Zwischenleben - Frank Berzbach - E-Book

Zwischenleben E-Book

Frank Berzbach

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Beschreibung

Ein Jahr lang fuhr Frank Berzbach mit der Bahn quer durch Deutschland, zu jedem Termin, jeder Verabredung, aber auch zu den verschiedenen "Heimaten", zwischen denen er damals zu Hause war. Es war eine Zeit, die von unterschiedlichsten Empfindungen und Erfahrungen geprägt war: Er verlor sich in der Ortlosigkeit des Unterwegsseins, aber er entwickelte sich dabei auch persönlich weiter. Er verlor das Gefühl dafür, ob er auf dem Hin- oder Rückweg war, und fand dennoch durch die Menschen, bei denen er Unterschlupf fand, ein Zuhause. So vieles begegnete ihm, das ihm durch das Erleben des Alltäglichen eine neue, andere Dimension eröffnete: der Blick aus dem Zugfenster und auf die Mitreisenden, die Meditation über alltägliche Zeitungsnachrichten, das Sterben von Nachbarn und großen Schriftstellern, die gläubigen Momente eines Gottes, der immer mitfährt. Ein Buch für Menschen, die unterwegs sind – zu sich selbst und in der Welt.

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Seitenzahl: 290

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Frank Berzbach

Zwischenleben

Unterwegs in vollen Zügen

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023

ISBN 978-3-7365-0485-1

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023

ISBN 978-3-7365-xxxx-x

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

Covermotiv: Masha Tace / shutterstock.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt
Wie es ist, neben dir wach zu werden
Teas-Maid
Im Durchfahrtsland
Die schwarze Mamba
Auf Abwegen
Vom Bestohlen- und Beschenktwerden
Im Süden
Glücklich erschöpft
Unterdunkelte Gedanken
Im Sperrfeuer
Drei Reisefragen
Reizvolles Gift
Offroad
Musealisiert
Tagsüber im Nachtzug
»Schnell, schnell«
Meerwärts
Am Osterfeuer
Lissabon und zurück
Der Heizung zuhören
Landpartie
Zwischenleben
Perspektivwechsel
Dem Bahnfahren entkommen
Zwei Monde
Trocken Brot ist nicht hart
»Im Einschlafen bin ich immer schlecht«
Schreibzeug
Misanthropische Fahrt
Zwecklos schreiben
Herbstnebel
Kleiderordnung
Heilsame Prinzipienlosigkeit
PS im Vergleich
Alte Sorten
Ein tiefergelegter Bahnhof
Auto mobil
Bossa nova
Nachwort
Zitierte Literatur

Ein wichtiger Begriff in der Reisepsychologie ist das Begehren, denn dieses verleiht dem menschlichen Wesen Bewegung und Richtung zugleich – es weckt die Hingabe an etwas.

Olga Tokarczuk: Unrast

Wie es ist, neben dir wach zu werden

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von ästhetischen Empfindungen. Mein Geld reicht so halbwegs, aber ich lebe von der Schönheit. Und bald habe ich »freie Fahrt«, nur noch einige Tage trennen mich von der »schwarzen Mamba«, so wird die BahnCard-100 genannt. Kein Zuhause, aber immer unterwegs, zwischen den Schienen, Orten und Menschen. Was hat die Netzkarte, abgesehen von der Farbe, mit der längsten Giftschlange Afrikas gemeinsam? Dass ein ICE aussieht wie eine Schlange? Vielleicht fuhren aber auch die Erfinder der Netzkarte im Phantasialand mit der gleichnamigen großen Achterbahn. Denkt man im ICE nun auch an »Beinahezusammenstöße«, wie Achterbahnexperten den kalkulierten Nervenkitzel nennen?

Ich werde meine Karte nicht so nennen. Sie braucht keinen Kosenamen, sie ist nur mein Freifahrtschein, auch wenn ich nicht immer weiß, wohin. Sie steht für eine Möglichkeit, nicht nur für das tatsächliche Fahren. Deshalb bin ich schon Inhaber der Karte, bevor sie gilt. Mein Blick verändert sich. Ich laufe vom Bahnhof in Hamburg-Altona zurück in mein Büro, vorbei an Plakaten. Eine Ausstellung in Düsseldorf. Eine Oper in Berlin. Eine Lesung in Frankfurt. Ein Konzert in Köln. Ja, da könnte ich hinfahren. Ich werde in der Bahn meine Karte vorzeigen und an der Kasse meinen Presseausweis. Danach werde ich wieder zu jemandem gehen, neben dem ich gern erwache. Ich werde nämlich nicht gern allein wach. Ab und zu finde ich in ein vertrautes Bett. Ich weiß nicht immer, in welcher Stadt ich wach werde, aber die Anwesenheit eines anderen Körpers beruhigt mich. Unbewusst arbeitet in uns etwas, uns umgreift die Sorge der Person, die neben uns liegt und die auf uns achtet.

Aber dann breche ich wieder auf, immer bin ich unterwegs. Bevor ich weiterfahre, lege ich einen Brief unters Kopfkissen der Geliebten, statt Blumen. Es ist der Beweis der letzten Nacht. Im Umschlag findet sich eine liebesbriefhafte Erzählung darüber, wie es ist, neben ihr wach zu werden:

Die Sonne fällt auf deine noch geschlossenen Augen, aber die gelbe Wärme malt dir das Lächeln ins Gesicht. Meine Hand fährt über deine Beine und irgend etwas fällt scheppernd vom Bett, am Rand stand noch immer das Tablett, doch das stört uns ebenso wenig wie die Blicke der Nachbarn oder der Vögel durch das große strahlende Fenster. Ist das der anbrechende Sommer? Da, du schreckst auf, über diesen stahlblauen Himmel schießt ein Mauersegler, die Schwalben sind da, und ich drücke dich zurück in die weißen Laken. Im Sommer gilt nur der erste Beatles-Song, der kommt gar nicht erst aus Lautsprechern, sondern ich habe dir die Gitarre, der du einen Namen gegeben hast, in die Hand gedrückt und du sitzt nackt in der Sonne, eins der schönsten Geschöpfe Gottes, und spielst »Black Bird« und dann »In my life« und dann einen Song, den du noch gar nicht spielen kannst, aber das ändert nichts an der Sonne, an den Mauerseglern und ihrer hohen Geschwindigkeit, sie zischen durch diese Schöpfung, sie geben das Tempo des Lebens vor. Aber heute bremsen wir es aus, ins Nichts, und als du sagst, was das für ein schöner Morgen ist, zeigt die Uhr bereits halb vier. Aus solchen Träumen erwacht man gar nicht erst, nur wird aus Kaffee irgendwann Weißwein, der über dein Schlüsselbein läuft. Er läuft hinab bis auf das weiße Cover der alten LP der Beatles, die sich noch lange auf dem Plattenteller drehen wird, heute morgen. Da ist dieses weiße Album, es hat Rotweinränder und nun auch Kaffeeflecken, es riecht nach Rauch, es erzählt unsere Geschichte. Erinnerst du dich an Rutherford Chang, diesen Künstler, der in der ganzen Welt das weiße Album kauft, sammelt und ausstellt? Wir haben uns das angeschaut, mit erstaunten Augen, im Museum. Und ob man den Nachmittag einen Morgen nennen kann, das weiß ich nicht, aber ich weiß, es ist ein Tag, an dem ich neben dir wach werde, immer wieder. Es werde Licht.

Das ist besser als ein klassischer Liebesbrief und sinnvoller als ein Tagebucheintrag. Mir reicht der Alltag nicht, also romantisiere ich ihn. Wofür sind Schriftsteller da, wenn sie nicht verzaubern? Die Feier der Schönheit, der Schöpfung ist ein »inneres Gebet«, an dem ich jemanden teilnehmen lasse, eine Außenwelt der Innenwelt. Ich halte mich an Teresa von Ávila, die neben Jesus wach wurde. Sie schrieb: »Das Gebet ist meiner Ansicht nach nichts anderes als ein Gespräch mit einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil er uns liebt.«

Ich mag das Uneindeutige. Warum Brief, Tagebuch, Gebet, Gedicht, Autobiografie, Fiktion und Nichtfiktion voneinander trennen? Ich erzähle mein Leben denen, die ich liebe. Ich führe Tagebuch für andere, bin unterwegs, um davon zu erzählen. Ich dichte, erfinde, lebe – nicht nur für mich selbst. Ich bin unterwegs, mein Atem ist immer dabei, die Unendlichkeit und der Urgrund, auch wenn er unter die Räder kommt. Mein Schreiben ist ein Brief an die, die unterwegs sind. Gott findet sich zwischen den Gleisen, in der vorbeiziehenden Landschaft, in meinen Liebesbriefen und im Tintenfass, in meinem Notizbuch. Briefe! Das Neue Testament besteht vor allem aus Briefen, also wird auch das neueste Testament daraus bestehen müssen.

Ich denke, seit ich die BahnCard gekauft habe, an alles zugleich, nur lesend komme ich auf den Punkt. Daher schleppe ich immer Bücher mit mir herum, heute Karl Marx. Sein Buch »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« lese ich auszughaft auf Reisen. Die Schärfe dieses Stils, die heilsame Wut. Der Philosoph der Arbeit hat mir den Begriff der »Bohème« nahegebracht. So bezeichnet er das »fahrende Volk«, er ist keineswegs auf der Seite der Menschen ganz unten, sondern eher bei den ordentlich-sesshaften Lohnarbeitern. Die Klientel der Bahnhofsmission lag ihm nicht am Herzen. Diese Bohème ist dem Vater der Kommunisten ein Graus: »Zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse.«

Meint er Jesus? Den zog es zu den Außenseitern, er gehörte zum wandernden Volk. Die Klientel der Sozialarbeitenden, der alten amerikanischen Folksänger, der Menschen ganz unten – Marx war nicht auf ihrer Seite. Ich bin Teil seiner Aufzählung, wenn auch zeitlich versetzt und keineswegs hungernd, als Schreibender zwischen den Bahnhöfen gehöre ich beruflich zu den Literaten. (Die Kunst, zu lesen besteht auch darin, vieles auf sich zu beziehen.) Allerdings zähle ich mich nicht zum »Lumpenproletariat«. Ich hatte eine Vielzahl von Jobs, sogar promovierter Fahrradkurier war ich, aber das bedeutet nicht, dass ich mich nicht sorgfältig gekleidet hätte. Ich denke zu viel darüber nach, was ich lese, aber immerhin im weißen Hemd. Kleidung hat Einfluss auf die Lektüre! »Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen«, schrieb die großartige Maeve Brennan.

Erst einmal hole ich mir Pommes. Ich muss Geld sparen, weil ich über 4.000 Euro ausgegeben habe für die BahnCard. Ich habe noch nie so viel Geld auf einmal ausgegeben. Ich stelle mir die Frage, was ich für solch einen hohen Betrag kaufen würde, wäre ich nicht so gern unterwegs. Meine kühnsten Wünsche liegen dar­­unter: Eine Omega Speedmaster Moonwatch? Einen Aurora Optima, den schönsten italienischen Füllhalter? Das Fahrrad meiner kühnsten Träume? Einen maßgefertigten Anzug, rahmengenähte Schuhe, begehrte Sneaker, teuren Whisky, rare Schallplatten oder besonderer Wein ... alles unter 4.000 Euro. Gemessen am Kapitalismus sind das überschaubare Träume. Ich kaufe mir lieber freie Fahrt und ein paar Bücher.

In meinem 50. Lebensjahr habe ich also die größte Investition meines Lebens getätigt und kann nun in jeden Zug steigen. Die Pommes schmecken, ich habe mich damit auf eine Bank ans Gleis gesetzt. Ein ICE gleitet langsam und würdevoll in den Kopfbahnhof. Ich sehe mich in den verspiegelten Fenstern. Bald kann ich einsteigen und mich später darum kümmern, wohin der Zug überhaupt fährt. Vielleicht ticken die Menschen, wie Sigmund Freud sie sah: Wir sitzen auf einem Pferd, das reitet, wohin es will – und wenn wir ankommen, ruft der Reiter: »Hier wollte ich sowieso hin!« Von Hamburg aus fährt der ICE über Berlin nach München, drei anziehende Städte. Auf dem Gleis gegenüber steht ein IC, der nach Westerland auf Sylt fährt. Mit »Kurswagen«, der in Niebüll abgekoppelt wird und von einer Diesellok bis zur Fähre nach Amrum und Föhr gezogen wird. Ich beobachte gern Vögel und laufe durchs Wattenmeer. Neulich habe ich ein Buch über einen Habicht gelesen, wenn meine Begeisterung einsetzt, möchte ich von vorn beginnen – nach dem Buch über Habichte wollte ich Naturforscher sein.

Ich möchte nicht nur unterwegs sein, sondern die Welt dazu einladen. Bleibt in Bewegung, das erweitert den Horizont! Wobei: Möchte ich überhaupt, dass andere auch so eine BahnCard-100 haben? Das würde die Exklusivität verringern. Und ein Problem erzeugen: Die Menschen, von denen ich weiß, sie könnten ständig unterwegs sein, sehe ich nie. Sie sind nämlich unterwegs! In den Zügen selbst möchte ich mich nicht verabreden, ich möchte Leute an ihren Heimatorten besuchen. Ein Nomade ist man nur so lange, wie andere sesshaft sind. Die Menschen, die meine Reiseziele bevölkern, sollen verwurzelt sein. Sie sollen da sein, wo sie sind und wo sie hingehören. Uwe lebt in Eisenach (und manchmal in Paris). Christian lebt in Freiburg (und unterrichtet in Basel). Micha und Dorle leben in Köln, Axel in Berlin. Coraly lebt in Frankfurt, Ana und Ralf in Hamburg, Christian in Freiburg. Und sie sollen auch dort bleiben. Auch der Dom bleibt in Köln! Wenn alle unterwegs wären, das würde mich verunsichern. Die großen Religions­gründer zogen umher, aber viele ihrer Anhänger sind in Klöstern sesshaft.

Eine Gesellschaft, in der alle eine Mamba hätten, also der gesamte öffentliche Verkehr kostenlos wäre, wie würde die aussehen? Gäbe es überhaupt noch Liebesbeziehungen, die keine Fernbeziehung sind? Hat man überhaupt noch eine Fernbeziehung, wenn man eine BahnCard-100 besitzt?

Manchen erscheint eine Fernbeziehung als Extrem, anderen das Zusammenleben mit einem einzigen Menschen. Neulich erzählte mir ein Freund, sie führen zu einer eigenartigen Hochzeit. Die Frau lebt parterre im gemeinsamen Haus, zusammen mit ihrem Kind, der Vater und Ehemann lebt in einer eigenständigen Wohnung im dritten Stock, dazwischen wohnt noch ein Rentner, der lebenslanges Wohnrecht hat. Nun heiraten sie, ziehen aber nicht zusammen. Beziehungsweise: Wohnen sie getrennt? Sie leben in einem Haus. Die Beziehungsformen scheinen wie die Lebensorte unendlich vielfältig. Wer etwas daran seltsam findet, sagt damit vor allem etwas über sich selbst. Ich lebe in keiner klassischen Beziehung, dann wäre ich heimisch oder schein-heimisch. »Serielle Monogamie« ist etwas, dem ich misstraue. Aber ich lebe keineswegs besser, sondern nur ein Jahr lang, in dem ich fahren kann – ja, fahren muss –, wohin ich will, um meiner Heimatlosigkeit zu entgehen.

Nur zum Teil wählt man seine Lebensform, manches geschieht von selbst oder man fügt sich. So wie Menschen in eine Wohnung ziehen, die kaum etwas von ihrer Wunschliste enthält, aber eben den richtigen Spirit hat, so leben Partner getrennt oder eben zusammen, fern oder nah. Ferne und Nähe sind räumliche, aber auch innerseelische Kategorien. Beide korrespondieren miteinander, und das führt zu erstaunlichen Liebesverhältnissen. In japanischen Romanen lieben sich Menschen über Jahrzehnte hinweg, ohne sich jemals zu sehen. Ihre tatsächliche Begegnung scheint die imaginierte Reinheit fast zu stören. Ich kannte einmal eine Frau, der war es ganz gleichgültig, ob man sich sah oder nicht. Ob man nebeneinander wach wurde oder nicht. Die Abwesenheit veränderte ihre Liebe gar nicht, und manchmal fragte ich mich, ob die Anwesenheit sie veränderte. Sie liebte, als sei es eine angenehme Nebensache, mit sporadischen glücklichen Zufallsbegegnungen, aber all das geschah eher in ihr und nicht zwischen ihr und dem Geliebten. In ihr waren sich die Figuren nah, vor allem, wenn man ihr fern war. Diese Frau fiel in die Zeit, in der ich ortlos war, unsere Wege kreuzten sich immer wieder. Ein dezen­triertes Leben ist vielleicht die Voraussetzung für die Mamba, vielleicht wird sie irgendwann verschreibungspflichtig? Warum soll jemand, der an einem Ort arbeitet, lebt und liebt, jeden Monat so viel Strecke machen? Die Möglichkeit der grenzenlosen Freifahrt ist ein Phänomen der Moderne – sie gilt als Angebot an alle, die es entweder nie geschafft haben, sesshaft zu werden, die vom Gefühl des innerländlichen Fernwehs bestimmt sind, für die, die sich ortsunabhängig verlieben können oder deren Job sie durchs Land treibt. Auf der Rückseite der BahnCard steht in blassblauer Frauenhandschrift das Wörtchen »Unrast«.

Die Vielfahrer gehören einem Sondermilieu an. Ich schätze, sie besitzen oft eine akademische Ausbildung. In Bezug auf die Männer kommt hinzu: Ihr Selbstbild schwankt nicht, nur weil das prestigeträchtige Automobil fehlt. Ein PKW ist eine sichtbare materielle Tatsache. Er steht vor dem Haus, strahlt, sein Wert ist offensichtlich, und man schließt auf die Potenz des Besitzers – jedenfalls glauben das die Besitzer. Sitzt man drin, fühlt man sich an den Hebeln der Macht. Man kann über die Autobahn rasen und andere hinter sich lassen. Ich aber lehne mich in meinem bequemen Sitz zurück. Bahngleise, die sporadisch an Autobahnen vorbeiführen, geben Auskunft: Ein Sportwagen ist schnell, aber ein ICE mit 290 km/h lässt auch den potenten Raser alt aussehen. Würden die ICEs parallel zur Autobahn fahren oder würde die Trasse sogar zwischen den beiden Spuren liegen – es wäre eine Kränkung für eine bestimmte Sorte Männer. Tim Parks hat den Gedanken, »dass die Umweltverschmutzung durch Autos sich nicht auf die Abgase beschränkt; das Autofahren verschmutzt auch den Geist, (...) es vergiftet ihn und wühlt ihn auf«.

Das kann ich nachvollziehen. Meist kreuzen die Züge Autobahnen mit zähfließendem Verkehr, bei so viel Pferdestärken eine Erniedrigung. Jeder Regionalzug ist schneller. Dass man die Potenz eines Autos noch immer in Pferdestärken bemisst – es bleibt eigenartig. Steckt dahinter die Sehnsucht, auf einem hohen Ross zu sitzen? Auch das Sitzabteil der Eisenbahn wurde in Anlehnung an die Pferdekutsche gestaltet, die Pferde sind uns noch auf der Spur. Mich interessieren PS nicht, mich interessiert vor allem: die Liebe. Und man gewinnt keine Geliebte mithilfe eines Automobils. Ich achte auf gutes Schuhwerk, großen Wortschatz, innige Liebesbriefe, eine wohlklingende Plattensammlung und romantische Lyrik, ich verschenke Rosen. Und ich bin eher angezogen von Menschen, die an Gott glauben oder zumindest eine wohlwollende Neugier gegenüber der Religion haben. Da ist Größeres. Agnostiker können innige Christen sein. Ich möchte keinen Applaus für meinen Glauben, sondern lieben, die Schönheit feiern und mich hingeben. Wenn ich verliebt bin, fahre ich mit der Bahn bis vor ihre Tür. Und das insgesamt ist die Lebensform von Glaube, Liebe und – Mobilität. Keine bürgerliche, aber eine christliche Bohème.

Das digitalnomadische Freiheitsgefühl wird nur zur Realität, wenn die Arbeitsform es erlaubt. Dies alles gilt für die, die ihre Arbeit dabeihaben können. Stift, Papier, Buch, Laptop und WiFi. Vielfahrer setzen ihr Homeoffice auf Schienen. Es wird zum Mobiloffice.

Wo ist überhaupt »home«? Wenn ich die Bibel richtig verstehe, sind wir nur auf Transit durch diese Existenz, bei Gott sind wir später – vorher sind wir zu ihm unterwegs, ganz gleich, wie sesshaft wir auf der Erde sind. Ich kenne einige Leute, die kaum noch wissen, wo sie sind. »Hast du morgen Zeit, ich bin in Europa« schrieb mir einmal ein befreundeter Philosoph, der in Singapur eine Professur hat, sein Bruder lebt in den USA und sein Vater ist Amerikanist in Berlin.

Neulich telefonierte ich mit einem Autoren-Freund. Videochat. Nach etwa einer Stunde bemerkte ich: Er ist nicht in Hamburg, er ist in Portugal, wie er sagt. Dann korrigiert er sich: »Athen inzwischen.« Erst nach einigen Minuten fiel ihm ein: Diese Wohnung, in der er gerade sitzt und die er mit seiner Frau zwischengemietet hat, ist in Athen. Die Wohnung in Portugal haben sie gerade günstig gekauft, aber sie ist noch nicht fertig. Er arbeitet für seine Auftraggeber in Hamburg von Athen aus. Die buchen das unter der Rubrik: Homeoffice. Er hat ein Künstlerbuch geschrieben mit dem Titel »How to Never Arrive Anywhere: Kein Ratgeber für die ewig Suchenden«.

Teas-Maid

Ich sitze in einem IC, der von Hamburg bis Essen durchfährt. So kommen die Fahrgäste in den Genuss, ohne Stopp, ohne Durchsage und ohne Störung über drei Stunden durchs Land zu rollen. Eine Situation, die es im sesshaften Leben gar nicht mehr gibt: drei Stunden ohne Ansage. Manchmal geistern verirrte, erschrockene Menschen durch den Zug, die nach Bremen, Münster oder Osnabrück fahren wollten, in den falschen Zug gestiegen sind und dann von Essen aus zurückfahren müssen. Ich habe diese Sprinter, wie die Bahn die Direktverbindungen nennt, schon öfter genommen. Ich bevorzuge inzwischen das Abteil. Eine kleine, abgeschottete Welt für sich.

»Die Existenz von Zügen mit Abteilwagen geht von einer mehr oder weniger homogenen Gemeinschaft aus, die sich mit sich selbst wohlfühlt, einer Gesellschaft, in der man vielleicht riskiert, einen lästig lauten Mitfahrer zu erwischen, aber keinen Wahnsinnigen, der einen ermorden will, keinen Terroristen aus irgendeinem Land, von dem man noch nie gehört hat«, schreibt Tim Parks. Mit dem Mann würde ich gern ein Abteil teilen! Er beschreibt sich als ruhigen Leser, der ungestört sein möchte.

Oft ziehen Leute die Tür auf und fragen, ob das hier die erste Klasse sei. Ich antworte dann dezent ausweichend, um nicht lügen zu müssen. Ich bemühe mich zu wirken wie ein Erste-Klasse-Fahrgast: souverän und geschäftlich. Laptop aufgeklappt, Smartphone, Kopfhörer und Zeitung liegen auf dem Tisch. Die meisten Leute gehen dann einen Waggon weiter – und ich habe Ruhe zum Schreiben, Lesen oder Hinausstarren. Manchmal gelingt es, allein zu bleiben. Ich komme mir dann vor wie ein Dichterfürst, dem ein eigenes kleines Zimmerchen im Zug zusteht. Wahrscheinlich ist Thomas Mann so gereist und später Günter Grass.

In der Bahn treffe ich immer wieder Buchmenschen. Meist sind es Frauen. Männer lesen, meiner Beobachtung nach, weniger. Paul Auster oder Haruki Murakami, Siri Hustvedt oder Olga Tokarczuk, die großen Romane liegen in Frauenhänden.

Die Schriftstellerin Isabel Bogdan lebt in Hamburg, sie ist Übersetzerin aus dem Englischen. Aber die Stadt an der Elbe gehört auf eigentümliche Weise zu England, denke ich manchmal. Das Wasser ist weich und der Tee schmeckt vorzüglich. Man ist etwas distanzierter, hat dafür aber einen wunderbaren Humor, der Ironiefähigkeit voraussetzt. Die Zukunft wird Isabel als englische Dame erinnern wie auch Jane Gardam, deren deutsche Stimme sie ist. Ich muss sie erwähnen, weil ich wegen ihr eine schwarze Mamba habe. (Ich nenne sie nun doch so. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern!) Mit Isabel, also auch mit Jane, saß ich in einer Bürogemeinschaft. Einmal sagte sie, dass sich für sie die BahnCard-100 fast rechne. Was? Sie hat nicht einmal eine Fernbeziehung, wie kann es sich für sie rechnen, aber nicht für mich? »Hast du bedacht, dass auch der Nahverkehr in ganz Deutschland drin ist?«, fragte sie über ihren Kaffee hinweg. (Ich war ein wenig konsterniert, weil ich dachte, wer »Der Pfau« geschrieben hat, der muss doch Tee mit Milch trinken.) Ich hatte das nicht bedacht, kündigte also das Ticket, welches mein Arbeitgeber für 60 Euro pro Monat anbot, und schon rechnete sich plötzlich die Mamba.

Neulich saß ich neben einem Herrn, der W. G. Sebald las, »Die Ringe des Saturn«. Ich erkannte es an den hineinmontierten eigenartigen Fotografien. Auch dieser Herr, der aussah, wie ich mir den Mann von Isabel oder von Jane Gardam vorstelle, sah englisch, ja sogar schottisch aus. Tweed Sakko. Cordhose. Braune Lederschuhe. Zugleich hatte er etwas von Nick Cave, dem letzten Mystiker der Rockmusik. Er listet das Buch von Sebald unter seinen zehn Lieblingsbüchern auf. Man wird durch die intensive Lektüre eines Romans immer ein Teil der Welt, in die man entführt wird. Lange bin ich also durch die Mark Brandenburg gewandert, durch Galaxien und die Antike, war in einem Sanatorium (fast sieben Jahre) – auch bei Thomas Mann eine formidable Zugreise durch Deutschland hoch auf den Zauberberg – und ich habe die Krimkriege erlebt. Ich stelle mir manchmal vor, die Fahrgäste hätten Kostüme an, die ihrer Lektüre entnommen sind. Die armen Stephen-King-Fans, Blut in der Ruhezone! Zurück zum Nick Cave mit dem deutschen Meisterwerk über England. War er Engländer, Englandfan, Schotte, Schottlandfan, einfach Isabels Mann auf Reisen? Das konnte ich nicht einschätzen, und vielleicht ist es, wenn man ein Buch über England liest und gekleidet ist wie ein Engländer, auch ganz gleich. Wer aussieht, als hätte er ein Zuhause, der hat eins. Ich nicht.

Dem Sebald-Leser unterstelle ich, dass die Literatur seine Heimat ist. Wer Sebald liest, der ist Buchmensch, der ist unterwegs. Seine Protagonisten sind Wanderer oder gleich Ausgewanderte. Sie sind so melancholisch, dass nur ein Deutscher sie erfinden kann. Überall tauchen ungefragt die Spuren der schwarzen deutschen Geschichte auf, überall trifft man die, die daran leiden. Äußerlich mag der Vernichtungskrieg 1945 zu Ende gegangen sein, aber innerlich ist er eine Unendlichkeit. Sebald selbst war ein Auswanderer; früh ging er nach England, wohnte bei einer Landlady, die er für eine (ehemalige?) Prostituierte hielt. Das kleine Hotel, in dem er als Student lebte, fungierte als Teilzeitbordell. Seine depressiven Anfälle in der Fremde aber wurden auf wundersame Weise geheilt – durch eine Teas-Maid. Sebald schreibt über dieses eigentümliche Gerät: »Die auf einer elfenbeinfarbenen Blechkonsole aufgebaute, aus blitzendem rostfreiem Stahl gefertigte Apparatur glich, wenn bei Teekochen der Dampf aus ihr aufstieg, einem Miniaturkraftwerk, und das Ziffernblatt der Weckeruhr phosphoreszierte ...« Er gesteht, dass sein »nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und sein bloßes Dastehen untertags« ihn »am Leben festhalten ließ«. Als ich die Passage las, auf einer Fahrt durchs Rheintal – Loreley und Rheinromantik –, da dachte ich mir, ausgehend von einer Teas-Maid, allerhand aus.

Zum einen recherchierte ich, weil ich mir eine solche zulegen wollte. Aber so schön diese Geräte in den 1960er-Jahren auch waren, heute sind sie aus hässlichem weißem Kunststoff, wie billige Wasserkocher. Zum anderen versank ich vielleicht zu tief in der Melancholie, eine Überidentifikation mit dem Autor. Sebald wie auch Kafka könnte man mit mehr Humor lesen. Waren es die Autoren, die das so ernst meinten, oder die Leser, die es noch düsterer färbten? Adorno schrieb einmal, man müsse Kafka gegen seine existenzialistischen Anhänger verteidigen. Wie könnte ich Sebald aufhellen?

In einer denkbaren Folge von »Dr. Who« könnte eine Teas-Maid als Portal zu einer überlegenen außerirdischen Intelligenz fungieren. Die Aliens sind in der alten BBC-Serie immer eine Bedrohung, also müssen die Außerirdischen einen Vorteil davon haben, wenn der junge Sebald überlebt und zum berühmten Schriftsteller wird. Wer so traurige Bücher schreibt, der schwächt die Verteidigungsfähigkeit der Menschheit! Der auch medizinisch überlegene Alien-Geist strömt auf geheimnisvolle Weise durch das kochende Wasser zum lebensmüden, angehenden Autor. Der heilige Lärm der kleinen Apparatur heilt Sebalds Depressionen. Aber nur so weit, dass er seine todtraurigen Meisterwerke weiterschreibt. Würde ich mit so einer Idee die Chance bekommen, eine Folge für »Dr. Who« zu schreiben? Ein Lebenstraum! Es gibt diese großartige Van-Gogh-Folge, also warum nicht Sebald?

Ich lade mir das Dr.-Who-Weihnachtsspecial herunter. Vor allem, um mir an den Adventssonntagen im ICE eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Da die Menschen zu ihren Verwandten unterwegs sind, riecht es nach Weihnachtsgebäck, auch meine Mutter versorgt mich zuverlässig damit. In sechs Tagen werde ich eine schwarze Mamba mit mir herumtragen. Wer soll mir dann noch etwas antun können?

Im Durchfahrtsland

Durch eine Stellwerksstörung bei Remagen halten die Züge nicht in Bonn; ich steige also erst in Köln in den IC Richtung Hamburg. Dankenswerterweise hält dieser Sprinter nur in Düsseldorf und Bremen. Alle Plätze werden als »reserviert« angezeigt, aber noch sitze ich mit nur drei Leuten allein in einem Waggon. Sollte also bei den beiden Bahnhöfen, an denen wir halten, keine Großgruppe einsteigen, werde ich meine Ruhe haben. »Sie sind also Vielfahrer«, sagte die unsichere, aber gut gelaunte, ältere Dame neben mir, nachdem ich ihr alles erklärt habe: Die Zugbindung ist wegen der Verspätungen aufgehoben, »GGF. RESERVIERT« bedeutet meist nichts, der Zug halte nur zwei Mal, sie könne sich beruhigt einrichten (Dominosteine, Illustrierte, Cola, Tupperdose mit geschältem Apfel, Handy am Ladegerät, Taschenbuch).

Von Bonn aus fahre ich mit der Linie 18, die langsam durchs Vorgebirge bis Köln gondelte. So nennt man das Durchfahrtsland zwischen der Rheinmetropole und der ehemaligen Hauptstadt der BRD. Eine Hamburger Filmemacherin hat über diese Region einen ironisch-klugen Dokumentarfilm gedreht. Es ist einer der neuen Heimatfilme, ganz ähnlich wie »Full Metal Village« über Wacken. Beides sah ich in einem Programmkino in Bonn. Als ich danach wieder auf der Straße stand, war ich froh, in einer Stadt zu leben. Im Vergleich zu Wacken oder den Vorgebirgsdörfern ist Bonn eine Großstadt.

Die Vorgebirgsdörfer sind nicht weit weg, man kann mit dem Rad hinfahren, aber sie befinden sich dennoch auf einem anderen Planeten. Der Weg dorthin führt ironischerweise vorbei am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. So nah sind andere Welten. Es gibt im Durchfahrtsland über 200 Junggesellenvereine. Und es gibt Vorbehalte und Kontaktängste gegenüber den beiden Großstädten. Es gibt biografische Verläufe, die es so nur auf dem Land gibt. Und ohne zu wissen, ob das alles gut oder schlecht ist, fühle ich mich bei der Fahrt mit der Straßenbahn durch die Gegend wie ein Tourist. Auf einem Parkplatz stehen aufgemotzte Kleinwagen, eine Gruppe junger Männer und zwei Kaugummi kauende, leicht bekleidete Mädchen. Die Motorhaube eines Autos ist geöffnet, die Jungs mit ihren rasierten Schädeln schauen hinein. So etwa war ich, als ich fünfzehn war; ich war stolz, jemanden mit Auto zu kennen, und dieses Auto war natürlich getunt.

Rentnerpärchen auf Fahrrädern fahren über die Feldwege. Spaziergänger mit Hunden. Im Hintergrund zu diesem Idyll erblickt man allerdings etwas Unerwartetes. In der Ferne lockt nicht die pure Natur, nicht das Siebengebirge, sondern: die qualmenden Ölraffinerien und grauen Plattenbauten von Wesseling und Godorf. Man hat den Eindruck, dies sei eine dystopische Fototapete. Die Filmemacherin hat einige Vorgebirgsbewohner eine Zeit lang begleitet. Ein vollintegrierter Sohn italienischer Einwanderer, der Karriere in einem der Vereine macht. Ein Junge, der – mehr Außenseiter kann man nicht sein – in keinem Junggesellenverein ist und in Köln eine Ausbildung beginnen möchte. Er steht symbolisch für den Weg hinaus. Aber nach einigen einsamen Wochen des Pendelns mit der Linie 18 nach Köln gibt er auf und beginnt eine Lehre beim örtlichen Blumenhändler. Aus der Traum. Oder vielleicht: aus der Alptraum. Wer will das entscheiden? Er wird in einen der Vereine eintreten, um nicht lebenslang Junggeselle zu bleiben.

Ich bin viele Jahre zwischen Köln und Bonn gependelt. Anfangs mit der Linie 16, die vor meinem Büro im Kölner Süden hielt. Ich hatte eine Freundin gefragt, welche Strecke sie bevorzugte, die Regionalbahn der DB oder die Straßenbahn der Stadtwerke. Sie drückte sich nebulös aus. Die Linie 16 sei zwar praktischer, allerdings sei ihre Klientel »in verborgener Weise melancholisch, tieftraurig«, aber das bemerke man erst nach einiger Zeit. Ich hielt sie nicht für romantisch angehaucht, wusste daher nicht, was sie sagen wollte. Ich fuhr mit der Line 16 los (und wenn die nicht kam, nahm ich die 18, die nur einige Minuten später fuhr). Aber schon nach einem halben Jahr hatte ich das Gefühl, in einem Geisterzug zu sitzen. Kaum auf meinem Stammplatz, nahm ich Buch und Kopfhörer zur Hand, später, als ich mir ein Zeitungsabo leisten konnte, die FAZ. Lana del Rey hören, jeden Morgen. Oder Joy Division. Oder Podcasts. Selten nichts. Aber obwohl ich meinen Blick manchmal 40 Minuten nicht vom Buch abwandte, bemerkte ich, dass um mich herum die Unglücklichen saßen. Sie waren müde (ich fuhr gegen sieben Uhr), erschöpft, starrten monoton aus dem Fenster oder in eine Ecke. Manchmal saßen mir zwei Menschen gegenüber, die durch mich hindurchzublicken schienen. Als ich »Das Spiel ist aus« von Sartre las und der Protagonist eine Zeit lang unter den Toten wandelt, in einer seltsam verzerrten Welt, die wie von Mehltau bedeckt scheint, wurde mir in meiner Straßenbahn doch unbehaglich. War ich hinübergeglitten ins Reich der Toten?

Der Film »Möbius« entfaltet in der Tradition des magischen Realismus die Fantasie, ein Zug sei in einer Endlosschleife gefangen und die Fahrgäste mit ihm. Die Geschichte ist erschreckend glaubhaft. War auch die Linie 16 in dieser Gefahr? Die Vorstellung machte mir Angst. Die Hölle, das sind nicht die anderen, die Hölle ist eine Tram.

Im Winter gibt es Tage, die nicht auszuhalten sind. Das Grau entzieht einem die Lebensenergie, die Kälte frisst an den Knochen. Man steht auf vereistem Boden an einer Bahnstation, aber die Bahn kommt nicht. Die Anzeige für die Ankunft des Zuges steht eine halbe Stunde auf »9 Minuten«. Irgendwann fährt langsam eine Bahn ein, die Menschen sind noch trauriger, noch energieloser, noch stärker in sich zusammengesunken. Und ich sank mit ihnen. Auf der Hälfte der Strecke nach Köln hielt der Zug, mitten im leblosen Industrieareal, dem dystopischen Hintergrund der Vorgebirgsdörfer. Ein technischer Schaden, alle mussten aussteigen, alle zurück in die Kälte. Der Schneeregen setzte ein. Ich hatte an dem Tag meinen Schal vergessen. Im Winter ist das wichtigste Kleidungsstück, zumindest für die Psyche, ein Schal. Wind fegte mir brutal über das Schlüsselbein, ich fühlte mich nackt in einer Eiswüste. Ich sagte etwas zu einem in farblosen Farben gekleideten kleinen Mann, der neben mir am Gleis stand, aber er sah nur durch mich hindurch. Zu viert teilten wir uns ein Taxi, der Fahrer hatte seine Freude am Bahnchaos, die Autositze waren sogar beheizt. Das war mein letzter Tag in der Linie 16 gewesen; ich ließ die Straßenbahn sebaldscher Traurigkeit hinter mir.

Ich wechselte von der Straßenbahn zur Bundesbahn. In Köln musste ich dann zwar noch einmal umsteigen, aber dafür war ich die Grundtraurigkeit los. Kein Geisterzug mehr, sondern eine ganz gewöhnlich überfüllte Regionalbahn mit dem morgendlichen Kampf um die besten Plätze. Das Gerangel war manchmal die größte Herausforderung des Arbeitstages. Ich versuchte mir zu merken, wo die Türen lagen, wenn die Bahn auf Gleis 1 in Bonn hielt. Aber kaum hatte ich den perfekten Ort gefunden, wurde ein anderer Zugtyp eingesetzt, und alles begann von vorn. Im Stehen konnte ich nicht meine Zeitung lesen, da ich mich festhalten musste. Quasi aus gekränktem Stolz hörte ich dann auch keine Musik und kam schlecht gelaunt im Büro an. Meine Kollegen sahen mir meine Bahnfahrt an. Erst nach zwei Schalen Tee kam ich langsam zu mir.

Sowohl morgens, aber auch abends traf ich an der Ampel am Bahnhof einen Kneipenfreund, der in umgekehrter Richtung pendelte. Ich lebte in Bonn, er in Köln, ich arbeitete in Köln, er in Bonn. Eine kurze Begegnung, die in ihrem Smalltalk, den hingeworfenen Grüßen und Wünschen, in ihrem ironischen Lächeln und Kopfschütteln über Bahnchaos, Monotonie, Kälte oder Hitze, dem Verlauf unerfreulicher Arbeitstage das ganze Paradox postmodernen Lebens enthielt. Er war Klempner und kam körperlich erschöpft am Abend zum Bahnhof; ich kam geistig erschöpft und vom Sitzen gepeinigt dort an. Oft riefen wir uns ein »Halte durch!« zu, wenn wir entgegengesetzt über die Ampel eilten. Ihn ab und zu abends in Bonn vor einer Bar zu treffen, war überaus witzig. Wir sprachen über die Erfahrungen in der Bahn. Und obwohl wir in verschiedene Richtungen fuhren, war es, als führen wir die gleiche Strecke. Das taten wir in gewisser Weise auch. Wir fabulierten uns eine Psychologie zurecht: ob Leute, die in Köln lebten und in Bonn arbeiteten von anderem Schlag seien als die, die in Bonn lebten und in Köln arbeiteten? Warum lebte man in Bonn und warum in Köln? Er war nach Köln gezogen, einfach der besseren Konzertszene wegen, der ersehnten Nähe zum favorisierten Fußballverein und wegen der eigenartigen mentalen Verbindung zwischen Köln und Hamburg. Der FC Köln und der FC St. Pauli, die gemeinsamen Vorlieben für Punk. Er hatte entweder Besuch aus Hamburg oder fuhr hin, um die Heimspiele des FC St. Pauli zu sehen. Auch Köln nannte er eine »freie Hansestadt«.

Einmal pro Woche telefoniere ich mit meinen Eltern. Ab und zu erwischten sie mich in der Bahn. Ob das nicht furchtbar anstrengend sei und warum ich nicht in Köln wohne. Ich versetzte mich in ihre Perspektive: Sie leben seit ihrer Geburt auf dem Land, haben Haus, Hund, zwei Autos und zwei Kinder. Sie waren nie in ihrem Leben gependelt. Im Gegensatz zu dieser Sesshaftigkeit fielen mir kaum Menschen ein, die dort wohnen, wo sie arbeiten. Mein Chef an der Uni Tübingen lebte in Hannover. Mein Doktorvater in Köln lebte in Frankfurt. Meine beiden Frankfurter Professoren lebten in Amsterdam und Berlin. Eine Kollegin der Uni Dortmund lebte hingegen in Frankfurt. Meine Kollegin in Tübingen lebte in Bonn. Man wusste nie, wer wo war. Manchmal bemerkte man während eines Telefonats, dass man einfach auch einen Kaffee hätte zusammen trinken können. Im Bordbistro.

Für meine Eltern waren diese Leute Teil einer fremden Welt, die sich ihre Probleme und Befindlichkeiten permanent selbst schafft. Wer so lebte, sollte nicht klagen. Selbst schuld. »Du hältst diese Leute doch für sehr klug?«, mein Vater stellte die Frage unbedarft, aber die Antwort kannte er schon. Kann man klug sein, wenn man so lebt? Er fuhr zehn Minuten mit seinem Auto zur Arbeit und kam mittags zum Essen nach Hause. Allerdings hatte seine Kindheit das Gespür für schmerzhafte Distanzen geschult. Da es in der Nachkriegszeit keine Schulbusse gab und seine Eltern kein Auto hatten, gingen sie allesamt zu Fuß zur Schule. Drei Kilometer hin und drei zurück. Das ganze Jahr, ohne Goretex. Sonntags mussten sie durch den Schnee zur Kirche, einen Berg hoch und auf der anderen Seite hinunter. Wahrscheinlich hat mein Vater aus dieser Erfahrung heraus als Erwachsener nie wieder freiwillig einen Gottesdienst besucht.