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Bestsellerautorin Ina Haller macht Liestal zur Bühne menschlicher Abgründe –unheimlich spannend und voller überraschender Wendungen. Am Rande der Liestaler Altstadt stoßen Samantha und ihre Kollegin Giulia auf eine leblose Frau. Die Ermittler gehen von einer natürlichen Todesursache aus, doch dann werden bei der Autopsie K.-o.-Tropfen im Körper der Toten nachgewiesen. Kurz darauf verschwindet Giulia spurlos, und in ihrer Wohnung werden die gleichen Substanzen wie im Blut der Toten gefunden. Samantha will der Sache auf den Grund gehen. Als ihr bewusst wird, dass sie sich damit auf gefährliches Terrain begibt, ist es beinahe zu spät ...
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Seitenzahl: 372
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Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie »Vollzeit-Familienmanagerin« und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.
www.inahaller.ch
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: arcangel.com/Balazs Kovacs
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-154-6
Originalausgabe
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Prolog
Sie stieß die Tür auf und strauchelte ins Innere. Mit dem Fuß gab sie der Tür einen Stoß, sie fiel aber nicht ganz zu. Durch den Spalt drang Licht herein und malte einen hellen Streifen auf den Holzboden. Ihre Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie stolperte weiter nach rechts. Knapp konnte sie sich am Türrahmen des Arbeitszimmers auffangen. Schwer atmend lehnte sie sich gegen das Holz und starrte in den kleinen Raum. Das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite zeichnete sich als helles Rechteck am Boden ab. Sie erkannte die Konturen des Schreibtisches und des Büchergestells an der Wand.
Was war mit ihr los? Die Übelkeit war wie aus dem Nichts aufgetaucht, als sie die Treppe nach oben gelaufen war. Wieso war ihr auf einmal so schlecht? Nicht nur schlecht. Kotzübel traf es besser. Sie stützte sich auf dem Tisch ab. Ihre Finger berührten Leder. Ihre Handtasche. Ihre Annahme, sie hier liegen gelassen zu haben, war richtig gewesen.
Sie atmete tief ein und wieder aus, was nicht half. Im Gegenteil. Die Übelkeit verstärkte sich.
Bis eben war alles in bester Ordnung gewesen. Sogar mehr als das. So gut war es ihr lange nicht gegangen. Im Magen rumorte es. Okay, sie hatte viel gegessen. Und alles durcheinander. Das sollte aber bei ihrem Magen kein Problem sein. Wie oft hatte man ihr gesagt, sie könne sogar Schuhsohlen und rostige Nägel verdauen.
War etwas unter den Speisen gewesen, das verdorben war? Oder war es der Alkohol, der ihr zu schaffen machte? War das letzte Glas Wein, das sie rasch geleert hatte, zu viel gewesen? Normalerweise vertrug sie einiges und wurde um ihre Trinkfestigkeit beneidet. Wenn andere nicht mehr wussten, wo sie waren, und Mühe hatten, geradeaus zu laufen, ging sie mit festem Schritt durch die Gegend.
Wieso musste sich der Abend so entwickeln, obwohl er vielversprechend angefangen hatte? Perfektes Essen im Restaurant Farnsburg, eine Menge Alkohol und als Zugabe dieses einmalige Intermezzo. Kurz verdrängte wohlige Wärme die Übelkeit, als sie daran dachte, wie er vor der Tür zum WC gewartet hatte, als sie es verlassen hatte. Den ganzen Abend hatte er sie mit diesem Blick angeschaut. Wiederholt waren seine Augen zu ihrem Dekolleté gewandert. Sie musste zugeben, es genossen zu haben, und hatte die Bluse ein Stück nach unten gezogen. Unauffällig, damit seine Frau es nicht bemerkte.
Sie waren in einen Raum neben den WCs geschlüpft. Ein neuer angenehmer Schauer durchlief ihren Körper, als sie sich in Erinnerung rief, wo seine Hände überall gewesen waren. Kurz, leider zu kurz, dafür intensiv war es gewesen. Sie hatte ihm nicht zugetraut, so hemmungslos zu sein. Das ließ ihn direkt in einem neuen Licht erscheinen.
»Das müssen wir wiederholen«, hatte er ihr zugeraunt.
»Unbedingt«, hatte sie erwidert. Sie hatte die Bluse zugeknöpft und den Rock glatt gestrichen, bevor sie zu den anderen zurückgekehrt waren. Dabei hatte sie den finsteren Blick seiner Frau ignoriert. Es war egal, wenn sie Bescheid wusste. Wenn sie es sich genau überlegte, geschah es der Schnepfe recht. Regelmäßig ließ sie sie spüren, etwas Besseres zu sein. Besonders, seitdem sie in diesem Haus wohnten.
Als es ans Zahlen ging, hatte sie bemerkt, dass ihre Handtasche weg war. Glücklicherweise hatte sie ihr Portemonnaie in der Jackentasche, doch in der Handtasche war ihr Wohnungsschlüssel. Ihr war eingefallen, diese vermutlich auf dem Schreibtisch liegen gelassen zu haben, als sie überstürzt losgezogen war, da sie zu spät dran gewesen war.
»Ich muss meine Handtasche holen und komme gleich zurück«, hatte sie zu den anderen gesagt und war nach draußen geeilt. Die anderen hatten versprochen zu warten.
Schlagartig kehrte die Übelkeit zurück. Schwindel gesellte sich dazu, und sie hatte Mühe, stehen zu bleiben. In ihrem Magen rumorte es stärker. Würde sie es bis zum WC schaffen?
Sie wandte sich ab, strauchelte und blieb mit dem Fuß an einem Tischbein hängen. Knapp konnte sie sich an der Tischplatte abstützen und erbrach sich – mitten auf die Tastatur und die Couverts, die dort lagen.
Ihre Kollegin würde sie vierteilen. Das war im Moment ihr geringstes Problem.
Der Geruch des Erbrochenen verursachte neue Übelkeit. Bevor ihr Magen sich ein zweites Mal zusammenzog, taumelte sie nach hinten. Das linke Bein knickte ein. Als sie mit der Hand nach Halt suchte, griff sie ins Leere. Dumpf schlug sie auf und blieb einige Sekunden benommen liegen. Sie wollte sich auf die Seite drehen und aufrappeln, war aber unfähig, Arme und Beine zu koordinieren. Sie fiel zurück und blieb regungslos liegen.
EINS
»Ich muss einen Abstecher machen, bevor ich zu Amry zurückkehre«, sagte Giulia zu Samantha und deutete nach rechts. »Wenn ich im Stedtli bin, kann ich das gleich erledigen.«
»Was musst du machen?«, fragte Samantha und schaute auf ihre Armbanduhr. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zur Wochenbesprechung.
Franz Ammann hatte eine solche eingeführt, da am Montag jeweils Cornelia Ryser in Liestal war. Cornelia war seine Nichte und seit letztem Sommer nach dem Tod ihrer Mutter Annemarie die Miteigentümerin des kleinen Kosmetikunternehmens Amry Cosmetics.
Seit zwei Jahren war Samantha bei dem Familienbetrieb angestellt, der vorwiegend Bodylotionen, Gesichts- und Sonnencremen sowie Hautreinigungsprodukte herstellte. Als sie angefangen hatte, waren sie zehn Angestellte. Inzwischen waren es fünfzehn. Samantha gefiel an ihrem Job, zur Allrounderin geworden und nicht nur für die Qualitätssicherung zuständig zu sein.
Franz und Cornelia legten großen Wert auf die Natürlichkeit und Nachhaltigkeit ihrer Produkte. Auch das gefiel Samantha.
Franz war ein angenehmer Chef, obwohl es für Samantha nach wie vor seltsam war, direkt dem Eigentümer unterstellt zu sein. Er ließ seinen Mitarbeitenden viel Freiheit, solange die Arbeit zu seiner Zufriedenheit erledigt wurde. Was er nicht ausstehen konnte, war Unpünktlichkeit.
Mit Cornelia hatte Samantha wenig zu tun.
»Das reicht locker«, sagte Giulia. Sie war die Chefsekretärin.
»Das ist meine rechte Hand«, stellte Franz sie jeweils vor. »Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte.«
»Ich muss nur die Pflanzen gießen. Eine Freundin von mir hat eine Physiotherapiepraxis aufgemacht. Ihre Partnerin Fabia ist in den Ferien, und sie selbst liegt krank im Bett. Da hat sie mich gebeten, ob ich vorbeischauen kann«, sagte Giulia.
»Ist es weit von hier?«, fragte Samantha.
»Nein. Die Praxis befindet sich im Ziegelhof.«
»Im Ziegelhof? Du meinst in der stillgelegten Brauerei?«
»Genau dort.«
Samantha warf einen neuen Blick auf ihre Armbanduhr. »Okay, ich komme gerne rasch mit, besonders bei dem schönen Frühlingswetter.«
Das gesamte Wochenende hatte es geregnet, und es hatten Temperaturen um zehn Grad geherrscht. Der Frühling war bisher ins Wasser gefallen. An den Ostertagen vor zwei Wochen, die dieses Jahr Ende März gewesen waren, hatte es sogar geschneit. Das für den April typisch wechselhafte Wetter dauerte seitdem an. Pünktlich zum Wochenstart hatte die Sonne die Wolken vertrieben, und das Thermometer zeigte zum ersten Mal in diesem Jahr fast zwanzig Grad.
Sie liefen an dem »Museum.BL« vorbei in den Neuweg und bogen kurz darauf links in eine schmale Straße ab. Samantha erkannte die beiden Gebäude, die mit einer überdachten Galerie verbunden waren. Davor parkten mehrere Autos. Im Veloständer standen drei Velos. Die Fassaden der Häuser waren mit Graffitis besprayt, und an einigen Stellen blätterte der Putz ab.
Giulia hielt vor dem rechten der beiden Häuser an und holte einen Schlüssel aus ihrer Handtasche. Sie stieß die Holztür auf. Samantha folgte ihr, und sie liefen die Steintreppe in den ersten Stock hoch. Giulia machte halt. Samantha lehnte sich im Treppenhaus gegen die Wand mit den mintgrünen Plättli, während Giulia den richtigen Schlüssel suchte. Sie betraten einen Korridor mit einem Holzboden mit Fischgrätenmuster. Rechts und links hatte es Türen. Einige von ihnen hatten Holzrahmen mit Glasfenstern, durch die man nicht in die Räume schauen konnte, da sie eine unebene Oberfläche besaßen oder auf der Innenseite eine Store heruntergezogen war.
»Wieso ist hier offen?«, fragte Giulia und zeigte auf eine angelehnte Tür, neben der eine Tafel angebracht war, auf der in geschwungenen blauen Buchstaben »Physio Arnold & Burri« stand.
»Pfui Teufel!«, entfuhr es ihr, als sie die Tür aufstieß und die Physiopraxis betrat.
Samantha registrierte den Gestank, der nach draußen strömte. Scharf, beißend und gleichzeitig muffig und faulig.
»Erst einmal lüften«, sagte Giulia. Sie presste ein Papiertaschentuch auf Nase und Mund, hielt sich links und verschwand im Inneren. Samantha hörte, wie sie eine Tür öffnete.
Samantha zögerte, bevor sie ihr in die Praxis folgte. Sie fand sich in einem schmalen Gang wieder, in dem zwei Stühle mit einem schwarzen Tischchen standen. Die Holzwand sah nicht stabil aus und musste nachträglich eingezogen worden sein. Auf dem Tischchen lagen einige Illustrierte. Offenbar war das der Wartebereich.
Samantha presste den Kragen ihrer Jacke gegen Nase und Mund und bemühte sich, flach durch den Mund zu atmen.
Es hatte zwei Türen. Die rechte war einen Spaltbreit geöffnet, und die linke stand ganz offen. Samantha hörte aus dem linken Zimmer ein Klicken. Sie spähte in den Raum und erblickte Giulia, die gerade die Sprossenfenster aufriss.
Hier roch es nicht so intensiv, dennoch nach wie vor unangenehm genug. Samantha ging hinein und stellte sich vor ein Fenster. Milde Luft strömte herein und drängte den Geruch zurück, aber ganz verschwand er nicht.
Der Boden bestand ebenfalls aus Fischgrätenparkett. In der Mitte stand eine anthrazitfarbene Behandlungsliege. An der linken Wand hatte es einen weißen Schrank. Ein Poster mit der Überschrift »Die Muskulatur des Menschen« hing daneben, auf dem ein Mann von vorne und hinten abgebildet war. Die verschiedenen Muskelstränge waren beschriftet, allerdings waren die Buchstaben klein, und Samantha konnte sie von ihrem Standpunkt aus nicht entziffern. Auf der gegenüberliegenden Seite waren zwei Stühle und ein zweites schwarzes Tischchen, auf dem eine Digitaluhr und eine Grünpflanze standen. Vor den Fenstern befanden sich zwei weitere Pflanzen, die fast so groß wie Samantha waren. Die Sonne schien herein, was den Raum freundlich und hell erscheinen ließ. Alles sah sauber aus, und Samantha erkannte nichts, das der Grund für den Gestank sein konnte.
»Ich frage mich, was die beiden gemacht haben«, sagte Giulia.
»Sie haben Essbares über das Wochenende vergessen«, versuchte Samantha sich an einer Erklärung.
»Essbares in einer Physiopraxis – so ein Blödsinn.« Giulia verließ den Raum und sagte: »Aber ich schaue mal nebenan nach.«
Samantha blickte auf die schmale Straße, auf der gerade ein Auto langsam über das Kopfsteinpflaster fuhr. Der Gestank … das roch nicht nach verdorbenem Essen, sondern als ob jemand erbrochen hätte. Doch es war nicht nur das. Samantha starrte zur Tür, durch die Giulia verschwunden war. Bevor sie wusste, woran der Gestank sie erinnerte, ließ sie ein Schrei zusammenfahren. Das war Giulia gewesen.
Samantha rannte aus dem Zimmer. Giulia wankte und taumelte auf Samantha zu. Ihr Gesicht war blass. Als sie Samantha erreichte, knickten ihre Beine ein. Knapp konnte Samantha sie auffangen und zu einem der beiden Stühle führen.
»Da«, stammelte Giulia. »Dadrin.« Sie zitterte am ganzen Körper.
»Was ist dort?« Samantha nahm ihre Hand, die eiskalt war.
Giulia antwortete nicht und schüttelte den Kopf.
Samantha richtete sich auf. Der Gestank intensivierte sich, je näher sie der Tür kam. Vorsichtig spähte Samantha ins Innere.
»Um Gottes willen!«, entfuhr es ihr, als sie die Person auf dem Boden liegen sah. Erbrochenes war auf dem Tisch und Boden verteilt.
Samantha drängte den Ekel zurück und hockte sich neben die Frau auf dem Boden, darauf bedacht, nicht in das Erbrochene zu treten.
Die Frau reagierte nicht, als Samantha sie antippte. Die Augen waren starr zur Decke gerichtet. Das Gesicht war grau und die Farbe aus den Lippen gewichen. Samantha tastete nach dem Puls. Die Haut fühlte sich klamm an. Kalt. Leblos.
»Sie ist tot, nicht wahr?«, hörte Samantha hinter sich.
Giulia stand gegen den Türrahmen gelehnt. Die Farbe ihrer Haut hatte fast den gleichen Ton wie die der Frau am Boden.
Samantha spritzte sich Wasser ins Gesicht und schaute auf. Sie musterte sich im Spiegel. In ihren braunen Teint, der für eine Inderin untypisch hell war, hatte sich ein grauer Farbton gemischt. Ihre leuchtend grünen Augen waren aufgerissen. Eine Strähne ihrer schwarzen, dichten Haare hatte sich aus dem Rossschwanz gelöst.
Samantha verließ das WC, das sich im Treppenhaus befand, und setzte sich neben Giulia auf die Stufen. Vom Wesen der sonst so quirligen Italienerin war nichts zu spüren. Zusammengesunken kauerte die zierliche Frau neben ihr und starrte vor sich hin. Die Tür zum Korridor stand offen, aber Giulia schien nichts davon mitzubekommen, was dort gerade passierte.
Samantha hörte Stimmen, und zwei Männer traten aus der Physiopraxis. Beide trugen weiße Ganzkörperanzüge. Der eine streifte die Kapuze vom Kopf. Den Namen, den er ihr genannt hatte, wusste sie nicht mehr. Nur noch, dass er der Amtsarzt war. Einer der Polizisten hatte ihn in die Praxis begleitet. Ein Beamter in einem weißen Anzug mit einem silbrigen Koffer betrat jetzt die Praxis.
Samantha schaute zu Giulia. Sie war aschfahl. Seitdem Samantha den Notruf gewählt hatte, hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Samantha lehnte sich gegen die Wand mit den mintgrünen Plättli. Ihr war übel, und sie hätte einiges darum gegeben, an die frische Luft zu dürfen.
»Bitte bleiben Sie dort«, hatte ein Beamter sie angewiesen.
Das Klingeln eines Handys ließ sie zusammenfahren.
»Das ist deins«, sagte Samantha.
Giulia rührte sich nicht.
Samantha berührte ihren Arm. »Dein Handy klingelt.«
Keine Reaktion.
Das Klingeln hörte auf. Einige Sekunden später klingelte es erneut. Dieses Mal war es Samanthas Handy. Sie holte es aus ihrer Handtasche und erkannte »Franz Ammann« auf dem Display.
»Wo bist du?«, kam es aus dem Hörer. »Ich warte seit fünfzehn Minuten auf dich!« Sein Ärger prallte mit voller Wucht gegen sie, und sie hielt das Telefon ein Stück vom Ohr weg.
Die Sitzung. An die hatte Samantha nicht mehr gedacht, geschweige denn daran, ihn zu informieren.
»Ich wäre dir zudem verbunden, wenn du mir sagen könntest, wo Giulia ist. Mit ihr war ich vor dir verabredet.«
»Sie –«
»Wir wollten entscheiden, welchem der von uns ins Auge gefassten Lieferanten wir den Zuschlag für das Guar Gum geben wollen«, fuhr Franz fort, ohne Samantha zu Wort kommen zu lassen.
Sie waren auf der Suche nach einem neuen Lieferanten für das Guarkernmehl, das sie als Verdickungsmittel und Stabilisator in Shampoos und Cremen einsetzen wollten und das aus dem Samen der aus Indien stammenden Guarpflanze gewonnen wurde. Es verlieh der Haut ein glattes und weiches Aussehen.
Dieser Entscheid war schon länger hängig. Aufgrund der Vorkommnisse im vergangenen Sommer, bei denen das Labor bei einem Brand zerstört worden war, waren diese Dinge liegen geblieben. Es hatte länger als angenommen gedauert, bis der normale Betrieb wieder aufgenommen werden konnte. Das Labor war zwar seit Anfang Jahr einsatzfähig, aber es galt einiges aufzuarbeiten. Dazu gehörte das Guar Gum. Die Laborantin Emma Hofmann hatte die Proben nicht fertig analysieren können. Trotzdem hatte Franz darauf bestanden, dass einige Entscheidungen nicht weiter hinausgezögert werden sollten.
»Samantha!«, rief er, da Samantha schwieg. Die Schärfe in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ich bin im Ziegelhof.«
»Wo?« Erneut musste Samantha das Handy ein Stück vom Ohr weghalten.
»Giulia wollte –«
»Wo ist sie?«, unterbrach er sie unwirsch.
»Sie sitzt neben mir.«
»Was habt ihr im Ziegelhof zu suchen?«
Stimmen, die vom Erdgeschoss zu ihnen drangen, lenkten Samantha ab. Sie bemerkte drei Männer, die die Treppe hochkamen. Einer von ihnen war Lorenz Bühler von der Kantonspolizei Baselland. Als er sie bemerkt hatte, blieb er stehen und lehnte gegen das weinrote Treppengeländer aus Holz.
»Ich muss Schluss machen. Die Polizei ist da«, sagte Samantha.
»Wie bitte?«
»Erzähle ich später.« Samantha erhob sich schwerfällig. Giulia tat es ihr gleich.
Bühler schaute abwechselnd Samantha und Giulia an, bis sein Blick an Samantha hängen blieb.
Samantha hatte ihn das letzte Mal im letzten Sommer gesehen. Seitdem hatte er sich nicht verändert. Wie damals war Samantha über seine Ausstrahlung erstaunt. Der Mann Mitte fünfzig hatte volle dunkelblonde Haare. Im Kontrast dazu stand ein weißer, akkurat getrimmter Vollbart. Er trug eine Brille mit goldenem Rahmen.
»Wieso erstaunt es mich nicht, Sie hier anzutreffen, Frau Kälin«, sagte er anstelle einer Begrüßung.
Samantha zog die Jacke fester um die Schultern, doch es half nichts. Obwohl sie auf einem der Parkfelder neben einem Polizeifahrzeug in der Sonne standen, fror sie.
Das Areal war abgesperrt. Beamte standen an den Bändern, an denen sich einige Schaulustige eingefunden hatten. Was sie ihnen sagten, konnte Samantha aus der Entfernung nicht hören. Den Widerwillen der Leute spürte sie deutlich, als diese sich abwandten.
Sie schaute zu Giulia, die sich in einiger Entfernung neben zwei Polizisten befand. Was die Beamten miteinander besprachen, konnte Samantha nicht verstehen.
Nachdem Bühler die Leiche in Augenschein genommen hatte, hatte er Giulia und Samantha gebeten, ihm nach draußen zu folgen.
Bühler stand vor ihr. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille, und Samantha konnte den Ausdruck seiner Augen nicht erkennen. Zu gerne hätte sie gewusst, was in seinem Kopf vorging.
»Können Sie bitte erzählen, wie Sie die Leiche aufgefunden haben?«, fragte er.
Samantha tat ihm den Gefallen.
»Habe ich richtig verstanden, Giulia Russo hat Sie gebeten, sie zu begleiten?«
»Ja.«
»Sie kennen die Eigentümer der Praxis nicht?«
»So ist es. Ich war vorher nie hier gewesen. Weder in der Physiopraxis noch in dem Gebäude«, fühlte sie sich genötigt anzuhängen, da sie ahnte, Bühler werde als Nächstes eine Frage in diese Richtung stellen.
»Woher kennen Sie Giulia Russo?«
Eigentlich sollte er das seit letztem Sommer wissen. Giulia war im Zuge der Ermittlungen damals befragt worden. »Wir arbeiten beide bei Amry Cosmetics. Sie ist Franz Ammanns Sekretärin.«
»Kennen Sie die Tote?«
»Nein.«
»Haben Sie in der Praxis etwas angefasst?«
Wenn sie das wüsste. »Ich glaube nicht. Giulia hat Türen und Fenster geöffnet.«
»Die Tote haben Sie aber berührt, hat der Kollege mir gesagt.«
Samantha wurde heiß. War das ein Fehler gewesen?
»Ich musste schauen, ob sie lebt … also Erste Hilfe …« Sie brach ab. Das Gestammel klang in ihren Ohren wie ein Schuldeingeständnis.
»Natürlich. Haben Sie die Position der Leiche verändert?«
»Ich habe nur nach dem Puls getastet – am Hals und an der linken Hand. Ob sich dadurch ihre Lage geändert hat, weiß ich nicht. Nachdem mir klar war, dass sie nicht mehr lebt, habe ich sofort den Notruf gewählt – mit meinem Handy.«
Aus den Augenwinkeln nahm Samantha eine Bewegung wahr. Einer der anderen Beamten näherte sich mit Giulia.
»Wir sind fertig«, sagte er.
»Ich auch«, erwiderte Bühler zu Samanthas Erstaunen. Er war nicht, wie er es sonst tat, ins Detail gegangen.
Mit der Bitte, sich weiterhin zur Verfügung zu halten, verabschiedete er sich und entfernte sich mit dem Kollegen. Samantha starrte ihm verwirrt über den plötzlichen Abgang nach. Bühler gab sich mit so wenig zufrieden? Von früher wusste sie, wie hartnäckig er jeweils nachfragte. Jedes Detail ließ er wiederholen. Obwohl er es nicht so meinte, war Samantha sich bei seinen Befragungen grundsätzlich schuldig vorgekommen und hatte das Bedürfnis gehabt, sich zu rechtfertigen. Dieses Mal war es nicht so.
»Lass uns gehen«, sagte Giulia leise.
»Du hast recht«, pflichtete Samantha ihr bei. Sie verspürte den Drang, schnell einen großen Abstand zum Ziegelhof zu bekommen.
Ein Streifenpolizist hob das Absperrungsband an, als sie unten durchschlüpften.
Sie liefen schweigend nebeneinanderher, bis sie das Schildareal erreichten, auf dem sich die Räumlichkeiten von Amry Cosmetics befanden. Es war Samantha, als würden sie langsamer, je näher sie dem Gebäude kamen. An der Tür blieb Giulia stehen.
»Franz wird sauer sein«, sagte sie.
Das war ihr geringstes Problem.
»Es tut mir leid, wenn ich dich in die Sache mit hineingezogen habe.«
»Du konntest nicht wissen, was uns dort erwartet. Kennst du die Frau?«, fragte Samantha.
»Wen? Die Tote?« Giulia starrte an ihr vorbei. »Nein. Ich habe sie nie gesehen, und ich frage mich, wieso sie in der Praxis war.«
Abrupt drehte Giulia sich um und betrat Amry Cosmetics. Verwundert schaute Samantha ihr nach, wie sie den kleinen Empfangstresen umrundete, in ihrem Büro dahinter verschwand und die gläserne Tür schloss.
***
»Was für eine Geschichte«, sagte Joel. Er setzte sich neben Samantha mit dem Rücken zur Terrassentür auf das Sofa. In dem Gegenlicht trat der kastanienfarbene Ton in seinen braunen Haaren deutlich hervor. Mehr als einmal war Joel gefragt worden, ob das seine natürliche Haarfarbe sei.
»Wieso muss das ausgerechnet wieder mir passieren?«, stieß Samantha hervor. »Ich wünschte, ich hätte mich nicht überreden lassen mitzugehen.«
»Wenn ich das zwischen den Zeilen richtig heraushöre, war Giulia nicht handlungsfähig, und es war gut, dass du mitgegangen bist.«
Samantha lehnte sich nach hinten und starrte an die Decke, die zu einer Leinwand wurde. Sie sah Giulia und sich, wie sie die Tote aufgefunden hatten. Als handlungsfähig würde sie sich selbst nicht bezeichnen. Aber es stimmte, sie hatte besser als Giulia funktioniert.
»Als ich jemanden zum Reden brauchte, hat sie mich im Stich gelassen und sich in ihrem Büro verschanzt«, sagte Samantha.
Nach kurzem Zögern war Samantha Giulia gefolgt und hatte gegen den Türrahmen geklopft.
»Lass mich in Ruhe«, hatte Giulia sie angefaucht und die Tür abermals energisch geschlossen. Durch die gläserne Tür hatte Samantha gesehen, wie Giulia sich an ihr Pult gesetzt und ihr demonstrativ den Rücken zugekehrt hatte.
Bevor sie überlegen konnte, wie sie sich verhalten sollte, war Franz aufgetaucht. Mit einem »Die Dame ist endlich da, wie schön« hatte er sie zu sich ins Büro beordert. »Die Geschichte mit der Polizei war ein netter Versuch, mich abzuwürgen.«
»Es stimmt aber. Die Polizei war da.« Nachdem Samantha ihm berichtet hatte, was vorgefallen war, war sein Ärger verraucht und hatte Entsetzen Platz gemacht. Er hatte ihr angeboten, früher Feierabend zu machen, was Samantha dankend angenommen hatte.
»Gib ihr Zeit«, sagte Joel.
Samantha hing einen Moment ihren Gedanken nach. Nach wie vor hatte sie den üblen Geruch in der Nase. Ob sie den jemals loswerden würde? Rückblickend hätte es ihr klar sein müssen, was der Grund dafür gewesen war. Als sie einmal mit Joel auf der Terrasse gesessen war, war ein ähnlicher Gestank zu ihnen herübergeweht. Zunächst hatten sie ihn nicht einordnen können, bis Joel auf die Idee kam, es rieche nach Aas. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um die Katze, die den Leuten drei Häuser weiter gehört hatte. Sie war angefahren worden und hatte sich in ihren Garten unter den Busch geschleppt. Dort war sie gestorben.
Samantha fragte sich, wie lange die Frau in der Praxis gelegen war. So wie sie Giulia verstanden hatte, war deren Freundin das letzte Mal am Freitag dort gewesen. Das hieß, sie konnte seit Freitagabend dort liegen. Mit der Wärme, die in der Praxis geherrscht hatte, war die Geruchsentwicklung kein Wunder. Samantha wagte sich nicht vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn sie nicht zum Pflanzengießen gekommen wären und die Frau längere Zeit unentdeckt geblieben wäre. Ein Schauer durchlief Samanthas Körper.
Joel legte seinen Arm um sie und zog sie zu sich.
»Ich habe nicht gewusst, was es alles in dem Gebäude gibt«, sagte Samantha und versuchte das Bild der Toten loszuwerden, das vor ihrem inneren Auge erschienen war.
»Wie meinst du das?«
»Es hat Räume, wo Pilates- und Yogastunden abgehalten werden, eine Hypnosepraxis, ein Keramikatelier und sogar einen Take-away. Ich wohne ungefähr ein Jahr bei dir, aber war nie dort. Das Areal war für mich nur eine stillgelegte Brauerei.«
»2006 stellte die Brauerei den Betrieb ein, und das Areal wurde verkauft. Aber seit 2021 wird wieder Bier gebraut.«
»Wie es aussieht, versucht man zusätzlich, das Areal anders zu nutzen.«
»Genau. Es wandelt sich immer mehr zu einem Ort, wo man arbeitet, wohnt oder sich in der Freizeit aufhalten kann, weil es Kulturveranstaltungen gibt. Es hat eine Kletterhalle, und es haben sich Bands, Musiker und Kulturschaffende eingemietet. Und es gibt Büros kleinerer Firmen.«
»Und wann wurde die Brauerei gebaut?«
»Du fragst Sachen.« Joel legte den Zeigefinger gegen die Lippen, wie er es häufig tat, wenn er nachdachte. »Keine Ahnung, bis Mitte des 19. Jahrhunderts war es eine Ziegelbrennerei. Danach wurde Bier gebraut, zunächst ohne großen Erfolg. Erst dem nachfolgenden Besitzer gelang der Durchbruch, bis 2006, wie eben erwähnt, die Produktion eingestellt wurde.«
»Von außen sieht das Areal für mich abweisend, beinahe unheimlich aus. Nie hätte ich vermutet, dass es genutzt wird.«
»Du hast recht. Ein wenig Glanz würde dem Ganzen guttun. Es hat jedenfalls Potenzial. Es hat sogar Wohnungen auf dem Areal. Vor längerer Zeit bin ich in den Genuss einer Führung gekommen. Unter anderem war ich in den Kellergewölben, wo das Bier gelagert wurde. Dort war es richtig beklemmend. Die Gebäude sind im Inneren verwinkelt, und ich war froh, nicht allein hinausfinden zu müssen.«
Es klingelte.
»Ich übernehme«, sagte Joel.
Samantha hörte Stimmengemurmel.
»Okay«, sagte Joel. Das klang allerdings nach dem Gegenteil.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Hinter ihm erschien zu Samanthas Erstaunen Nussbaum.
»Jan?« Sie stand auf, und er begrüßte sie mit drei Wangenküssen.
»Entschuldigt, wenn ich euch störe. Erst heute Morgen habe ich mit Ricarda darüber gesprochen, mein Versprechen einzulösen und euch endlich einzuladen.«
Im vergangenen Sommer hatte Samantha Nussbaum aus einer misslichen Lage befreit. Mehrfach hatte er betont, er verdanke ihr sein Leben, was Samantha übertrieben fand. Er hatte Samantha und Joel zum Essen eingeladen – das Mindeste, was er tun könne. Ein Velounfall seiner Frau vereitelte dieses Vorhaben. Bei dem zweiten Anlauf im Winter hatte Joel eine heftige Grippe erwischt. Offenbar wollte Nussbaum einen dritten Versuch starten.
»Nun kommt diese Sache dazwischen.« Nussbaum setzte sich unaufgefordert Samantha gegenüber. Er war hagerer geworden, oder wirkte er so, da seine blonden Haare einen neuen Schnitt vertragen konnten?
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Joel.
Ihm war Nussbaums Erscheinen eindeutig nicht recht. Normalerweise maß Samantha Joels kühlem Verhalten gegenüber Nussbaum nicht viel bei. Obwohl sie inzwischen per Du waren, blieb er »Nussbaum« für ihn.
Allgemein hielt Joel sich lieber im Hintergrund, wenn sie einander begegneten. Woher die Vorbehalte gegen den Polizeibeamten rührten, hatte er Samantha nie verraten. Samantha vermutete, Joel nahm es ihm weiterhin übel, bei früheren Fällen als Tatverdächtiger in den Fokus gerutscht zu sein, und gab ihm die Schuld, dass Samantha in gefährliche Situationen geraten war. Eine Weile war nichts mehr passiert, doch er traute dem Frieden nicht. Offenbar zu Recht, wenn man an heute dachte.
»Gerne ein Glas Wasser«, sagte Nussbaum. »Du hast ein Talent, gewisse Dinge anzuziehen«, wandte er sich an Samantha. Das hatte Bühler bereits angedeutet. Bei Nussbaum klang es dagegen nicht vorwurfsvoll, sondern eher belustigt.
»Du hast weitere Fragen, wenn du hier unangemeldet auftauchst und dieses Thema anschneidest«, sagte Samantha und verwünschte sich einmal mehr, mit Giulia mitgegangen zu sein. Das Letzte, das sie wollte, war, in einen neuen Mordfall hineingezogen zu werden.
Joel kehrte mit drei Gläsern Wasser zurück, die er auf das Tischchen stellte, und setzte sich neben Samantha.
»Ich weiß, du hast es Lorenz gesagt, aber ich möchte nochmals hören, wie du und deine Kollegin die Leiche aufgefunden habt.«
Samantha tat ihm widerwillig den Gefallen und schilderte das, was sie Bühler am Mittag erzählt hatte.
»Du kennst die Frau nicht?«
»Nein, ich bin ihr nie begegnet. Obwohl, um ehrlich zu sein, kann ich das eigentlich nicht beantworten. Ihr Gesicht war mit Erbrochenem verschmiert, und ich habe sie daher nicht genau angeschaut.«
Nussbaum holte sein Handy hervor. Nachdem er auf dem Display herumgetippt hatte, hielt er es Samantha hin. Auf dem Foto war eine braunhaarige Frau mit grauer Gesichtsfarbe abgebildet. Sie hatte die Augen geschlossen. Nur der Kopf und ein Teil der Schultern waren zu erkennen. Samantha brauchte nicht zu fragen, woher die Aufnahme stammte. Das grau Glänzende im Hintergrund musste ein Stahltisch in der Rechtsmedizin sein. Auf der Wange hatte die Frau ein Muttermal von ungefähr einem halben Zentimeter Größe. Die Augenbrauen waren zu schmalen Linien gezupft. Da die Aufnahme von der Seite gemacht worden war, erkannte Samantha am Hals eine sternförmige Tätowierung. Im Ohrläppchen hatte sie drei oder vier Piercings. Die Ohrringe mussten allerdings entfernt worden sein.
»Ich kenne sie definitiv nicht«, beantwortete sie Nussbaums unausgesprochene Frage.
Nussbaum schwieg. Samantha hielt dem Blick stand.
»Welchen Eindruck machte deine Kollegin?«, brach Nussbaum das Schweigen und brachte Samantha damit aus dem Konzept.
»Beim Auffinden der Leiche? Sie war völlig durch den Wind und handlungsunfähig.«
»War das authentisch?«
Was war das für eine seltsame Frage? »Du willst wissen, ob sie das gespielt hat?« Wie kam er auf diese Annahme?
Nussbaum schwieg und schaute sie unverwandt an.
»Für mich war es glaubwürdig. Wieso sollte es anders sein?«
»Ihr Verhalten erschien dem Beamten, der sie befragt hatte, seltsam.«
»Wieso?«
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.«
»Jeder reagiert in einer solchen Extremsituation anders.«
»Das ist mir bewusst. Lorenz hat mit dem Kollegen gesprochen und stimmt ihm zu.«
Was nicht verwunderlich war. Ein Polizist war grundsätzlich misstrauisch, was er in seinem Beruf sein musste. Manchmal übertrieb Bühler es jedoch. Sie dachte an seine Reaktion, als er Giulia und sie angetroffen hatte. Der Befragungsstil war zwar korrekt gewesen, aber die Schärfe in der Stimme hatte er nicht ganz kaschieren können.
»Der Beamte, der Frau Russo befragt hat, kann es nicht greifen, aber es war ihm, als habe sie nicht die Wahrheit gesagt, als er sie fragte, ob sie die Tote kenne.«
Das Warum lag Samantha zuvorderst auf der Zunge, als ihr Giulias Verhalten in den Sinn kam, nachdem sie zu Amry Cosmetics zurückgekehrt waren. Wenn sie ihr Verhalten unter diesem Aspekt betrachtete, erinnerte sich Samantha, dass Giulia ihr auf diese Frage auch ausgewichen war.
»Kennst du diese Personen?« Nussbaum stand auf und setzte sich auf Samanthas andere Seite auf das Sofa. Langsam wischte er über das Display.
»Nein«, sagte Samantha. »Oder warte.« Sie nahm Nussbaum das Handy ab und kehrte zum vorletzten Bild zurück. »Nein, doch nicht. Ich dachte, das ist die Tote. Aber diese Frau hier hat kürzere Haare und trägt eine Brille.«
»Es ist ihre Schwester. Wo warst du am vergangenen Samstagabend?«
Wollte er etwa ein Alibi? Samantha spürte, wie Joel sich neben ihr anspannte. Das ist nur eine Routinefrage, sagte sie sich.
»Wir waren zu Hause und haben es uns gemütlich gemacht«, antwortete sie.
»Ich habe gekocht«, mischte sich Joel in das Gespräch ein. Obwohl er ruhig klang, wusste Samantha, wie es in ihm brodelte. Ihm passte es eindeutig nicht, welche Richtung das Gespräch nahm. »Gekocht ist übertrieben. Ich habe thailändisches Take-away mitgebracht, das ich auf dem Heimweg organisiert habe.« Er nannte das Restaurant, das Nussbaum notierte.
»Wer sind diese Leute?«, fragte Samantha und zeigte auf das Handy.
»Du weißt, ich darf dir das bei laufenden Ermittlungen nicht sagen. Das Gleiche gilt für die Identität des Opfers«, erwiderte Nussbaum und stand auf.
ZWEI
Samantha schloss ihr Velo ab und eilte zum Eingang. Auf halbem Weg kam ihr Franz Ammann entgegen. Er blieb stehen und musterte sie kritisch. Dabei schaute er demonstrativ auf seine Armbanduhr.
An sich war Franz ein angenehmer und fairer Chef. Mit den krausen grauen Haaren und der Brille vermittelte er den Eindruck eines Teddybären und ging als gemütlicher Kumpel durch.
»Ich weiß, ich bin spät dran«, sagte Samantha. »Hast du meine E-Mail nicht gesehen?«
»Welche E-Mail?«
»Ich musste auf den Polizeiposten und meine Fingerabdrücke abgeben.«
Zwischen Franz’ Augenbrauen entstand eine tiefe Falte.
»Wegen der toten Frau im Ziegelhofareal gestern«, fügte Samantha an.
»Wieso musst du deine Fingerabdrücke abgeben? Verdächtigen sie dich?«
»Nein. Aber ich war in den Räumen, und sie müssen meine Fingerabdrücke aussortieren können.«
»Haben sie die nicht von früher? Es ist für dich nicht das erste Mal, in einen Todesfall, der Untersuchungen nach sich zieht, involviert zu sein.«
»Nach dem Ende von Ermittlungen werden die Abdrücke gelöscht.«
»Ach so. Bei dir würden sie diese besser behalten.« Die Falte glättete sich, und sein Mund deutete ein Lächeln an. »Ich habe meine Mails noch nicht gelesen. Musste Giulia das auch?«
»Das weiß ich nicht, aber es ist anzunehmen. Warum?«
»Sie ist nicht da. Bis später.« Mit ausgreifenden Schritten lief Franz zum Parkplatz.
Verdutzt schaute Samantha ihm nach. Er musste weg? Das hatte sie nicht gewusst. Sie setzte ihren Weg fort und machte einen Abstecher in die Küche. Als sie sich einen Cappuccino zubereitete, hörte sie Stimmen aus dem Empfangsbereich. Zwei Frauen. Die eine klang aufgebracht. Das war Giulia. Wieso hatte Franz sie nicht gesehen? Samantha trat zur Tür und sah die beiden, die zu Giulias Büro abbogen.
»Warum musstest du herkommen?«
»Ich will wissen, was passiert ist.«
»Das kann ich dir nicht sagen«, rief Giulia.
»Du bist mit ihr an dem Abend gemeinsam weggegangen.«
»Bin ich nicht. Okay, wir sind gemeinsam nach draußen gegangen. Danach ist sie allein losgezogen.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht. Bitte geh.«
»Du willst nicht mit mir zusammen gesehen werden.«
Ein Lachen folgte, das Samantha das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wer war die Frau, und was wollte sie von Giulia?
»Eine andere Möglichkeit habe ich nicht, mit dir zu sprechen. Du ignorierst meine Anrufe und antwortest nicht auf meine WhatsApp-Nachrichten. Das Ghosting ist für mich gleichbedeutend damit, dass du etwas verschweigst. Und ich möchte wissen, was das ist.«
»Es gibt nichts zu erzählen, weil ich dir nichts zu sagen habe. Ich habe damit nichts zu tun und weiß nicht, was geschehen ist. Wieso willst du es mir nicht glauben?«
»Schau dich an. Deine Körpersprache und deine Mimik sagen alles.«
»Raus! Sofort!«
»Du hast Angst, offenbar zu Recht. Ich will Antworten und komme wieder. Falls du nicht kooperierst, werde ich der Polizei einen Hinweis geben.«
Bevor Samantha sich schlüssig war, ob sie Giulia zu Hilfe eilen oder besser Hilfe holen sollte, stürmte eine dunkelhaarige Frau aus Giulias Büro. Erschrocken wich Samantha in die Küche zurück. Hoffentlich hatte die Frau sie nicht gesehen. Ein Klicken der Tür, die nach draußen führte, und es war still.
Der Cappuccino war fertig. Samantha nahm die Tasse und einen Löffel. Gedankenverloren starrte sie zur Tür, während sie den Schaum löffelte. Sie bezweifelte, dass es eine gute Idee wäre, zu Giulia zu gehen und sie zu fragen, wer das gewesen war und worauf sie angespielt hatte. Belauscht worden zu sein würde Giulia nicht schätzen. Bereits gestern war sie abweisend gewesen. Doch die Frau hatte Giulia eindeutig gedroht. Bevor Samantha sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, betrat Giulia die Küche und schrie auf.
»Bist du schon lange hier?« Gehetzt schaute sie sich um, bevor sie Samantha mit den Augen fixierte. Der Ausdruck jagte Samantha Angst ein.
»Nein«, log sie. »Ich bin gerade gekommen.«
Giulia forschte weiter in ihrem Gesicht.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Samantha.
»Nein.« Abrupt drehte Giulia sich um. »Ich habe keine Zeit für ein Kaffeekränzchen.«
Samantha eilte ihr hinterher.
»Warte.«
»Keine Zeit.«
Bevor Samantha Giulia eingeholt hatte, war sie in ihrem Büro verschwunden. Als Samantha die Tür erreichte, hatte Giulia das Telefon am Ohr.
»Ja, genau«, sagte sie in den Hörer.
Es gab keinen Gesprächspartner, war Samantha sich sicher. Giulia wich ihr eindeutig aus. Am liebsten hätte sie demonstrativ vor der Tür gewartet, zog es aber vor, dies nicht zu tun, und lief in ihr Büro.
»Was ist mit dir los?«
Samantha schreckte auf. Christian stand neben ihr. Der Verkäufer für den Schweizer Markt schaute auf sie herunter. Sie hatte nicht gehört, wie er ihr Büro betreten hatte.
Er schob seine Brille zur Nasenspitze und musterte Samantha über den Rand hinweg. »Seit gestern stehst du völlig neben dir und bist seltsam. Was ist los?«
Wusste er nichts von Giulias und Samanthas Erlebnis? Bis auf Franz hatte Samantha keinen informiert. Das galt offenbar auch für Giulia.
»Hat Franz dir unmissverständlich klargemacht, was er davon gehalten hat, dass du und Giulia gestern die Besprechung nach dem Mittag verpasst habt und heute unpünktlich wart?«
»Das hat sich geklärt«, antwortete Samantha.
»Giulia verhält sich mehr als merkwürdig. Ist zwischen euch etwas vorgefallen?«
Fieberhaft überlegte Samantha, was sie ihm antworten sollte. Von der Toten in der Physiotherapiepraxis wollte sie beim besten Willen nichts berichten.
Das Klingeln des Telefons auf Christians Pult kam Samantha zu Hilfe. Sie konzentrierte sich auf die E-Mail, die sie zu schreiben hatte, und begann zu tippen, als eine Nachricht von Giulia kam.
»Hallo, zusammen«, schrieb diese. »Mir geht es nicht gut, und ich gehe nach Hause.«
Samantha widerstand dem Drang, aufzuspringen und zu Giulia zu eilen. Sie mussten dringend reden, aber nicht hier und jetzt.
Sie betrachtete weiter den Einzeiler, als ihr eine Idee kam, wer die Frau gewesen sein könnte. Samantha rief das Internet auf und googelte nach der Physiopraxis. Sie klickte »Über uns« an.
Treffer! Es war ein Schock, als sie die beiden braunhaarigen Frauen sah, die ihr entgegenlächelten. Eine saß auf der Behandlungsliege, die zweite stand am Fußende.
Darunter hatte es zwei Porträtfotos und eine kurze Beschreibung des beruflichen Werdegangs und wann die Praxis eröffnet worden war.
Es war eindeutig. Fabia Burri war vorhin bei Giulia gewesen. Die andere hieß Bianca Arnold. War sie die Tote? Samantha beugte sich dichter zum Bildschirm. Schwer zu sagen. Die Frau auf dem Bild war geschminkt und hatte im Gegensatz zur Toten lange Haare und kein Muttermal auf der Wange, soweit Samantha es erkennen konnte. Die Haare deckten die Ohren und den Hals ab. Keine Chance festzustellen, ob sie dort eine Tätowierung hatte. Auf dem rechten Unterarm hatte sie eine. Es musste sich um eine Schlange handeln, deren Schwanzende unter dem Saum des Pullis hervorschaute. Die Tote hatte das nicht gehabt. Stopp, sagte Samantha sich. Die Tote hatte einen langärmeligen Pullover getragen, und auf dem Foto aus der Rechtsmedizin waren die Arme nicht zu sehen gewesen.
Eine Tätowierung am Arm musste nicht automatisch heißen, auch eine am Hals zu haben. Außerdem trug Bianca eine Brille. Eine Brille hatte Samantha bei der Toten nicht gesehen. Das musste genauso nichts bedeuten. Sie hatte nicht darauf geachtet, ob irgendwo eine gewesen war.
Samantha lehnte sich nach hinten und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Wie auf dem anderen Bild verdeckten auf dem Porträtfoto neben ihrem Werdegang die Haare ihren Hals, und sie hatte ebenfalls eine Brille auf. Bianca war auch auf diesem Bild geschminkt. Falls sie ein Muttermal besaß, war es mit dem Make-up abgedeckt.
Zurück zu Fabia. Samantha meinte sich zu erinnern, wie Giulia von einer Fabia gesprochen hatte, die ihr den Schlüssel gegeben habe, damit sie nach dem Rechten sehen konnte. War sie also wieder gesund? Die andere, also Bianca, war in den Ferien, fiel ihr ein. Sie konnte also nicht die Tote sein.
Samantha dachte an das, was sie vorhin gehört hatte. Was war am Samstagabend passiert?
***
Heute ließ die Kondition zu wünschen übrig. Samantha stieg vom Velo und wartete, bis sie wieder normal atmete. Es rächte sich, während der Wintermonate nicht mit dem Velo, sondern mit dem Auto zur Arbeit gefahren zu sein. Zuerst hatte sie die Ausrede gefunden, es sei zu kalt. Später war das Wetter zu unbeständig gewesen. Heute hatte sie sich einen Ruck gegeben und das Velo aus der Garage geholt.
Sie schob es die Seltisbergerstraße aufwärts. Fast oben, bog sie ab und erreichte kurz darauf ihr Haus.
Verdutzt blieb sie stehen, als ihr der silberne Hyundai gegenüber ihrer Einfahrt auffiel. War das Nussbaums Wagen? Sie näherte sich dem Auto. Keiner war drin. Auf dem Beifahrersitz erkannte sie eine Tasche, wie Nussbaum sie hatte. Wieso hielt er nicht in ihrer Einfahrt, wie er es normalerweise tat, wenn er zu ihnen kam? Samanthas Smart stand am Rand, und der Hyundai hätte genügend Platz gehabt.
Sie betrat ihre Einfahrt. Das Garagentor war offen. Kein Wagen stand darin. Joel war offenbar nicht zu Hause. Das bedeutete, Nussbaum war nicht bei ihnen. Sie schaute die Straße entlang, und Beklemmung machte sich breit. Es gab für ihn keinen Grund, hier zu sein, außer es war etwas passiert.
Samantha betrachtete die Häuser in ihrer Nachbarschaft. Alles sah wie immer aus. Ein Wagen fuhr vorbei. Er verschwand. Die Straße war wieder leer, und es war still. Kein Vogel sang. Es kam Samantha vor, als hielte die Welt den Atem an.
Du bist albern, schalt sie sich. Vermutlich gehörte der Wagen nicht Nussbaum, sondern jemandem, der zu Besuch war.
Sie stellte das Velo in die Garage, holte die Post aus dem Briefkasten und blätterte die Couverts durch, als eine Bewegung gegenüber ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Nussbaum trat aus dem von Büschen verdeckten Windfang des Hauses, in dem Annina und Florin Nidegger wohnten, und kam die Treppe herunter.
Wieso war er bei den Nideggers?
Samantha hatte ein Déjà-vu und fühlte sich ein Jahr zurückversetzt, als ihre damalige Nachbarin Josefina brutal ermordet in dem Haus aufgefunden worden war. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis der Eigentümer neue Mieter gefunden hatte.
Nussbaum bemerkte sie und kam auf sie zu. »Hallo, Samantha.« Er küsste sie auf beide Wangen.
»Wieso bist du hier? Ist etwas passiert?«
»Nur eine Zeugenbefragung.«
»Zeugenbefragung?«
»Wie du weißt, darf ich zu laufenden Ermittlungen nichts sagen.«
Laufende Ermittlungen? Welche meinte er? Die Tote im Ziegelhof oder handelte es sich um einen anderen Fall? Sie schaute zum Haus der Nideggers.
»Es war keiner da. Wo ich gerade hier bin, ist dir ein weiteres Detail zur Toten im Ziegelhofareal eingefallen?«
»Nein. Was sollte mir zusätzlich in den Sinn kommen?«
»Ob du jemanden gesehen hast, als ihr zum Ziegelhof gelaufen seid, oder ob ihr im Haus einer Person begegnet seid.«
Das hatte Bühler gestern und der Beamte heute Morgen noch mal gefragt.
»Nein. Auf dem Hinweg sind uns Leute begegnet, aber ich habe nicht auf sie geachtet. Ich glaube, es waren zwei Frauen und ein Mann, die uns entgegenkamen.«
»Kamen sie aus einem der Ziegelhofgebäude?«
»Das weiß ich nicht. Drinnen war niemand.«
»Schönen Abend und Grüße an Joel«, sagte Nussbaum, nachdem er weitere Fragen gestellt hatte, die Samantha bereits früher beantwortet hatte und denen nichts mehr hinzuzufügen war. Er stieg in seinen Wagen und hob die Hand, als er abfuhr.
Samantha meinte, eine Bewegung am Vorhang im ersten Stock des Hauses der Nideggers wahrzunehmen. Dort stand jemand. Annina oder Florin? Wieso starrte die Person auf die Straße?
Die Frage ließ sich umdrehen. Wieso starrte sie auf das Haus? Samantha schüttelte das Unbehagen ab und betrat ihr Entrée.
»Mir gefällt das nicht«, sagte Joel.
Sie überquerten die Seltisbergerstraße und liefen geradeaus weiter. Heute hatten sie nur eine kurze Runde gedreht, da es angefangen hatte zu nieseln. Der Regen roch nach Sommer, und Samantha sog die Luft tief ein.
Die erhoffte Entspannung machte sich nicht breit.
»Immer noch kein Licht.« Samantha zeigte auf Nideggers Haus.
»Das muss nichts heißen«, sagte Joel.
Wie oft hatte er das heute Abend schon gesagt?
»Lass uns ins Haus gehen.« Joel berührte Samanthas Arm. »Sie können im Ausgang sein.«
»An einem Dienstagabend?«
»Wieso nicht? Wir gehen auch mal unter der Woche etwas essen.«
»Wenn es einen speziellen Anlass gegeben hat.«
»Wieso sollten die beiden heute keinen speziellen Anlass haben? Feiern einen Geburtstag oder sie haben einfach keine Lust zum Kochen.«
Er hatte recht. Dennoch konnte Samantha sich damit nicht zufriedengeben. Es stimmte etwas nicht. Den ganzen Abend hatte sie wiederholt zum Haus geschaut. Nie hatte es den Anschein gemacht, es sei jemand da.
Nussbaum hatte erklärt, es sei keiner zu Hause. Doch den Schemen am Fenster hatte Samantha sich nicht eingebildet. Die Person, die dort gestanden war, hatte sie und Nussbaum beobachtet, als sie miteinander gesprochen hatten.
Wieso hatte die Person Nussbaum die Tür nicht geöffnet? Oder war es doch nur Einbildung, und Annina und Florin waren später heimgekommen? Doch in dem Fall hätte im Verlauf des Abends Licht brennen müssen.
Florin und Annina können gegangen sein, als du gerade nicht hingeschaut hast, sagte sie sich und folgte Joel ins Haus. Der schale Beigeschmack, den Nussbaums Anwesenheit verursacht hatte, blieb.
Sie gingen in die Küche.
»Einen Tee?«, fragte Joel.
»Gerne.« Samantha nahm Teepackungen aus dem Schrank, während Joel Wasser aufsetzte. »Welchen möchtest du?«
»Ich nehme den gleichen wie du.«
Samantha wählte eine Alpenkräutermischung. »Ich frage mich, ob Nussbaums Besuch bei den Nideggers mit der Toten im Ziegelhof zu tun hat«, sprach sie aus, was sie den ganzen Abend nicht losgelassen hatte.
»Wie kommst du auf diese Idee? Ich finde es weit hergeholt.«
»Vielleicht kannten sie sich.«
»Das wäre ein großer Zufall.«
»Florin oder Annina können in Behandlung gewesen sein.«
»Du meinst, sie klappern alle Patienten der Physiopraxis ab? Was sollen die mit der Toten zu tun haben?«
»Ich würde als Erstes im Familienkreis und im Patientenumfeld nach dem Täter suchen.«