Aargauer Abgründe - Ina Haller - E-Book

Aargauer Abgründe E-Book

Ina Haller

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Beschreibung

Spannende Unterhaltung mit viel Herz und einer guten Portion Humor. Eine Mordserie, die zunächst ohne Zusammenhang scheint, erschüttert den Aargau. Susanna Marioni von der Kantonspolizei glaubt Hinweise zu erkennen, die auf ihre eigene Vergangenheit weisen, und bittet Andrina, ihr bei ihren inoffiziellen Ermittlungen zu helfen. Was die beiden nicht wissen: Der Täter ist ihnen längst auf den Fersen. Nach einem Anschlag auf ihr Leben muss Andrina untertauchen und erhält dabei Unterstützung von unerwarteter Seite. Aber kann sie dieser Person wirklich trauen?

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Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.

www.inahaller.ch

www.facebook.com/autorininahaller

www.instagram.com/ina.haller.autorin

www.twitter.com/IHaller_Autorin

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende des E-Books befindet sich ein Glossar.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Daniel Bärtschi/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzeptvon Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Produktion: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-96041-758-3

Originalausgabe

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Für Rebecca

Prolog

«Nein! Das reicht nicht!» Ihre Stimme bebte. Wieso verstand er das nicht?

«Warum nicht? Du musst nur warten, bis das Testergebnis vorliegt.»

«Eben, das reicht nicht.»

«Wieso nicht? Du musst ihn damit konfrontieren, und alles zerplatzt wie eine Seifenblase. In den Medien wird über ihn hergezogen werden, und sein angenehmes Leben ist Geschichte.»

«Genau das reicht mir nicht. Nicht mehr. Es ist ja nicht nur er, der schuldig ist. Das Gleiche gilt für die anderen.»

Er kratzte sich am Kinn, den Blick seiner blauen Augen unverwandt auf sie gerichtet.

«Seit letzter Nacht weiss ich es.» Sie hatte sich schlaflos hin und her gewälzt. Eigentlich hätte sie gut schlafen müssen, da sie der Lösung einen grossen Schritt näher gekommen war.

Das Gegenteil war der Fall gewesen. Die Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen waren aufgeblitzt. Wie sie auf dem Boden lag. Die blutbeschmierten Plättli im Bad. Diese Bilder hatten sich unauslöschlich in ihren Kopf gegraben.

Sie war aufgestanden und hatte sich einen Tee zubereitet, in der Hoffnung, die Bilder abschütteln zu können. Dabei wusste sie, diese nie loswerden zu können. Egal, ob sie Erfolg hatten oder nicht. Während sie gewartet hatte, dass der Tee abkühlte, war es ihr auf einmal klar geworden. Ihr Vorhaben war gut, aber es reichte nicht. Der Plan, der sich in ihrem Kopf gebildet hatte, hatte es geschafft, die schrecklichen Bilder verblassen zu lassen. Ihr war bewusst geworden, erst so Ruhe finden zu können und endlich ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Ihr Vorhaben konnte sie nicht alleine bewerkstelligen. Sie brauchte dafür ein weiteres Mal seine Hilfe.

Sie musterte den Mann, der ihr gegenüber auf dem Sessel sass und sich wiederholt mit der Hand über den blonden Dreitagebart strich. Ein Zeichen für seine Nervosität. Ihm war die Geste vermutlich nicht bewusst, aber sie hatte inzwischen gelernt, auf solche kleinen Zeichen zu achten und damit zu erkennen, wie sich ihr Gegenüber fühlte. Ob er die Wahrheit sagte oder nach Ausflüchten suchte. Das, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte, hatte gewisse Vorteile.

«Hilfst du mir?» Sie beugte sich vor und zupfte an ihrer Bluse, damit der Ausschnitt nach unten rutschte.

Sein Blick wurde starr. Er leckte sich über die Lippen.

Es funktioniert, dachte sie erfreut. Ihre eigene Erregung wuchs. Sie öffnete die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse. Zwar war es ihr damals zuerst unangenehm gewesen, aber der Zweck heiligte die Mittel, und der Sex war richtig gut gewesen, wie sie zugeben musste. Durchaus wiederholbar. Sie hatte ihm nicht zugetraut, so gut im Bett zu sein. Um auf ihre Kosten zu kommen, musste sie nicht verliebt sein. Sie musste einfach gewisse Dinge ausblenden.

«Was soll ich genau tun?»

Er rutschte dichter an sie heran, und sie spürte, wie er sich zusammenreissen musste, seine Hand nicht in ihren Ausschnitt zu schieben. Sie legte ihre Hand auf seinen Schenkel und liess sie nach oben wandern.

«Ist das so schwer zu verstehen, was ich möchte?»

Er rutschte ein Stück zurück. «Das ist nicht dein Ernst.»

«Es wäre nicht das erste Mal für dich.»

«Das damals war ein Unfall.» Die Augen huschten zur Seite.

Nein, war es nicht, dachte sie. Als ich beim Auto gewartet habe, konnte ich es genau durch das Fenster beobachten. Damals hatte sie geschwiegen, was ihn davor bewahrt hatte, länger ins Gefängnis zu müssen. Die Tat war nicht verjährt. Falls er sich weigerte, würde sie ihn in der Hand haben.

Als er sie anschaute, erkannte sie, dass er begriffen hatte, was sie wusste und dass sie dieses Wissen einsetzen würde, um an ihr Ziel zu gelangen.

Sie hielt seinem Blick stand, in dem pure Panik zu erkennen war.

«Nun hab dich nicht so», sagte sie. Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihre Brust.

Die Panik in seinem Gesicht wechselte zu Gier. Sein Atem beschleunigte sich. Sie liess ein Seufzen entweichen, als er anfing, ihre Brust zu liebkosen. Sie würde auch dieses Mal voll auf ihre Kosten kommen, obwohl es nicht richtig war.

Er riss ihre Bluse auf, stiess sie auf das Sofa und beugte sich über sie. «Okay», flüsterte er atemlos. «Ich mache es und lasse mir was einfallen.»

Zuckerbrot und Peitsche, dachte sie. Sie wusste, wie sie ihre Ziele erreichen konnte. Und ihn als ihr Werkzeug hatte sie genau da, wo sie ihn haben wollte.

EINS

Andrina hatte das Gefühl, sie schwebe. Sie wagte nicht, zu glauben, dass sie das alles wirklich erlebte.

Als sie die Kirche betreten hatte, hatte sie zunächst einen Schrecken bekommen, wie voll sie gewesen war. Man hatte ihnen gesagt, hundert Leute würden in die Kirche passen. Da Andrina und Enrico im kleinen Rahmen feiern wollten, erschien ihnen die Kirche in Birrwil ideal zu sein – weit genug weg von Aarau, aber nicht zu weit, damit ihre Gäste keinen allzu weiten Anfahrtsweg hatten. Sie konnte sich nicht erinnern, so viele Leute eingeladen zu haben. Dicht an dicht sassen sie auf den Holzbänken und hatten ihre Trauung verfolgt. Bestimmt hatten sich Neugierige daruntergemischt, die dabei sein wollten, wenn der Eigentümer des Aarauer Pharmaunternehmens JuraMed heiratete.

Jetzt nahm sie die Leute nicht mehr wahr und hatte zum ersten Mal das Gefühl, zu verstehen, was gemeint war, wenn jemand sagte, er schwebe auf Wolke sieben. Andrina ging neben Enrico über den Teppich zum Ausgang.

Sie traten durch die Tür, und Andrina musste blinzeln, als ihr die Sonne ins Gesicht schien. Milde Luft strich über ihre Haut. Der Spätsommertag Anfang September gab sich alle Mühe, diesem Tag gerecht zu werden.

Als sich Andrinas Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte sie eine Menschentraube, die sich vor der Kirche versammelt hatte. Entlang des Weges standen Mitarbeiter von JuraMed Spalier. Sie trugen T-Shirts mit dem Logo des Pharmaunternehmens. Einige hielten Rosen in die Höhe, und andere bliesen Seifenblasen in die Luft. Die Kirche hatte darum gebeten, weder Reis noch Blütenblätter zu werfen, was Andrina recht war. Es wurde applaudiert, als Enrico und Andrina durch die Seifenblasen schritten. Die beiden Frauen, die am Ende der Spaliergasse standen, hielten einen Blumenbogen in die Höhe, der mit bunten Bändern behängt war. Am Boden waren einige Kisten aufgestellt.

«Du musst sie darüberheben», rief einer der Männer, den Andrina nicht erkannte.

Sie lachte, als Enrico der Aufforderung nachkam und Andrina hochhob. Sie schob mit der Hand die Bänder zur Seite, als Enrico sie über das Hindernis trug.

Enrico stellte sie auf den Boden und küsste sie. Sofort waren sie von Gratulanten umringt. Sie wurde umarmt und bekam Geschenke in die Hand gedrückt, die sie Seraina weiterreichte, damit sie diese sammeln konnte.

Andrina war überwältigt. So viele wünschten ihnen auf ihrem gemeinsamen Lebensweg das Beste. Immer wieder musste sie sich verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln tupfen. Zum Glück hatte die Kosmetikerin wasserfeste Tusche verwendet. Ein unbeschreibliches Gefühl: Alle waren wegen Enrico und ihretwegen hier.

Zu den ersten Gratulanten gehörten Max Wagner, Susanna Marioni und Samuel Häusermann von der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Aargau. Als Nächste kam Elisabeth Veldt – die Verlegerin des Cleve-Verlags, in dem Andrina als Lektorin angestellt war. Seit der Geburt ihrer Tochter Rebecca arbeitete Andrina an zwei Tagen im Büro des Verlags und die restliche Zeit ihres Fünfzig-Prozent-Pensums von zu Hause aus.

Nach Elisabeth folgten Angestellte von JuraMed, die Andrina teilweise nur vom Sehen kannte.

Kurz darauf nahm Andrinas Schwester Seraina sie und Enrico zur Seite. «Wann möchtet ihr die Gruppenfotos machen?», fragte sie und deutete auf ihren Mann Michael, der vor dem Eingang der Kirche stand. Er war Hobbyfotograf, aber seine Bilder standen denen eines Profis in nichts nach. Er fotografierte gerade ihre gemeinsame Tochter Regina, die Seifenblasen pustete.

«Am besten so schnell wie möglich», sagte Enrico. «So vergessen wir nicht die Gäste, die nur zum Apéro gekommen sind. Am liebsten mit dem See im Hintergrund.» Er deutete zum Hallwilersee.

«Okay, ich hole Mike.»

Andrina liess die Aussicht auf sich wirken. Die Berge waren im Dunst erkennbar. Gegenüber am anderen Seeufer musste Meisterschwanden sein. Auf dem See waren einige Segelboote unterwegs, und Andrina erkannte ein Passagierschiff. Sie blickte Richtung Pfarrgarten und sah fünf Schafe, die auf einem umzäunten Bereich vor dem alten Bauerngarten weideten. Ihr Blöken und das Bimmeln ihrer Glocken trugen zur friedlichen Stimmung bei, die trotz der vielen Gäste herrschte.

Sie dachte an ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als sie fünfzehn gewesen war. Rasch drängte sie die aufsteigende Wehmut zur Seite. Ihre Eltern hätten bestimmt nicht gewollt, dass sie heute Trauer verspürte.

Auf der Seetalstrasse fuhren vereinzelt Autos vorbei. Ihr Blick wanderte weiter zur Linde, die neben der schlichten Kirche stand, die über dem Seetal thronte. So ein schön gewachsener Baum, dachte sie. Hinter ihr war ein Teil des Friedhofs zu sehen. Andrina drehte sich zu ihren Gästen um und erstarrte. Ein Mann schlenderte auf den Torbogen beim Pfarrhaus zu und ging weiter zum Eingang der Kirche. Dort blieb er im Schatten stehen und lehnte sich gegen den Türrahmen … War das etwa …? Sie blinzelte. Nach einigen Sekunden legte er den anthrazitfarbenen Kittel schwungvoll über die Schulter. Er drehte sich um, schritt durch das Tor und entfernte sich mit grossen Schritten über die Zufahrtsstrasse der Kirche. Andrina hatte sein Gesicht nicht erkennen können, aber die Haltung und die Statur konnten stimmen. Nein, dachte sie. Das konnte unmöglich Marco Feller sein. Woher sollte er von ihrer Hochzeit wissen? Er war weit weg.

Nach den Ereignissen an Weihnachten vor etwas mehr als eineinhalb Jahren hatte er versucht, seine Beziehung zu Gabi zu retten. Erfolglos. Ein halbes Jahr später hatte er seinen Job bei Leib und Leben der Kantonspolizei Aargau an den Nagel gehängt, sein Haus vermietet und war mit unbestimmtem Ziel abgefahren. Für eine Auszeit, wie Gabi erklärt hatte. Das war vor ungefähr einem Jahr gewesen. Seitdem hatte keiner mehr von ihm gehört, soweit Andrina wusste.

«Was ist?», fragte Enrico.

«Nichts», erwiderte Andrina.

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. «Du hast eben ausgesehen, als hättest du ein Gespenst gesehen.»

«Mike ist einverstanden, wenn wir die Fotos machen, bevor wir zum Apéro zur ‹Chileschüür› gehen», kam Seraina Andrina zuvor. «Himmel, du bist ja ganz blass. Ist dir nicht gut?»

«Alles ist in Ordnung.» Andrina hoffte, das Lächeln misslang ihr nicht. Sie warf einen kurzen Blick in die Richtung, in die der Mann verschwunden war, bevor sie Seraina und Enrico folgte.

Andrina stand neben Enrico auf dem Steg vor dem Hotel Seerose in Meisterschwanden. Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter und blickte auf den Hallwilersee hinaus. Der fast volle Mond erhellte den See und spiegelte sich auf der Oberfläche.

Da die Sonne längst untergegangen war, merkte man deutlich, dass nicht mehr Sommer war und der Herbst vor der Tür stand. Der kühle Windhauch, der vom See zu ihnen wehte, hatte die Wärme des Tages abgelöst und liess Andrina frösteln. Enrico hatte seinen Arm um sie gelegt, und sie spürte die Wärme seiner Hand auf ihren nackten Schultern.

«Was ist?», fragte er.

«Es ist kühl.»

«Kein Wunder um zwei Uhr in der Nacht.»

Vor einer halben Stunde waren die letzten Hochzeitsgäste aufgebrochen. Enricos Vater war einer der letzten gewesen, die sich verabschiedet hatten. Zuerst hatte Enrico ihm keine Einladung schicken wollen, aber Andrina war hartnäckig geblieben. Sie freute sich, dass die beiden in Kontakt standen, obwohl Enricos Stiefmutter alles andere als erfreut war und sie weiterhin mied. Sie warf ihrem Mann vor, er habe ihr den unehelichen Sohn verschwiegen, und glaubte ihm nicht, dass er erst vor fast vier Jahren von Enricos Existenz erfahren hatte.

Da Andrina zu aufgedreht war, um ins Hotelzimmer zu gehen, waren sie auf den Steg geschlendert.

Sie hatte das Gefühl, weiterhin zu schweben. Es war nicht einfach dahergesagter Kitsch, wenn man behauptete, die Hochzeit sei einer der schönsten Tage im Leben. Andrina empfand Dankbarkeit: Dankbarkeit für Enrico. Dankbarkeit, hier sein zu dürfen. Dankbarkeit für alle, die dazu beigetragen hatten, diesen Tag für sie unvergesslich zu machen.

Es war bis auf das Plätschern des Sees gegen das Ufer und den Steg ruhig. Die Boote, die im kleinen Hafen festgemacht waren, schaukelten.

Diese Ruhe war genau das Richtige, um die Hochzeit nachklingen zu lassen. Wiederholt hatte sie sich heute unauffällig in den Arm gekniffen, um sicher zu sein, nicht zu träumen.

Enrico drehte sie zu sich und küsste sie. «So eine tolle Stimmung. Am liebsten würde ich ein Boot nehmen und mit dir auf den See hinausrudern.»

«Jetzt?»

«Warum nicht?»

Die Idee klang verlockend, musste Andrina zugeben, aber bei dem Gedanken, um diese Zeit draussen auf dem See zu sein, fröstelte ihr. Die Farbe des Wassers war schwarz. Unbehagen machte sich breit.

«Anscheinend kann ich dich nicht überzeugen. Gehen wir zum Alternativprogramm im Hotelzimmer über.» Er küsste sie auf die Schulter, und ein wohliger Schauer durchlief Andrinas Körper.

Auf einmal waren Schritte auf dem Holz hinter ihnen zu hören. Andrina wandte sich um und erblickte Seraina. Sie kam langsam auf ihren hochhackigen Schuhen auf sie zu. Ihr Kleid bauschte sich leicht im Wind.

«Rebecca schläft wie ein Engel», sagte sie, als sie Enrico und Andrina erreicht hatte.

«Danke, dass du nachgeschaut hast.»

Seit Seraina Enricos und Andrinas fast achtzehn Monate alte Tochter gegen einundzwanzig Uhr ins Bett gebracht hatte, war sie wiederholt nachschauen gegangen. Aber das kleine Mädchen hatte sich nicht gerührt. Seraina hatte angeboten, dass ihr Gottenmeitli heute Nacht in ihrem Zimmer schlafen würde, damit es Andrina und Enrico nicht um sechs Uhr aus dem Schlaf riss. Regina, Serainas inzwischen fünfeinhalb Jahre alte Tochter, war begeistert von der Idee gewesen und hatte sich als Aufpasserin für ihre Cousine deklariert.

«Ich sollte langsam ins Bett», sagte Seraina und unterdrückte ein Gähnen.

Als sie sich zum Gehen wandte, löste Enrico den Arm von Andrinas Schultern. «Ich müsste aufs WC», sagte er und blickte Andrina fragend an. «Gehen wir zurück?»

«Ich möchte einen Augenblick bleiben.»

Als die beiden im Gebäude der «Seerose» verschwunden waren, wollte Andrina sich zurück zum See drehen, hielt aber in der Bewegung inne, als sie eine Person Richtung Steg kommen sah. Die Gestalt blieb stehen. Es war, als schaue sie in ihre Richtung. Andrina hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, konnte sie auf diese Entfernung trotz des hellen Mondlichtes nicht erkennen.

Andrina fröstelte ein weiteres Mal und verspürte auf einmal Angst. Gleich darauf schalt sie sich ihrer Phantasie. Wer sollte ihr hier etwas antun wollen? Die Gestalt blieb, wo sie war. Als Andrina sich aufraffen wollte, auf die Person zuzugehen, öffnete sich die Tür beim Hotel. In dem Licht erkannte sie Gabi. Der Lichtstrahl fiel ebenfalls auf die Person. Ein Mann, der sich umwandte. Kurz meinte Andrina, dunkle kurze Haare zu erkennen, als das Licht die Gestalt erfasste, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Der Mann hatte eine dunkle Hose und ein helles Hemd getragen. Den Kittel hatte er locker über die Schulter geworfen. War es einer der Hochzeitsgäste? Warum war er nicht zu ihr auf den Steg gekommen? Er könnte sie nicht gesehen haben, dachte Andrina, obwohl sie das nicht glauben konnte.

Gabi betrat den Steg und näherte sich ihr. Andrina stiess sich vom Geländer ab und ging auf Gabi zu. Auf halben Weg trafen sie sich.

«Ich wollte dir gute Nacht wünschen», sagte Gabi. «Enrico meinte, du seist noch draussen.»

«Ich wollte gerade reinkommen.» Andrina schielte in die Richtung, in die der Mann verschwunden war, und fragte sich, warum sein Auftauchen dieses Unbehagen ausgelöst hatte. Schliesslich war nichts dabei, einen kurzen Blick auf den See zu werfen, bevor man ging.

Gabi hakte sich bei Andrina unter.

«Danke für alles, was du heute für uns getan hast.» Andrina umarmte Gabi.

«Sehr gerne, und es hat Spass gemacht, Seraina in ihrer Brautführerfunktion zu unterstützen.»

Als sie bei der Tür ankamen, blieb Andrina stehen.

«Was ist?», fragte Gabi. Sie wischte eine Strähne ihrer langen blonden Haare, die sie heute ausnahmsweise offen trug, aus dem Gesicht.

Andrina druckste herum. Sie wusste nicht, wie sie es am besten zur Sprache bringen würde. Den ganzen Tag hatte sich keine Gelegenheit ergeben, und sie hatte das Gefühl, wenn sie Gabi darauf ansprach, würde der Tag verdorben sein. Auf der anderen Seite würde sie der Gedanke nicht loslassen, sobald sie im Bett lag.

«Was hast du auf dem Herzen?»

«Ich weiss, das ist eigentlich ausgeschlossen, aber ich hatte das Gefühl, heute bei der Kirche Marco gesehen zu haben.»

Kurz versteifte Gabi sich neben ihr.

Das Thema Marco Feller mieden sie nach Möglichkeit. Zu viel war geschehen. Nach Andrinas unschöner Trennung von ihm war sie mit seinem Halbbruder Enrico und Marco mit Gabi zusammengekommen. Liebe war es zwischen Marco und Gabi nicht gewesen, da er nie über die Trennung von Andrina hinweggekommen war. Gabi war für ihn eher eine Lückenbüsserin gewesen. Das hatte sie deutlich zu spüren bekommen. Wiederholt hatte er versucht, Andrina zurückzugewinnen. Auch nachdem Gabi von ihm schwanger geworden war.

«Entschuldige, ich …», setzte Andrina an.

«Ihm wäre es zuzutrauen, hier aufzutauchen und euch den Tag zu vermiesen.» Die Härte, die Andrina inzwischen kannte, wenn Gabi von Marco sprach, schlich sich in ihre Stimme. «Aber das ist, wie du gesagt hast, unmöglich.» Gabi holte aus ihrer Handtasche ihr Handy hervor. «Gestern Abend hat er mir das geschickt.»

Andrina zuckte zusammen, als sie den gebräunten Mann erkannte, der sich gegen die Motorhaube eines Geländewagens lehnte. Er trug einen Cowboyhut, dessen breite Krempe einen Schatten auf das Gesicht warf, sodass dieses nicht richtig erkennbar war. Im Hintergrund sah Andrina das Gerippe eines Baumes vor einer grossen roten Düne. «Sossusvlei», las sie unter dem Foto.

«Wo ist das?», fragte Andrina.

«Namibia», erwiderte Gabi. «Mitten in der Wüste. Sogar für Marco wird es nicht umsetzbar sein, innerhalb von einem Tag von dort zur Kirche von Birrwil zu kommen, um dir den Tag zu verderben.»

Nachdem sich Gabi vor bald eineinhalb Jahren nach längerer Zeit im Koma den Weg zurück ins Leben gekämpft hatte, hatte sie erklärt, nichts mehr mit Marco zu tun haben zu wollen. Auch ihren gemeinsamen Sohn André sollte er in Ruhe lassen. Zuerst hatte Andrina gedacht, Marco werde rechtliche Mittel in Erwägung ziehen, aber er war einfach abgereist, was nicht zu ihm gepasst hatte.

«Ich wusste nicht, dass ihr Kontakt habt.»

Bestand die Hoffnung, es würde zwischen den beiden alles in Ordnung kommen? Ein räumlicher Abstand mit vorübergehender Funkstille konnte durchaus helfen, Dinge wieder einzurenken.

«Er steht in Kontakt, nicht ich.»

Was sollte das heissen?

Gabi verzog den Mund, was offenbar ein Lächeln sein sollte. «Seit einem Monat schickt er mir diese virtuellen Postkarten. Unsere WhatsApp-Brieffreundschaft ist aber einseitig.» Andrina musste verständnislos aussehen. «Ich antworte ihm nicht.»

«Wenn du nichts mit ihm zu tun haben möchtest, könntest du ihn blockieren.»

«So bin ich informiert, wo er ist.»

Soviel Andrina wusste, hatte Gabi Angst vor Marcos Rückkehr. Sie befürchtete, er könne versuchen, ihr ihren Sohn wegzunehmen. Obwohl sich Marco verändert hatte, konnte Andrina sich das nicht vorstellen.

Gabi legte die Hand auf Andrinas Arm. «Ich hoffe, er bleibt für immer weg.»

«Meinst du, das wird er?»

«Ich hoffe, ihm sagt ein Land so zu, und er bleibt dort hängen.»

«Hier bist du», sagte Enrico.

Gabi steckte rasch das Handy ein. «Ich bin hundemüde und gehe schlafen.» Sie umarmte Andrina und Enrico.

Enrico führte Andrina zu ihrem Zimmer. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Enrico zog Andrina an sich. «Zum Schlafen bin ich zu aufgedreht.» Er öffnete den Reissverschluss ihres Kleides.

«Ich auch.» Andrina erwiderte Enricos Kuss und knöpfte sein Hemd auf.

ZWEI

Andrina hob die schlafende Rebecca aus dem Kindersitz und setzte sie vorsichtig in den Kinderwagen. Einige Strähnen der dunkelbraunen Haare klebten am Kopf. Die anderen lockten sich stärker als sonst.

«Sie sieht aus wie du», hörte Andrina regelmässig. Dem konnte sie nicht unbedingt zustimmen. Die Augen waren eindeutig die von Enrico, was sowohl die Form als auch die Farbe betraf. Das Gleiche galt für Rebeccas Teint, an dem man eindeutig erkennen konnte, dass ihr Vater Süditaliener war.

Andrina schloss die Wagentür und blickte zum Hauptgebäude des Aarauer Pharmaunternehmens JuraMed. Eigentlich wäre am heutigen Dienstag Verlagstag, aber Andrina hatte diese Woche freigenommen.

In den bunten Fenstern reflektierten die Sonnenstrahlen. Ein leichter, warmer Wind wehte, brachte aber keine Abkühlung. Seit gestern war der Hochsommer zurückgekehrt. Es war ungewöhnlich warm für Anfang September, hiess es wiederholt in den Nachrichten. Letzte Nacht hatte es sogar eine Tropennacht gegeben, da die Temperaturen nicht unter zwanzig Grad gefallen waren. Am Himmel waren erste Quellwolken erkennbar, die sich später in Gewitterwolken weiterentwickeln würden, wenn man den Prognosen von Meteo glaubte.

Andrina betrachtete ihre schlafende Tochter. Die Hitze setzte der Kleinen genauso wie ihr zu. Die letzten beiden Nächte hatte sie schlecht geschlafen und holte es nun am Tag nach, wenn sie sich in einer kühleren Umgebung aufhielt – so wie im klimatisierten Inneren des Autos. Das Mädchen blinzelte und richtete sich auf. Als sie Andrina erblickte, strahlte sie sie an. Wenigstens war sie nicht so übel gelaunt und unleidig wie Gabis Sohn André.

«Lass uns reingehen», sagte Andrina zu Rebecca und schob den Kinderwagen Richtung Gebäude. Nach wenigen Sekunden traten Schweisstropfen auf ihre Stirn. Andrina war froh, wenn sie am Wochenende für einige Tage der Hitze im Mittelland entfliehen konnten und ins Unterengadin aufbrachen, um dort für ein verlängertes Wochenende verkürzte vorgezogene Flitterwochen zu verbringen. Das Wetter sollte zwar unbeständiger werden, aber Andrina hoffte, es traf nicht das Engadin.

Andrina betrat das Gebäude, und eine angenehme Kühle schlug ihr entgegen. Im Empfangsbereich war niemand. Andrina wusste nicht genau, in welchem Raum der Apéro stattfinden sollte, den Enrico anlässlich ihrer Hochzeit bei JuraMed organisiert hatte. «Komm gegen drei Uhr», hatte er nur am Morgen gesagt, bevor er gegangen war.

«Oh, Frau Bianchi, Sie sind schon da», sagte eine Frauenstimme hinter ihr.

Andrina brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, dass sie gemeint war. Für sie war es selbstverständlich gewesen, Enricos Nachnamen anzunehmen, aber sie fragte sich, wann sie sich daran gewöhnen würde, damit angesprochen zu werden.

«Kommen Sie, ich bringe Sie zu den anderen», sagte die hoch aufgeschossene Blondine. Sie öffnete mit dem Badge die Tür, die neben dem Empfangstresen war.

Verstohlen blickte Andrina sich um. Es war bereits mehr als ein Jahr her, dass sie anlässlich Rebeccas Geburt hier gewesen war.

Das Gelächter und Stimmengemurmel wurde lauter, und wenige Sekunden später führte die blonde Frau Andrina in einen grossen Raum.

Enrico, der bei einer Gruppe Männer stand, erblickte sie sofort und kam auf sie zu. Er küsste Andrina und beugte sich zu Rebecca, die ihm ihre Arme entgegenstreckte, als er sie aus dem Wagen hob.

Gleich darauf waren sie umringt. Glückwünsche brandeten gegen Andrina. Jemand reichte ihr ein Glas mit Champagner.

«Wie schön, dich wiederzusehen», sagte ein Mann mit einem grauen Wuschelkopf. Andrina brauchte einen Moment, bis sie Gregor Hartmann erkannte. Beim letzten Mal hatte der Finanzchef von JuraMed eindeutig weniger graue Haare gehabt. Als Nächstes begrüssten sie Clarissa Rüegg und Ueli Siebert, die beide ebenfalls Geschäftsleitungsmitglieder waren.

«Eure Tochter wird immer grösser», sagte Clarissa Rüegg und strich Rebecca über die Wange.

Das Mädchen drehte prompt sein Gesicht auf die Seite und presste ihre Nase an Enricos Hals. Gleich darauf schaute sie Clarissa Rüegg an und drehte sich weg, um keine Sekunde später sie wieder anzublicken.

«Gugus da», sagte Clarissa Rüegg, die das Spiel offenbar sofort begriffen hatte, und erntete ein freudiges Jauchzen von Rebecca.

Eine dunkelhaarige Frau trat mit einem Tablett zu ihnen, auf dem kleine Kuchenhäppchen standen.

«Nicht solche kleinen Stücke, Fadrina», protestierte Ueli Siebert. «Du musst wissen, Fadrinas Bündner Nusstorte ist die beste», sagte er kauend zu Andrina.

«Sie sind Enricos Frau?», fragte Fadrina. Ihre Stimme klang schüchtern. Bisher hatte Andrina keinen persönlichen Kontakt zu der Nachfolgerin von Enricos Sekretärin gehabt. Sie musterte die Frau, die Ende dreissig sein musste. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten, und die dunklen Augen mit der gebräunten Haut verliehen ihr einen südländischen Touch.

«Lassen wir das Sie weg. Ich bin Andrina.»

«Freut mich. Ich habe gehört, du bist Bündnerin.»

«Nur zu einem Viertel», antwortete Andrina. «Meine Grossmutter stammt aus Ftan. Aber Familie beziehungsweise Kontakte habe ich dort keine mehr.» Andrina nahm ein Kuchenstück von dem Tablett, das Fadrina ihr hinhielt. Die Nusstorte war weniger süss und genau so, wie Andrina sie gern hatte.

«Fadrina?», rief ein grauhaariger Mann, dem Andrina früher einmal begegnet war, den sie aber nicht zuordnen konnte. «Wir brauchen Kuchennachschub.» Er nahm zwei Stück von der Nusstorte, als Fadrina bei ihm angekommen war.

«Wann fahrt ihr in die Flitterwochen?», fragte Beat Schär. Der Mann Anfang fünfzig war IT-Chef bei JuraMed.

«Wir haben die Flitterwochen auf November verlegt, um in die Wärme zu flüchten, wenn es hier neblig, kalt und grau wird», sagte Enrico.

«Das ist eine vernünftige Idee», sagte Clarissa Rüegg. «Wenn ich an das Dauergrau im Winter denke, beginne ich bereits jetzt zu frieren.»

«Genau. Daher machen wir das so. Wir gönnen uns aber ein verlängertes Wochenende im Bündnerland. Das hier ist die passende Einstimmung.»

Ein Aufschrei liess alle in Andrinas Umkreis zusammenzucken, bevor Andrina Fadrina ein Kompliment machen konnte.

«Es brennt!», schrie ein Mann, der an den Fenstern stand. Andrina bemerkte den dunkelgrauen Rauch, der an dem Fenster vorbeizog. Der Brandalarm heulte los.

Jemand stiess Andrina an. «Raus hier!»

Gedränge entstand, und Andrina verlor Enrico und Rebecca aus den Augen. Unablässig wurde sie von der Menge nach vorne geschoben und durch die Tür gedrängt.

Heisse Luft schlug ihr entgegen, als sie sich der Tür näherte, die auf den Parkplatz führte. Sie roch Rauch. Es stank nach verbranntem Gummi. Erneut sah sie sich nach Enrico und Rebecca um. Ein Knall. Die Leute um sie herum schrien auf. Schüsse? Andrinas Panik nahm zu. Das war von draussen gekommen. Wenn da draussen jemand schoss, sollten sie im Gebäude bleiben. Aber dort brannte es. Der Rauchgeruch wurde stärker. Unaufhaltsam wurde sie weiter nach vorne geschoben. Schliesslich stand sie vor dem Gebäude. Aus der Ferne waren Sirenen zu hören.

Leute stolperten an ihr vorbei. Fast schwarze Rauchschwaden zogen an ihr vorüber. Sie wurde angerempelt und taumelte. Knapp konnte sie sich auffangen und liess sich mit der Menschenmenge weiter vom Gebäude wegtreiben.

***

In der Ferne war sich entfernendes Donnergrollen zu hören. Das Gewitter war an Aarau vorbeigezogen. Andrina lehnte den Kopf gegen den Türrahmen. Nach wie vor hatte sie den beissenden Geruch des Rauchs in ihrer Nase. Ihr Hals kratzte. Das Geschrei der Mitarbeiter hallte in ihrem Kopf nach. Sie wunderte sich, dass bei der Panik nicht mehr passiert war. Nachdem die Leute realisiert hatten, dass es nicht im Gebäude, sondern nur davor brannte, hatte das Gedränge nachgelassen und war in Neugierde gewechselt. Einige waren zurückgegangen und hatten fasziniert das brennende Auto auf dem Parkplatz einige Meter neben dem Eingang betrachtet.

Andrina stiess die Tür zu Rebeccas Zimmer ein Stück auf. Das Mädchen lag auf dem Rücken und hatte Beine und Arme von sich gestreckt. Seestern nannte Andrina diese Schlafposition. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich in regelmässigen Abständen. Der rechte Arm und der linke Fuss zuckten. Ein Seufzen drang über die Lippen. Sie schlief tief und fest und die Schrecken waren vergessen.

Andrina fasste an ihre Seite. Der Schlag des Ellenbogens eines Mannes, der sie an der Tür zurückgedrängt hatte, um vor ihr nach draussen zu eilen, würde einen blauen Flecken nach sich ziehen.

Erneut sah Andrina das brennende Auto, das auf einem der Parkfelder stand, die für die Geschäftsleitungsmitglieder reserviert waren. Das Heulen der Sirene des Feuerwehrwagens, der auf den Parkplatz brauste, hallte in ihrem Kopf nach. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie die Leute auseinanderstoben und sich die Ohren zuhielten, als der Wagen anhielt und die Feuerwehrleute heraussprangen. Inzwischen stand das Auto in Vollbrand, und die Flammen loderten rechts und links zu den daneben parkierten Autos. Andrina hatte befürchtet, sie würden ebenfalls Feuer fangen. Zum Glück hatten die Feuerwehrleute das Feuer schnell unter Kontrolle gebracht.

Von unten drang das Klicken der Haustür nach oben.

«Andrina?» Enrico war endlich nach Hause gekommen. Er hatte Andrina gebeten, mit Rebecca nach Hause zu fahren. Das war um vier am Nachmittag gewesen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Andrina schielte auf ihre Armbanduhr. Inzwischen war es fast acht Uhr am Abend. Sie zog die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu. «Ich komme», rief sie leise und eilte die Treppen nach unten.

Sie fand Enrico vor der Garderobe. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie ins Schuhregal. Als Andrina bei ihm war, zog er sie an sich und küsste sie.

«Und?», fragte Andrina.

«Ich brauche erst einmal einen Schluck zu trinken und etwas zu essen», sagte er.

Fünf Minuten später setzte Andrina sich ihm auf der Terrasse gegenüber, nachdem sie Salat, Käse und Brot auf den Tisch gestellt hatte. Es war warm genug, draussen zu sitzen, wenn man einen Pullover anzog, und man sollte das ausnutzen. Kalt und ungemütlich würde es schneller werden, als einem lieb war.

«Weiss man, warum das Auto gebrannt hat?»

«Nein, aber das werden die Brandermittler der Kriminalpolizei herausfinden.»

Polizei, dachte Andrina entsetzt. Obwohl es nachvollziehbar war, musste sie einräumen. «Du meinst, es war Brandstiftung?», fragte sie.

Trotz der milden Temperatur fröstelte Andrina. Es konnte nichts anderes als Brandstiftung sein. Ein parkiertes Auto fing nicht einfach so Feuer.

Enrico füllte Wasser in sein Glas. «Ich weiss, man sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber meiner Meinung nach sieht es nach Brandstiftung aus.» Die Bestätigung aus seinem Mund liess Andrina stärker frieren.

«Warum sollte jemand bei euch Autos anzünden?»

«Frage mich bitte etwas Leichteres.»

«Zum Glück hast du dein Auto heute nicht auf deinem Parkfeld abgestellt.» Enrico hatte sein Parkfeld für Andrina frei gelassen, damit sie mit Rebecca direkt vor dem Gebäude anhalten konnte, falls es sonst keinen Parkplatz mehr frei hatte. Sein Wagen wäre in unmittelbarer Nähe zum brennenden gewesen.

«Wessen Autos sind betroffen?»

«Die von Gregor Hartmann und Ueli Siebert sind beschädigt. Das von Beat Schär hat, glaube ich, durch die sich entwickelnde Hitze ebenfalls etwas abbekommen. Das Auto, das gebrannt hat, gehört Fadrina und hat Totalschaden.»

«Wieso stand dort Fadrinas Auto?»

«Sie hat es auf dem Parkplatz von Raoul Schneider abgestellt, der in den Ferien ist. So musste sie ihre Bündner Nusstorte und die Getränke nicht so weit tragen. Ich hatte sie gebeten, sich um die Verpflegung für den Apéro zu kümmern.»

Sie assen einen Augenblick schweigend, bis Andrina das Wort ergriff.

«Hat es im Gebäude auch gebrannt?»

«Nein. Oberhalb vom brennenden Wagen war das Fenster geöffnet. Der Rauch ist direkt in das Büro gezogen und hat die Alarmanlage aktiviert.»

«Hätte das Feuer auf das Gebäude überspringen können?»

«Eher weniger. Die Parkplätze haben genügend Abstand zum Haus.»

«Falls es Brandstiftung war, warum zündet man Autos und nicht das Gebäude an, und das dazu am helllichten Tag?»

Kaum hatte Andrina das gesagt, wurde ihr die Bedeutung ihrer Frage bewusst. Handelte es sich um einen missglückten Anschlag auf JuraMed?

«Hat der Täter geplant, das Gebäude anzuzünden, und die Autos sind ein Versehen?», flüsterte sie.

War das nachvollziehbar? Derjenige hätte in das Gebäude gehen können. Allerdings wäre er nur bis zum Empfangsbereich gekommen. War ihm das bewusst geworden, und war das Feuer am Auto nur eine daraus resultierende Frusthandlung? Eine misslungene Tat, weil er schlecht vorbereitet gewesen war? Hatte er gewusst, dass sich fast alle Angestellten in dem grossen Präsentationszimmer zum Apéro versammelt hatten, und geplant, möglichst viele Mitarbeiter in den Tod zu reissen?

DREI

Mit Rebecca auf dem Arm und einer grossen Tasche über der Schulter folgte Andrina dem dunkelhaarigen Beamten, dessen Namen sie gleich wieder vergessen hatte. Ihr hatte es immer Mühe bereitet, sich Namen zu merken, aber seit der Geburt ihrer Tochter war es richtig schlimm.

Als der Mann sie im Empfangsbereich des Polizeikommandos in Aarau abgeholt hatte, hatte Andrina zuerst gedacht, sie stehe Marco Feller gegenüber. Nach einigen Sekunden hatte sie realisiert, dass der Mann fast zehn Jahre jünger sein musste. Eine gewisse Ähnlichkeit blieb, die durch die blaugrauen Augen und die vollen dunkelbraunen Haare verstärkt wurde.

Verstohlen schaute Andrina sich um, als der Beamte vor einer Tür stehen blieb. In diesem Stockwerk war sie bisher nie gewesen, oder sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.

Der Raum, den sie betraten, ähnelte dem Befragungsraum in der Abteilung Leib und Leben, in dem sie bereits früher einige Male gewesen war.

Ein hagerer blonder Mann drehte sich um, als sie eintraten. Er reichte Andrina die Hand und sagte zu ihrem Begleiter: «Danke, Lorenzo.»

Endlich kam Andrina dessen Name wieder in den Sinn. Er hatte sich als Lorenzo Caretti vorgestellt.

«Ich bin Stefan Müller, Brandermittlung.»

Wenigstens war das ein Name, den sie behalten würde. Zumindest hoffte Andrina das.

Sie setzte sich den Beamten gegenüber. Sofort fing Rebecca an, sich hin und her zu winden. Sie stiess sich von der Tischkante ab und machte damit eindeutig klar, nicht auf dem Schoss sitzen bleiben zu wollen. Andrina hatte das befürchtet. Sie stellte Rebecca auf den Boden. Rebecca marschierte um den Tisch herum und blieb vor Caretti stehen.

«Rebecca!»

«Lassen Sie sie.» Er beugte sich zu dem Mädchen hinunter.

Sie trat einen Schritt näher und zog an seinem Arm. Er hob sie hoch und setzte sie auf seinen Schoss. Rebecca strahlte Andrina über den Tisch an und griff nach dem Notizbuch. Das kann ja heiter werden, dachte Andrina und verwünschte Rebeccas Offenheit gegenüber fremden Personen. Caretti riss ein Blatt heraus und gab Rebecca einen Stift. Sofort kritzelte sie das Blatt voll.

«Das ist kein Problem», erwiderte Caretti. «Ich kenne das von meinem Neffen. Wie am Telefon erwähnt, möchten wir mit Ihnen darüber sprechen, ob Ihnen kurz vor dem Ausbruch des Brandes was aufgefallen ist», fuhr er fort. «Sie waren die letzte Person, die an den Autos vorbeigegangen ist, bevor eines zu brennen begann.»

Andrina nickte.

«Können Sie bitte zunächst den Nachmittag aus Ihrer Sicht beschreiben?»

Andrina erzählte, wie sie angekommen war und wie die blonde Frau sie zum Apéro begleitet hatte.

«Ist Ihnen auf dem Parkplatz etwas aufgefallen?», fragte er, als Andrina eine Pause einlegte.

Rebecca wand sich auf seinem Schoss, und er stellte sie auf den Boden. Sie kehrte zu Andrina zurück und setzte sich zu den Klötzchen auf den Boden, die Andrina ihr hinlegte.

«Nein.»

«Keine weitere Person?»

In Gedanken ging Andrina den Weg nochmals durch. «Es war niemand dort.»

«Ist Ihnen an den Autos etwas aufgefallen?»

«Die Fenster des Wagens, der gebrannt hat, waren offen», fiel Andrina ein.

Caretti blätterte in seinem Notizbuch und nickte.

«Ich dachte, das ist die perfekte Einladung, einen Wagen zu stehlen», fuhr Andrina fort.

«Und sonst? Ein Flimmern, Benzingeruch?»

«Nein. Ich habe ehrlich gesagt nicht genau hingeschaut. Gerochen habe ich nichts. Kann sich ein Auto aufgrund der Hitze entzündet haben?»

Andrina spürte ein Zupfen an ihrem Rock. Rebecca war aufgestanden und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch.

«Mami. Da.» Sie deutete auf die Tasche.

Andrina schaute auf ihre Uhr. Es war eindeutig Zeit fürs Zvieri. «Ist das in Ordnung?», fragte sie und hielt die Box mit den Zwetschgen hoch.

«Geben Sie ihr ruhig zu essen», sagte Müller.

Andrina hob Rebecca auf den Schoss, band ihr ein Lätzchen um.

«Es ist eher unwahrscheinlich», fuhr Caretti fort, als Rebecca sich eine Zwetschgenhälfte nahm und daran knabberte.

Andrina brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass der Beamte auf ihre Frage geantwortet hatte.

«Es ist also Brandstiftung?» Andrina dachte an die Mitteilungen, die sie im Radio gehört und in der Zeitung gelesen hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, die Medien versuchten sich gegenseitig mit Spekulationen zu übertrumpfen.

«Die Untersuchungen sind nicht abgeschlossen.» Caretti wich eindeutig aus. Er blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um. «Wie gut sind Sie mit Fadrina Jäger bekannt?»

«Ich habe sie gestern kennengelernt.»

Eine Augenbraue hob sich.

Wie Marco, schoss es Andrina durch den Kopf. Warum musste sie in der letzten Zeit dauernd an ihn denken? Die Verwunderung in Lorenzo Carettis Gesicht vertiefte sich.

«Ich meine, persönlich kennengelernt», beeilte sie sich zu sagen. «Sie ist die neue Sekretärin meines Mannes und seit …» Andrina überlegte. «… seit zwei Monaten bei JuraMed. Unser Kontakt hat sich auf ein oder zwei kurze Gespräche am Telefon beschränkt.»

«Hat Ihr Mann über sie gesprochen?»

«Er hat … Rebecca, nein!»

Das Mädchen hatte die letzte Zwetschgenhälfte aus der Dose genommen und zerquetschte sie zwischen ihren Händen. Saft tropfte auf die Tischplatte. Mit einer Hand verschmierte sie den Früchtebrei auf dem hellen Holz.

Caretti stand auf und reichte Andrina einen Putzlappen, der über dem Whiteboard hing.

«Entschuldigen Sie bitte.» Wie peinlich. Sie wischte über den Tisch. Andrina hoffte, die Befragung würde nicht mehr allzu lange dauern. Cool bleiben, dachte sie. «Er hat Fadrina hin und wieder erwähnt, wenn er mir von seinem Arbeitsalltag berichtete», setzte sie an, darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

«Hatten Sie das Gefühl, er sei mit ihrer Arbeit zufrieden?»

Was sollte diese seltsame Frage? «Ja, warum?»

«Sie befindet sich in der Probezeit.»

Das Gespräch wurde für Andrina immer absurder. «Wenn Sie wissen wollen, ob Enrico mit ihrer Leistung zufrieden ist, müssen Sie ihn selber fragen. Falls er es nicht ist, hat er es mir gegenüber nicht erwähnt.»

Caretti begleitete Andrina zum Empfangsbereich und verabschiedete sich.

«Andrina?», hörte sie eine Männerstimme hinter sich.

«Hallo, Max.»

Neben Max Wagner stand eine schlanke Frau mit kurzen braunen Haaren. Schlank war das falsche Wort, sie war hager, beinahe dürr. Sie musste genauso alt wie Andrina sein.

«Was machst du hier?», fragte Wagner.

«Herr Müller und Herr Caretti haben mich gebeten, wegen des Brandes bei JuraMed zu kommen.»

«Das abgebrannte Auto. Stimmt. Seltsame Sache.» Er machte einen verschlossenen Eindruck.

Andrina fragte sich, ob Wagner und sein Team in die Ermittlungen involviert waren. Sie ging nicht davon aus, da keine Person zu Schaden gekommen war, und unterliess es, ihn zu fragen.

«Das ist Corina Burkhard. Sie ist unsere neue Kollegin.»

Sie reichten einander die Hände. Corina Burkhard wich dabei Andrinas Blick aus.

Man war nicht erfreut gewesen, als Marco gekündigt hatte, wie Susanna Andrina als Freundin erzählt hatte. Es war für alle überraschend gekommen. Im Nachhinein musste Andrina einräumen, dass es abzusehen gewesen war. Sie musste zugeben, froh gewesen zu sein, als Marco damals Aarau verlassen hatte. Die erhoffte Ruhe war eingekehrt.

Nachdem Marco gekündigt hatte, war Max Wagner zum Leiter des Teams Leib und Leben befördert worden. Es hatte fast ein halbes Jahr gedauert, bis die vakante Stelle im Team frisch besetzt gewesen war.

«Die Neue ist nett, allerdings auch ein wenig rechthaberisch», hatte Susanna erzählt. Rechthaberisch sah die Frau vor ihr nicht aus. Sie machte auf Andrina eher einen zurückhaltenden Eindruck.

«Hast du was von Marco gehört?», fragte Andrina.

«Das fragst ausgerechnet du?» Der forsche Blick, mit dem Wagner sie betrachtete, war Andrina unangenehm.

«Na ja, ich hatte das Gefühl, ich hätte ihn gesehen», sagte Andrina und beschloss, es vage zu halten.

«Wann? Wo? In Aarau?» Wieso sah Wagner alarmiert aus?

Andrina machte eine unbestimmte Geste mit den Händen.

«Bei mir hat er sich nicht zurückgemeldet. Allerdings muss er das auch nicht.»

Die Heftigkeit, mit der er das sagte, überraschte Andrina. Susanna hatte zwar erwähnt, es sei bei der Kündigung zwischen den Männern etwas vorgefallen. Was genau, hatte sie nicht gesagt.

«Er muss nicht angekrochen kommen und anfragen, ob bei uns eine Stelle frei ist», knurrte Wagner.

Andrina fand es besser, nicht nachzuhaken.

«Man sieht sich», sagte er und drehte sich um.

Corina Burkhard war offenbar, ähnlich wie Andrina, über den abrupten Abgang erstaunt. Sie folgte ihm. Andrina wusste nicht, ob sie Genaueres über Marco Feller und seine Verbindung zu Andrina wusste.

Andrina verliess das Polizeikommando und setzte Rebecca in den Veloanhänger. Ein dunkelblauer BMW fuhr langsam an ihr vorbei. Andrina hatte das Gefühl, er wolle anhalten. Aber der Wagen fuhr weiter in den Kreisel. Doch anstatt eine der Ausfahrten zu nehmen, umrundete er ihn dreimal und verringerte jedes Mal die Geschwindigkeit, wenn er an Andrina vorbeikam. Sie meinte, einen dunkelhaarigen Mann zu erkennen, der in ihre Richtung schaute. Schliesslich verliess er den Kreisel und bog beim zweiten Kreisel links Richtung Zubringer Staffelegg ab. So einen Wagen hatte Marco früher gehabt.

Schon wieder schlich er sich in ihre Gedanken. Lag es an der Begegnung bei der Kirche in Birrwil?

Andrina blickte weiterhin in die Richtung, in die der Wagen verschwunden war. Warum hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden?

***

Andrina trat auf die Terrasse und stellte das Babyfon auf den Tisch. Endlich hatte sie Rebecca überzeugen können, sich hinzulegen. Sie hoffte, die Nacht werde nicht wieder zum Tag.

Enrico griff nach dem Weinglas und schwenkte es langsam. Er trank einen winzigen Schluck und musterte den Inhalt des Glases. Für jeden Aussenstehenden musste es aussehen, als probiere er, ob der Barolo Zapfen habe, und stelle sich auf einen gemütlichen Abend ein. Aber Andrina konnte er nicht täuschen. Für sie war seine innere Anspannung unübersehbar.

Auch heute war er später heimgekehrt, und wie gestern hatte das nichts mit viel Arbeit bei JuraMed zu tun. Er hatte Rebecca kurz auf den Arm genommen und ihr gute Nacht gewünscht, bevor er in der Küche verschwunden war. Das war untypisch für ihn. Normalerweise herzte er seine Tochter und liess sich Zeit.

Enrico füllte die beiden Weingläser und griff nach Brot und Käse. Sein Kiefer mahlte, als er kaute.

«Was gibt es Neues?», fragte Andrina, als sie das Schweigen nicht mehr aushielt.

«Es war definitiv Brandstiftung.»

«Wie bitte?»

«Die Ermittler haben entsprechende Hinweise in Fadrinas Auto gefunden.»

«In Fadrinas Auto?»

«Fadrina hatte das Fahrer- und Beifahrerfenster ein Stück offen, damit sich der Wagen nicht so stark aufheizt. Der Brandstifter hat den Brandsatz durch eins der Fenster geworfen. Auf der Überwachungskamera neben dem Eingang ist ersichtlich, wie sich eine vermummte Person dem Wagen genähert hat.»

«War niemand in der Nähe, der das beobachten konnte?»

«Nein. Du warst die letzte Person, die vor dem Anschlag das Gebäude betreten hat. Das war eine Viertelstunde davor.» Die unausgesprochene Frage war deutlich.

«Ich habe niemanden gesehen.» Andrina überlegte, wie oft sie diesen Satz bereits gesagt hatte.

«Man hat mir das Video gezeigt. Darauf huscht er – es muss gemäss Herrn Caretti ein Mann gewesen sein – zum Auto und wirft den Brandsatz hinein. Kurz kann man sein Gesicht vom Profil her erkennen. Leider sind die Aufnahmen nicht gut genug. Auch nach der Bearbeitung durch die Polizei nicht.»

«Das heisst, du hast ihn nicht erkannt?»

«So ist es. Die Ermittler vermuten, er habe in einem Wagen gewartet, der ausserhalb des Bereichs stand, den die Kamera erfasst.»

«Wird der restliche Parkplatz nicht videoüberwacht?»

Enrico verneinte. «Wenn ich die Beamten richtig verstanden habe, haben wir Glück gehabt, dass nicht mehr passiert ist.»

«Meinst du damit, das Feuer hätte auf das Gebäude übergreifen können?»

«Das nicht gerade, aber jemand wollte offenbar sichergehen, dass von dem Auto nichts mehr übrig bleibt. Die beiden Wagen daneben wurden ordentlich in Mitleidenschaft gezogen.»

«Wieso ausgerechnet Fadrinas Wagen?»

Enrico trank einen grossen Schluck Wein. «Frage mich etwas Einfacheres.»

«Was sagt Fadrina dazu?»

«Ich habe seit gestern nicht mehr mit ihr gesprochen. Heute ist ihr freier Tag.» Er starrte den Barolo einige Sekunden an, bevor er das Glas abstellte.

Schweigen dehnte sich aus, das nur von dem Gezwitscher einzelner Vögel unterbrochen wurde. Andrina fror und zog die Jacke fester um ihre Schultern.

«Könnte es ein Zufall sein, dass der Brandsatz in Fadrinas Auto deponiert wurde? Wenn ich mich richtig erinnere, stand das Auto in der Mitte.»

«Du meinst, damit die anderen Wagen gleich mit brannten? Ein ungezielter Anschlag?»

«So in der Art. Oder eine Verwechslung. Die offenen Fenster waren wie eine Einladung.»

Enrico lehnte sich nach hinten und starrte in den Garten. «Ich weiss nicht. Auf dem Video sieht man, wie die Person zielgerichtet auf Fadrinas Auto zuging.»

«Was genau kann man von ihm auf dem Video erkennen?», fragte Andrina.

«Die Aufnahmen sind schwarz-weiss, der Typ trug dunkle Kleidung, hatte eine Schirmmütze auf dem Kopf und das Gesicht mit einem dunklen Tuch abgedeckt. Kurz war es im Profil erkennbar, als er das Tuch gerichtet hat. Er hat die durchschnittliche Grösse eines Mannes und ist weder übermässig dick noch dünn.»

Es konnte also jeder gewesen sein. Auch Enrico.

Neues Schweigen stellte sich ein, das Andrina erneut brach. «Könnte es ein Mitarbeiter von JuraMed sein? Ich meine, waren alle beim Apéro anwesend?»

«Nein, nicht alle, aber die meisten. Diejenigen, die nicht dabei waren, sind in den Ferien. Ob jemand von den Daheimgebliebenen abwesend war, kann ich nicht sagen.»

Mit dem Finger strich Andrina über den Rand ihres Glases. «Es war mitten am Nachmittag», sagte sie. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass keiner was gesehen hat. Es muss doch einen Zeugen geben.»

«Das Parkareal ist von Hecken und Bäumen umgeben. Von aussen hat man also nicht unbedingt freie Sicht auf das Gelände. Ausserdem betreten es nur Leute, die bei JuraMed arbeiten, oder Besucher. Wie es aussieht, hat keiner etwas gesehen. Du warst, wie gesagt, die Letzte, die das Gebäude betreten hat.»