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Ein Lehrer der Alten Kantonsschule wird vergiftet, doch es gibt weder Motiv noch Verdächtige. Als ein weiterer Mord geschieht, beginnt Andrina Kaufmann undercover an der Schule zu ermitteln - und gerät unversehens nicht nur zur Hauptverdächtigen, sondern auch in Lebensgefahr . . .
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Seitenzahl: 382
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Ina Haller wurde 1972 geboren. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kurz- und Kindergeschichten sowie Kriminalromane. Sie lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Im Emons Verlag erschienen «Tod in Aarau», «Gift im Aargau» und «Der Metzger von Aarau».www.inahaller.ch
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Am Ende des Buches findet sich ein Glossar.
© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/crocodile Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-973-8 Originalausgabe
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Für Urs, Pascale, Rebecca und Manuela
EINS
Unter ihren Füssen knarrte der Holzboden, als Andrina ans Fenster trat. Sie stützte sich gegen den Fensterrahmen und schaute auf den Ententeich. Die Magnolie daneben blühte. Sonnenstrahlen fielen durch die frisch belaubten Baumwipfel und malten ein Muster von Licht und Schatten auf den Weg.
Erinnerungen an die Zeit, als sie selbst die Alte Kantonsschule Aarau besuchte, blitzten auf. Nicht nur schöne, die schlechten überwogen.
Weg mit den trüben Gedanken, dachte Andrina und betrachtete das frische Grün. Dazu war dieser Mittwochnachmittag viel zu schön. Der Winter hatte dieses Jahr sehr lange gedauert. Bis Ende März hatte Schnee gelegen. Dann war es mit einem Schlag warm geworden. Es schien, als ob die Natur in den letzten zwei Wochen den Rückstand aufholen wollte. Überall blühte es.
Hinter ihr erklang das Klicken der Tür.
«Da bin ich wieder», sagte Alfred Schnyder. Er gab der Tür einen Stoss mit dem Ellenbogen, damit sie ins Schloss fiel. «Herr Neumann ist leider verhindert. Er liegt mit einer Magen-Darm-Grippe zu Hause im Bett. Es ist eine Schande. Bei dem schönen Wetter sollte keiner krank sein.»
«Der harte Winter hat uns alle geschwächt.»
«Wie ich gehört habe, sind bereits Klassen im ganzen Kanton wegen dieser Magen-Darm-Sache ausgefallen. Auch vor unserer Schule macht die Grippe nicht halt. Langsam greift sie auf uns Lehrer über. Frau Fehr wird Herrn Neumann vertreten. Ist das in Ordnung für Sie? Ich habe seine und meine Unterlagen hier.» Schnyder wuchtete eine Aktentasche auf den Tisch und stellte eine Tasse mit Tee daneben.
«Das ist kein Problem.»
«Wir sind froh, dass Sie sich bereit erklärt haben, dieses Anthologieprojekt zu übernehmen. Die Schüler freuen sich riesig, und die Plätze sind seit mehreren Wochen vergeben.» Er hob die Tasse an. «Möchten Sie wirklich keinen Kaffee? Oder ein Glas Wasser?»
«Nein, vielen Dank. Ich hatte mehr Kaffee heute, als ich vertragen kann.»
Schnyder strich mit der Hand über seinen kurz gestutzten grauen Bart und danach über die vollen grauen Haare. Mit dem Kopf wies er auf seine Tasse in der Hand. «Ich kann Ihnen auch gerne eine Tasse Tee anbieten. In meiner Thermoskanne im Lehrerzimmer habe ich noch feinen Oolong-Tee, den ich von unserer letzten Asienreise aus China mitgebracht habe.»
«Nein, danke. Nur keine Umstände.» Andrina lächelte.
Schnyder hob die Tasse an die Lippen und trank einen grossen Schluck.
Als er die Tasse senkte, ging ein Ruck durch seinen Körper. Er starrte Andrina mit aufgerissenen Augen an. Mit einem Knall stellte er die Tasse ab, und Tee schwappte auf den Tisch. Schnyder fasste sich an den Hals und schnappte nach Luft. Sein Gesicht bekam eine rosa Farbe. Im gleichen Augenblick neigte sich sein Körper zur Seite.
Mit wenigen Schritten war Andrina bei ihm, konnte ihn aber nicht mehr auffangen, als er zu Boden stürzte. Sie kniete neben ihn und tastete mit der Hand nach dem Puls am Hals. Im selben Moment ging die Tür auf, und eine Frau mit Brille und grauen Haaren betrat das Zimmer.
«Mein Gott», rief sie.
«Kein Puls. Rufen Sie die Ambulanz.» Andrina legte beide Hände auf Schnyders Brustkorb und beugte sich vor. Sie versuchte den Erste-Hilfe-Kurs, den sie vor einer Ewigkeit besucht hatte, Revue passieren zu lassen. Was musste man bei der Mund-zu-Mund-Beatmung genau beachten?
«Lassen Sie mich das machen! Ich habe mal als Krankenschwester gearbeitet.» Die Frau riss die Fenster auf und kniete in der nächsten Sekunde neben Andrina. Energisch schob sie Andrina zur Seite. «Verständigen Sie die Ambulanz.»
Ein Geruch, der dem einer frisch gemähten Heuwiese ähnelte, stieg in Andrinas Nase, als die Frau die Herzmassage begann.
* * *
«Er ist einfach zusammengebrochen?», fragte Feller.
Andrina nickte und liess sich neben ihn auf das Sofa fallen. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht.
«Ich habe bisher nie jemanden einen Herzanfall bekommen sehen.»
«Hat Herr Schnyder es geschafft?» Feller wandte sich Andrina zu und legte seinen Arm um ihre Schultern.
«Nein», sagte Andrina tonlos. Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. «Frau Fehr hat Herzmassage gemacht. Er ist trotzdem gestorben, bevor die Ambulanz da war.»
«Wie alt war er überhaupt?»
«Ich glaube, Mitte bis Ende fünfzig. Ich finde das ein wenig früh für einen Herzinfarkt.»
«Einen Einfluss darauf hat man leider nicht. Bei Herrn Schnyder hatte ich früher Geschichtsunterricht.» Für einen kurzen Moment blitzte Wehmut in seinen blauen Augen auf.
«Ich auch.»
«Ich habe ihn als fairen Lehrer in Erinnerung.»
Na ja, dachte Andrina. Sie hatte andere Erfahrungen gemacht. Trotzdem musste sie zugeben, dass ihr Schnyder seit der gemeinsamen Projektarbeit sympathisch geworden war. Vielleicht hatte die Erwachsenenperspektive ihre Meinung geändert. Wie auch immer, so einen Tod hatte er nicht verdient.
«Plötzlich war alles vorbei. Frau Fehr hat noch eine Weile weiter Herzmassage gemacht, aber es hat nicht geholfen. Dann ist sie aufgesprungen und hat gesagt, ich solle nach Hause gehen, denn ich könne nichts mehr tun. Sie werde alleine auf die Ambulanz warten.»
Feller beugte sich vor. Es sah aus, als wolle er etwas sagen, liess Andrina jedoch weitersprechen.
«Ich würde nur im Weg stehen, hat sie gemeint. Sie hat mich regelrecht davongescheucht, und jetzt habe ich das Gefühl, Herrn Schnyder im Stich gelassen zu haben.» Sie schwieg einen Moment. «Es war ein Fehler, zu gehen, nicht wahr? Ich hätte bleiben müssen. Aber ich… Frau Fehr… Es war…»
Feller strich über Andrinas Rücken. Sein Gesicht war ausdruckslos. «Du konntest nichts machen. Wenn Frau Fehr früher Krankenschwester war, war er bei ihr in den besten Händen, was die Erste Hilfe betrifft. Auch wenn sie ihn nicht retten konnte.»
Sagte er das nur, um sie zu beruhigen? Andrina konnte in seinen Gesichtszügen immer noch nichts ablesen. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm in die Stirn, aber er wischte sie nicht fort. Seine blauen Augen schauten sie unverwandt an. Nach einigen Sekunden zog er sie an sich, und Andrina presste ihren Kopf gegen seine Schulter. Feller zuckte zusammen und gab einen zischenden Laut von sich.
«Moment, ich muss die Lage verändern.» Er rutschte auf dem Sofa hin und her und lagerte sein linkes Bein hoch.
Mitte März waren Feller und Häusermann, der zu seinem Team von Leib und Leben der Kripo Aargau gehörte, mit dem Auto nach Bern gefahren. Unterwegs setzte Eisregen ein, der die Strasse innerhalb von Sekunden in eine spiegelglatte Fläche verwandelt hatte.
Samuel Häusermann, der gefahren war, hatte gerade noch bremsen können. Die folgenden Autos waren in sie gerutscht und hatten sie in den Lieferwagen vor ihnen geschoben. Beide hatten Glück im Unglück gehabt und sich je nur einen komplizierten Beinbruch zugezogen. Häusermann hatte zusätzlich eine mittelschwere Gehirnerschütterung gehabt und Feller einen tiefen Schnitt am rechten Arm, der genäht werden musste. Die Narbe würde man vermutlich immer sehen. Die Beine beider Männer mussten mehrere Male operiert werden.
Gestern war Feller den Gips losgeworden und heute entlassen worden. Er würde mindestens drei weitere Wochen krankgeschrieben sein und drei- bis viermal in der Woche zur Physiotherapie ins Kantonsspital gehen müssen.
Am Morgen hatte Andrina ihn vom Spital abgeholt und nach Hause gebracht. Danach war sie zum Verlag gefahren. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen.
«Lass uns über etwas anderes sprechen», sagte Feller. Er strich mit dem Zeigefinger über Andrinas linke Hand. «Meine Mutter kommt morgen.»
Andrina richtete sich auf. «So kurzfristig? Warum das denn?»
«Sie will Krankenschwester spielen.»
«Das ist mein Job.» Andrina konnte nicht verhindern, beleidigt zu klingen.
«Versteh sie bitte nicht falsch. Sie nimmt es nur als Vorwand, weil sie mich seit Dezember nicht mehr gesehen hat.»
«Kommt dein Vater auch?»
Feller schüttelte den Kopf. «Er reist morgen mit der Männerriege des Turnvereins von Ascona für eine Woche nach Rom.»
«Das ist also der zweite Grund. Deiner Mutter ist es langweilig, und sie will nicht alleine sein. Ich mache das Gästezimmer parat.»
Andrina erhob sich, froh, etwas Sinnvolles zu tun, was sie hoffentlich ein wenig ablenken würde. Sie eilte in das Gästezimmer, öffnete den Schrank und holte Bettwäsche heraus.
In diesem Moment klingelte es. Andrina verharrte in der Bewegung. Nach den Ereignissen an der Schule wollte sie niemanden ausser Feller sehen. Widerwillig ging sie zur Haustür.
«Hallo. Darf ich einen Augenblick reinkommen. Es ist wichtig.»
Susanna Marioni schien ähnlich verunsichert zu sein. Seit letztem Herbst hatten sie sich weder gesehen noch gesprochen. Dabei wäre eine Aussprache dringend notwendig gewesen. Keine von ihnen hatte jedoch den ersten Schritt gewagt. Andrina wusste nur, dass sie kurz vor dem Unfall zu Fellers Team zurückgekehrt war.
«Klar.» Andrina machte mit der Hand eine Bewegung ins Innere. Susanna schlüpfte an ihr vorbei. Verstohlen musterte Andrina sie, als sie ihre dünne Jacke auszog. Sie war mager, sah aber um einiges gesünder aus als nach ihrer Entführung vom letzten Herbst. Susannas Name passte nicht zu ihrem Aussehen, dachte Andrina wie schon so oft. Ihr Name liess eher eine schwarzhaarige Italienerin und keine Frau mit blauen Augen und langen Locken, die die Farbe eines Weizenfeldes kurz vor der Ernte hatten, vermuten.
Susanna hängte die Jacke an die Garderobe und drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich.
«Du hast deine Haare abgeschnitten», sagte sie. Auch wenn der Satz offenbar eine Feststellung war, klang er wie eine Frage. «Sind die Locken echt?»
Andrina nickte. Vor zwei Wochen war sie beim Coiffeur gewesen und hatte ihre Haare bis knapp über die Schultern gekürzt. Dadurch kamen ihre Naturlocken mehr zur Geltung.
«Steht dir gut.» Susannas Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln.
Andrina warf einen Blick in den Spiegel und lockerte mit der linken Hand die dunkelbraunen Haare.
«Du möchtest bestimmt zu Marco», sagte sie. «Er wird sich über Besuch freuen, der Abwechslung in die Langeweile bringt.» Sie führte Susanna ins Wohnzimmer.
«Bleib sitzen», sagte Susanna, als Feller Anstalten machte, aufzustehen. Er ignorierte ihren Einwand, stemmte sich vom Sofa hoch und küsste sie auf beide Wangen. «Schön, dass du vorbeigekommen bist. Wie geht es unserem Sämi?»
«Er ist frustriert, weil er noch einige Tage im Spital bleiben muss», antwortete Susanna.
«Du solltest lieber deinen Freund besuchen und nicht mich.»
«Bei ihm war ich schon. Der Grund für meinen Besuch ist eigentlich ein anderer.»
Wollte Susanna ausgerechnet heute die Aussprache? Unpassender könnte es gar nicht sein.
«Es ist dienstlich. Ich bin hier, um Andrina Fragen zu dem Mord an Alfred Schnyder zu stellen.»
«Mord? Er hatte einen Herzinfarkt», sagte Andrina.
«Nein, er ist vergiftet worden», erwiderte Susanna. «Du warst nicht mehr an der Schule. Frau Fehr hat gesagt, sie habe dich nach Hause geschickt. Max wollte dich ins Polizeikommando kommen lassen, aber ich dachte, ich mache es lieber so.»
Andrinas Beine drohten nachzugeben, und sie liess sich auf einen Sessel fallen. Susanna setzte sich auf den zweiten Sessel und holte ein Notizheft und einen Stift aus ihrer Tasche.
«Moment mal», mischte sich Feller ein. «Gemäss dem, was Andrina mir berichtet hat, hatte Herr Schnyder einen Herzanfall. Wie kommt ihr auf eine Vergiftung?»
«Jemand hat Zyankali in den Tee gemischt.»
«Das hätte er bemerken müssen», rief Andrina. «Soviel ich weiss, soll der Geruch sehr intensiv sein.»
«Dreissig bis vierzig Prozent der Bevölkerung nehmen ihn nicht wahr. Vermutlich gehörte Herr Schnyder dazu. Sonst hätte er den Tee nicht angerührt», sagte Susanna.
«Ich habe nichts gerochen, und Mandeln schon gar nicht.»
«Es riecht nicht wie in einer Backstube. Der Geruch ist eher, wie soll ich sagen, blumig.» Susanna machte eine Notiz.
«Wie eine frisch gemähte Wiese?» Andrina fiel der Duft wieder ein, als Frau Fehr sich um ihren Kollegen gekümmert hatte. Sie hatte ihn als angenehm empfunden.
«Genau, wie eine Heuwiese. Kannst du mir bitte beschreiben, was genau passierte?»
Feller öffnete den Mund, aber Susanna hob die Hand. Widerwillig klappte er ihn wieder zu.
Andrina faltete die Hände und legte sie in den Schoss. Sie starrte auf den Glastisch und bemühte sich, nichts auszulassen. Susanna unterbrach sie nicht und notierte alles in ihr Heft. Als Andrina ihren Bericht beendet hatte, schwiegen sie einen Augenblick. Susanna war die Erste, die das Wort ergriff. «Warum warst du an der Kanti?»
«Die Schule startet ein Kulturprojekt über Verlagsarbeit. Eine Gruppe Schüler und Schülerinnen soll eine Anthologie herausgeben und dabei erfahren, was es alles dazu braucht. Sie werden Kurzgeschichten verfassen. Der Cleve-Verlag wurde angefragt, ob er dieses Projekt begleiten wolle. Elisabeth Veldt, meine Chefin und Inhaberin des Verlags, hat zugesagt und mir das Ganze anvertraut. Heute sollte eine letzte Besprechung stattfinden, bevor das Projekt nächste Woche startet.»
«So coole Sachen hat es früher nicht gegeben. Gibt es daraus ein richtiges Buch?»
«Ja. Es ist geplant, eine kleine Auflage zu drucken.»
«Herr Schnyder war der zuständige Lehrer?»
«Zusammen mit Herrn Neumann hat er das Projekt ins Leben gerufen.»
«War Herr Neumann heute anwesend, als es passierte?»
«Er liegt mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett. Frau Fehr sollte ihn vertreten.»
Susanna machte sich weitere Notizen. «Frau Fehr hat Erste Hilfe geleistet?»
«Ja. Sie hat eine Ausbildung als Krankenschwester, konnte aber den Beruf aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht ausführen und hat daher den Job gewechselt. Sie ist heute Sekretärin.»
Susanna schlug das Heft zu. «Das reicht fürs Erste, denke ich. Ich muss zurück ins Polizeikommando.»
«Max hat erzählt, zusätzlich sind ausser Sämi und mir zwei andere– Ruedi und Werner– ausgefallen», sagte Feller und nahm ein Sofakissen, das er sich in den Rücken stopfte. «Er hat auch erwähnt, dass ihr ziemlich am Anschlag seid.»
«Ziemlich am Anschlag ist untertrieben. Zusätzlich kommt jetzt der Mord an Alfred Schnyder, den wir aufklären müssen. Ruedi hat Magen-Darm-Grippe, die ihn so umgehauen hat, dass er ins Spital musste. Werner hatte Probleme mit Gallensteinen, die ziemlich gross waren. Es gab Komplikationen, und er musste sich die Gallenblase entfernen lassen.» Susanna wandte sich an Andrina. «Wird das Schulprojekt weitergeführt?»
«Das weiss ich nicht.»
«Möchtest du noch etwas?», fragte Andrina und deutete auf die Schüssel mit Salat.
«Nein, du kannst den Rest haben.» Feller legte sein Besteck auf den Teller und lehnte sich zurück. «Zu Hause schmeckt es besser als im Spital, auch wenn ich zugeben muss, dass das Essen nicht schlecht war.»
Andrina schöpfte den restlichen Salat auf ihren Teller. «Darf ich dich was fragen?»
«Über das Essen im Spital?»
«Nein, über Zyankali.»
«Ich bin kein Chemiker.»
«Von Berufes wegen weisst du mehr darüber als ich.» Andrina ass das letzte Salatblatt und tupfte mit einem Stück Brot die Sauce vom Teller.
«Willst du jemanden umbringen?» Er klang belustigt.
«Nein», sagte sie kauend. «Mich wundert nur, wie man es so schnell herausgefunden hat.»
«Im Labor kann man das nachweisen.»
«Für mich sah es wie ein Herzanfall aus. Wie kommt man auf die Idee, es könne sich um Zyankali handeln?» Andrina stand auf und begann, den Tisch abzuräumen.
«Aufgrund des Geruchs.»
«Herr Schnyder hat es nicht bemerkt, da er es wohl nicht riechen konnte.»
«Wie Susanna gesagt hat, können viele Menschen den Geruch nicht wahrnehmen. Das ist genetisch bedingt.»
«Verflüchtigt sich der Geruch nicht schnell wieder?»
«Wenn Frau Fehr früher Krankenschwester war, wird sie die Anzeichen erkannt haben.»
«Aber warum hat sie Erste Hilfe gemacht? Bei einer Zyankalivergiftung hat man keine Chance, oder?»
Andrina räumte das Besteck in den Geschirrspüler, klappte ihn zu und startete ihn. Mit einem Tuch wischte sie den Tisch und die Küchenanrichte ab.
«Das ist durchaus richtig.» Feller griff nach den Krücken und stemmte sich hoch. Er humpelte vor Andrina ins Wohnzimmer. Mit einem Aufseufzen liess er sich auf das Sofa sinken. «Vermutlich wollte sie dich davor bewahren, Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen. Das wäre für dich gefährlich geworden. Ich nehme mal an, sie hat nur Herzmassage gemacht.»
«Ja. Ich verstehe nicht, wieso Mund-zu-Mund-Beatmung gefährlicher als sonst sein soll? Mal abgesehen von den allgemeinen Risiken.» Andrina stellte zwei Gläser mit Wasser auf das Glastischchen. Sie setzte sich neben Feller und kuschelte sich an ihn. Feller griff ihre Hand und spielte mit ihren Fingern.
«Zyankali ist so gefährlich, weil es über Lunge und Schleimhäute sehr schnell aufgenommen werden kann. Herr Schnyder wird Blausäure im und am Mund gehabt haben. Für die Rettungskräfte und Ersthelfer besteht beim Kontakt mit einer angesäuerten Lösung von Kaliumcyanid bei Wiederbelebungsversuchen akute Lebensgefahr, denn bei Mund-zu-Mund-Beatmung wärst du mit dem Zyankali in Berührung gekommen. Ausserdem sind da die Dämpfe.» Andrina richtete sich auf und sah Feller forschend an. Er klang wie ein Dozent an der Universität. «Ich weiss nicht, wie hoch die Dosis in der Tasse war, aber es braucht nicht viel.»
«Was wäre, wenn Frau Fehr sich getäuscht hätte und kein Zyankali im Spiel gewesen wäre?»
«Du sagtest, sie hat Reanimationsmassnahmen durchgeführt, wenn auch keine Mund-zu-Mund-Beatmung. Das bedeutet, sie hat es trotzdem versucht.»
«Was passiert genau mit einem, wenn man Zyankali zu sich genommen hat. Es sah aus, als würde er nach Luft ringen.»
«Durch die orale Einnahme bildet sich im Magen Blausäure. Diese hindert das Hämoglobin an der Aufnahme des Sauerstoffs. Zusätzlich stoppt es die Sauerstoffverwertung der einzelnen Zellen. Dies führt dazu, dass im Kreislauf immer weniger Sauerstoff vorhanden ist. Die Folge daraus ist Ersticken. Eine weitere sehr gefährliche Eigenschaft ist der Dampf der Blausäure. Wird dieser inhaliert, kommt er direkt in die Lunge. Daraus resultiert, dass kein Sauerstoff mehr ins Blut gelangen kann. Man erstickt. Reicht dir das als Info?»
«Daher hat sie die Fenster geöffnet und mich weggeschickt?»
«Sie wollte dich aus der Gefahrenzone haben.»
«Woher weisst du das alles? Lernt man das bei der Polizeiausbildung?»
«Ich hatte vor einigen Jahren einen Fall, bei dem der Tod durch Zyankali verursacht wurde.» Feller machte eine Pause. «Lassen wir das besser.»
Andrina liess sich das, was Feller gesagt hatte, durch den Kopf gehen.
«Warum bringt jemand einen Lehrer mit Zyankali um?»
Feller sah sie scharf an. «Es wird die Aufgabe von Max und Susanna sein, das herauszufinden, und bestimmt nicht deine.»
ZWEI
«Das ist ja heftig», sagte Gabi und umwickelte ihren Zeigefinger mit einer Strähne ihrer blonden langen Haare.
Sie befanden sich im Sitzungszimmer des Cleve-Verlages. Andrina hatte soeben von dem Mord an Schnyder berichtet.
«Ist das Projekt gestoppt?», fragte Elisabeth. Grau mischte sich in ihre braunen Haare, die kinnlang geschnitten waren. Offenbar war sie längere Zeit nicht mehr zum Nachfärben beim Coiffeur gewesen.
«Das weiss ich nicht.»
Sophia, die Andrina gegenübersass, verzog spöttisch das Gesicht. Andrina ignorierte sie und fuhr fort. «Gestern wollte ich nicht fragen. Ich warte ein oder zwei Tage und werde mich mit Herrn Neumann in Verbindung setzen, wenn er sich bis dahin nicht meldet.»
«Du hast recht. Warten wir. Es läuft nicht davon.» Elisabeth legte die Hände auf den Tisch. «Hat jemand noch etwas, das besprochen werden müsste?»
Allgemeines Kopfschütteln.
«Gut, begeben wir uns an die Arbeit.»
Als Andrina aus dem Sitzungszimmer gehen wollte, hielt Sophia sie am Arm zurück. «Hast du ihn umgebracht?»
«Bist du völlig übergeschnappt?»
«Du sitzt an der Quelle.» Sophias knallrot geschminkte, volle Lippen verzogen sich zu einer Grimasse. Ihre Augen bohrten sich in Andrinas.
«Für Zyankali? Wohl kaum.»
«Damit meine ich, du sitzt an der Quelle für Ideen. Immerhin ist dein Lover Polizist.»
«Du hast nicht alle Tassen im Schrank.» Andrina entzog Sophia ihren Arm.
Sophia reckte den Kopf und strich ihre hellblond gefärbten Haare nach hinten. «Hätte ja sein können.» Sie zupfte an ihrer Bluse, und Andrina befürchtete, ihre riesigen Brüste würden aus dem Ausschnitt quellen. Mit wippender Hüfte stöckelte sie auf ihr Büro zu.
«Wäre ich ein Mann, würde ich das glatt als Anmache verstehen.» Andrina betrat vor Gabi, die mit Mühe ihr Kichern unterdrückte, ihr Büro.
«Ich frage mich, wie Lukas es den ganzen Tag mit ihr aushält. Allerdings muss ich einräumen, dieser Vorbau bietet einem Mann eine wunderbare Aussicht.»
«Wenn er jeden Tag diese Melonen ansehen muss, verliert das Ganze bestimmt seinen Reiz», brummte Andrina und startete ihren Computer. Als sie sich einloggte, klingelte das Telefon.
«Herr Neumann», rief Andrina. «Es tut mir leid wegen Herrn Schnyder.»
«Für uns alle ist es ein riesiger Schock. Wir können gar nicht begreifen, was vorgefallen ist. Hinzu kommt, dass die Kripo ein und aus geht und jeden befragt. Für den reibungslosen Schulbetrieb ist das nicht förderlich.»
«Es ist in so einem Fall normal, wenn die Polizei viele Fragen stellt.» Andrina schaute auf, als Gabi das Büro verliess.
«Ich weiss. Trotzdem belastet diese Situation das Kollegium und die Schüler.»
«Geht man davon aus, dass der Mörder an der Schule zu suchen ist?»
«Herr Wagner und Herr Meili halten sich sehr bedeckt.»
«Und Sie, sind Sie wieder gesund?»
«Die Magen-Darm-Grippe ist ausgestanden, wenn Sie das meinen. Ich fühle mich ein wenig wackelig auf den Beinen, aber das kann damit zusammenhängen, was hier gerade los ist.»
Schweigen setzte ein.
«Ich nehme an, Sie wollen mir sagen, dass das Anthologieprojekt verschoben werden soll.»
«Im Gegenteil. Ich wollte Sie fragen, ob wir trotzdem weitermachen können. Es wäre bestimmt nicht in Alfreds Sinn, wenn wir das Ganze abblasen. Ausserdem haben sich die Schüler sehr darauf gefreut. Ich denke, ein normaler Alltag und Beständigkeit wären für alle wichtig.»
«Ich führe gerne das Projekt weiter.»
«Das freut mich. Frau Béatrice Probst würde einspringen. Sie ist Geschichts- und Deutschlehrerin.»
Sie verabredeten sich für eine kurze Besprechung nach dem Mittagessen, damit Andrina und Frau Probst sich kennenlernen konnten. Ausserdem wollten sie auf Wunsch der Schüler das Projekt vorziehen und bereits diesen Nachmittag beginnen. Zum Glück war es stundenplantechnisch möglich, da nur Schüler aus drei Klassen mitmachten und alle am Nachmittag um diese Zeit keinen Unterricht hatten.
Kaum hatte Andrina aufgelegt, erschien Sophia in ihrem Büro. Ihr folgte Meili.
«Ich möchte Ihnen einige weitere Fragen zu dem Vorfall gestern in der Schule stellen», sagte Meili, nachdem er Andrina die Hand geschüttelt hatte. «Wäre das möglich?»
Ungern, dachte Andrina. Trotzdem setzte sie ein Lächeln auf. «Am besten gehen wir ins Sitzungszimmer.»
Kaum hatten sie im Sitzungszimmer Platz genommen, stellte Sophia ein Glas Wasser und ein Schälchen mit Gebäck vor Meili. Ein Ruck ging durch seinen Körper, und sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Als Sophia sich aufrichtete, war Andrina klar, warum. Sophia trug wie gewöhnlich keinenBH, und Meilis Blick folgte den Bewegungen der wogenden Brust. Wiederholt fragte Andrina sich, was Sophia mit ihrer Freizügigkeit bezwecken wollte. Sie war in festen Händen, auch wenn es momentan in ihrer Beziehung zu kriseln schien, wie sie von Lukas erfahren hatte.
Als Meili das Glas zurückstellte, hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er holte sein Notizbuch hervor. Auf der Glatze, die von einem weissen Haarkranz umgeben war, glänzten einige Schweisstropfen. «Gestern hat Susanna Marioni mit Ihnen gesprochen.»
Andrina nickte.
«Ich habe einige ergänzende Fragen. Wie gut kannten Sie Herrn Schnyder?»
Warum klang das so scharf? «Nicht sehr gut. Damit meine ich, ich kenne ihn nicht privat. Unser Kontakt beschränkte sich auf die Schule.»
«Hat es einen Grund, weshalb gerade Sie den Verlag bei diesem Projekt vertreten?»
Wieder dieser seltsame Unterton. Andrina bemühte sich, ihn zu ignorieren, und das Unbehagen, das sich einstellte, zur Seite zu drängen.
«Das ist Zufall. Herr Schnyder und Herr Neumann haben angefragt, ob der Cleve-Verlag bei diesem Projekt mitarbeiten würde. In einer Teamsitzung wurde beschlossen, dass ich mich am besten dafür eignen würde.»
«Wie weit sind Sie mit dem Projekt?»
«Wir befinden uns im Anfangsstadium und hatten einige Besprechungen betreffend Grundlagen, Ausführungen, Kosten und so weiter. Nächste Woche wollten wir, also Herr Schnyder, Herr Neumann und ich, mit den Schülern starten.»
«Wollten? Ist es abgesagt?»
«Nein, ich habe eben mit Herrn Neumann telefoniert. Wir machen weiter. Frau Probst wird einspringen.»
«Handelt es sich in Ihren Augen um ein wichtiges Projekt?»
«Für den Cleve-Verlag? Nein. Es bringt ein wenig Publicity, aber es wird keinen Gewinn abwerfen. Wir werden draufzahlen müssen, sehen das Ganze jedoch als unseren Beitrag zur Jugend- und Kulturförderung an.»
«Herr Schnyder war der Initiant, wenn ich das richtig verstanden habe.»
«Herr Neumann und Herr Schnyder waren die Projektverantwortlichen der Schule. Wer genau die Idee gehabt hat, weiss ich nicht.»
«Was ist Ihre persönliche Einschätzung?»
«Herr Schnyder war mit viel Herzblut dabei. Ich denke, es war für ihn persönlich eine wichtige Sache. Haben Sie das Gefühl, der Mord an ihm könnte mit diesem Projekt zu tun haben?»
«Das wissen wir nicht. Wir versuchen, jede Möglichkeit zu berücksichtigen. Eine andere Frage. Haben Sie auch die Alte Kantonsschule besucht?»
Wieder schwang etwas in Meilis Stimme mit, das Andrina erneut frösteln liess. «Ja, vor etwas mehr als fünfzehn Jahren habe ich den Abschluss gemacht, und bevor Sie fragen, Herr Schnyder war mein Geschichtslehrer für ein Jahr.»
«Hatten Sie gute Noten?»
«Ich kann nicht nachvollziehen, was das mit dem Mord an ihm zu tun haben sollte.»
«Man kann nie wissen.»
«Das geht Sie nichts an!» Bleib ruhig, ermahnte Andrina sich.
«In einem Mordfall sehr wohl, besonders, da Sie involviert sind.»
«Das bin ich nicht.»
«Herr Schnyder ist vor Ihren Augen zusammengebrochen.»
«Das ist nicht gleichbedeutend mit: Ich habe ihn getötet. Es sei denn, Sie wollen mir zur Last legen, bei der Ersten Hilfe nicht hilfreich gewesen zu sein.» Andrina hatte sich in Fahrt geredet. Lass dich nicht provozieren, dachte sie und holte tief Luft.
«Wie waren Ihre Noten?»
Andrina schwieg und verschränkte die Arme vor der Brust.
«Es ist durchaus denkbar, dass Sie allgemein wegen schlechter Noten Probleme hatten und Ihr Abschluss gefährdet war.»
«Zu dem Zeitpunkt hatte ich schlechte Noten, doch der Grund dafür war ein anderer. Meinen Abschluss habe ich trotzdem geschafft. Und seither sind fünfzehn Jahre vergangen!»
«Was war der Grund für Ihre schlechten Noten?»
Warum ritt Meili so penetrant auf ihren damaligen schulischen Leistungen herum? Was hatten Schnyders Kollegen ihm erzählt? Erinnerten sich ihre damaligen Lehrer überhaupt noch an sie?
Andrina wusste, dass sie damals nicht die einfachste Schülerin gewesen war. Sie hatte den Unterricht gestört, und ihr Verhalten war in jeder erdenklichen Weise nicht vorbildlich gewesen. Was wollte man allerdings von einer Jugendlichen erwarten, die ihre Eltern bei einem tragischen Verkehrsunfall verloren hatte? Sie hatte ihren Kummer in sich hineingefressen, und niemand hatte bemerkt, wie es in ihrem Inneren ausgesehen hatte. Die Prioritäten der Leute lagen woanders. Andrina interessierte niemanden. Am wenigsten die Pflegeeltern, denen sie zugeteilt worden war. Ein rebellischer Teenager hatte nicht zu ihren Vorstellungen gepasst. Sie hatten sich ein Baby oder ein kleines Kind gewünscht.
Beinahe wäre Andrina von der Schule geflogen. Nur Elisabeths verstorbener Schwester verdankte sie, dass man sie behalten hatte. Brigitta Clemens, damals Deutschlehrerin an der Alten Kantonsschule, hatte bemerkt, was mit ihr los war. Nach und nach hatte sie Andrinas Vertrauen gewonnen. Sie erreichte, dass Andrina eine zweite Chance erhielt, gegen den Willen einiger ihrer Lehrerkollegen, zu denen auch Schnyder gehört hatte. Andrina hatte es ihr gedankt, indem sie sich zusammengerissen und am Ende als Zweitbeste ihres Jahrgangs die Matura bestanden hatte.
Schnyder war sich nicht bewusst gewesen, wen der Cleve-Verlag für das Projekt geschickt hatte. Er schien Andrina nicht erkannt und keine Verbindungen von ihr zu der aufmüpfigen Jugendlichen von damals gezogen zu haben. Zumindest nahm Andrina das an, da er nie etwas in dieser Richtung hatte verlauten lassen.
Offenbar hatten sich einige an der Schule erinnert, wer Andrina war, und diese Information der Polizei weitergegeben. Glaubte Meili, sie habe aus Rache gehandelt? Nach so langer Zeit?
«Ich war nicht die einfachste Schülerin», beantwortete sie Meilis Frage. «Genauere Auskunft haben Sie bestimmt erhalten, sodass ich Ihnen die Gründe nicht weiter darlegen muss.»
Es klopfte an der Tür, und im selben Augenblick streckte Sophia den Kopf zur Tür herein. Zum ersten Mal war Andrina froh, sie zu sehen.
«Ich glaube, wir könnten einen Kaffee vertragen. Vielen Dank, Sophia.»
Sophias Blick durchbohrte Andrina und schwenkte weiter zu Meili.
«Ein Kaffee wäre wirklich nicht schlecht, Frau Kiefer.»
Auf dem Absatz machte Sophia kehrt und erschien einige Minuten später, in denen eisiges Schweigen zwischen Meili und Andrina geherrscht hatte, mit zwei Tassen.
Sie stellte die Tassen auf den Tisch und lächelte Meili an, der ihr Lächeln erwiderte. «Wie lange brauchen Sie noch?»
Meili öffnete den Mund, aber Andrina kam ihm zuvor. «Ich denke, höchstens zehn Minuten. Die Besprechung wegen der Leseproben kann wie geplant hier im Sitzungszimmer stattfinden.»
* * *
«Das Ergebnis der Abstimmung ist eindeutig. Wir machen eine Krimianthologie», sagte Andrina und lehnte sich gegen das Pult.
«Es ist in der Tat eindeutig», sagte Neumann und stiess sich von der Fensterbank ab. Er nahm Kreide und machte an der Tafel hinter «Krimis» ein Kreuz.
Es war ein seltsames Gefühl, vor einer Klasse zu stehen und Lehrerin zu spielen. Andrina konnte sich gut daran erinnern, als sie auf der anderen Seite gesessen hatte. Warum mussten sich die schlechten Erinnerungen an ihre Schulzeit ständig in den Vordergrund schieben? Andrina fühlte immer noch diese Beklemmung von damals.
Ihre Gedanken schweiften ab. Herr Schnyder hatte damals genauestens die Geschichte der Alten Kantonsschule durchgenommen. Sie hatten sogar einen Test darüber geschrieben. Der Schulstoff war ihr so sehr in der Erinnerung haften geblieben, als habe sie ihn erst gestern durchgenommen: Die Alte Kantonsschule war 1802 gegründet worden. Sie war das älteste nichtchristliche Gymnasium der Schweiz. Zur Schule gehörten mehrere Gebäude. Da war unter anderem das Albert-Einstein-Haus, das von Karl Moser erbaut worden war und die Schulverwaltung sowie die Hälfte der Klassenzimmer beherbergte. Es verfügte sogar über eine Sternwarte. Andrinas Klassenzimmer hatte sich ebenfalls in diesem Haus befunden. Weitere Gebäude waren das Paul-Karrer-Haus, in dem die Naturwissenschaften untergebracht waren, sowie das Frank-Wedekind-Haus, in dem sich die Mensa und das Medienzentrum befanden. Besonders auf die berühmten Persönlichkeiten, die die Schule besucht hatten, hatte Schnyder Wert gelegt. Aus dem Stegreif konnte sich Andrina noch an Karl Moser, Albert Einstein, Maximilian Oskar Bircher-Benner, den Erfinder des Birchermüeslis, sowie Altbundesrat Kaspar Villiger erinnern.
Mit der Zeit war es Andrina gelungen, die schlechten Erinnerungen an ihre Schulzeit in den Hintergrund zu drängen. Sie hatte sich sogar sehr gefreut, das Projekt leiten zu dürfen. Doch jetzt hatte das Gespräch mit Meili, der wiederholt darauf herumgeritten war, die Vergangenheit zurück an die Oberfläche gespült. Nach wie vor war Andrina unklar, was er damit bezwecken wollte. Klar war nur, es konnte nichts Gutes bedeuten.
Denk nicht daran, ermahnte sie sich und konzentrierte sich auf die Schüler, die bei ihrer Ankündigung in Jubel ausgebrochen waren. Nur einzelne verzogen kurz das Gesicht, lächelten aber nach einigen Sekunden ebenfalls.
«Sollen wir das Thema weiter eingrenzen? Zum Beispiel sollen es Ferienkrimis, Schulkrimis oder Sportkrimis sein?», fragte Neumann, der zur Fensterfront zurückgekehrt war und seine Brille mit dem Zipfel seines Sweatshirts putzte.
Sofort schossen Hände in die Luft.
«Schule.»
«Skifahren.»
«Strand.»
«Essen.»
Andrina konnte nicht mit dem Schreiben folgen. Nachdem sie fertig waren, standen zehn Begriffe an der Tafel. Eine weitere Abstimmung folgte. Am Ende war der Entscheid sehr deutlich: Die Krimis sollten mit Essen zu tun haben.
Andrina und Neumann wechselten einen Blick.
«Findet ihr das passend in Anbetracht der Umstände?» Neumann zog seine Stirn in Falten. Andrina fiel auf, dass er seine Haare kürzer trug als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Die blonden Stoppeln waren nur wenige Millimeter lang. Das Ganze verlieh ihm ein attraktives Aussehen und machte es schwer, sein Alter zu schätzen. Von Schnyder wusste sie jedoch, dass Neumann Anfang vierzig war.
«Es ist für Herrn Schnyder», sagte ein sommersprossiger Jugendlicher mit einem roten Wuschelkopf. Zustimmendes Gemurmel erhob sich, und eine kurze Diskussion entbrannte.
«Gut», gab Herr Neumann nach einer Weile nach. «Machen wir es so.» Er schaute Andrina an. Sie nickte. Im selben Moment ertönte die Schulglocke.
«Nächstes Mal werde ich euch erklären, worauf es beim Krimischreiben ankommt, und euch einige schreibtechnische Tipps geben», sagte Andrina und blickte in die strahlenden Gesichter der Jugendlichen. Es erstaunte sie, wie schnell die Stunde vorbeigegangen war. «Bevor wir aber mit den Geschichten anfangen, werden wir einige Schreibübungen machen.»
Als alle Schüler das Zimmer verlassen hatten, verabschiedete sie sich von Neumann. Sie lief die breite Steintreppe hinunter, als ihr Handy klingelte.
«Bin ich froh, Sie zu erreichen», kam Béatrice Probsts Stimme aus dem Hörer. «Ich fürchte, wir haben unsere Laptops vertauscht.»
«Vertauscht?» Andrina warf einen Blick in ihre Tasche. Vor der Stunde hatte sie zusammen mit Neumann Frau Probst informiert. Jede von ihnen hatte Notizen in den eigenen Laptop gemacht. Kurz darauf hatte sich Béatrice Probst jedoch entschuldigt. Sie hatte sich, wie den ganzen Vormittag schon, nicht wohlgefühlt. Sie hatte gehofft, die Übelkeit werde im Laufe des Tages nachlassen. Offenbar war das nicht der Fall gewesen war. Erleichtert hatte sie die Sachen gepackt und Andrina und Neumann die erste Lektion mit den Schülern überlassen.
Andrina zog den Laptop hervor und musste lächeln. «Spätestens in zwanzig Minuten hätte ich es gemerkt.»
«Es ist mir furchtbar peinlich. Ich weiss nicht, wie das passieren konnte. Sind Sie noch an der Schule? In einer Viertelstunde könnte ich da sein.»
«Das ist nicht nötig. Ich kann gerne bei Ihnen zu Hause vorbeikommen.»
«Wäre das kein Problem? Ich wäre froh, nicht noch einmal loszumüssen.»
«Ganz und gar nicht.»
«Vielen Dank. Besonders gut fühle ich mich nach wie vor nicht, aber es ist immerhin ein wenig besser geworden.» Béatrice Probsts Erleichterung war deutlich zu spüren, als sie Andrina ihre Adresse durchgab.
Kaum hatte Andrina das Handy in die Tasche gesteckt, kam Susanna ihr auf der Treppe entgegen. Als sie Andrina erblickte, umklammerte sie das kunstvoll geschwungene schmiedeeiserne Geländer. Spannung lag in der Luft. Nein, es war etwas anderes. Unsicherheit? Offenbar stand trotz des lockeren Umgangstones beim letzten Zusammentreffen nach wie vor zu viel Unausgesprochenes zwischen ihnen.
«Hallo, Susanna.» Andrina versuchte, möglichst neutral zu klingen. «Du hier?»
Susanna schien sich ein wenig zu entspannen. «Ich möchte zu Frau Probst. Weisst du, ob sie im Lehrerzimmer ist?»
«Sie ist nach Hause gefahren, denn sie fühlte sich nicht wohl.»
Susanna seufzte.
«Ich fahre gerade zu ihr. Soll ich was ausrichten?»
«Ich habe einige Fragen an sie und müsste das selbst erledigen. Wir könnten zusammen fahren.» Der Satz war kaum hörbar und jagte Susanna anscheinend einen Schrecken ein. Sie schien ihn zu bereuen und schwieg einige Sekunden. «Ich kann dich mitnehmen, wenn du möchtest», sagte sie dann noch leiser. «Es fängt gerade an zu regnen.»
Andrina schaute zum Fenster. Graue Wolken hatten sich vor den blauen Himmel geschoben. Während des Unterrichtes hatte sie es nicht bemerkt. Sie war hin- und hergerissen. Das wäre die Gelegenheit, endlich das Vergangene zu den Akten zu legen und zu dem Umgang mit Susanna zurückzufinden, den sie vor dieser Sache gehabt hatte.
Die Schranke öffnete sich, und Susanna fuhr die Rampe des Bahnhofparkings hoch. An der Bahnhofstrasse bog sie rechts ab und ordnete sich auf die linke Fahrspur ein. Die Ampel an der nächsten Kreuzung war rot, und Susanna bremste ab. Mit den Fingern trommelte sie leicht auf das Lenkrad. Langsam fand Andrina das Schweigen unangenehm. Seitdem sie die Kantonsschule verlassen hatten, hatten sie kein einziges Wort gewechselt.
«Wie geht es Herrn Häusermann?», versuchte Andrina ein unverfängliches Gespräch anzufangen. «Wann darf er nach Hause?»
«Morgen oder übermorgen.» Susannas Blick war auf die Ampel gerichtet. Als sie auf Grün schaltete, fuhr Susanna ruckartig an. Sie hielten sich links und fuhren durch den Sauerländertunnel. An der nächsten Ampel musste Susanna erneut anhalten. Sie wandte sich Andrina zu. «Es tut mir leid.»
«Was, weil er noch nicht entlassen wurde?» Andrina fragte sich, warum sie sich dumm stellte und es Susanna erschwerte.
«Nein, ich meine das vom letzten Herbst. Ich habe mich alles andere als mustergültig verhalten.»
«Ich wäre an deiner Stelle nicht besser gewesen.»
«Es ist unverzeihlich, was ich getan habe. Im Nachhinein bin ich über mich entsetzt.»
«Es war eine Extremsituation. Wir waren in der Hand dieses Wahnsinnigen. Niemand weiss, wie er reagiert, wenn er in eine solche Lage gerät. Er hat dich mehrfach misshandelt. Dann ist dir die Flucht gelungen, als er uns in ein anderes Versteck bringen wollte…»
«Und dir eben nicht. Ich habe nichts unternommen, dir zu helfen. Ich habe geschwiegen und mich gegen alles abgeschottet.»
«Du standest unter Schock, nach all dem, was du durchgemacht hast. Am Ende ist es ja gut ausgegangen.»
«Trotzdem.»
Hinter ihnen hupte es. Susannas Blick huschte zur Ampel. «Ach herrje, grün.» Sie fuhren über die Kettenbrücke und bogen rechts in die Kirchbergstrasse ab.
«Warum vergessen wir das Ganze nicht?»
«Einfach so? Du musst mir die Pest an den Hals wünschen nach allem, was passiert ist.»
«Du kannst am allerwenigsten dafür.»
«Dabei wusste ich, wie wichtig es war. Du schwebtest in Lebensgefahr.» Andrina schwieg. «Als alles vorbei war, hatte ich nicht mal den Mumm, mich bei dir zu melden.»
«Die Telefonleitung oder der Weg ist in beide Richtungen gleich lang. Auch ich habe mich nicht gerührt.»
Susanna stiess die Luft durch die Nase aus und öffnete den Mund.
«Lass es gut sein», kam Andrina ihr zuvor. «Es ist keiner gedient, wenn wir das zwischen uns stehen lassen oder uns deswegen zerfleischen.»
«Deine Reaktion ehrt dich. Du lässt mich zu leicht davonkommen.» Susanna bog links ab und hielt vor einem Mehrfamilienhaus. Sie schaltete den Motor aus und wandte sich Andrina zu. «Du warst der ewige Streitpunkt zwischen Sämi und mir. Immer wieder hat er gesagt, ich solle dich anrufen.»
«Das Gleiche hat Marco getan.» Andrina griff nach Susannas Arm und drückte ihn. «Wir wissen beide, was damals war, und sollten uns nicht mit Selbstvorwürfen quälen. Das ist die Sache nicht wert. Komm, Frau Probst wartet bestimmt schon.»
Ein Lächeln huschte über Susannas Gesicht. «Ich denke auch.»
Sie stiegen aus und gingen schweigend zum Haus, was Andrina nicht mehr als unangenehm empfand.
Die Haustür stand offen.
«Weisst du, in welchem Stock sie wohnt?», fragte Susanna.
«Frau Probst hat gesagt, sie habe die Maisonettewohnung.»
Sie verzichteten auf den Lift und gingen die Treppe hoch. Im dritten Stock angekommen, hielt Andrina Susanna zurück, als sie klingeln wollte. «Was ich dir noch sagen möchte, ich finde es toll und bewundernswert, dass du zum Polizeidienst zurückgekehrt bist. Und das so schnell.»
Susanna lächelte. «Weisst du, als Marco mich gefragt hat, habe ich gedacht, jetzt erst recht.»
Andrina musste grinsen. «Ich möchte nicht in der Haut desjenigen stecken, den du überführst.»
Sie hob die Hand und wollte klingeln, als die Wohnungstür aufgerissen wurde. Béatrice Probst stürmte heraus und rannte gegen Andrina, die nach hinten taumelte. Knapp konnte sie das Gleichgewicht halten.
Probsts Gesicht war gerötet, und ein feiner Ausschlag bedeckte die Wangen und ihre Unterarme. Das Weiss um die Iris ihrer Augen war knallrot. Sie rang nach Luft.
«Ich, ich…» Bevor sie weitersprechen konnte, brach sie bewusstlos zusammen.
* * *
Andrina schob das Velo in den Schuppen, schloss die Tür und starrte auf das Haus. Sie liess Revue passieren, was bei Béatrice Probst geschehen war. Susanna hatte sich sofort zur Frau gekniet und Erste Hilfe geleistet.
«Ruf die Ambulanz», hatte sie Andrina zugerufen und sich weiter um die Frau gekümmert.
Die Sanitäter waren nach einer gefühlten Ewigkeit eingetroffen und hatten Susanna und Andrina zur Seite geschoben. Susanna hatte Andrina zurück zur Schule gefahren, als der Krankenwagen abgefahren war.
«Der Grund für das Zusammenbrechen kann nicht alleine die Magen-Darm-Grippe sein», hatte Andrina gesagt.
«Du hast recht. Von Durchfall bekommt man normalerweise keinen Ausschlag und rote Augen», war Susannas Antwort gewesen. Sie war zum Kantonsspital gefahren, nachdem sie Andrina abgesetzt hatte.
Andrina hatte sich mit dem Velo auf den Heimweg gemacht. Sie stiess die Tür des Schuppens zu und lehnte sich gegen die Holzwand. Der Himmel hatte wieder aufgeklart, und es roch beinahe wie im Sommer nach einem Regenguss.
War Béatrice Probst etwa vergiftet worden? Andrina erschrak. Wieso kam sie auf diese Idee? Die Phantasie ging mit ihr durch. Trotzdem kehrten ihre Gedanken zu Alfred Schnyder zurück. Zyankali? Er hatte anders ausgesehen… Lass das, dachte sie. Für den Zusammenbruch gab es bestimmt eine normale medizinische Erklärung. Sie ging auf das Haus zu und schloss die Haustür auf. Stimmengemurmel drang aus der Küche in den Gang, und es duftete verlockend. Hatte Feller gekocht?
In diesem Augenblick trat Fellers Mutter aus der Küche. Andrina hatte ganz vergessen, dass sie heute kommen wollte.
«Andrina! Ciao, come stai?» Laura fasste Andrina bei den Schultern und küsste sie auf die Wangen. Sie schob sie ein Stück zurück und musterte sie. «Du wirst immer hübscher», fuhr sie auf Italienisch fort. «Schön, dass du schon da bist. Komm in die Küche.»
Feller sass in der Küche und hatte sein linkes Bein auf einen Hocker gelegt. Andrina beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn.
«Wie du siehst, ist es mit der Ruhe vorbei.» Feller schnitt eine Grimasse.
Laura hob die Hand und wedelte mit dem Zeigefinger hin und her. Sie verströmte wie immer eine grosse Portion Tatendrang. Sie hatte die Fransen ihrer kurz geschnittenen grauschwarzen Haare mit einer Haarspange zurückgesteckt. Ihr Gesicht war leicht gerötet, und die dunklen, fast schwarzen Augen blitzten vergnügt. Andrina stützte sich mit der Hand gegen den Türrahmen und beobachtete Laura, die den Deckel vom Topf hob. Als sie sich umdrehte, blieb ihr Blick an Andrinas linker Hand hängen. Sie stutzte. Ihre Augen weiteten sich. Andrina hatte das Gefühl, es verlangsame sich alles. Laura hob im Zeitlupentempo Andrinas Hand und starrte abwechselnd auf den Ringfinger und in Andrinas Augen. Was war das für ein Ausdruck in ihrem Gesicht? Unglaube? Hatte etwa der Ring ihre Reaktion ausgelöst?
Den Ring hatte Feller Andrina letzten Herbst geschenkt. Dem war ein Heiratsantrag gefolgt. Sie hatten bisher nicht über ein mögliches Datum gesprochen oder weitere Pläne geschmiedet. Zuerst wolle er wieder ganz gesund sein, hatte Feller erklärt.
Plötzlich wirbelte Laura herum und schaute Feller an. Ein Knistern lag in der Luft, das nichts Gutes verhiess.
Andrina entzog ihr die Hand. Hatte Feller seinen Eltern nichts von der Verlobung gesagt, als er sie im Dezember kurz besucht hatte oder als sie telefoniert hatten? Als Laura wieder Andrina anschaute, lag Argwohn in ihrem Blick, der Andrina noch mehr verunsicherte. Warum war sie schlagartig wie verwandelt? Bisher hatte Andrina das Gefühl gehabt, in Fellers Familie willkommen zu sein.
Oft genug hatte sie von den Problemen zwischen Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern gehört. Sie war froh gewesen, weil es bei Fellers Eltern bisher anders war, und hatte nicht nachvollziehen können, warum es Probleme geben konnte.
«Das Problem bei Schwiegertöchtern und Schwiegermüttern ist meistens, dass bisher die Mutter die einzige Frau im Leben ihres Sohnes war», hatte ihre fünf Jahre ältere Schwester Seraina ihr daraufhin erklärt. «Sie sieht die Frau ihres Sohnes als Konkurrentin an und kann sich nicht mit ihr abfinden. Zum Glück ist das bei uns nicht so.»
Andrina hatte sich gewünscht, ein ähnliches Verhältnis, wie Seraina es zu ihren Schwiegereltern hatte, aufzubauen– in der Schwiegermutter eine Art Freundin zu finden, was ihr in ihren Augen bis jetzt gut geglückt war. Es hatte sich sogar mehr daraus entwickelt. Laura war wie eine Vertraute geworden, fast eine Mutter. Änderte sich das, da sich der einzige Sohn verlobt hatte? Erschien Andrina nun in einem anderen Licht?
War Andrina «nur» als Fellers Freundin gut gewesen, eignete sich aber nach Lauras Meinung nicht als seine Ehefrau? Verunsichert schaute Andrina Feller an, auf dessen Gesicht nur ein breites Grinsen lag. Bemerkte er das Knistern, das sich inzwischen verstärkt hatte, nicht? War ihm das Entsetzen in Lauras Augen entgangen?
Das Telefon klingelte. Laura eilte ins Wohnzimmer.
«Pronto?»
«Du hast deinen Eltern nichts gesagt?», zischte Andrina Feller zu und streckte ihre Hand mit dem Ring in die Luft.
«Nein, ich wollte eine passende Gelegenheit abwarten.» Seine Augen blitzten amüsiert. Na wunderbar, dachte Andrina.
Laura kehrte in die Küche zurück. «Sì, un momento. Für dich. Max Wagner.» Sie reichte Andrina den Hörer des schnurlosen Telefons.
«Max?», sagte Andrina erstaunt, «du möchtest sicher mit Marco sprechen.»
«Nein, ich habe einige Fragen an dich, die Hans vergessen hat, dir zu stellen.»
Na wunderbar, dachte Andrina zum zweiten Mal. «Soll ich ins Polizeikommando kommen?»
«Nein, das können wir am Telefon erledigen. Geht es gerade, oder soll ich später anrufen?»
«Wir können das gerne jetzt erledigen.» Andrina lief aus der Küche. Auf der einen Seite war sie erleichtert, von Lauras prüfendem Blick, der sie weiter zu durchbohren schien, fortzukommen, auf der anderen Seite wurde ihr mulmig zumute.
«Bevor du anfängst», wagte Andrina den Angriff nach vorne, «ich habe Herrn Schnyder nicht das Zyankali in den Tee gemischt.» Sie ging die Treppe hoch und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Sie schloss die Tür wieder, setzte sich auf den Bürostuhl und schaute aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen– typisches Aprilwetter.
«Das haben weder ich noch jemand vom Team behauptet.»
«Herr Meili hat das heute im Verhör mehrmals durchblicken lassen.»
«Verhör?»
«So wie er mit mir umgesprungen ist», fauchte Andrina ins Telefon und liess ihren ganzen Frust an Wagner aus. Als sie geendet hatte, atmete sie stossweise.
«Das ist wirklich so abgelaufen?»
«Ja.»
«Das geht überhaupt nicht! Ich werde mit ihm reden.» Pause. «Auf der anderen Seite muss man mit ihm Nachsicht haben. Er hat eine Menge persönlicher Probleme am Hals.»
«Das ist keine Entschuldigung.»
«Er lebt seit einem Jahr von seiner Frau getrennt. Er hat die ganze Zeit gehofft, sie würden einen Weg zurück zueinander finden. Aber vorgestern hat sie die Scheidung eingereicht…»
«Das ist sein Problem und nicht meins. Wenn er Privates nicht vom Beruflichen trennen kann, ist er bei so einem Job definitiv falsch am Platz!»
Andrinas Hand krallte sich um den Hörer. Eine neue Pause. Sie wirkte bedrohlich. Offenbar war sie zu weit gegangen.
«Lassen wir das», sagte Wagner. Das klang neutral. Trotzdem meinte Andrina, einen grollenden Unterton herauszuhören. «Eine Diskussion über Hans Meili bringt uns nicht weiter.» Er begann, Andrina die ersten Fragen zu stellen. Sie waren etwa ähnlich denen von Meili, mit dem Unterschied, dass bei Wagner keine Verdächtigungen mitschwangen. Dann fuhr er fort. «Kennst du jemanden, der einen Grund haben könnte, Herrn Schnyder zu töten?»
«Nein. Aus seinem privaten Umfeld kenne ich niemanden.»