Chienbäse - Ina Haller - E-Book

Chienbäse E-Book

Ina Haller

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Beschreibung

Ein süffiger Kriminalroman um eine alte Schweizer Tradition. Beim traditionellen Chienbäse-Umzug in Liestal sinkt ein Mann leblos zu Boden, die Flammen seines Besens erfassen beinahe das Publikum. Kein Unfall, wie sich schon bald herausstellt, sondern der Auftakt einer ganzen Reihe von Verbrechen. Einige Tage später verunglückt der Vater von Samanthas Freund Joel. Sein Auto wurde manipuliert – und die Polizei hält Joel für den Täter. Als er kurz darauf spurlos verschwindet, scheint sich dieser Verdacht zu erhärten. Nur Samantha ist von der Unschuld ihres Freundes überzeugt und begibt sich auf eine lebensgefährliche Suche nach ihm.

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Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten. Im Emons Verlag veröffentlicht sie zwei erfolgreiche Krimireihen.www.inahaller.chwww.facebook.com/autorininahallerwww.instagram.com/ina.haller.autorinwww.twitter.com/IHaller_Autorin

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

©2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus shutterstock.com/fluke samed, shutterstock.com/memini

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-716-3

Originalausgabe

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Prolog

Es war vorbei. Endlich. Das Schlimmste waren die Krämpfe gewesen und das Wissen in seinen Augen, als der Mann begriff, dass er keine Hilfe holen und ihn sterben lassen würde.

Er umrundete den Mann, der vor ihm auf dem Boden lag. Früher hatten sie ihn «den Professor» genannt. Seinem besonnenen Auftreten und der Art, wie er einen über den Brillenrand gemustert hatte, hatte etwas Vertrauensvolles angehaftet. Von wegen vertrauensvoll. Inzwischen wusste er, wie der Mann alle getäuscht hatte. Er hatte sich ihr Vertrauen erschlichen, und als es darauf ankam, liess er sie im Stich.

Immer noch war der Schrecken in den Augen erkennbar. Der Mund war verzerrt und wie zu einem Schrei geöffnet. War das wirklich so? Oder interpretierte er es hinein? Konnte man im Gesicht eines Toten feststellen, was dieser beim Sterben empfunden hatte? Er hatte keinen Vergleich, da dieser der erste Tote war, den er vor sich hatte. Friedlich sah das Gesicht des Professors jedenfalls nicht aus, und das war gut so. Friede war das Letzte, das er ihm gönnte.

Er forschte weiter in den Zügen der Leiche und hatte das Gefühl, etwas Anklagendes und die Frage nach dem Warum lagen in dem starren Blick. Dabei war er sich sicher, dass der Professor in den letzten Sekunden begriffen hatte, worum es ging und warum er hatte sterben müssen.

«Das hast du davon», zischte er dem Toten zu.

Er musste dem zustimmen: Rückblickend war zu viel Zeit seit damals vergangen. Die Strafe kam spät, aber nicht zu spät.

Es erstaunte ihn, wie gelassen er es nahm, einen Mord begangen zu haben. Gelassen war das falsche Wort. Es hatte ihn kaltgelassen, das passte besser. Weder Reue, Schuldgefühle noch Entsetzen stellten sich ein. Im Gegenteil. Er hatte einen Höhenflug. Es hatte etwas Berauschendes. Kurz erschrak er über sich. Nein, Gewissensbisse brauchte er sicher nicht zu haben. Der Professor hatte es verdient. Zu grosse Schuld hatte er auf sich geladen.

Wiederholt hatte er sich ausgemalt, wie es wäre zu morden. Es war ein grosser Unterschied, wenn man es wirklich tat. Es erlebte– mit allen Sinnen.

Ein weiteres Mal tastete er nach dem Puls des Professors an dessen Hals, um sicher zu sein, dass er tot war. Definitiv nichts war zu spüren.

Er hockte sich auf die Fersen und richtete den Oberkörper auf. Dabei vermied er es, auf das Erbrochene zu schauen, und klammerte den beissenden Geruch so weit aus, wie es ihm möglich war. Er blickte sich im Schlafzimmer des Professors um. Der Professor hatte es nicht mehr bis zum Bett geschafft und war vor dem Fussende zusammengebrochen.

Zu gerne hätte er gelüftet. Das durfte er nicht. Sonst hätte ein Passant, der in diesem Moment zufällig hochschaute, ihn gesehen. Die Gefahr, dass er sich daran erinnerte und es der Polizei meldete, wenn man die Leiche des Professors finden würde, war zu gross. Er durfte keinen Fehler machen, und das weitere Vorgehen musste gut durchdacht sein.

Zuerst musste er seine Spuren beseitigen. Jede einzelne. Nach Möglichkeit durfte kein Haar oder Fingerabdruck von ihm zu finden sein. Das würde schwierig werden. Er war ein oder zwei Stunden in dieser Wohnung gewesen und hatte beim Eintreffen keine Maske oder Handschuhe getragen, da er den Professor nicht hatte misstrauisch machen wollen. Er hatte darauf geachtet, so wenig wie möglich zu berühren und sich zu merken, wo er sich aufgehalten und was er angefasst hatte. Ihm war klar, nicht alle Spuren entfernen zu können. Damit musste er leben. Sollte die Polizei auf ihn zukommen, konnte er zugeben, in der Wohnung gewesen zu sein. Zwar nicht heute, sondern an einem anderen Tag. Früher war er bereits einmal hier gewesen.

Der Professor hatte zudem regelmässig Gäste gehabt. Das bedeutete, es würde eine Menge Hinweise geben, die sich deshalb als unbrauchbar erwiesen. Trotzdem sollte er zusehen, keine verräterischen Beweise seiner Anwesenheit zurückzulassen.

Er kehrte in den Gang zurück und holte aus seinem Rucksack einen Ganzkörperschutzanzug, Handschuhe und Mundschutz.

Seine Spuren im Schlafzimmer zu vernichten hatte Priorität. Sollte die Spurensicherung der Polizei dort auf etwas stossen, das mit ihm in Verbindung gebracht wurde, würde es schwierig sein, sich eine gute Erklärung einfallen zu lassen. Als Nächstes musste das Geschirr gereinigt werden. Gewissenhaft arbeitete er sich durch die Liste, die er im Kopf erstellt hatte.

Erleichtert atmete er auf, als er damit fertig war.

Nun konnte er den nächsten Punkt auf seiner Liste angehen. Zufällig hatte er erfahren, heute Abend die Gelegenheit zu haben, alles auf einmal zu erledigen. Draussen dunkelte es ein. Er warf einen Blick zur Uhr. Er lag gut in der Zeit. Die Erregung, die während der Putzaktion abgeflaut war, flackerte wieder auf. Die Macht, einem anderen Menschenleben den Garaus zu machen, war berauschend.

EINS

Das Atmen fiel Samantha schwer. Der Rauch brannte in der Lunge, und die Hitze war unbeschreiblich. Funken flogen durch die Nacht.

Begleitet von Jubeln, wurde ein brennender Wagen an ihnen vorbeigezogen. Die Zuschauer wichen nach hinten aus, soweit ihnen das möglich war. Samantha hielt die Hände vor das Gesicht und wandte sich ab. Erleichtert blickte sie dem Wagen nach, als er sich entfernte. Die Flammen schlugen bis zu den Giebeln der Häuser in der Liestaler Altstadt.

«Und?», fragte Joel.

«Ich weiss nicht», erwiderte Samantha. Seit der Umzug gegen Viertel nach sieben angefangen hatte, war sie hin- und hergerissen zwischen Faszination und Unbehagen.

«Wie, du weisst nicht?» Joel fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich. Er legte seine Hände um ihre Taille und zog sie an sich.

«Ein wilder Brauch.»

«Nun ja, die Fasnacht ist nicht ohne.»

«Ich habe noch nie Bürger gesehen, die hartnäckig versuchen, ihre eigene Stadt abzufackeln.» Samantha deutete auf das Stadttor, durch das gerade mehrere Besenträger gingen. Anhand der Haltung der Träger mussten die überdimensionierten Besen schwer sein. «Das Tor besteht zum Teil aus Holz.»

«Okay, es mag ein wenig speziell sein, weil sich die wohl älteste bekannte Holzdecke des Kantons Baselland ausgerechnet in einem Gebäude befindet, durch das Jahr für Jahr beim Chienbäse-Umzug brennende Besen und Feuerkörbe getragen werden und Feuerwagen durchfahren. Du kannst aber beruhigt sein. Die Feuerwehr sieht zu, dass dem ‹Törli› nichts passiert.»

Das hatte Samantha bereits bemerkt. Bevor eine Gruppe das Tor passieren konnte, hielten Feuerwehrleute ihren Wasserstrahl auf das Tor gerichtet, damit es feucht blieb.

«Ich bin keine Fasnächtlerin, aber das Ganze ist faszinierend», sagte Samantha.

Joel hatte ihr vor zwei Tagen vorgeschlagen, sich am Sonntagabend den Chienbäse-Umzug anzuschauen. Samantha hatte zunächst damit nichts anfangen können.

«Für mich ist das einer der verrücktesten Bräuche», sagte sie.

«Dafür ist der Chienbäse einmalig.» Joel machte mit seinem Handy ein Foto von einem Feuerkorb, der von acht Männern an ihnen vorbeigetragen wurde.

«Wie lange gibt es ihn schon?»

«Da fragst du mich was. Ich glaube, ein solcher Umzug mit Chienbäse und Pechfackeln wurde zum ersten Mal 1902 bewilligt. Ein Konditormeister soll der Begründer des Umzuges in der heutigen Form sein.»

«Ein Konditormeister?»

«Bäcker brauchten für das Beheizen ihrer Öfen damals fast ausschliesslich Föhrenholz und verwendeten dazu das ‹Chien›. Das ist speziell harzreiches Holz.»

«Sie bauten dazu diese Wagen?» Mit gemischten Gefühlen schaute sie zum Tor, durch das gerade ein neuer Feuerwagen gezogen wurde. Das Feuer loderte an dem Gebäude hoch, und es schien für einen Augenblick so, als stände es in Flammen.

«Nein, die Wagen kamen später dazu. Am Anfang der dreissiger Jahre kamen junge Burschen auf die Idee, einen Eisenkessel mit Holz zu füllen. Sie zündeten es an und rannten damit durch die Stadt.»

«Und diese riesigen Feuerwagen waren seitdem erlaubt?»

«Nein. Zuerst gab es einen Unterbruch der Fasnachtsveranstaltungen durch den Zweiten Weltkrieg. Danach verbot der Gemeinderat die Wagen. Sie wurden erst nach 1961 wieder erlaubt.»

Der Wagen war nach dem Tor stehen geblieben. Samantha erkannte Zuschauer, die Würste auf Holzstecken spiessten und an die Flammen hielten.

«Hier.» Joel reichte Samantha einen Holzstecken und einen Cervelat.

«Du willst…»

«Warum nicht?»

Der Wagen setzte sich in Bewegung und hielt kurz darauf bei ihnen. Die Hitze war unbeschreiblich. Funken stoben, und Samantha wich ein Stück nach hinten und schirmte mit den Händen ihr Gesicht ab. Da das nichts nützte, stellte sie sich hinter Joel und presste ihren Kopf gegen seine Schulter. Joel steckte seine Wurst auf den Ast und tat das Gleiche mit Samanthas. Gemeinsam mit den Leuten, die rechts und links neben ihnen standen, hielt er beide an das Feuer.

«Wo kommt überhaupt das ganze Holz her?», fragte Samantha und war froh, als der Wagen unter lautem Klatschen des Publikums weitergezogen wurde.

«Das stellt Liestal zur Verfügung.» Joel biss in seinen Cervelat. «Je nach Grösse werden zwischen einem halben bis sechs Ster Holz aufgeladen. Die Wagen werden nach dem Beladen durch das Feuerinspektorat auf Höhe, Breite und Art der Ladung geprüft und danach offiziell freigegeben. Es ist also sicher.»

«Na ja, relativ», wandte Samantha ein. Trotz der wachsenden Faszination konnte sie das Unbehagen nicht gänzlich zur Seite schieben.

«Schau mal, da kommen sie.» Joel legte seinen Arm um Samantha, zog sie zu sich und deutete auf das Tor. «Mein Vater und seine Gruppe.»

Samantha fragte sich, wie Joel ihn erkennen konnte. Für sie sahen alle Besenträger, die abwechselnd mit den Wagen und den Trägern von Feuerkörben in einer Kolonne am Umzug mitliefen, gleich aus. Sie trugen feuerfeste Kleidung und entsprechende Kopfbedeckung. Obwohl die vielen Feuer genügend Helligkeit verbreiteten, war es schwer, einzelne Personen zu erkennen. Samantha steckte den letzten Bissen Wurst in den Mund und beobachtete die Gruppe, die sich näherte. Die Besen loderten. Funken stoben knisternd in den Abendhimmel. Nun meinte Samantha, Beat zu erkennen. Es war ein lang gehegter Wunsch von Joels Vater gewesen, einmal am Chienbäse-Umzug, der in diesem Jahr Anfang März stattfand, mitzulaufen. Dieses Jahr hatte er ihn sich erfüllt. Mit seinen Jassfreunden hatte er beschlossen, sich einer Gruppe Besenträger anzuschliessen. Samantha musste lächeln, als sie an die kindliche Freude dachte, wenn Beat davon erzählte, wie er seinen Besen zusammengebaut hatte. Samantha hatte bis heute Abend keine Vorstellung gehabt, wie so ein Besen aussah. Sie bewunderte die Männer, die diese zwanzig bis hundert Kilo schweren Besen die ganze Strecke durch die Altstadt auf der Schulter trugen.

Die Gruppe näherte sich und hatte Samantha und Joel fast erreicht, als ein Knall das Geknister, den Applaus und die Pfiffe übertönte. Samantha schaute sich irritiert um. Einer der Männer, die vor Beat liefen, strauchelte. Bevor jemand reagieren konnte, sackte er auf den Boden. Sein Besen kippte direkt auf Samantha und Joel zu. Es war für Samantha, als würde er sich im Zeitlupentempo auf sie zuneigen. Samantha starrte auf die Flammen, die sie fast erreichten. Weg, schrie es in Samantha. Sie hob die Hand, um sich zu schützen, aber die Beine weigerten sich, den Befehl des Kopfes auszuführen.

«Achtung!», hörte sie Joels Aufschrei.

Sie wurde am Arm gepackt und auf die Seite gezogen. Keine Sekunde später landete der Besen auf dem Boden. Genau an der Stelle, an der Samantha eben gestanden war.

***

«Möchtest du nicht lieber zum Arzt?», fragte Verena.

Joels Mutter schraubte den Deckel auf die Tube und legte sie auf den Tisch. Anschliessend beugte sie sich über Samanthas linke Hand. Ihre braunen Haare, die einen Schnitt vertragen konnten, fielen in ihr Gesicht, und Samantha bemerkte den grauen Ansatz.

Zwar hatte Joels rechtzeitiges Eingreifen verhindert, dass der brennende Besen gegen Samantha gefallen war, aber er hatte ihre Hand gestreift. Die Verbrennungen stufte Samantha für nicht gefährlich ein, obwohl die Haut spannte und schmerzte.

«Es hat zwei Brandblasen gegeben.» Verena deutete auf Samanthas Handrücken.

«Blasen würde ich diese beiden kleinen Gebilde nicht nennen.»

«Sag doch mal was, Joel», rief Verena. «Sie sollte das einem Arzt zeigen.»

«Vreni, lass es gut sein», kam Samantha Joel zuvor. Sie legte die Hand auf Verenas Arm. «Wenn es schlimmer wird, gehe ich sofort zum Arzt. Versprochen.» Verena musste nicht wissen, wie stark die Haut spannte. Sobald etwas ihren Handrücken berührte, brannte es höllisch. Immerhin linderte die Salbe, die Verena aufgetragen hatte, den Schmerz und kühlte.

«Du bist Linkshänderin und brauchst die Hand.»

«Meine rechte ist funktionstüchtig, und das reicht für den Moment.»

Inzwischen hatte Samantha sich von dem Schrecken erholt. Sie liess den Vorfall Revue passieren. Nachdem der Mann zu Boden gefallen war, waren Feuerwehrleute herbeigeeilt und hatten die Umstehenden gebeten, den Bereich sofort zu verlassen. Anschliessend hatten sich Sanitäter um den Mann gekümmert und ihn fortgebracht. Dabei hatten weder Joel noch sie erkennen können, wer der Mann war und ob er ernsthaft verletzt war. Zum Glück war der brennende Besen schnell gelöscht gewesen, und es hatte keine Panik gegeben. Die Leute, die neben ihnen standen, vermuteten einen Herzinfarkt, und Joel war zu dem gleichen Schluss gekommen. Der Umzug war danach weitergegangen. Samantha war froh gewesen, dass es keine weiteren Zwischenfälle gegeben hatte. Am Ende waren sie den Leuten aus dem Stedtli gefolgt.

Samantha war mit Joel eine Viertelstunde zu Fuss zum Haus seiner Eltern gegangen, wo sie das Auto abgestellt hatten. Geplant war ein gemeinsames Nachtessen nach dem Umzug. Verena hatte angekündigt, es gäbe Mehlsuppe und Liestaler Käsewähe.

Die Zeit war verstrichen, ohne dass Beat gekommen war oder sich gemeldet hatte. Samantha schielte zur Uhr. Beat hatte angekündigt, er würde länger brauchen, bis er heimkomme, aber mit mehr als einer Stunde hatte sie nicht gerechnet.

«Ich schau nach dem Essen», sagte Verena.

Samantha hörte die Haustür ins Schloss fallen. Beats Gesicht tauchte im Türrahmen auf. Er war blass, und seine Haut und seine vollen grauen Haare waren russverschmiert. Er sah hagerer aus als sonst. Beat betrat das Esswohnzimmer und brachte einen Schwall Rauchgeruch mit sich, der auch Samantha und Joel wie eine Wolke umgab.

Verena rümpfte die Nase. «Ich denke, ihr geht alle erst einmal duschen und hängt die Kleider zum Lüften nach draussen, bevor wir essen.»

Statt zu antworten, setzte Beat sich auf einen Stuhl. Er schob Teller und Besteck auf die Seite, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Gesicht in seine Hände. «Ruedi ist tot», sagte er kaum hörbar.

«Tot?», rief Verena und schlug die Hand vor den Mund. «Ruedi?»

«Wieso Ruedi?», fragte Joel.

«Zuerst haben wir gedacht, er habe einen Schwächeanfall.» Samantha brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass Beat von dem zusammengebrochenen Mann sprach.

«Das war Ruedi?», fragte Joel. «Was ist eigentlich genau passiert?»

Beat erwiderte nichts. Er fuhr sich über sein Gesicht und verteilte dabei den Russ weiter.

«Ruedi?», flüsterte Verena ein weiteres Mal. Sie setzte sich neben Beat und ergriff seine Hände. Er umklammerte ihre Finger und kam Samantha wie ein Ertrinkender vor.

«Ein Jasskollege von meinem Vater», erklärte Joel. Offenbar hatte er Samanthas Frage geahnt. Er setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand. Seine Finger waren eiskalt, und Samantha meinte, ein Zittern wahrzunehmen.

«Wieso hatte ausgerechnet er einen Herzinfarkt?», wandte Joel sich an Beat. «Ruedi war doch kerngesund.»

«Er hatte keinen Herzinfarkt», sagte Beat leise. «Er… Er wurde erschossen.»

«Was?», entfuhr es Verena, Joel und Samantha gleichzeitig.

«In dem Gedränge?», setzte Joel nach.

«Ein Anschlag?», flüsterte Verena. «Es gibt genügend Verrückte auf der Welt, und es wäre nicht das erste Mal, wenn so was bei einer Veranstaltung passiert.»

«Wenn es sich bei uns um einen Anschlag handeln würde, wären bestimmt mehr Menschen gestorben», sagte Beat.

«Willst du damit sagen, jemand hat vorsätzlich auf Ruedi geschossen?», rief Verena. Jetzt war sie es, die sich an Beats Händen festzuklammern schien.

«Ich weiss es nicht.» Beat verharrte weiterhin in der gleichen Position.

«Weisst du, ob jemand etwas gesehen hat?», fragte Verena. «Immerhin waren viele Menschen vor Ort.» Ihr Blick driftete zu Samantha und Joel.

Beide schüttelten den Kopf.

«Obwohl viele da waren, muss das nichts heissen. Alle haben sich auf den Umzug konzentriert. Ich bin froh, dass keine Panik ausgebrochen ist, was bestimmt der Fall gewesen wäre, wenn die Leute realisiert hätten, warum Ruedi zusammengebrochen ist», sagte Joel.

Bedrücktes Schweigen setzte ein.

«Ruedi war nicht gleich tot», sagte Beat. «Die Sanitäter sind sofort gekommen und haben ihn zur Ambulanz gebracht, die in der Kanonengasse stand. Erst dort haben sie realisiert, was geschehen ist. Sie konnten ihm nicht helfen. Ruedi ist auf dem Weg ins Spital gestorben», murmelte er.

«Ich habe zwar nichts gesehen, aber gehört», sagte Samantha. «Ich habe den Schuss gehört.»

«Was? Wann?», fragte Joel. «Ich stand neben dir und habe nichts mitbekommen.»

«Es gab einen Knall, und ich habe mich gefragt, ob etwas explodiert ist.»

«Es war so laut? Ich habe nichts gehört.»

«Es war nicht laut. Falsch. Ich dachte zuerst, es wäre im Feuer berstendes Holz auf einem der Wagen.»

«Von wo kam der Schuss?», fragte Beat.

«Das kann ich nicht sagen.»

«Du musst mit der Polizei sprechen», sagte Beat. «Am besten gleich.»

«Nein», sagte Verena. «Bald ist Mitternacht. Es gibt zuerst zu essen.»

«Keinen Hunger», brummte Beat.

Verena ignorierte das. «Danach duscht ihr und geht ins Bett», sagte sie bestimmt. «Du musst morgen früh raus, Joel.» Sie stellte den Topf mit der Mehlsuppe und die Käsewähe auf den Tisch.

ZWEI

Samantha schlug die Augen auf und brauchte einen Moment, bis sie wusste, wo sie war.

Bis sie fertig gegessen hatten, war es fast ein Uhr am Morgen gewesen. Verena hatte darauf bestanden, dass Joel und Samantha bei ihnen übernachteten. Joels Widerrede, es nicht weit bis zu seinem Haus zu haben, hatte Verena nicht gelten gelassen. «Jede Viertelstunde, die du früher ins Bett kommst, ist besser.»

Joel hatte einen für Samantha halbherzig erscheinenden Einwand erhoben, kein kleines Kind mehr zu sein. Zwischen den Zeilen hatte sie gehört, wie froh er über das Angebot war. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Bei AarePharm war im Moment einiges los. Hinzu kam, dass er keinen Ersatz für Samantha gefunden hatte. Sie hatte im vergangenen Juni ihre Stelle bei AarePharm gekündigt. Nachdem herausgekommen war, mit Joel, der ihr Vorgesetzter und gleichzeitig Mitglied der Geschäftsleitung war, eine Beziehung zu haben, hatte sie beschlossen, dass dies der einzige Ausweg aus der Geschichte war. Die Mehrzahl der Kollegen hatte neutral reagiert, aber gewisse Anfeindungen hatte es gegeben. Samantha war zu dem Schluss gekommen, diese Kombination, Joel als Partner und als Vorgesetzten zu haben, könne auf die Dauer keine Lösung sein.

Die Nachfolgerin, die er für Julia eingestellt hatte, entpuppte sich ausserdem als unfähig. So blieb das meiste an Joel und Erik hängen. Zu allem Überfluss hatte Bernd Wolf, der ebenfalls zu Joels Team gehörte, gekündigt und arbeitete seit drei Monaten nicht mehr bei AarePharm. Zusätzlich stand eine Auditreise zu einem neuen indischen Lieferanten an. Regelmässig kam Joel seit zwei Wochen erst nach einundzwanzig Uhr nach Hause, um gleich darauf am nächsten Morgen zwischen fünf und sechs Uhr wieder zur Arbeit zu fahren.

Samantha tastete neben sich. Der Platz neben ihr war leer. Offenbar war er auch heute früh aufgebrochen. Sie hatte nicht mitbekommen, wann Joel aufgestanden war.

Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen drang Licht herein. Trotz der Ereignisse am gestrigen Umzug hatte sie tief und fest geschlafen.

Sie hob ihren Arm und brauchte eine Weile, bis sie die Zeit an ihrer Armbanduhr entziffert hatte. Bald acht Uhr! Samantha schwang die Beine aus dem Bett und musste einen Moment innehalten, da ihr schwindlig wurde.

Nachdem der Schwindel abgeebbt war, zog Samantha die Kleider von Joels Schwester Simona an, die ihr Verena in der Nacht gegeben hatte. Simona und sie hatten eine ähnlich zierliche Figur.

Samantha verliess das Zimmer. Auf dem Weg zum Bad schlug ihr der Geruch von Kaffee entgegen. Samantha realisierte, Hunger zu haben.

Der Badezimmerspiegel zeigte ihr eine übermüdete Frau mit Ringen unter den Augen. Ihr Teint hatte heute nichts von der Farbe eines Latte macchiatos, wie ihre beste Freundin Lorena ihr Aussehen bezeichnete. Sie sah eher wie Milchkaffee aus, dem zu viel Milch beigemischt worden war. Das Grün ihrer Augen war farblos und blass. Sie hatte nichts von der exotischen indischen Schönheit, als die Joels Vater sie gerne bezeichnete. Samantha kämmte ihre langen, dichten schwarzen Haare und fasste sie zu einem Rossschwanz zusammen. Sie strich die Salbe, die ihr Verena in der Nacht gegeben hatte, auf den linken Handrücken. Die Haut war wie gestern gerötet. Solange Samantha die Finger nicht bewegte, spannte und brannte es nicht.

In der Küche fand sie Beat vor. Er hatte neben sich eine Tasse stehen und blätterte in der Zeitung. Als Samantha eintrat, senkte er die Zeitung und lächelte sie über den Rand an.

«Guten Morgen», sagte er. «Ausgeschlafen?»

«Nicht wirklich, aber ich will nicht zur Langschläferin mutieren. Wo ist Vreni?»

«Sie hat ihren Frauenmorgen. Bedien dich und fühl dich wie zu Hause.» Er machte eine ausladende Bewegung durch die Küche.

Samantha war es unangenehm, in den Schränken und im Kühlschrank zu stöbern, doch sie kam der Aufforderung nach. Sie fand Flocken, eine Birne und Joghurt. Nachdem sie sich ein Müesli und einen Cappuccino zubereitet hatte, setzte sie sich Beat gegenüber an den Tisch. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite. Die grossen Buchstaben sprangen Samantha sofort ins Auge: «Spektakulärer Mord am Chienbäse-Umzug».

«Nichts als eine Menge Spekulationen», sagte Beat und drehte die Zeitung um. «Die Polizei hat vor einer halben Stunde angerufen. Ich habe ihnen gesagt, du hättest einen Schuss gehört.»

Samantha schloss für einen kurzen Moment die Augen und wappnete sich für das, was als Nächstes kommen musste.

«Sie wollen mit dir sprechen. Herrn Nussbaum kennst du ja.»

Das tue ich, dachte Samantha. Obwohl sich Jan Nussbaum und sein Team von der Kantonspolizei Baselland freundlich ihr gegenüber verhalten hatten, hatte sie keinen Bedarf, Nussbaum wiederzusehen. Es würde die Geschehnisse vom vergangenen Juni zurück an die Oberfläche spülen.

«Er hat gefragt, ob wir gegen zehn Uhr zu ihm in den Polizeistützpunkt Gutsmatte kommen können», fuhr Beat fort.

«Das sollte machbar sein», sagte Samantha und rührte mit dem Löffel durch das Müesli. Der Appetit war ihr aufgrund dieser Aussicht vergangen, und sie musste sich zwingen zu essen. Mechanisch kaute sie.

«Wie geht es dir?», fragte Beat und beugte sich vor. Er legte seine Hand auf ihre. Er musste bemerkt haben, dass sie keinen Hunger hatte. «Hast du inzwischen eine Stelle in Aussicht?» Anscheinend interpretierte er ihre Reaktion falsch.

Samantha schüttelte den Kopf. Nach ihrer Kündigung hatte sie zuerst angenommen, es sei einfach, einen neuen Job zu finden. Schnell war sie eines anderen belehrt worden.

«Das tut mir leid», sagte Beat. «Joel würde dich mit Kusshand wieder einstellen.»

«Am liebsten würde ich sie rausschmeissen», hatte Joel vor einigen Tagen genervt über Julias Nachfolgerin gesagt. «Dafür habe ich leider keine ausreichende Begründung.» Ausserdem hatte sie ein Auge auf Joel geworfen. Wiederholt kam sie mit fadenscheinigen Begründungen in sein Büro. «Immer diese unnötigen Anmerkungen und Hinweise», hatte Joel geknurrt. «Damit hält sie mich nur von der Arbeit ab.»

«Kommst du über die Runden?», fragte Beat.

«Ja.» Nach einer Wartefrist von drei Monaten bekam Samantha nun Arbeitslosenunterstützung, die für sie völlig ausreichend war. Geld war für den Moment nicht das Problem. Langsam fiel ihr allerdings die Decke auf den Kopf. Der Gedanke, nicht gebraucht zu werden, nagte an ihrem Selbstwertgefühl.

«Kanntest du Ruedi schon lange?» Sie wollte das Thema wechseln.

«Wir kennen uns aus Kindertagen. Später hatten wir uns aus den Augen verloren. Vor einigen Jahren kamen wir wieder in Kontakt, und Ruedi ist zu unserer Jassrunde dazugestossen. Er hatte die Idee, wir könnten gemeinsam bei diesem Umzug mitmachen. Ich fand die Idee grossartig, weil ich das schon immer machen wollte. Nie hätte ich gedacht… Die ganze Zeit frage ich mich, wer Ruedi das angetan haben könnte. Und warum?»

«Hat er nichts davon erzählt, er werde bedroht oder etwas in dieser Art?»

«Nein. Ruedi war nicht der Typ für Streit. Mit niemandem.» Beats Augen huschten kurz zur Seite, bevor er aufstand und seine Tasse in den Geschirrspüler stellte.

***

Um Viertel vor zehn betrat Samantha mit Beat das graue Gebäude mit den blauen Fensterrahmen und grauen Storen unweit der Liestaler Altstadt. Beat ging zur Anmeldung und sagte, sie seien da. Fünf Minuten später wurden sie von Florian Molina aus Nussbaums Team, einem untersetzten Mann mit grauem, schütterem Haar, abgeholt. Beat wurde von einem Mann übernommen, den Samantha nicht kannte.

Molina brachte Samantha zu einem Raum, in dem ein grauer Tisch und vier schwarze Stühle standen. Kurz darauf betrat der drahtig gebaute Nussbaum das Zimmer. Er machte eine Bewegung, die der Aufforderung gleichkam, sich zu setzen. Samantha kam ihr nach. Sie legte die Hände auf den Tisch und verschränkte die Finger ineinander. Sie hoffte, die Männer würden ihre Nervosität nicht bemerken. Sie verfluchte sich, nicht den Mund gehalten zu haben und Beat gegenüber den Schuss erwähnt zu haben. In einen neuen Mordfall hineingezogen zu werden war das Letzte, das Samantha wollte.

Verstohlen musterte sie die beiden Männer. Der dunkelblonde Nussbaum hatte sich nicht verändert. Molina hatte dagegen an Gewicht zugelegt, und das Hemd spannte sich bedenklich über dem Bauch. Samantha befürchtete, einzelne Knöpfe würden in absehbarer Zeit dem Zug, dem sie ausgesetzt waren, nicht mehr standhalten.

«Möchten Sie etwas trinken?» Molina wies mit dem Kopf auf die Karaffe und die Gläser, die mitten auf dem Tisch standen.

Samantha schüttelte den Kopf.

Die Beamten setzten sich, und Molina holte einen Notizblock hervor. Er nickte Nussbaum zu.

«Vorab möchte ich gerne wissen, wie Ihr Verhältnis zu Beat Gyger ist.»

Ein seltsamer Einstieg in die Befragung, dachte Samantha. Sie hätte zunächst Small Talk erwartet. «Er ist der Vater meines Freundes Joel Gyger.»

«Wir haben uns gewundert, weil er uns informierte, Sie hätten einen Schuss gehört. Warum haben Sie das nicht selber getan?»

«Wir haben heute Nacht über den Vorfall gesprochen.» Samantha nahm an, er war nicht erfreut, weil sie nicht gleich die Polizei gerufen hatte. Immerhin war es spät gewesen. «Dabei ist mir das mit dem Knall in den Sinn gekommen», fuhr sie fort, weil Nussbaum nichts erwiderte. «Beim Frühstück haben wir das Thema ein weiteres Mal angeschnitten.»

Die Verwirrung in Nussbaums Gesicht nahm zu. «Frühstück?» Samantha verspürte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. «Joel und ich haben bei seinen Eltern übernachtet…»

«Wohnt Joel Gyger nicht selber in Liestal?»

«Es war weit nach Mitternacht, und seine Mutter hat darauf bestanden.»

«Aha.» Er klang wie ein strenger Lehrer, der überlegte, ob Samantha sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte. «Hat Joel Gyger den Schuss auch gehört?», fuhr fort.

«In der Nacht hat er es verneint. Ob ihm inzwischen etwas in den Sinn gekommen ist, weiss ich nicht.»

«War er beim Frühstück nicht anwesend, als Sie darüber diskutiert haben?»

«Er ist zur Arbeit aufgebrochen, bevor ich aufgewacht bin.»

«Sie mussten nicht zur Arbeit?» Neues Erstaunen tauchte in Nussbaums Gesicht auf.

«Ich bin derzeit auf Stellensuche», sagte Samantha und senkte den Kopf. Warum musste das Gespräch ausgerechnet zu diesem unangenehmen Thema driften?

«Aha», kam es erneut. Zum Glück war das alles, was Nussbaum dazu erwiderte, und Samantha war ihm dankbar dafür. Kurzes Schweigen setzte ein, bevor Nussbaum zum eigentlichen Thema zurückkehrte. «Können Sie bitte erläutern, wieso Sie annehmen, einen Schuss gehört zu haben, und ob es nicht etwas anderes gewesen sein könnte?»

«Mir war nicht bewusst, es könnte ein Schuss gewesen sein. Es war ein Knall, den ich nicht einordnen konnte.»

«Es war laut beim Umzug. Könnte der Grund für den Knall nicht ein anderer gewesen sein?»

Das hatte was. Interpretierte sie im Nachhinein zu viel in den Knall hinein? «Anfangs dachte ich, eins der Feuer könnte den Knall verursacht haben. Wenn ich das Ganze rückblickend betrachte, passte der Knall nicht zu den Geräuschen des Umzuges. Ich weiss nicht, wie ich es plausibel erklären soll.»

«Lassen wir das», sagte Nussbaum. «Können Sie bitte beschreiben, was passiert ist?»

Die Bilder des zusammenbrechenden Mannes tauchten vor Samanthas innerem Auge auf. Sie sah den brennenden Besen auf sich zufallen und spürte die Ohnmacht, sich nicht bewegen zu können.

«In dem Fall hatten Sie grosses Glück», sagte Nussbaum, als Samantha ihren Bericht beendet hatte. «Waren Sie beim Arzt?» Er deutete auf Samanthas verbundene Hand, die nach wie vor pochte, obwohl Samantha das Gefühl hatte, der Schmerz habe ein wenig nachgelassen. «Es sieht schlimmer aus, als es ist.»

«In welchem Verhältnis stehen Sie zu Ruedi Herzog?»

«In keinem. Ich kenne ihn nicht.»

«Sind Sie ihm bei den Gygers nie begegnet?»

Erneut verneinte Samantha.

«Hat Ihr Schwiegervater nie von ihm gesprochen?»

Samantha fühlte sich durch Nussbaums Gebrauch des Wortes Schwiegervater irritiert. Gleichzeitig breitete sich ein angenehmes Gefühl in ihrem Inneren aus, das sie verunsicherte. Hochzeitsabsichten hatte sie bisher keine gehegt. Das Wort vermittelte Zugehörigkeit. Zugehörigkeit zu Joel, zur Familie Gyger. Nach dem gewaltsamen Tod ihrer Adoptiveltern hatte sie sich endgültig entwurzelt gefühlt. Die Tatsache, ihre leibliche Familie in Indien gefunden zu haben, hatte daran nichts geändert. Der Wunsch nach Familie und Geborgenheit drängte sich vor.

«Nein», antwortete sie hastig. «Okay, das stimmt nicht ganz. Er hat Ruedi Herzog mit Namen erwähnt, als er erzählt hat, wer alles zu seiner Jassrunde gehörte und wer bei dem Umzug mitlaufen wollte. Mehr nicht.»

«Ist Ihnen ausser dem Schuss etwas aufgefallen?», fuhr Nussbaum fort.

«Nein.»

«Hat sich keiner der Umstehenden auffällig verhalten?»

«Mir ist nichts aufgefallen.»

«Keiner der Umstehenden hat den Schuss bemerkt?»

«Das weiss ich nicht, würde aber sagen Nein.»

«Haben Sie gesehen, wie sich jemand rasch entfernt hat?»

«Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war auf den Umzug konzentriert.»

***

Es war Samantha nicht recht gewesen, als Beat den Vorschlag gemacht hatte, zu Ruedi Herzogs Frau zu fahren, nachdem Nussbaum und Molina die Fragen beendet hatten. Er hatte bei der Anmeldung auf Samantha gewartet.

«Was ist mit Vreni?», hatte Samantha gefragt. Verena wäre in Samanthas Augen besser geeignet gewesen. Beat könnte sie abholen. Um diese Zeit war sie bestimmt von ihrem Treffen nach Hause zurückgekehrt.

«Vreni hat nach ihrem Frauentreffen einen Physiotermin wegen ihrer Rückenprobleme», hatte Beat gesagt. «Und ich möchte nicht warten.»

Zu gerne wäre Samantha in ihre Wohnung nach Lenzburg gefahren, um neue Bewerbungen zu schreiben. Dieses war nur ein Vorwand, wie ihr klar war. Sie wünschte, alleine zu sein, um das, was gestern passiert war, in Ruhe zu verarbeiten. Seit dem Mord an ihren Eltern vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie das Gefühl, dauernd mit dem Tod in Berührung zu kommen. Mehr noch, sie hatte das Gefühl, er verfolge sie regelrecht. Sie hatte Beat nicht vor den Kopf stossen wollen. Samantha konnte deutlich spüren, wie wichtig es ihm war, so schnell wie möglich Ruedis Frau zu besuchen und ihr persönlich zu kondolieren. Und wie gern er jemanden dabeihätte. Der Verdacht drängte sich auf, Ruedi und Beat könnten mehr als nur Bekannte gewesen sein, die hin und wieder zusammen gejasst und Ausflüge unternommen hatten.

Beat fuhr über die Brücke, die über die Ergolz und die Liestaler Umfahrungsstrasse führte. Er folgte dem Verlauf der Arisdörferstrasse und bog schliesslich links ab. Es ging ein Stück bergauf, bevor er in einer Einfahrt vor einer Garage eines gelben Mehrfamilienhauses hielt. Gemäss der Anzahl Briefkasten neben der kleinen Fläche vor den Garagen wohnten vier Parteien in dem Haus.

Sie stiegen schweigend die Treppe hoch, die zum Haus führte. Die Sekunden verstrichen, nachdem Beat geklingelt hatte. Als in Samantha die Hoffnung aufkeimte, es sei keiner da, sah sie durch das Glas der Haustür, wie sich von der rechten Wohnung im Erdgeschoss die Tür öffnete und eine untersetzte grauhaarige Frau in ihre Richtung kam. Ihre Statur ähnelte der von Verena. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug. Ihre rot geweinten Augen sahen hinter der Brille riesig aus.

«Hallo, Regula», sagte Beat.

Sie schluchzte auf. Beat nahm sie in die Arme und murmelte Worte, die Samantha nicht verstand. Sie kam sich deplatziert vor und wusste nicht, was sie tun sollte.

«Komm rein», sagte Regula und löste sich von Beat. Als sie sich umdrehte und ins Treppenhaus deutete, bemerkte sie Samantha.

«Das ist Joels Freundin», sagte Beat.

«Die Inderin?» Samantha konnte den Tonfall nicht einordnen, wurde den Verdacht aber nicht los, dass diese Bemerkung abschätzig gemeint war.

Samantha setzte ein Lächeln auf und reichte der Frau die Hand. «Es tut mir leid, was mit Ihrem Mann passiert ist.»

Regula nahm Samanthas Hand nicht, sondern nickte ihr flüchtig zu. Sie führte Beat und Samantha zu ihrer Wohnung und bat sie ins Wohnzimmer. Dunkle Möbel dominierten den Raum, und er vermittelte trotz des grossen Fensters und der breiten Terrassentür einen finsteren, beinahe abweisenden Eindruck.

«Was möchtet ihr trinken? Kaffee?»

«Gerne», kam Beat Samantha zuvor, bevor sie ablehnen konnte. Samantha trat an das Fenster, von dem man eine ähnlich gute Aussicht über Liestal hatte wie von Joels Haus. Sie konnte das Schwimmbecken einer Badi erkennen und vermutete, es handle sich dabei um das Volksbad Gitterli. Samantha erkannte im Tal die Umfahrungsstrasse.

Sie war mit Liestal und der Umgebung noch nicht vertraut, aber sie war sich sicher, irgendwo auf der anderen Seite des Tales am Hang war Joels Haus.

Sie hörte, wie jemand hinter ihr den Raum betrat. Da sie annahm, es sei Regula, wandte sie sich nicht um.

«Hi, I’m Matthew», sagte kurz darauf eine tiefe Männerstimme. Erstaunt drehte Samantha sich um. «MatthewJ. Lewis.» Ein dunkelblonder Mann reichte Beat die Hand. Er erblickte Samantha, und seine Augenbrauen schnellten in die Höhe. «Wow, so einen hübschen Besuch bekommt man nicht alle Tage», sagte er in korrektem Hochdeutsch, in dem ein englischer Akzent deutlich hervortrat. Er reichte Samantha die Hand, die er länger als nötig festhielt. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. «Ich bin Ruedis und Regulas Neffe from Canada.»

Samantha konnte es sich nicht verkneifen, ihn ebenfalls von oben bis unten zu mustern. Er trug ein weisses Hemd und Jeans. Seine blaugrauen Augen funkelten belustigt auf, als er Samanthas Blick bemerkte. Er deutete ihn offenbar als Interesse und trat ein Stück dichter an Samantha heran. Sie wich zurück.

Beat stellte sie beide rasch vor, und das Funkeln verschwand für einen kurzen Augenblick, als er sagte, Samantha sei die Freundin seines Sohnes. Samantha war froh, als Regula mit einem Tablett zurückkehrte, auf dem vier Kaffeetassen standen.

«Matthew ist für vier Wochen bei uns zu Besuch», erläuterte sie. «Er hat ein halbes Jahr Auszeit genommen und möchte gerne durch Europa reisen. Zuerst macht er hier Station. Immerhin haben wir ihn zuletzt als etwa Zehnjährigen gesehen.»

«Eine lange Zeit», bestätigte Matthew. «Der Besuch war längst fällig.»

In Regulas Gesicht flackerte für einen kurzen Moment ein Ausdruck auf, den Samantha als Überdruss interpretierte, was sie irritierte. War Matthews Besuch unerwünscht gewesen? Sie setzten sich, und Regula reichte eine Schüssel mit Biskuits herum.

«Was machen Sie beruflich?», fragte Beat in Schriftdeutsch, bevor er eins von den Biskuits nahm und abbiss.

«Im Moment arbeite ich in einer Immobilienfirma, werde aber die Farm meiner Eltern übernehmen, wenn sie sich zur Ruhe setzen.»

«Das ist eine interessante Berufskombination», sagte Beat, und Samantha war froh, weil er den Small Talk übernahm, da Small Talks nicht zu ihren Stärken gehörten. Ausserdem war sie sich Regulas prüfender Musterung bewusst. Sie konnte nicht einordnen, ob es Ablehnung oder etwas anderes war.

«Die Ausbildung als Immobilienmakler ist mein zweites Bein. Sagt man das so?» Er hatte sich an Regula gewandt.

«Standbein.» Das klang wie ein Seufzer.

«Ich dachte, es könnte nützlich sein, einen weiteren Beruf zu haben. Mein Vater und ich haben nicht die gleichen Ansichten, wie man eine Farm führt.» Er starrte an Samantha vorbei. «So ist es erst einmal besser.»

Härte spiegelte sich für einen kurzen Moment in seinem Gesicht wider. Es ist besser, wenn man mit ihm keine Meinungsverschiedenheit hat, dachte Samantha.

«Du sprichst gut Deutsch», sagte Beat in die entstandene Stille hinein.

«Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich Deutsch lerne. Zu Hause reden wir nur Englisch. Meine Ferien sind eine gute Übung.»

«Wo ist die Farm?», fragte Beat weiter.

«Nova Scotia», antwortete Matthew. Er lehnte sich nach hinten, verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn. Seine Ausstrahlung kam für Samantha überheblich herüber. Sie vermutete, er gehörte zu den Menschen, die das Gefühl hatten, allen überlegen zu sein und dass ihnen alles grundsätzlich zu Füssen läge.

«Ihr habt Verwandte in Kanada?» Beat hatte sich an Regula gewandt. «Das wusste ich nicht.»

«Ruedis Schwester ist mit Mitte zwanzig ausgewandert. Ursprünglich wollte sie nur für ein oder zwei Jahre bleiben. Nachdem sie ihren Mann kennengelernt hatte, wurde aus dem Plan ‹nur kurz› für immer. Einmal waren wir drüben, als Matthew zehn war. Sie kamen wegen der Farm nie in die Schweiz. Reisen sei zu teuer, und sie hätten zu viel Arbeit, hat mein Schwager vorgeschoben.»

«Warum seid ihr kein zweites Mal rübergeflogen?»

«Es hat sich nicht ergeben.» Sie wich aus. Eindeutig. Samantha kam zu der Überzeugung, der Besuch des Neffen war alles andere als willkommen und wurde als notwendiges Übel angesehen. Aufgrund des ersten Eindrucks, den sie von Matthew hatte, konnte sie Regulas Haltung verstehen.

Matthew musterte Samantha. Zwar war sie froh, weil Matthew in den Raum gekommen war, da es die Möglichkeit für andere Gesprächsthemen eröffnete, aber sein unverhohlenes Interesse an ihr empfand sie als unangenehm.

«Wir wollten ihm die Schweiz zeigen», sagte Regula. «Das wird nun nicht mehr gehen.» Tränen traten in ihre Augen, die sie mit einem Taschentuch wegtupfte. Matthew legte seine Hand auf ihre, und Samantha fiel auf, wie gross sie war. Es war die Hand eines Mannes, der zupacken konnte.

«Erschossen», flüsterte sie. «Wer tut so etwas? Ausgerechnet Ruedi, der friedlichste Mensch auf Erden.» Sie wurde unterbrochen, weil das Telefon klingelte. Regula sprang auf und starrte auf die leere Station auf dem Buffet. «Wo ist das Telefon?»

«Ich habe es zuletzt in der Küche gesehen», sagte Matthew.

Regula eilte aus dem Raum. Beat, Matthew und Samantha blieben schweigend zurück. Von draussen konnte Samantha Regula sprechen hören, aber es war zu leise, um die Worte zu verstehen. Samantha begann sich zunehmend unwohler zu fühlen. Sie konzentrierte sich auf die Fotos, die neben der Telefonstation aufgestellt waren. Eins zeigte Regula mit einem gleichaltrigen Mann in den Bergen, bei dem es sich um Ruedi handeln musste. Sie trugen Wanderausrüstung und hatten ihre Rucksäcke neben sich auf den Boden gestellt. Auf einem weiteren Bild war Regula mit dem Velo und auf einem dritten Ruedi beim Skifahren zu sehen.

Regula kehrte zurück. «Beat, kann ich kurz mit dir sprechen?»

«Natürlich.»

Er verliess hinter Regula das Wohnzimmer, und Samantha stöhnte innerlich auf. Mit Matthew alleine zu bleiben war das Letzte, das sie wollte. Sie blieb am Schrank stehen und betrachtete weiter die Fotos. Matthew stellte sich neben sie. Dicht. Zu dicht. Sie widerstand dem Drang, einen Schritt zur Seite zu treten, und beschloss, seine Aufdringlichkeit betont zu ignorieren, solange er sie nicht berührte. Sie ging davon aus, er werde es so eher begreifen, und nahm das Bild, das Ruedi beim Skifahren zeigte.

«Wenn ich den in die Finger bekomme, der Ruedi das angetan hat», murmelte er. «Es ist schlimm zu sterben, aber Mord…» Er nahm Samantha das Bild ab und stellte es zurück. «Der Schock reicht nicht. Dauernd ruft hier jemand von der Presse an.»

«Von der Presse?», fragte Samantha verwundert. Normalerweise wurde die Identität der Opfer so lange wie möglich zurückgehalten.

«Ja. Ich weiss nicht, von wem sie diese Informationen haben.» Hatte Samantha nur das Gefühl, oder schaute er schuldbewusst drein?

DREI

Der Zug war voll. Kein Wunder, an einem Dienstagabend um kurz vor halb sechs.

Samantha ging durch den Gang und suchte die Abteile ab, ob sie einen freien Platz fand. Schliesslich entdeckte sie einen, auf dem die Handtasche einer Frau stand, die telefonierte.

Der Blick war nicht gerade freundlich, als sie darum bat, sich setzen zu dürfen. Immerhin nahm die Frau die Tasche auf den Schoss. Erleichtert liess Samantha sich auf den Sitz gleiten. Sie war müde. Das Vorstellungsgespräch war anstrengend gewesen. Es hatte fast drei Stunden gedauert. Samantha wertete das als positives Zeichen. Zwar war sie sich nicht schlüssig, ob der Job beim Regionalen Heilmittelinspektorat der Nordwestschweiz der richtige für sie war. Es klang alles interessant, aber im Inneren nagten Zweifel. Je länger sie arbeitslos war, desto unsicherer wurde sie, welche Berufsrichtung sie einschlagen sollte. Ob sie weiter in der Pharmabranche tätig sein wollte. Oder ob ein Wechsel besser wäre. Dabei konnte sie nicht wählerisch sein. Inzwischen hatte sie in verschiedenen Bereichen wie in der Kosmetikindustrie oder in einem medizinischen Labor Bewerbungen ausstehend. Allerdings stufte sie hier ihre Chancen gering ein, da sie als Biologin nicht ganz in das von den Firmen geforderte Profil passte. Doch sie musste gegenüber dem Arbeitsamt Bewerbungen vorweisen. Immerhin war sie seit vergangenem Juni auf Arbeitssuche und bereits seit fünf Monaten arbeitslos.

Die Frau neben ihr beendete das Gespräch, von dem Samantha nur Gemurmel verstanden hatte. Sie legte das Handy auf die Tasche. Zehn Sekunden später ergriff sie es und öffnete WhatsApp. Obwohl Samantha es nicht wollte, erhaschte sie einen Blick auf das Display. Es gab keine neue Nachricht. Die Frau legte das Handy zurück. Keine zehn Sekunden verstrichen, und sie nahm es erneut. Dieses Mal schaute sie sich das Wetter an. Sie legte das Handy ab, griff sofort wieder danach und rechnete etwas aus. Danach surfte sie im Internet. Samantha wurde zappelig. Konnte die Frau das Ding nicht einfach mal länger als eine Minute aus den Fingern legen? Ein zweites Mal rief die Frau WhatsApp auf, in dem es offensichtlich nach wie vor keine neue Nachricht gab.

Beim nächsten Halt stand sie auf und verliess den Zug, worüber Samantha froh war. Samantha rutschte auf die Fensterseite und blickte nach draussen. Die Frau, die neben ihr gesessen hatte, ging an dem Fenster vorbei und tippte auf ihrem Handy herum. Dabei zog sie gierig an der Zigarette, die in ihrem Mundwinkel hing. Sie lief in eine Gruppe Männer hinein, die auf dem Perron standen und sich unterhielten. Die Röte schoss in ihr Gesicht, als sie sich offenbar hastig entschuldigte, das Handy wegsteckte und eilig verschwand. Die Männer riefen ihr grölend etwas hinterher.

In Olten musste Samantha umsteigen. Sie eilte die Treppe nach unten und bog in der Unterführung nach rechts ab, als sie am Arm festgehalten wurde.

«Samantha?», sagte eine Männerstimme mit breitem englischen Akzent. Sie stöhnte innerlich auf.

«Was machst du hier?», fragte Matthew.

«Umsteigen, um nach Hause zu fahren», erwiderte sie in Schriftdeutsch.

«Wunderbar. Wir können zusammen nach Liestal fahren.»

«Ich wohne in Lenzburg.»

«Du wohnst nicht mit deinem Freund zusammen?»

«Nein.»

Matthews Irritation wechselte sich mit Erstaunen und einem anderen Ausdruck in seinem Gesicht ab, der ihr unangenehm war. Es war klar, was er dachte, und er sah aus, als wittere er eine Chance. Das Jagdfieber packte ihn eindeutig.

«Oder besser noch nicht», setzte Samantha nach. «Wir haben geplant, in diesem Jahr zusammenzuziehen.»

Hoffentlich kam das Joel nicht zu Ohren. Er hatte Samantha an Weihnachten gefragt, ob sie zusammenziehen wollten, was sie abgelehnt hatte. «Es ist zu früh dafür», hatte sie erklärt. Sie wusste, wie stark sich Joel wünschte, sie würde zu ihm nach Liestal kommen, aber Samantha schreckte davor zurück. An Joel lagen ihre Bedenken nicht. War es die Angst, ihre Eigenständigkeit zu verlieren?

Matthew schaute auf seine Armbanduhr. «Mein Zug ist weg», sagte er.

Meiner auch, dachte Samantha und verwünschte Matthew, sie aufgehalten zu haben.

«Wollen wir einen Kaffee trinken?» Matthew nahm ihre Hand und zog sie mit sich, bevor sie ablehnen konnte. «Ich lade dich ein.»

Sie fanden im Caffè Spettacolo Platz an einem Zweiertisch. Matthew gab Zucker in seinen doppelten Espresso und rührte um. Samantha nippte an ihrem Latte macchiato.

«Ich war in Bern», sagte Matthew. «Ich brauchte nach allem eine kleine Auszeit. Bitte versteh das nicht als mangelndes Feingefühl.»

Feingefühl, dachte Samantha. Hast du das wirklich?

«Ich glaube, Regula war es recht, dass ich mich heute rargemacht habe.»

Das konnte Samantha nachvollziehen. Wenn sie sich vorstellte, Matthew die ganze Zeit um sich haben zu müssen, wurde ihr schlecht. Allerdings war er im Moment nicht überheblich, wie er es gestern gewesen war.

Samantha fragte sich, wie das Verhältnis von Matthew zu Regula und Ruedi war. So wie sie es gestern verstanden hatte, war der Kontakt locker gewesen und hatte sich auf Karten zu Weihnachten und zum Geburtstag beschränkt. Egal, wie nervig Matthew war, musste Regula in dieser Situation nicht froh sein, dass sie nicht alleine war?

Sogleich keimte die nächste Frage auf: Wieso kam Matthew auf die Idee, den Start seiner Europareise ausgerechnet mit einem Monat bei seinem Onkel und seiner Tante zu beginnen? Für Samantha war das unlogisch. Eine Woche hätte in ihren Augen gereicht.

«Besonders nach der neuen Leiche», fuhr Matthew fort.

«Welche neue Leiche?» Samantha stellte die Tasse ab, die sie angehoben hatte, um einen Schluck zu trinken.

«Weisst du das nicht? Seit heute Morgen berichten die Medien über nichts anderes.»

Da Samantha mit dem Vorstellungsgespräch beschäftigt gewesen war, hatte sie weder Radio gehört noch Zeitung gelesen. Sie hatte ein letztes Mal überlegt, was für Fragen in dem Vorstellungsinterview gestellt werden konnten und welche Antworten sie darauf geben konnte.

«Sie haben in einer Wohnung in der Altstadt eine Leiche gefunden.»

«In welcher Altstadt? In Liestal?»