den Sport schreiben. Ich wollte die Geschichten einfangen, die sich zwischen den Wellen abspielen. Doch ich hatte nie den Mut, dieses Hobby auch weiter auszuführen.

»Hanna!«, ruft Oliver und kommt auf mich zugerannt. Seine starken Arme legen sich um meine Taille, und keine Sekunde später wirbelt er mich herum. Ich kann nicht anders, als über seine Überschwänglichkeit zu lachen. Langsam lässt er mich wieder runter und schenkt mir sein berühmtes Colgatelächeln. »Ich hab dich so vermisst.«

»Ich habe dich auch vermisst.« Seine gute Laune ist wie immer ansteckend. »Irgendwie surreal, jetzt auf diese Weise wieder hier zu sein.«

»Ich kann es nicht glauben.« Er mustert mich kurz, als müsste er sicherstellen, dass ich wirklich vor ihm stehe. »Du siehst müde aus.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust, um die Kälte, die diese Tage prägt, und seinen besorgten Blick abzuwehren. »Und du siehst alt aus«, bringe ich lachend hervor und schubse ihn ein paar Zentimeter von mir weg, woraufhin er die Lücke zwischen uns sofort wieder schließt. Meine Worte treffen ihn nicht, aber das wusste ich vorher. Sonst hätte ich das nicht gesagt. Ich scherze schließlich immer über Olivers Alter, weil er sich wie ein Opa verhält, auch wenn er nur fünf Jahre älter ist als ich.

»Warte bloß ab, bis du dreißig wirst. Das dauert nämlich gar nicht mehr so lange.«

»Noch ganze fünf Jahre!«, antworte ich gespielt empört. »Ich bin gerade erst fünfundzwanzig geworden. Danke übrigens für dein Geschenk.«

»Travel-Girl, wenn du nicht um die halbe Welt reisen würdest, könnte man dir ab und zu vielleicht auch mal etwas schicken«, entgegnet er ernster, als mir lieb ist. Meine Heimat zu verlassen, um die Welt zu sehen und diesem Beruf nachzugehen, ist für meine Familie keine Überraschung gewesen. Schließlich kennt man das von meinem Vater zur Genüge. Bevor ich eingeschult wurde, sind wir als Familie nie länger als ein paar Wochen am gleichen Ort geblieben und stets dort hingereist, wo der Wind und die Wellen am besten waren. Oder dahin, wo mein Vater um einen Titel surfte. Noch bevor ich meine ersten Schritte tat, surfte ich mit ihm in den Wellen. Das Meer ist ein fester Teil meiner Familie, fast so, als würde es sich durch unseren Stammbaum ziehen.

»Hey, das war doch bloß ein Scherz«, reißt Oliver mich aus den Gedanken und boxt mich sanft gegen den Arm. »Zieh nicht so ein Gesicht.«

Schnell zwinge ich mich zurück ins Hier und Jetzt. »Ja, klar, das weiß ich doch.«

»Gut, denn … ich wollte … Also da gibt es etwas, was ich dir noch sagen wollte. Eigentlich ist es eher eine Bitte, die vielleicht zu viel verlangt ist, aber …«

»Oliver, was ist los?«, unterbreche ich sein Gestammel.

Seine Miene wird ernst. »Es geht um Erik.«

Erik.

Ein Name, der ein verdammt lautes Echo in meinem Kopf erzeugt.

Bevor ich etwas sagen kann, redet Oliver schon weiter. »Ich möchte dich nicht damit überfallen, aber ich weiß auch, dass du es wahrscheinlich spätestens morgen früh selbst durch den Inselfunk erfahren wirst.«

Sofort gehe ich auf Distanz. Unter dem dünnen Pullover kriecht mir eine Gänsehaut über die Arme.

»Wovon redest du?«, krächze ich. »Geht es ihm gut?« Die Sorge um ihn schlägt in diesem Moment meine Wut, die Eriks Erwähnung sonst in mir auslöst. Ich hasse das. Ich hasse es, dass ich ihn nicht hassen kann. Selbst nach allem, was passiert ist.

»Er kämpft mit sich. Keiner kommt an ihn heran … Hanna, ich glaube, dass er echt Hilfe braucht.«

Eine Erkenntnis macht sich in mir breit und lässt mich schlucken. »Er ist hier auf Sylt.«

Oliver nickt. »Ich wollte es dir sagen, aber ich wusste nicht, wie. Weil damit einfach so viel zusammenhängt.«

»Wieso hat meine Mutter es mir nicht erzählt?«

»Sie wusste, dass du nur traurig sein wirst.«

Jetzt lodert doch Wut in mir hoch. »Ich wäre doch spätestens nächsten Monat zurückgekommen. Wie lange wolltet ihr damit warten, um mir zu verraten, dass mein Ex-Freund auch hier ist und nicht … Ja, keine Ahnung, wo er war. Er hat sich ja nie gemeldet.« Die Wut wird von Enttäuschung abgelöst und raubt mir den Atem. Frustriert drehe ich mich weg, sinke auf den Boden und fahre mit den Fingern durch den Sand. Das Gefühl dabei hat mich schon immer etwas beruhigt.

»Es tut mir leid, Hanna. Glaub mir«, sagt Oliver und lässt sich neben mir nieder. So nah, dass unsere Schultern sich fast berühren.

Mein Blick ist starr auf den Horizont gerichtet, fixiert auf den Windsurfer dort draußen, der gerade einen Sprung vermasselt und in den Wellen verschwindet. Ich halte die Luft an, bis er wieder auftaucht. »Erzähl mir, was passiert ist.«

Oliver berichtet mir daraufhin von Eriks Rückkehr, um seinen Vater in dessen Strandbar zu unterstützen. Davon, dass alle Bemühungen nicht gereicht haben und sie kurz davor sind, die Bar zu verlieren. Er erzählt von einem Krankenhausaufenthalt, von Geldproblemen und dass Erik nun in seinem Ferienhaus wohnt.

»Manche behaupten, dass sie ihn morgens am Strand sehen. Im Pyjama liegt er im Sand und schläft. Ich glaube, dass er vor etwas davonläuft.«

Ich atme scharf ein. Am liebsten hätte ich auf seine Aussage geantwortet, doch ich entscheide mich, lieber zu schweigen. Manchmal ist das besser. Ich schlucke die Worte hinunter. Worte, die bitter schmecken und gehört werden wollen, aber die mir nicht zustehen. Weil es eigentlich nicht meine Worte sind. Es sind Eriks Worte, auch wenn er sie vergessen hat. Eine dröhnende Stille breitet sich zwischen uns aus, während der Wind über die Wellen peitscht.

Oliver seufzt, steht dann auf und klopft sich den Sand von der Hose. Mit einem Ruck zieht er mich hoch, wir stehen so nah voreinander, dass ich den Kopf in den Nacken legen muss. Seine Haare sind vom Wind zerzaust, ganz ausgeblichen vom Salzwasser.

»Irgendwie Ironie des Schicksals, oder?«

»Was meinst du?«, frage ich und versuche noch, all das zu verarbeiten, was ich gerade erfahren habe.

»Ihr seid beide geflohen und nun doch wieder hier auf dieser Insel.«

Ich presse die Lippen aufeinander, während Oliver mir weismachen will, dass es wirklich Schicksal sein muss. Dabei sehe ich darin eher eine Verkettung traumatischer Ereignisse. So könnte auch meine Biografie heißen, wenn es so weitergeht.

»Dir ist schon klar, dass Erik und ich …«

Ja, was sind wir eigentlich? Ich weiß es schon lange nicht mehr. Vielleicht haben wir unser Glück einfach schon aufgebraucht, sodass es für unser Happy End nicht reicht.

»Hör zu, ich weiß, dass ihr nicht mehr zusammen seid. Aber ich weiß auch, dass er dir nicht egal ist. Es tut mir leid, dass ich es dir erst jetzt sage, aber die ganze Situation ist einfach zu persönlich gewesen, als dass ich es dir in einer Sprachnachricht schicken wollte. Und irgendwann wurde es immer mehr. Sei deswegen bitte nicht sauer, okay?«

In diesem Moment, als ich ihm in die Augen blicke, verpufft meine Wut. Wie immer, wenn er mich so ansieht. Was auch immer das heißen mag.

»Ich bin nicht sauer auf dich, nur … ich wünschte echt, ihr hättet es mir früher gesagt. Vielleicht hätte ich helfen können.«

Ein leises Lachen kommt über seine Lippen. »Genau das ist es doch, Hanna. Du wärst sofort gekommen, um zu helfen. Das macht dich einfach aus, aber … du vergisst dabei dich selbst.«

»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, Oliver.«

»Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst. Ich habe noch nie zwei Menschen gesehen, die mehr füreinander bestimmt sind als Erik und du. Aber ich habe auch noch nie zwei Menschen gesehen, die sich gegenseitig so zerstört haben.«

Stille legt sich über uns, während seine Worte in meinen Gedanken widerhallen. Langsam lege ich meinen Kopf auf seine Schulter und lasse mich von seiner Nähe trösten. Es so ausgesprochen zu hören tut weh, aber insgeheim weiß ich, dass er recht hat.

»Hast du mit ihm über Wilke gesprochen?«, frage ich schließlich.

Oliver schüttelt den Kopf. »Irgendwie hab ich es nicht übers Herz gebracht, aber ich habe mit Wilkes Eltern gesprochen.«

»Über den Unfall?«

»Ich war nach der Beerdigung ein paarmal zu Tee und Kuchen da, aber … Ich habe mich wie der größte Lügner gefühlt. Wir waren niemals Freunde, aber … irgendwie vermisse ich ihn trotzdem.«

Sich wie der größte Lügner zu fühlen, kommt mir bekannt vor. Immerhin verschweigen wir beide Details aus dieser Nacht vor Erik. Das tut unsere ganze Freundesgruppe, auch wenn ich nicht weiß, ob ich noch dazugehöre.

Sanft lege ich meine Hand auf Olivers Arm. »Keiner von uns wollte, dass das passiert.«

»Aber vielleicht habe ich es heraufbeschworen«, erwidert Oliver, und ich weiß, was er meint. Ohne ihn hätte Wilke vielleicht etwas weniger Druck auf den Schultern gehabt, denn schließlich war es Oliver, der Wilke ermutigt hat, mit Erik an diesem Abend zu sprechen.

»Du hast es nur gut gemeint«, beginne ich. »Keiner konnte ahnen, was dadurch ausgelöst wird.«

Wilkes Gesicht erscheint in meinem Kopf. Er und Erik sahen sich schon immer sehr ähnlich. Mit den blonden Haaren, den blauen Augen und dieser ehrgeizigen Ausstrahlung. Irgendwie hat das den Wettkampf zwischen ihnen auf merkwürdige Weise nur noch weiter bestärkt. Wilke war immer da, wenn wir trainiert haben. Beide waren füreinander Konkurrenten, aber auch größter Ansporn, weiterzumachen und besser zu werden. Ich wusste, dass Erik tief in sich drin eine Bewunderung für Wilke hegte und auch, dass es umgekehrt genauso war.

»Ich frage mich jeden Tag, ob wir es hätten verhindern können, weißt du?« Olivers Stimme ist leise, doch das Gefühl von Schuld kommt trotzdem mit. »Wären wir doch bloß früher …«

»Das hat doch keinen Sinn, Oliver. Wir können lange darüber nachdenken, was wir hätten verhindern können. Dabei sollten wir uns jetzt eher darauf konzentrieren, was wir nun ändern können.«

»Wir haben in dieser Nacht nicht nur Wilke verloren. Ein Teil von Erik ist mit ihm versunken. Er hat sich verändert, Hanna. Ich glaube … es ist gut, dass du hier bist. Vielleicht holt ihn das aus seiner Bubble raus. Ich komm nicht zu ihm durch.«

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken. »Einen Versuch ist es wert, oder?«

Der Himmel färbt sich rosa, als wir uns verabschieden und ich nach Hause fahre. Mein einziger Gedanke gilt Olivers Worten und der Tatsache, dass ich gerade noch Angst vor zu viel Zeit hatte. Jetzt weiß ich, dass sich der Herbst vielleicht ganz anders entwickelt, als ich ursprünglich gedacht habe. Mein Puls beginnt zu rasen, als ich an Erik denke.

Die erste Liebe vergisst man nicht, denn sie prägt einen für immer. Erik ist seit meiner frühesten Erinnerung ein fester Bestandteil meines Lebens, und damit weit mehr als bloß meine erste Liebe. Er ist derjenige, der Liebe für mich zum ersten Mal greifbar machte.

Wenn ich irgendwie kann, werde ich ihm helfen. Schließlich weiß ich genau, woran er zerbrochen ist, auch wenn er daran keine Erinnerung hat.

3. Kapitel

Hanna

Ich atme die Inselluft ein und Zweifel aus. Mein Elternhaus sieht unverändert aus: weiß gestrichene Fassade, das typische Reetdach, Rosenbüsche links und rechts und angestrichene Fensterläden. Während ich den Weg zur Haustür entlanggehe, betrachte ich den liebevoll gepflegten Garten und lächle. Mama verbringt jede freie Minute damit, Blumen zu pflanzen oder sich um das Gewächshaus zu kümmern. Etwas, was mir selbst auch immer viel Ruhe bringt. Bevor ich nach meinem Schlüssel kramen kann, wird die Tür schon aufgerissen.

»Hanna!« Meine kleine Schwester hüpft mit überschäumender Begeisterung um mich herum, ihre Augen leuchten. Mit wilden blonden Locken und einem verschmitzten Lächeln könnte Mia perfekt einem Astrid-Lindgren-Buch entsprungen sein. Drei Sekunden später springt sie mir in die Arme. Einmal die Energie eines sechsjährigen Kindes wiederhaben, das wäre es doch.

»Na, du«, murmle ich und drücke einen Kuss auf ihren Scheitel. Meine Schwester riecht nach dem Erdbeershampoo, das meine Mutter auch für mich gekauft hat, als ich in ihrem Alter war. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, aber ich unterdrücke jeden Anflug von Nostalgie.

Mit Mia im Arm betrete ich den Flur. Wie aufs Stichwort erscheint meine Mutter. Sie steht da, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, doch ihre Augen verraten eine Sorge, die sie zu verbergen versucht. »Willkommen zu Hause!«

Ihr Anblick macht mich unerwartet emotional. Vielleicht ist es auch der Ausdruck zu Hause.

»Schön, wieder hier zu sein«, antworte ich und meine es so.

In diesem Moment fällt so viel Anspannung von mir ab, dass mir Tränen in die Augen schießen. Jedes Mal, wenn ich dieses Haus betrete, fühle ich mich so geborgen, dass ich denke: Ich gehe nie wieder fort. Drei Tage später breche ich dieses Vorhaben, weil mir die Decke auf den Kopf fällt und ich zu hibbelig werde.

»Hanna!«, holt meine Schwester sich meine Aufmerksamkeit zurück. »Mama hat Pfannkuchen gemacht. Wir warten schon eine Eeeeeewigkeit auf dich.«

Vorsichtig setze ich sie auf der ersten Stufe der Treppe ins Obergeschoss ab, dann umarme ich meine Mutter. »Ich hab doch gesagt, dass ich etwas später komme.«

»Deine Schwester übertreibt mal wieder maßlos«, grinst sie nun, beginnt mich zu mustern und streicht mir sanft über das Haar, als wäre ich ein Kind. »Du hast abgenommen. Ist es der Stress?«

Das Gefühl von Geborgenheit verpufft so schnell, wie es gekommen ist, auch wenn sie es bloß gut meint. Irgendwie bringe ich ein schlichtes Nicken zustande. »Dann lass uns essen, bevor das kleine Monster verhungert, oder?«

Meine Schwester streckt mir die Zunge raus, rennt aber keine drei Sekunden später in die Küche.

»Wie lange bleibst du?«, fragt Mama mich jetzt etwas leiser, wahrscheinlich, damit Mia es nicht hört.

Normalerweise bin ich nie länger als ein Wochenende hier. Jedenfalls nicht seit … Schnell verdränge ich den Gedanken an Erik und den letzten Sommer. Etwas, das mir überall leichter fällt als hier auf dieser Insel.

»Das steht noch nicht genau fest, aber … wahrscheinlich ein paar Wochen. Vielleicht sogar bis zum Ende des Jahres.«

In diesem Moment könnte ich schwören, dass ihre Augen zu funkeln beginnen. Die Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie versucht, sie sich nicht anmerken zu lassen. Natürlich weiß sie, dass ich nicht ohne Grund wiederkomme. »Lass uns später darüber reden. Komm erst mal an.«

Die lange Autofahrt zehrt an mir, und automatisch unterdrücke ich ein Gähnen. Vielleicht ist es aber auch das Chaos in meinem Kopf, das vier Buchstaben trägt und mich erschöpft. Eisblaue Augen leuchten in meinen Gedanken auf, und mein Herz rastet kurz aus. Vor Wut, Sehnsucht, unterdrückten Gefühlen. Wer weiß das schon genau. Erst mal muss ich mich sammeln, irgendwie eine Stabilität zurückkriegen, die ich in den letzten Wochen verloren habe. Wenn mir das irgendwo gelingen sollte, dann hier.

Die Wärme des Hauses umhüllt mich nun wie eine vertraute Decke, und ich spüre, wie ich mich etwas entspanne. Für einen Moment schließe ich die Augen und genieße die Ruhe. Über Erik kann ich mir auch später noch den Kopf zerbrechen, denn ich habe die Befürchtung, dass ich damit noch genug Zeit verbringen werde.

Ich schüttle den Kopf, um die aufdringlichen Erinnerungen zu vertreiben. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich in der Vergangenheit zu verlieren.

***

Während ich am Esstisch sitze, spüre ich eine Mischung aus Vertrautheit und Distanz. Es wird mehr als deutlich, dass ich einfach viel zu lange nicht hier war.

Mia berichtet stolz von einer Schach-AG, an der sie teilnimmt, und ich bemerke wieder einmal, was für ein kleines Genie meine Schwester ist. Das Thema Windsurfen wird nicht erwähnt. Zuerst empfinde ich Erleichterung darüber, aber irgendwie steht es trotzdem wie ein Elefant im Raum. In diesem Haus war das immer das Gesprächsthema Nummer eins. Wie viele Knoten hat der Wind? Wie hoch werden die Wellen morgen sein? Wann findet der nächste Wettkampf statt? Seit Papa und Lennart sehr regelmäßig gemeinsam nach Griechenland fahren, um dort zu trainieren, und ich mit dem Job als Trainerin von Maria angefangen habe, hat sich einiges verändert. Bei den vielen Wettkämpfen sehe ich Papa und Lennart zwar, aber es ist nicht dasselbe wie früher. Man gewöhnt sich daran, dass die halbe Familie irgendwie immer verstreut ist, aber hier in diesem Haus fühlt es sich ohne meinen Vater und meinen Bruder unvollständig an. Vor allem für Mama ist es seit Mias Geburt anders. Das Reisen hörte für sie auf, und der Fokus verschob sich. Ich bin mir sicher, dass sie sich schon denken kann, was mein plötzliches Auftauchen zu bedeuten hat. Und wahrscheinlich nimmt sie für den Moment Rücksicht, weil ich absolut fertig aussehe. Schließlich wollen wir später noch darüber sprechen, ihre Fragen sind also nur aufgeschoben.

»Bist du nächste Woche noch da?«, fragt meine kleine Schwester mit vollem Mund, und ich errate ihre Worte eher, als dass ich sie verstehe.

»Aber natürlich«, erwidere ich sofort.

Als ich in ihr mit Marmelade verschmiertes Gesicht blicke, wie sie mich über den Tisch und den Berg von Pfannkuchen hinweg anlächelt, wird mir schwer ums Herz. Ich vermisse es, ein aktiver Teil ihres Lebens zu sein.

Fünf Pfannkuchen später bringe ich Mia ins Bett und lese ihr noch aus Briefe von Felix vor. Statt der Briefe von Felix hat Mia die Briefe in das Buch getan, die ich ihr aus aller Welt geschrieben habe und nun vorlese. Kleine Anekdoten von meinen Reisen, die sich viel länger als nur wenige Monate entfernt anfühlen. Worte auf Briefpapier, die mich in Nostalgie versinken lassen. Gerade kommt mir das so fremd vor, als wären es nicht mal meine eigenen Erinnerungen. Ich lese Mia so lange vor, bis sie eingeschlafen ist, und schleiche mich dann auf Zehenspitzen aus ihrem Kinderzimmer.

Erst als ich eine halbe Stunde später unter der heißen Dusche stehe, erlaube ich mir wieder, über den Tag nachzudenken. Ich lasse das Wasser über mich hinwegströmen und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Doch Erinnerungen an die letzten Tage drängen sich hartnäckig in mein Bewusstsein und lassen mich nicht los. Wie Maria stürzt, wie wir in der Notaufnahme warten, wie ich sie verabschiede und mich dann in meinem Hotelzimmer verkrieche. Als könnte ich mich unter der Leinenbettwäsche und mit zugezogenen Vorhängen vor der Welt und den Zukunftsentscheidungen verstecken, die ich jetzt treffen muss.

All das schwirrt mir im Kopf herum, während ich aus der Dusche steige und barfuß über das dunkle Parkett in mein altes Kinderzimmer tapse. Mit zitternden Händen krame ich in der Kommode nach meinem Schlafanzug, der sogar noch nach Waschmittel duftet. Ich bin völlig erledigt, schließlich waren die letzten Wochen des Cups die reinste Achterbahnfahrt, aus der ich kurz vor dem Ende sogar rausgefallen bin. Seuzfend lasse ich mich auf die Matratze fallen. Mama hat das Bett mit fliederfarbener Bettwäsche bezogen, ansonsten sieht alles wie immer aus. Die gleichen Filmposter an der Wand wie früher, die Monstera in der Ecke und auf dem Kopfteil meines Bettes die wenigen Bücher, nach Farben sortiert. Am Spiegel kleben noch Post-its von Erik und mir, auf denen wir Manifestationen festgehalten haben, gleich neben einem Bild, das ihn und mich als Kinder beim Fasching zeigt. Er ist Snoopy, ich bin ein Marienkäfer.

Mit einem Schwung stehe ich doch wieder auf, laufe zum Spiegel. Vorsichtig streiche ich über das Foto, als könnte ich so die Erinnerungen abrufen. Doch es bringt mir nichts als Schmerz, weil es niemals mehr so leicht wird, wie es damals war.

Die vertrauten Geräusche des Hauses dringen gedämpft durch die geschlossene Tür, und ich fühle mich zugleich geborgen und einsam in diesem Raum, der bis vor einem Jahr mein Rückzugsort war. Das Kinderzimmer ist eine Zeitkapsel meiner Jugend, jedes Detail eine Erinnerung an vergangene Träume und gebrochene Versprechen, die mich in diesem Raum umgeben.

Ein leises Klopfen holt mich aus den Gedanken, dann erscheint meine Mutter im Türrahmen.

»Dein Vater ist am Telefon«, teilt sie mir mit gedämpfter Stimme mit und hält mir den Hörer hin. Ihr Blick sagt »Entschuldigung«, aber ich habe mir das selbst eingebrockt. Schließlich habe ich das Hotel in St. Peter-Ording verlassen, ohne mich zu verabschieden. Dabei hatten er und Lennart ihr Zimmer nur eine Etage höher. Im Gegensatz zu mir nimmt mein Bruder noch am Windsurf-Worldcup teil, während Papa sich mittlerweile als Surfer zur Ruhe gesetzt hat und jetzt stattdessen Lennart trainiert. Mama schaut mich mit diesem fragenden Blick an, den sie zu verstecken versucht. Bestimmt weiß sie jetzt auch von meiner fluchtartigen Abreise, weil ich zu feige für gelogene Worte war. Dass ich hier so spontan aufkreuze, war nur der erste Hinweis.

»Alles klar«, antworte ich und nehme den Hörer entgegen. »Hallo, Papa. Hör zu, es tut mir leid, dass ich …«

»Hanna, stopp. Ich wollte nur hören, wie es dir geht.«