Aarauer Finsternis - Ina Haller - E-Book

Aarauer Finsternis E-Book

Ina Haller

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Enrico Bianchi, Eigentümer des aargauischen Pharmaunternehmens JuraMed und Andrinas neuer Lebenspartner, verschwindet spurlos. Steckt Enricos zwielichtiger Jugendfreund dahinter? Oder hat Andrinas ehemaliger Verlobter Marco Feller von der Kripo Aargau etwas damit zu tun? Da sie nicht weiß, wem sie trauen kann, macht Andrina sich auf eigene Faust auf die Suche und gerät dabei in Lebensgefahr.

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Seitenzahl: 370

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Ina Haller wurde 1972 geboren. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kurz- und Kindergeschichten sowie Kriminalromane. Sie lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Im Emons Verlag erschienen «Tod im Aargau», «Gift im Aargau», «Der Metzger von Aarau», «Schatten über dem Aargau», «Aargau-Fieber» und «Der Fluch von Aarau». www.inahaller.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Am Ende findet sich ein Glossar.

© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: RoFi/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-492-6

Originalausgabe

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Prolog

Er lehnte sich zurück und betrachtete die Leiche, die vor ihm im Bett lag. Er konnte es nicht fassen, was er vor wenigen Augenblicken erfahren hatte. Sein Leben war zerstört. Nicht nur das. Alles, woran er geglaubt hatte, war zerstört. Unwiederbringlich. Durch sie.

Jetzt hatte sie ihre gerechte Strafe. Sie war aus dem Leben gerissen worden. Mitten in ihrer besten Zeit. Er hatte gehofft, das werde ihm Erleichterung verschaffen. Doch das tat es nicht. Es milderte seine Wut nicht. Im Gegenteil. Sie wurde weiter angestachelt.

Er stand auf und lief vor dem Bett auf und ab. Vor dem Fenster blieb er stehen und starrte in die dunkle Nacht. Die Strassenlaternen waren ausgefallen. Die Schwärze draussen spiegelte seine Gefühlslage wider. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, und eine Böe liess das Glas erzittern. Die schmale Kiesstrasse vor dem Haus konnte er nur erahnen, weil er wusste, dass sie dort war. Das Haus war das letzte in der Sackgasse und befand sich direkt am Waldrand.

Vom Wohnzimmer her hörte er das Schlagen der Uhr. Mitternacht. Er liess seinen Blick über die Dunkelheit schweifen. Bei diesem Wetter war um diese Uhrzeit keiner unterwegs. Hier schon gar nicht. Das war gut so. Kurz verdrängte der Anflug von Panik seine Wut. Beruhige dich. Es hat niemand etwas bemerkt.

Mit der Hand fuhr er durch seine dunklen, kurz geschnittenen Haare. Seine Atmung normalisierte sich. Mit der Zeigefingerspitze strich er durch den getrimmten, gepflegten Bart. Sie hatte den Bart gehasst, ihn aber am Ende geduldet, als er sich durchgesetzt und ihn hatte wachsen lassen. Im Nachhinein kam es ihm vor, als bereue sie, was sie getan hatte, und würde als Strafe seinen Bart ertragen. Beinahe hätte er aufgelacht. Das war lächerlich.

Eine neue Windböe schleuderte Regen gegen das Fenster, und er meinte, draussen ein Bersten zu hören. Ein Schatten raste auf das Haus zu. Er wich zurück. In dem Dunkel glaubte er den Schemen eines Baumstammes zu sehen, der in die Richtung des Hauses gekippt war, es aber knapp verfehlt hatte. Das musste die uralte Eiche sein. Sie hatte sich öfter beschwert, der Baum sei morsch und stelle eine potenzielle Gefahr dar, aber er hatte es nicht übers Herz bringen können, diesen alten Baum zu fällen.

Er stiess die Luft aus, die er angehalten hatte. Knapp daneben war auch vorbei. Das Haus war der Katastrophe entkommen. War das ein Zeichen? Er wandte sich zum Bett. Die kleine Lampe, die auf dem Nachttisch stand, verbreitete schummriges Licht. In diesem Licht schien ihr Gesicht besonders zu erstrahlen, was eine neue Woge der Wut in Gang setzte. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er stellte sich an das Bettende und betrachtete die Frau. Sie strahlte Frieden aus. Fast als würde sie schlafen. Es war, als sei alle Last von ihr abgefallen. Beinahe wirkte sie, als würde sie vor Erleichterung schweben.

Je länger er sie betrachtete, desto deutlicher meinte er, sogar ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen. Die Wut wechselte in Zorn. Er ballte die Hände zu Fäusten. Es war ungerecht.

Sie hatte ihren Frieden gefunden, obwohl es ein schlimmer, aber kurzer Todeskampf gewesen war. Die Erinnerung an ihr verzerrtes Gesicht und die vor Angst geweiteten Augen zauberte ein Lächeln auf seine Lippen, das gleich darauf wieder erlosch. Der Todeskampf mit der damit verbundenen Angst musste vergessen sein. Wie war es nach dem Tod? Er war sich sicher, an dem Ort, an dem sie nun war, gab es keine Schmerzen und keine Angst mehr. Warum war ihm das nicht früher in den Sinn gekommen? Er hätte anders gehandelt. Sie hätte länger leiden müssen. Stattdessen hatte er es abgekürzt. Ein Fehler, der ihm zunehmend keine Ruhe liess.

Er wandte sich ab und nahm seine Wanderung wieder auf.

Die Frage, wie sie ihm das hatte antun können, kreiste unaufhörlich durch seinen Kopf. Eine nächste gesellte sich dazu: Wie war es ihr gelungen, es so lange vor ihm geheim zu halten? Oder anders formuliert: Warum hatte er ihren Betrug nie bemerkt?

Wieder hielt er vor dem Bett an. Sie wirkte wie eine Heilige. Eine Scheinheilige.

«Hexe», murmelte er. «Hoffentlich kommst du in die Hölle.» Gab es überhaupt eine Hölle? Bisher hatte er nie über das Leben nach dem Tod und die Möglichkeiten, die es bereithalten konnte, nachgedacht. Er wünschte sich zu wissen, was passierte und wohin man gelangte. So hätte er vielleicht ein wenig Ruhe gefunden.

Der Zorn bohrte sich wie ein Stachel in sein Fleisch. So würde er nicht weiterleben können. Eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Immer deutlicher trat sie hervor. Das war die einzige Möglichkeit, die er hatte, um Ruhe zu finden. Genau. Das würde er tun. Die notwendigen Angaben dazu hatte er. Er wandte sich ab. Vor der Tür blieb er stehen und blickte zurück.

«Ich werde alles tun, damit du in der Hölle schmorst oder an einem Ort, an dem es nicht angenehm ist und wo es keinen Frieden geben wird. Für alles, was folgt, bist du verantwortlich. Sogar im Tod lädst du weitere Schuld auf dich. Dafür wirst du büssen. Bis in alle Ewigkeit.»

EINS

«Es tut mir leid, dass ich spät bin.» Enrico Bianchi trank in einem Zug das Glas Wasser leer und füllte es am Wasserhahn nochmals auf. Er wirkte genauso erschöpft, wie Andrina sich fühlte. Sie wünschte, es wäre bereits Wochenende, aber leider war heute erst Mittwoch.

Seine fast schwarzen Augen wirkten matt, was diesen Eindruck verstärkte. Seit einem Monat lief viel bei dem Pharmaunternehmen JuraMed, und das schien nun seinen Tribut zu fordern. «Es war ein beschissener Tag.» Mit der Hand fuhr er durch seine dunklen vollen Haare.

«Was ist passiert?» Andrina lehnte sich neben ihn an die Küchenanrichte. Sie löste das Haarband und fasste ihre schulterlangen dunklen Haare zu einem neuen Rossschwanz zusammen.

Enrico griff nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. «Köbi hat gekündigt. Ausgerechnet jetzt. In einem Monat kommt ein neues Produkt auf den Markt, und ausserdem ist da die Umstrukturierung des Verkaufs.»

«Köbi? Du meinst Köbi Steiner?»

«Sì.»

«Warum das?» Köbi Steiner war für Enrico mehr als nur ein Mitarbeiter. Der Mittfünfziger war ein Freund und wie eine Vaterfigur für ihn. Wenn Enrico einen Rat brauchte, ging er zu ihm. Das war einer der Gründe, warum er ihn vor einem halben Jahr zum Verkaufsleiter befördert hatte. «Auf Köbi kann ich mich hundertprozentig verlassen», hatte Enrico ihr einmal gesagt.

«Wenn ich das wüsste», seufzte er und nahm einen weiteren Schluck Wasser.

«Hat nichts darauf hingedeutet?»

«Nein.»

«Es muss Anzeichen gegeben haben», hielt Andrina dagegen. «Es muss etwas vorgefallen sein, sonst würde er nicht in dein Büro marschieren und dir die Kündigung übergeben.»

«Er ist nicht in mein Büro marschiert. Sie kam heute als eingeschriebener Brief.»

«Er hat sie dir nicht persönlich gegeben?», fragte Andrina verwundert. So feige hätte sie ihn nicht eingeschätzt.

Sie hatte Köbi Steiner bereits mehrmals getroffen. Er war die einzige Person, die sie von Enricos Mitarbeitern bisher persönlich kennengelernt hatte. Ihr war der Mann mit seiner ruhigen Art sofort sympathisch gewesen. Sie hatte nachvollziehen können, warum Enrico viel von ihm hielt.

«Hast du ihn nicht gefragt?», fragte sie.

«Er war nicht da. Seit dem Wochenende ist er krank.»

«Hast du ihn angerufen?»

«Am Montagmorgen fand ich eine E-Mail von ihm, in der er sich entschuldigte, nicht zur Arbeit kommen zu können. Ich habe versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber er hat nicht abgenommen. Daraufhin habe ich ihm ein WhatsApp geschrieben. Er hat geantwortet, es sei eine Sommergrippe. Er sei heiser und könne nicht reden. Daher sei er nicht ans Telefon gegangen. Er schrieb zudem, er würde sich melden, wenn es besser wäre. Ich fragte ihn, ob er etwas brauche, woraufhin er meinte, er sei gut versorgt. Seine Nachbarin kümmere sich um ihn.»

Andrina konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Köbi Steiner war alleinstehend. Rosa Fankhauser, die ebenfalls alleine wohnte und im selben Alter war, hatte ein Auge auf ihn geworfen. Zwischen den beiden schien sich etwas anzubahnen, hatte Enrico ihr vor Kurzem augenzwinkernd erzählt.

«Das Nächste, das du von ihm gehört hast, war die Kündigung?», fragte Andrina weiter.

«So ist es. Das Telefon hat er wieder nicht abgenommen. Ob er immer noch heiser ist oder einfach nicht mit mir sprechen will, weiss ich nicht.»

Andrina stellte sich vor Enrico, legte die Arme um seine Taille und schaute zu ihm auf. «Besuch ihn! Wenn die Grippe ihn im Griff hat, wird er zu Hause sein. Ich denke, es wird sich alles relativieren. Er könnte sich nicht trauen, dir in die Augen zu schauen, weil ihn die Konkurrenz abgeworben hat.»

«Konkurrenz? Abwerben?»

«Du hast vor längerer Zeit von dieser Praxis erzählt und dass du froh seist, weil das bei JuraMed bisher nicht passiert ist. Ich hätte Köbi anders eingeschätzt, trotzdem könnte das der Kündigungsgrund sein.»

Enrico fasste Andrina an den Schultern und schob sie ein Stück zurück. Lächelnd sah er sie an. «Auf diese Idee hätte ich selber kommen können. Ich sehe zu, mit ihm zu reden. Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, sich umzuentscheiden.» Er küsste sie. «Wie geht es dir überhaupt?»

«Ich weiss nicht. Mal habe ich das Gefühl, es ist besser, und im nächsten Augenblick wieder nicht.»

«Ich glaube nicht, dass es der Fisch von vorgestern Mittag war. Wir hatten beide das gleiche Gericht, und ich habe nichts gemerkt.» Sie hatten sich in der Mittagspause in der Stadt getroffen und waren zusammen essen gegangen.

Am Abend hatte Andrina Übelkeit verspürt. Das Unwohlsein hatte sich über die letzten beiden Tage hingezogen. Es war nicht schlimm genug, um sich krankzumelden, dafür aber lästig. Grossen Appetit verspürte sie nicht. Sie fragte sich, wie es beim Apéro sein würde. Nach Hin- und Herüberlegen hatte sie beschlossen zu gehen, weil sie Kilian nicht enttäuschen wollte. Kilian Gerber war neu beim Cleve-Verlag. Er wollte seinen Einstand geben und hatte zu einem kleinen Apéro in den Garten eingeladen. Jeder könne seinen Partner mitbringen. Sie hatte sich mit Enrico bei seinem Haus, unweit der Kunsteisbahn Aarau, in der Nähe des Stadtwaldes verabredet, damit sie gemeinsam hinfahren konnten.

«Es muss nur eins von den Fisch-Chnusperli gewesen sein», sagte sie mit Nachdruck. «Ausgerechnet eins, das auf meinem Teller lag.»

«Mein Angebot mit dem Grappa steht weiterhin.» Enrico grinste. «Ein guter Schluck würde sämtliche Bakterien oder was sonst nichts in deinem Magen zu suchen hat abtöten.»

Andrina schüttelte den Kopf. «Das ist nichts für mich.»

«Überlege es dir. Ich sollte endlich bequemere Kleidung anziehen.» Er deutete auf seinen Anzug und stellte das Glas in den Geschirrspüler.

Andrina füllte Wasser in ein Glas und trank. Obwohl es bald Ende August war und die Hundstage fast vorüber waren, hatte der Sommer die Schweiz weiterhin im Griff. Zwar war es nicht mehr hochsommerlich heiss, aber das tüppige Wetter heute setzte ihr besonders zu. Für die Nacht waren vereinzelte Gewitter vorausgesagt.

Es klingelte an der Haustür. Enrico kam die Treppe nach unten geeilt. Er brummte einige Worte, die Andrina nicht verstand.

Stimmengemurmel. Die Stimmen wurden lauter, und Andrina hörte zwei Personen, die Richtung Wohnzimmer gingen. Verwundert verliess sie die Küche. Im Wohnzimmer traf sie auf Enrico, der den Anzug inzwischen gegen eine Jeans und ein anderes Hemd getauscht hatte, und einen Mann, den sie nicht kannte. Er musste das gleiche Alter wie Enrico haben und war ebenfalls ein südländischer Typ – dunkler Teint und schwarze Haare. Er war kleiner als Enrico und hatte die Sonnenbrille auf die vollen Haare geschoben. Mit der Hand fuhr er über seinen kurz getrimmten Vollbart. Er trug eine Jeans und ein T-Shirt.

«Andrina, das ist Sergio Moretti, ein Freund von mir», sagte Enrico.

Das Gesicht des Mannes verdunkelte sich für einen Moment, aber nicht vor Verlegenheit, sondern vor Ärger. Warum? Weil sie in den Raum gekommen war?

«Muglièra toja?», fragte er.

Bevor Enrico antworten konnte, fuhr Moretti fort, auf ihn einzureden. Er sprach immer schneller. Andrina stutzte. Das war kein normales Italienisch, obwohl es zwischendurch so klang. Es war schwer, dem Inhalt zu folgen. Hin und wieder gelang es ihr, einzelne Worte herauszufiltern. Bisher hatte sie Enrico nie in diesem Dialekt sprechen gehört, was sie verwirrte. Wenn Andrina und Enrico alleine waren, redeten sie normalerweise italienisch miteinander, und inzwischen war diese Sprache für Andrina zur Selbstverständlichkeit geworden.

Die Wörter flogen hin und her. Freundschaftlich klang es nicht gerade.

Wörter wie jurnata, frate, morte kamen wiederholt vor.

Andrina zuckte zusammen. Morte – Tod? Gleich darauf fiel der Name JuraMed. Sätze prasselten gegen Enrico. Zu Andrinas Erstaunen fiel seine Antwort ruhig aus – so, wie er während des Wortgefechtes geblieben war. Andrina verstand immer mehr. Zumindest glaubte sie, den Sinn des Gesagten zusammensetzen zu können. Es schien, als mache Moretti Enrico Vorwürfe, der Eigentümer von JuraMed zu sein. Es klang, als sei es unfair, weil Enrico es zu etwas gebracht hatte im Gegensatz zum frate. Bruder? Wen meinte Moretti damit? Marco Feller? Wer war ausserdem Stefano, dessen Name mehrmals fiel?

Wieder flogen Worte hin und her. Das, was Moretti sagte, klang zunehmend wie eine Drohung.

Sie suchte nach einer Möglichkeit, wie sie die Dynamik, die das Ganze entwickelte, durchbrechen konnte, als der Mann unvorhergesehen das Wohnzimmer verliess. Kurz darauf fiel die Haustür mit einem Knall ins Schloss.

Enrico wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Seine Schultern bebten. Andrina wusste nicht, was sie tun sollte. Als er sich nicht rührte, ging sie auf ihn zu und berührte seine Schultern. Enrico drehte sich um, und sie erschrak, als sie sein versteinertes Gesicht sah.

«Was wollte der?», fragte sie.

In Enricos Gesicht arbeitete es. Als er den Mund öffnete, klingelte sein Handy. Er holte es aus der Gesässtasche und nahm das Gespräch entgegen.

Seine Augen weiteten sich, und sein Gesicht wurde blass.

«Ich komme sofort», sagte er in seinem italienisch gefärbten Hochdeutsch und beendete das Gespräch. Er starrte auf das Handy. «Porca miseria! Ein Unglück kommt selten allein.» Er hob den Kopf. «Ich fürchte, ich kann nicht mit zu Kilian kommen. Bei JuraMed ist der Alarm losgegangen. Es sieht so aus, als sei jemand eingebrochen. Ich muss sofort in die Firma. Die Polizei ist vor Ort.»

«Und Sergio Moretti?»

«Später. Da möchte ich in Ruhe mit dir darüber reden.»

Betrübt schob Andrina das Velo den Brügglifeldweg entlang und bog in die Bachstrasse Richtung Aarau ab. Vom Brügglifeldstadion schallte Jubel zu ihr. Sie blieb stehen und schaute zurück. Offenbar hatte es ein Tor für die Aarauer gegeben. Heute war das erste Heimspiel der Saison. Andrina überlegte, ob die Mannschaft es dieses Jahr schaffen würde, wieder in die Super League aufzusteigen. Zwar war sie kein Fussballfan, aber sie würde es der Mannschaft gönnen.

Sie wandte sich ab und setzte ihren Weg fort. Besonders grosse Lust hatte sie nicht, alleine zu Kilians Apéro zu gehen. Sie hatte sich auf den Abend gefreut, obwohl sie Angst davor gehabt hatte. Es wäre das erste Mal, Enrico mit zu einem Anlass vom Verlag zu nehmen. Bisher hatten sie es vermieden, Kontakt zu dem Kollegenkreis des anderen zu halten. Diese unausgesprochene Regelung war in erster Linie von Andrina ausgegangen.

Nach der Trennung von Enricos Halbbruder Marco Feller vor eineinhalb Jahren hatte sie befürchtet, jeder werde Enrico mit Feller vergleichen und neugierige oder aufdringliche Fragen stellen. Beispielsweise, ob es ernst mit ihnen war oder wann sie endlich zusammenziehen würden.

Als sie nach der Trennung von Marco Feller mit Enrico zusammengekommen war, hatte sie sich vorgenommen, es langsam und nicht so überstürzt wie damals bei Feller angehen zu lassen. Die Trennung von ihm war für sie schmerzhaft gewesen, obwohl ihr klar gewesen war, dass keine Vertrauensbasis mehr zwischen ihnen existierte, was eine gemeinsame Zukunft unmöglich machte.

Als Andrina bei Feller ausgezogen war, war sie mit ihrer Freundin und Arbeitskollegin Gabi Hug nach dem Tod ihres Mannes in eine Wohnung gezogen, die in der Nähe vom Cleve-Verlag lag, der seine Büroräume an der Entfelderstrasse hatte.

Gabi … Inzwischen war Andrina sich nicht mehr sicher, ob diese WG eine gute Lösung war. Seit ihrer Entführung hatte Gabi sich verändert. Andrina fand es verständlich, aber es betrübte sie, weil ihre Freundschaft von diesen Veränderungen betroffen war. Sie hatte gehofft, dass sie sich nach den Ereignissen vor bald zwei Jahren gegenseitig eine Stütze sein würden. Funktioniert hatte das nicht. Sie gingen sich je länger, je mehr aus dem Weg.

Andrina überlegte, ob sie Kilian absagen sollte. Was sollte sie angeben? Die Übelkeit, die sich wieder verstärkt hatte, seit sie von Enricos Haus losgezogen war? Offenbar stimmte die Aussage, Dinge könnten einem auf den Magen schlagen, vor allem, wenn dieser nicht fit war.

Sie beschloss, trotzdem zu Kilian zu gehen. Das würde sie ablenken. Die nächste Frage war, ob sie mit dem Velo fahren oder lieber den Bus nehmen sollte. Sie fühlte sich mit dem Velo nicht sicher. Zwar war sie stolz darauf, wie weit sie sich von den schweren Rückenverletzungen erholt hatte, die sie sich vor bald zwei Jahren zugezogen hatte. Inzwischen konnte sie ein selbstständiges Leben führen. Sie konnte laufen und hielt – je nach Tagesform – Spaziergänge von bis zu zwei Stunden durch, wenn sie ihre Walkingstöcke mitnahm. Dennoch gab es eine Menge Einschränkungen. Eine davon war ihr Gleichgewichtssinn, was Velofahren zu einer Herausforderung machte. Besonders, wenn die Strecke entlang stark befahrener Strassen führte, wie zum Beispiel zu Kilians Haus in Rombach. Sie ging in Gedanken die Strecke durch. Bachstrasse, Bahnhofstrasse, Kasinostrasse und danach durch die Aarauer Altstadt. Den schmalen Velostreifen über die Kettenbrücke fand sie abschreckend. Andrina beschloss, einen Abstecher zu ihrer Wohnung zu machen, um das Velo zu Hause abzustellen. Sie würde mit dem Bus zur Haltestelle Aarepark fahren und von dort zu Kilian laufen.

Andrinas Gedanken kehrten zu Moretti zurück. Was war das für ein Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war? Andrina forschte in ihrem Gedächtnis nach seinem Namen. Bisher hatte Enrico ihn nie erwähnt. Wenn er tatsächlich ein Freund gewesen wäre, hätte er von ihm erzählt.

Nach einem lang ersehnten Wiedersehen zweier Freunde hatte das Gespräch auch nicht ausgesehen. Im Gegenteil. Morettis Verärgerung war greifbar gewesen. Verärgerung stimmte nicht. Bedrohung passte eher. Warum brachte er bei seinem ersten Besuch JuraMed zur Sprache? Würde ein Freund nicht neugierige Fragen zur Frau stellen, die ins Wohnzimmer gekommen war, und einen dummen Spruch machen nach dem Motto: «Wow, du hast mir ja deine hübsche Frau verschwiegen.» Stattdessen hatte er Andrina nur einen kurzen Blick zugeworfen und sie danach ignoriert.

Mafia, schoss es ihr aus heiterem Himmel durch den Kopf. Andrina blieb stehen und starrte auf den Stadtbach. Zwei Erpel kamen angeschwommen, in der Hoffnung, Brot zu ergattern. Andrina nahm sie nur am Rande wahr.

Enrico stammte aus Süditalien – südlich von Neapel.

Steckte er mit der Mafia unter einer Decke, oder wurde er erpresst? Das konnte und wollte sie nicht glauben. Ausserdem hätte sie es früher merken müssen, falls das so war. Hätte sie das? Nicht unbedingt. Dafür lebte er zu lange in der Schweiz.

Das muss nichts heissen, meldete sich die mahnende Stimme im Hinterkopf.

Andrina erschrak, als die beiden Erpel vor ihr quakten. Sie waren aus dem Bach herausgekommen und auf sie zugewatschelt. Da sie nichts bekamen, taten sie ihren lautstarken Protest kund und kehrten ins Wasser zurück.

Keine Mafia, beschloss Andrina. Nicht Enrico. Genauso keiner seiner Freunde. Die Stimme im Hinterkopf blieb lästig. Was, wenn doch, flüsterte sie.

***

«Da bist du ja endlich», rief Kilian. Er schüttelte Andrina die Hand und führte sie in seinen Garten.

«Wo hast du deinen Freund gelassen?», rief Lukas, der ihr entgegenkam. «Wolltest du ihn nicht endlich in unsere erlauchte Gesellschaft einführen?»

Enttäuschung, seine Neugierde nicht befriedigt zu bekommen, huschte über sein Gesicht. Beinahe hätte Andrina gelächelt. Lukas war zu einfach zu durchschauen.

«Bestimmt hat sie ihn ausgeladen», sagte Gabi. Das hätte freundschaftliches Geplänkel sein können, wenn es nicht so spitz geklungen hätte.

«Bei JuraMed ist eingebrochen worden», sagte Andrina.

«Oh, der grosse Unternehmer bekommt Probleme?», fragte Gabi.

«Was soll das?», mischte sich Lukas ein.

Wiederholt hatte Gabi ihre Antipathie gegenüber Enrico zum Ausdruck gebracht. Sie hatte darum gebeten, Enrico nicht in ihre Wohnung mitzubringen. Warum sie ihm gegenüber so empfand, konnte Andrina sich nicht erklären. Auf ihre Nachfrage hin hatte Gabi geschwiegen und ihr schliesslich erklärt, sie wolle mit einem Neureichen nichts zu tun haben. Sie könne nicht verstehen, wieso Andrina sich von Marco Feller getrennt habe und sich stattdessen diesem reichen Schnösel an den Hals geworfen hatte. Damit war die Diskussion zu Ende gewesen.

«Eingebrochen?», wiederholte Lukas. «Wieso das?»

«Medikamente können lukrativ weiterverkauft werden», mischte sich Kilian ein.

«Stopp, das habe ich nicht gesagt. Enrico bekam einen Anruf und ist Hals über Kopf losgezogen.»

«Er hat bestimmt Drogen auf Lager», warf Gabi ein.

«Was für Drogen?», fragte Lukas erstaunt.

«Gewisse Medikamente, zum Beispiel die Betäubungsmittel, sollten nicht in die falschen Hände geraten», räumte Andrina ein.

Ging es bei dem Einbruch wirklich darum, fragte sie sich. Das würde zu ihrem Mafiagedanken passen. War der Einbruch eine Warnung? Sie dachte an Moretti. Sein Auftauchen passte zeitlich gut mit dem Einbruch zusammen. Wurde Enrico erpresst? Musste er Schutzgeld zahlen oder wie man das nannte? Konnten Italiener, die in der Schweiz lebten, Opfer solcher Erpressungen werden? Warum nicht, lieferte sie sich die Antwort gleich selbst. Hör endlich damit auf.

Kilian berührte ihre Schulter. «Du bist blass. Ist dir nicht gut?»

Andrina zwang sich zu einem Lächeln. «Der Schock oder das Wetter.»

«Oder beides zusammen.» Lukas reichte ihr ein Glas Wasser. Dankbar trank Andrina einen Schluck.

«Hier.» Kilian hielt ihr einen Teller mit Apérohäppchen hin, und Andrina fragte sich, woher er ihn aus dem Nichts gezaubert hatte. Sie musterte die Häppchen. Ein Pouletspiessli und zwei Schinkengipfeli lagen darauf. Zwei Spiesse mit Trauben und Käse und einer mit Cherrytomaten und Mozzarella. Daneben lag ein kleiner Haufen Chips. Ihr Magen brummte. Sie realisierte, dass sie seit dem Morgen nichts Handfestes gegessen hatte, wenn man von dem halben Sandwich am Mittag absah. Zwar war ihr übel, aber das konnte inzwischen als Hunger interpretiert werden. Dankbar schob Andrina Trauben und Käse in den Mund. Sie beschloss, nicht mehr über den Einbruch und die möglichen Mafiaverbindungen nachzudenken.

Andrina schloss die Tür zu ihrem Zimmer in der WG-Wohnung und legte sich auf das Bett. Sie starrte an die Decke. Sie hatte die Lampe nicht angeschaltet. Nur das Licht von der Strasse erhellte das Zimmer. Von unten her drang das Geräusch vorbeifahrender Autos nach oben. Ihr Zimmer war zur Entfelderstrasse ausgerichtet. Die Geräusche einer befahrenen Strasse waren etwas, an das Andrina sich nicht gewöhnen konnte. Sie wollte trotzdem das Fenster nicht schliessen, denn es war stickig im Zimmer. Wie so oft in den vergangenen Monaten hatte sie sich gefragt, warum sie Gabi das Zimmer auf der anderen Seite überlassen hatte. Dort war die Strasse nicht so deutlich zu hören. Sie hätte ausziehen können. Dazu hatte sie sich allerdings nicht aufraffen können.

Du bist verwöhnt, dachte sie. So schlimm ist es mit der Strasse wirklich nicht.

Sie dachte an Kilians ruhige Wohnlage in Rombach. Er hatte eine schöne Wohnung im Parterre eines Dreifamilienhauses mit einem grossen Garten, den alle im Haus gemeinsam nutzen konnten. Lange hatte sie es bei Kilian nicht ausgehalten. Andrina war nicht in Partylaune gewesen und aus reiner Höflichkeit eine Stunde geblieben. Sie war die Erste, die gegangen war, aber niemand hatte es kommentiert. Nur Gabi hatte Andrina einen unergründlichen Blick zugeworfen.

Andrina streckte sich. Es knackte in ihrer Lendenwirbelsäule – dort, wo sie damals die schweren Rückenverletzungen davongetragen hatte. Es folgte zum Glück kein Schmerz, sondern Erleichterung.

Sie dachte an den langen und mühsamen Weg, den sie gegangen war, um zurück ins Leben zu finden. Das Ziel, selbstständig und nicht auf andere angewiesen zu sein, hatte sie erreicht. Längst war nicht alles gut, aber sie war dankbar dafür, wie es war.

Sie hätte es nie alleine geschafft. Ohne Enrico wäre sie heute nicht da, wo sie war. Sein Glaube an sie und seine mentale Unterstützung hatten ihr geholfen.

Das Handy klingelte. Andrina musste lächeln, als sie auf das Display schaute.

«Land unter», sagte Enrico ohne grosse Einleitung. «Bildlich gesprochen, meine ich.»

«Es ist also wirklich jemand eingebrochen?»

«Ein Fenster wurde eingeschlagen. Ob der Einbrecher bis ins Gebäude vorgedrungen ist, weiss ich nicht.»

«Kennt man den Grund für den Einbruch?»

«Nein. Das werden die Fragen der Polizei sein, die sie mir stellen wird.»

«Wird? Haben sie das noch nicht?»

«Ich warte darauf. Damit will ich sagen, es könnte länger dauern.»

«Von ‹länger dauern› bin ich bereits ausgegangen.»

«Es tut mir leid, dass ich nicht mitkommen konnte.»

«Kilian hatte Verständnis. Er meinte, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.»

Ein leises Lachen drang an Andrinas Ohr. «Wie war es?», fragte er.

«Okay.»

«Nur okay?»

«Ich war nicht in Partystimmung. Nach dem Einbruch und nach diesem Moretti. Kann er eventuell mit dem –»

«Moment», fiel Enrico ihr ins Wort. «Ich glaube, ich werde endlich befragt. Ich melde mich morgen bei dir. Irgendwann vor dem Kongress.»

Andrina musterte ihr Handy. Nach einer Weile wurde das Display dunkel.

Ob Moretti mit der Mafia zu tun hatte und daher mit dem Einbruch in Verbindung stand, hatte sie fragen wollen. Sie legte das Handy auf den Nachttisch und starrte an die Decke. Andrina war erschöpft. Allerdings war ihr klar, sie würde nicht schlafen können. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Ihr gelang es, Moretti auf die Seite zu schieben.

Über ihr gab es einen dumpfen Aufschlag. In der Wohnung oben musste etwas umgefallen sein. In dem Block gab es immer Geräusche, obwohl man die Nachbarn nicht als laut bezeichnen konnte. Die Leute waren nett. Es wurde gegrüsst, oder man wechselte, wenn genug Zeit war, einige Worte miteinander.

Andrinas Gedanken drifteten zu Enricos Haus und dem Garten. Du kannst zu ihm ziehen. Kaum war der Gedanke im Kopf formuliert, zog sich ihr Magen zusammen. Nein, das konnte sie nicht. Lass solche Gedanken nicht zu.

ZWEI

Andrina streifte die Sandalen ab und lief über den kühlen Rasen zu dem Sitzplatz am kleinen Teich. Sie genoss es, wenn sie in Enricos Garten war. Das Grün um sie herum fehlte ihr besonders, seit sie mit Gabi in einer Wohnung lebte. Sie liess sich auf das bequeme Sofa fallen und schaute zum Haus. Da alles grün war und blühte, fiel ihr auf, wie sich alles verändert hatte. Letzten Herbst hatte er beschlossen, den Garten und die Hausfassade neu zu gestalten. Den Job hatte er Andrina übertragen, und sie war mit dem Gärtner zusammengesessen.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Der Efeu war von der Fassade verschwunden. Diese war in einem hellgelben Ton gestrichen worden, zu dem das Blau der Fensterläden passte. Der Garten wirkte wie ein Park im Miniformat, mit dieser gemütlichen Sitzecke und einem Hängekorb unter dem Kirschbaum. Büsche zu den Nachbargrundstücken gaben Sichtschutz. Bei den einzelnen kleinen Beeten hatte Andrina bei der Bepflanzung darauf geachtet, dass das ganze Jahr hindurch eine oder mehrere Pflanzen blühten – so wie im Moment die Bartblume, der Lavendel und die Rosen, die bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr Blüten hatten und einen süssen Duft verströmten.

Andrina streckte die Beine aus. Heute war das Rückenturnen, das sie seit einem Jahr zweimal in der Woche besuchte, anstrengend gewesen. Ihr Blick wanderte zur Terrasse. Letzte Nacht war Aarau von Gewittern verschont geblieben. Sie sollte sich endlich aufraffen und die Pflanzen in den Kübeln giessen. Wenn Enrico unterwegs war, übernahm sie diesen Job. Ihr Handy klingelte.

«Ciao, Bella.»

Enrico klang unbeschwerter als am Morgen, als sie miteinander gesprochen hatten, nachdem er Bescheid gegeben hatte, in Basel angekommen zu sein. Er war spät dran, weil er im Stau gestanden war, und hatte gleich zu seinem ersten Meeting gemusst.

«So wie es aussieht, war der Dieb gestern nicht im Gebäude. Es scheint, als habe ihn der Alarm verjagt», hatte er kurz erzählt. Er hatte berichtet, wie lange sich die Abklärungen und Befragungen in der vergangenen Nacht hingezogen hatten. «Sie gehen davon aus, dass der Einbrecher Medikamente stehlen wollte. So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Die kurze Nacht steckt mir in den Gliedern. Ich war erst um kurz vor drei Uhr zu Hause.» Andrina hatte gehört, wie er unterdrückt gegähnt hatte. «Ich melde mich am Nachmittag», hatte er zum Abschied gesagt. Aus Nachmittag war nun offenbar Abend geworden.

«Wo bist du?», fragte Enrico.

«Ich geniesse die Kühle deines Gartens und wollte mich um die Terrassenpflanzen kümmern. Wie läuft es auf dem Kongress?»

«Es ist anstrengend. Aber um diesen Ärztekongress komme ich nicht herum.» Enrico lachte leise. «Ich hatte einige Meetings, und die sind gut verlaufen.» Er berichtete von den Gesprächen, die er geführt hatte. «Wie du weisst, gibt es morgen als Abschluss dieses Gala-Nachtessen.»

Andrina verkrampfte sich, da sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Bisher war sie darum herumgekommen, als Frau an der Seite des JuraMed-Eigentümers aufzutreten.

«Die Einladung bezieht sich auch auf die Partnerin», fuhr Enrico fort, als Andrina nichts erwiderte. Das hatte er bereits gesagt, als er Andrina davon berichtet hatte. Da Andrina sich nicht dazu geäussert hatte, hatte er es nicht vertieft, wofür sie ihm dankbar gewesen war.

«Es wäre mir wichtig», sagte er leise. «Ausserdem ist morgen Freitag – ideal für einen Ausgang.»

«Okay», hörte Andrina sich sagen, obwohl sie es nicht wollte.

«Danke.» Freude schwang in seiner Stimme mit. «Ich hole dich morgen Nachmittag ab. So musst du nicht mit dem Zug kommen.»

«Ist gut», murmelte sie. Sie rechnete es ihm hoch an, weil er den Weg von Basel nach Aarau und zurück auf sich nahm.

Kurz setzte Schweigen ein, bevor Enrico das Wort ergriff. «Wo wir gerade dabei sind. Begleitest du mich auch am Montagnachmittag? Wie du weisst, ist da die Einweihung unseres Anbaus mit den neuen Büroräumen.» Eine kurze Pause folgte, als warte Enrico auf eine Antwort. «Ich weiss, es ist ein wenig viel im Moment», fügte er hinzu, als Andrina weiter schwieg. «Das wird sich zum Glück bald ändern. Spätestens im Herbst, wenn wir in die Ferien fahren.»

Wo es hingehen sollte, wusste sie nicht. Enrico hatte ihr erklärt, sie überraschen zu wollen.

«Klar komme ich am Montag mit», sagte sie und bemühte sich, locker zu klingen.

«Du bist ein Schatz», sagte er. Seine Erleichterung konnte Andrina deutlich spüren.

Das neue Schweigen wurde unangenehm, und sie suchte nach einer Möglichkeit, es zu brechen.

«Hast du mit Köbi sprechen können?», fragte sie.

«Leider nicht. Er nimmt nach wie vor das Telefon nicht ab. Es ist, als weiche er mir aus.»

«Das würde ich an seiner Stelle auch. Hast du es von einem anderen Telefon aus versucht?»

«Von einem anderen Telefon?», wiederholte Enrico.

«Er kennt deine Nummer. Daher nimmt er nicht ab.»

«Das ist eine gute Idee. Die andere Möglichkeit ist, bei ihm vorbeizuschauen, wenn die Messe zu Ende ist. So möchte ich das nämlich definitiv nicht im Raum stehen lassen.»

«Ich möchte auch etwas nicht länger im Raum stehen lassen», sagte Andrina. «Jetzt, da du nicht zu einer Befragung oder zu einem Meeting musst.»

«Das ist?» Enrico wirkte erstaunt. Er musste den Nachdruck gespürt haben, mit dem Andrina das gesagt hatte.

«Wer ist Sergio Moretti, und was wollte er?»

Stille. Es war, als hätte jemand den Ton ausgeschaltet. Andrina merkte, wie sie den Atem anhielt.

«Das ist eine Angelegenheit, über die ich nicht am Telefon sprechen möchte.»

«Ist er –»

«Bitte, Andrina, nicht am Telefon. Darüber möchte ich in Ruhe mit dir reden», unterbrach er sie.

Immerhin hatte er «mit dir» gesagt. Das hiess, er würde nichts verheimlichen. Geheimnisse gab es bisher nicht zwischen ihnen. Zumindest hoffte Andrina das. Genauso hoffte sie, er meinte es ehrlich, wenn er sagte, er wolle mit ihr darüber reden, und suchte nicht nach Gründen, es vor sich herzuschieben, oder nach neuen Ausreden. Für den Moment würde sie nicht mehr aus ihm herausbekommen. So viel stand fest. Daher beliess sie es dabei und berichtete über ihren Tag im Verlag.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, kehrte Andrina zur Terrasse zurück. Sie füllte die Giesskanne.

«Das überlässt du besser mir.»

Andrina fuhr herum.

«Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.» Beschwichtigend hob Kurt Marquart die Hände.

«Kein Problem.»

«Du sollst nicht die schwere Wasserkanne schleppen.»

«Das ist kein Problem für mich.» Wie froh war Andrina, das inzwischen so selbstverständlich sagen zu können.

«Trotzdem.» Marquart nahm Andrina die Giesskanne ab.

Andrina musterte den hageren, drahtig gebauten Rentner, der ihnen im Garten half. Früher war er Feller zur Hand gegangen, aber dieser hatte ihn im Winter wissen lassen, sich fortan selbst um den Garten kümmern zu wollen.

Für Marquart war es ein grosser Verlust. Er liebte die Gartenarbeit. «Sie hält mich jung», hatte er Andrina einmal anvertraut.

Tatsächlich sah man ihm sein Alter nicht an. Regelmässig wurde er um zehn Jahre jünger geschätzt, als er in Wirklichkeit war.

Er hatte Andrina angerufen, ob sie jemanden kenne. Kurzerhand hatte Enrico ihn eingestellt. Für den frisch im Herbst umgestalteten Garten könne er gut jemanden gebrauchen, da Andrinas Rücken nicht wieder für Gartenarbeit hergestellt war.

Marquart stellte die Kanne auf den Boden. «Eigentlich wollte ich schauen, ob ich Unkraut jäten kann, aber der Boden ist zu trocken und zu hart.»

«Möchtest du etwas trinken?»

«Gerne einen Schluck Wasser.»

Nachdem Andrina eine Karaffe und zwei Gläser auf den Terrassentisch gestellt hatte, liess sich Marquart mit einem Aufseufzen auf einen der Stühle sinken.

«Das tut gut.» Er musterte Andrina. «Darf ich dich etwas fragen?»

«Kommt darauf an», erwiderte Andrina lächelnd.

«Wann zieht ihr endlich zusammen?»

Die Frage brachte Andrina aus dem Gleichgewicht.

«Entschuldige meine Direktheit, aber habt ihr nicht lange genug gewartet?»

Andrina war unfähig zu antworten. Sie fragte sich, warum Marquart ausgerechnet dieses Thema anschnitt.

«Ich weiss, wie schwer du dich damit tust, dich nach deiner Beziehung mit Marco zu öffnen. Du möchtest keinen zu dicht an dich heranlassen, weil du Angst hast, ihn zu verlieren.»

Normalerweise liebte Andrina Marquart für seine Direktheit. Aber jetzt verwünschte sie ihn, weil er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

«Ich möchte es nicht überstürzen.»

«Das kann ich verstehen. Ich möchte dir nicht zu nahe treten. Zu lange warten darf man nicht. Du weisst nicht, was morgen ist.» Trauer huschte über sein Gesicht.

Auf einmal wurde Andrina bewusst, welcher Tag heute war und warum Marquart schwarz gekleidet war. Heute vor zehn Jahren war seine Frau unerwartet gestorben. «Eben stand sie noch am Herd, und einen Augenblick später lag sie auf dem Boden», hatte er Andrina erklärt. Im Spital war sie am selben Tag an den Folgen einer Lungenembolie gestorben. Keiner hatte die Anzeichen dafür gesehen. Besonders Marquart gab sich die Schuld, weil er seiner Frau nicht hatte helfen können.

Abrupt stand er auf. «Ich mache hier fertig», sagte er und verschwand mit der Giesskanne um die Hausecke, um gleich nochmals aufzutauchen. «Enrico ist nicht Marco, auch wenn die beiden Brüder – na ja, Halbbrüder sind.»

«Das bedeutet nicht, dass es automatisch gut geht.»

«Er tut dir gut. Du tust ihm gut. Und wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Andrina, bei vielem im Leben ist nicht klar, ob es gut geht oder nicht. Aber wenn man es nicht riskiert oder besser gesagt nicht bereit ist, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, wird man es nie wissen. Am Ende ist es zu spät.»

«Was war bei dir und deiner Frau zu spät?», fragte sie.

Kurz nahm sein Gesicht einen verschlossenen Ausdruck an. «Wir haben so viel verschoben und gedacht, wenn wir beide pensioniert sind, haben wir alle Zeit der Welt, das zu tun, was uns Freude macht. Dazu kam es nicht. Kaum hatte Greta mit der Arbeit aufgehört, war es zu Ende.»

Die Trauer war deutlich zu spüren, selbst nach so vielen Jahren. Greta war seine Jugendliebe gewesen, und sie hatten jung geheiratet.

Ihr war zudem klar, warum Marquart gekommen war. Er brauchte Ablenkung.

Andrina trug die Gläser ins Haus und wusch sie ab. Danach wanderte sie durch das Haus. Schliesslich blieb sie am Küchenfenster stehen. Marquart goss die Terrassenpflanzen und schlenderte durch den Garten. Es wirkte, als prüfe er, ob es irgendwo Arbeit gäbe. Andrina wandte sich ab und nahm ihre Wanderung erneut auf. Die Begegnung mit Marquart hatte eine innere Unruhe ausgelöst.

Er hatte recht, musste sie sich eingestehen. Sie sollte nicht länger warten. Das Zeichen musste eindeutig von ihr kommen. Am Anfang ihrer Beziehung hatte sie Enrico erklärt, sie wolle es langsam angehen lassen. Als Reaktion darauf drängte er sie nicht.

Warum hatte sie Angst davor, sich ihm richtig zu öffnen? Lag es wirklich am Zerbrechen der Beziehung zu Feller, bei der sie davon ausgegangen war, sie würden immer zusammenbleiben?

Nach aussen wirkten sie und Enrico wie ein normales Paar, aber ihnen beiden war klar, dass der entscheidende Schritt dazu fehlte. Wie lange würde Enrico Geduld haben? Seit ungefähr einem Monat meinte sie zu sehen, wie er unter der inneren Distanz litt, auf die Andrina ihn weiterhin hielt. Sie hatte das Gefühl, er suche nach einer Möglichkeit, das zu ändern, wusste aber nicht, wie. Warum tat sie ihnen beiden das an? Warum suchte sie unbewusst nach einem Haken, der ihrem Glück im Wege stehen könnte?

Ihre Gedanken kehrten zum Auftauchen von Sergio Moretti zurück. War er so ein Haken, vor dem sie sich fürchtete? Hatte Enrico mit Mafialeuten zu tun? Halt, ermahnte sie sich. Falle nicht in deine altbekannten Zweifel. Vertrauen ist das Wichtigste. Wenn sie das nicht hatte, würde es mit ihr und Enrico nicht gut gehen. Ähnlich, wie es bei Feller gewesen war, nur da hatte das Vertrauen von seiner Seite gefehlt.

Für Andrina sah Moretti wie ein Mafioso aus, was nichts heissen musste. Er war ihr unheimlich, und sie hatte Angst vor ihm empfunden. Was war das Geheimnis aus der Vergangenheit, das um ihn herumschwebte?

Warum war der Einbruch bei JuraMed dazwischengekommen? Wieso musste gerade so viel los sein? Hinzu kam Köbi Steiners Kündigung. Andrina fasste einen spontanen Entschluss. Sie würde Köbi Steiner einen Krankenbesuch abstatten. Vielleicht erfuhr sie seine Beweggründe, die er seinem Chef, obwohl sie befreundet waren, nicht sagen würde. Zuerst wollte sie aber oben die Pflanzen giessen.

Sie ging in den oberen Stock und gab der Palme und der Dieffenbachie im Arbeitszimmer Wasser. Schliesslich stand sie im Schlafzimmer. Sie schloss die Augen und atmete Enricos Geruch ein, der in der Luft hing. Andrina stellte die Giesskanne auf den Nachttisch. Der Länge nach liess sie sich auf sein Bett fallen und presste ihr Gesicht in das Kissen.

Sie drehte sich auf den Rücken und lauschte. Stille. Es war ruhiger als in ihrer Wohnung. Sie verspürte den Wunsch, über Nacht zu bleiben. In Enricos Nähe, auch wenn er körperlich abwesend war. Dagegen würde er bestimmt nichts haben.

«Du vermisst ihn», murmelte sie und musste lächeln. Bisher hatte sie derartige Gefühle ausgeklammert. Sie musste sich eingestehen, wie gut sich das anfühlte. Ja, sie würde heute Nacht hierbleiben. Vorher wollte sie bei Köbi Steiner vorbeischauen. Er wohnte nur fünf Minuten zu Fuss von Enricos Haus entfernt in einem der Wohnblöcke am Waldrand unweit des Häxehüslis.

Andrina nahm ihre Handtasche vom Garderobenhaken und verliess das Haus. Sie machte einen Rundgang durch den Garten. Marquart war anscheinend gegangen. Gemächlich schlenderte sie Richtung Garage, um sich danach rechts zu halten.

«Bonasera.»

Andrina fuhr herum und erschrak, als sie Moretti vor sich erblickte. War er ihr gefolgt und hatte gewartet, bis sie kam? Wieso hatte er nicht geklingelt?

«Scusi. Ich wollte Sie nicht erschrecken.» Das klang glücklicherweise nach normalem Italienisch.

«Nessun problema.» Andrina schaffte es zu lächeln, obwohl ihr Herz bis zum Hals schlug.

«Ist Enrico zu Hause?» Andrina machte im Kopf eine Notiz, weil er ihn beim Vornamen nannte. Die beiden mussten also in irgendeiner Form näher bekannt sein. Ob es aber Freundschaft zwischen den beiden Männern war, bezweifelte sie weiterhin.

«No. Kann ich Ihnen helfen?»

«Sind Sie seine Frau?»

«Nicht ganz. Ich bin seine Freundin.» Andrina hielt seinem Blick stand und wunderte sich gleichzeitig, wie ein Südländer solch intensiv grüne Augen haben konnte. In dem dunklen Teint leuchteten sie wie zwei Glühwürmchen. Das trug bestimmt dazu bei, ihn als bedrohlich zu empfinden.

«Kann ich Ihnen helfen?», wiederholte sie.

Moretti schien abzuwägen. Offenbar fragte er sich, was und wie viel Enrico Andrina vom gestrigen Abend gesagt hatte.

«Wann kommt er zurück?»

«Er ist geschäftlich unterwegs», antwortete Andrina und flehte Moretti im Stillen an, nicht nachzufragen, wie er Enrico erreichen könne. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm seine Handynummer geben sollte.

Neues Schweigen stellte sich ein. Andrina fühlte sich unter dem prüfenden Blick zunehmend unwohl. Sie schrak zusammen, als er ihr einen kleinen Zettel hinhielt. Sie starrte auf die Hand, ohne die Notiz zu nehmen. Auf der Unterarminnenfläche erkannte sie einen tätowierten Skorpion.

«Könnten Sie ihm das bitte geben, wenn Sie das nächste Mal mit ihm sprechen. Ich wäre froh, wenn er mich anrufen könnte.»

Zögernd nahm Andrina das Blatt entgegen. «Das kann ich machen», sagte sie und hoffte, der Widerwille in ihrer Stimme war nicht zu deutlich.

«Gràzie assàje.» Damit drehte er sich um. Andrina blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die Büsche, um die Moretti gerade verschwunden war. Nach wie vor klopfte ihr Herz bis zum Hals. Als sich der Herzschlag ein wenig beruhigt hatte, senkte sie den Kopf und betrachtete die Telefonnummer. Gleichzeitig überlegte sie, was sie tun sollte. Sie holte ihr Handy hervor und begann ein WhatsApp zu tippen.

Als sie es abgeschickt hatte, fragte sie sich, ob sie das Richtige getan hatte. Hoffentlich war dieser Mann, der, aus welchen Gründen auch immer, Enrico aufgesucht hatte, wirklich kein Mafioso. Ihre Gedanken kehrten unweigerlich zum Einbruch bei JuraMed zurück.

***

Eine ältere Frau hielt Andrina die Haustür auf. Sie nickte ihr dankend zu. Andrina legte die Hand auf das Treppengeländer und stieg die Stufen nach oben. Inzwischen funktionierte das einwandfrei, obwohl sie um den Halt eines Treppengeländers froh war.

Im zweiten Stock fand sie Steiners Wohnungstür sofort und klingelte. Nichts rührte sich. Andrina überlegte, ob sie ein weiteres Mal klingeln sollte. Inzwischen bezweifelte sie, ob ihre spontane Idee wirklich gut war. Sie sollte sich lieber nicht einmischen. Es war eine Angelegenheit von Enrico und JuraMed und nicht ihre.

«Köbi Steiner ist nicht da.»

Als Andrina sich umdrehte, stand sie einer schlanken Frau mit grauen Haaren gegenüber.

«Was möchten Sie von ihm?», fragte die Frau.

«Ich … wollte einen Krankenbesuch machen.» Andrina verwünschte sich, weil sie stotterte. Sie sollte besser verschwinden, bevor es peinlich wurde.

«Krankenbesuch?»

«Herr Steiner arbeitet in der Firma meines Freundes. Da mein Freund geschäftlich unterwegs ist, bat er mich, bei Herrn Steiner vorbeizuschauen, ob mit ihm alles in Ordnung ist oder ob er etwas braucht.» Etwas Besseres war ihr spontan nicht eingefallen. Erneut verwünschte Andrina sich. Sie ritt sich tiefer in die Probleme hinein. Sie mochte sich Enricos Reaktion nicht ausmalen, wenn er erfuhr, was sie hier tat. Bisher hatte es eine klare Grenze zwischen Andrina und JuraMed gegeben.

Die Frau schaute sie mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck an. «Köbi ist nicht krank. Er ist geschäftlich unterwegs. Er musste, Moment …», sie neigte den Kopf auf die Seite, «in die Westschweiz. Danach wollte er einige freie Tage anhängen und seine Schwester besuchen, die im Jura wohnt.»

Jetzt war es an Andrina, erstaunt auszusehen. «Geschäftsreise? Er ist nicht krank?», stammelte sie. Ihr war bewusst, wie ihr Gestammel herüberkommen musste.

Die Frau zog die Augenbrauen über ihrer Nasenwurzel zusammen. «Wer sind Sie, und was wollen Sie wirklich?» Der Satz «Wenn Sie nicht gleich verschwinden, rufe ich die Polizei» hing unausgesprochen zwischen ihnen.

«Mein Name ist Andrina Kaufmann. Enrico Bianchi von JuraMed bat mich, rasch vorbeizuschauen, weil Herr Steiner ihm gestern gesagt hat, er fühle sich nicht wohl und könne nicht nach Genf fahren», improvisierte sie. Die Notlüge kam leicht über die Lippen. Genf war ihr spontan in den Sinn gekommen. Hoffentlich stimmte das. Und hoffentlich bekam sie einen einigermassen würdevollen Abgang hin.