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Mysteriöser Mord an einer Bestsellerautorin. Der Debütkrimi von Melissa Sonderegger wird zu einem ungeahnten Erfolg und landet ganz oben auf der Bestsellerliste. Doch wenig später ist die junge Autorin tot – vergiftet, genau wie das Opfer in ihrem Roman. Als die Verlagsräume verwüstet werden und eine von Andrinas Kolleginnen verschwindet, ist schnell klar, dass die Tat etwas mit dem Buch zu tun haben muss. Da sich die Verlegerin immer seltsamer verhält, geht Andrina der Sache selbst auf den Grund und gerät damit in den Fokus des Täters ...
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Seitenzahl: 376
Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie »Vollzeit-Familienmanagerin« und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: arcangel.com/Joanna Czogala
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-213-0
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Prolog
Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss, und Dunkelheit hüllte sie ein. Stille umgab sie. Ihre Augen gewöhnten sich an die Finsternis, und langsam erkannte sie in dem Licht, das von den Straßenlaternen vor dem Haus hereinschien, die Konturen ihrer Umgebung – das Schuhregal mit der Garderobe daneben. An der gegenüberliegenden Seite hing der Spiegel, in dem sie den Schatten ihres Körpers ausmachen konnte.
Zu Hause. Endlich.
Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, der nicht so gelaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatte – das komplette Gegenteil von gestern. Sie war sich selbst im Weg gestanden. Alles, was schiefgehen konnte, ging schief. Am Morgen hatte sie den Wagen ihres Nachbarn touchiert und war von einem mobilen Radargerät geblitzt worden. Ein Blick auf den Tacho hatte ihren Puls beschleunigt. Das würde eine saftige Buße geben – hoffentlich war sie ihren Führerausweis nicht gleich los. Sie verfluchte sich, nicht konzentrierter gefahren zu sein. Dem war nicht genug. Beim Einparken vor ihrem Büro hatte sie einen Pfosten übersehen, der eine beachtliche Delle in der Beifahrertür hinterlassen hatte. Später hatte sie den Kaffee über ihrer Bluse ausgeschüttet. Besonders übel war gewesen, dass sie als Reaktion darauf zurückgezuckt war und die Tasse ihres Vorgesetzten auf dessen Schreibtisch umgestoßen hatte. Der Tee war über die Tastatur geschwappt. Wer stellte seine Tasse so dämlich an die Kante des Tisches? Die Tastatur war jedenfalls hin.
»Mach, dass du fortkommst«, hatte er sie angeschnauzt.
Das hatte er ihr nicht zweimal sagen müssen. Dabei hatte sie nur an das von gestern anknüpfen wollen.
Als sie später am Abend in der Hoffnung, dem Tag einen versöhnlichen Abschluss zu geben, ins Büro gekommen war und sich vorgebeugt hatte, hatte der freie Blick in ihren Ausschnitt seine Meinung nicht geändert.
»Meine Frau wartet«, hatte er gesagt und sich an ihr vorbeigedrängt.
So einfach würde er nicht davonkommen.
Sie lehnte den Kopf gegen das Holz der Wohnungstür und atmete tief ein. Am liebsten hätte sie das Licht nicht eingeschaltet, da sie es liebte, im Dunkeln durch die Wohnung zu gehen, bevor sie ins Bett ging. Doch dazu war es zu früh. Mit der Hand tastete sie nach dem Schalter und musste blinzeln. Nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, streifte sie die Schuhe ab und ging in die Küche. Sie bereitete einen Pfefferminztee zu. Da das Getränk zu heiß zum Trinken war, beschloss sie zu duschen, während es abkühlte.
Im Schlafzimmer stutzte sie. Wieso stand die Tür ihres Kleiderschrankes halb offen? Sie war sich sicher, sie am Morgen geschlossen zu haben. Schon allein weil es einen unaufgeräumten Eindruck machte. Mit dem Fuß stieß sie die Tür zu und entledigte sich ihrer Kleider. Sie betrachtete sich im Spiegel, der an der Schranktür befestigt war, und fuhr über ihren flachen Bauch.
Wieso hatte er heute ihren Reizen widerstanden? Oder hatte sie gestern etwas missverstanden? Wohl kaum. Hände, die unter ihre Bluse schlüpften und ihre Brust liebkosten, konnte man nicht missverstehen. Ärgerlich war, sich getäuscht zu haben, die Letzten im Büro zu sein. Rechtzeitig hatte er seine Hände zurückgezogen und war zurückgetreten. Sie selbst hatte es gerade noch geschafft, die Bluse zu richten und den Block und Stift in die Hand zu nehmen, als sich die Tür geöffnet hatte und die Putzfrau hereingekommen war.
Woher sein Meinungswechsel heute kam, konnte sie sich nicht erklären.
Morgen, beschloss sie.
Mal abgesehen von dem angenehmen Nebeneffekt würde es Vorteile mit sich bringen. Besonders da Umstrukturierungsmaßnahmen anstanden. Sie würde ihn in der Hand haben. Das hatte sie bereits. Wenn er nicht mitspielte, konnte sie ihn der sexuellen Nötigung bezichtigen. Lieber wäre ihr eine Affäre, da sie so gleichzeitig seiner Frau eins auswischen konnte.
Unter der Dusche ließ sie sich das Wasser auf den Kopf prasseln.
Ein Rumsen. Erschrocken hielt sie den Kopf aus dem Wasserstrahl. Nichts. In der Wohnung neben ihrer musste etwas umgefallen sein.
Sie schaltete das Wasser ab, hüllte sich in den Bademantel und kehrte in die Küche zurück. Der Tee war abgekühlt. Sie leerte die Tasse in einem Zug und füllte sie neu. Mit dem Tee setzte sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa und stellte die Tasse auf den Tisch. Wenn sie es sich recht überlegte, brauchte sie etwas anderes. Ein Glas Wein oder zwei wären nach so einem Tag das Richtige, um abzuschalten.
Der Schwindel und die Übelkeit schlugen wie aus dem Nichts zu, als sie in der Küche den Korkenzieher suchte. Das Herz raste, und der Magen krampfte sich zusammen. Sie ließ die Flasche fallen, die mit einem Knall auf dem Boden aufschlug. Wein und Splitter spritzten gegen ihre nackten Beine. Sie sackte auf einen Stuhl. Die Muskeln zuckten, und der Schmerz steigerte sich zu einem Dröhnen, als startete ein Flugzeug. Das Herz stockte und galoppierte gleich darauf wie ein Pferd in Panik weiter. In Kürze war sie schweißnass. Übelkeit überrollte sie wie eine Welle. Sie presste die Hand auf den Mund und sprang auf, um ins Bad zu rennen. Im Korridor gaben die Beine nach. Sie strauchelte und stürzte.
EINS
Nur mit Mühe konnte Andrina ein Gähnen zurückhalten. Heute dauerte die Sitzung ewig. Dabei hatten sie mehr als einmal über das diesjährige Herbstprogramm gesprochen, waren aber nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen. Warum tat Elisabeth Veldt sich dieses Mal so schwer damit? Mehrmals hatte die Verlegerin vom Cleve-Verlag Beschlossenes über den Haufen geworfen und diese Sondersitzung am Donnerstagmorgen einberufen.
»Es ist Ende Januar«, hatte sie gesagt. »Wir sollten langsam das definitive Programm haben.«
Andrina schielte zu Lukas Sandmeier, der für den Vertrieb und die Covergestaltung verantwortlich war. Er sah aus, als würde er gleich einschlafen und vom Stuhl fallen. Tatjana, die neben ihm saß, stieß ihn mit dem Ellenbogen an. Elisabeths Sekretärin war wie immer schrill gekleidet. Der leuchtend rote Pullover passte nicht zu der türkisfarbenen Hose. Obwohl es in den Augen wehtat, war es für Andrina ein wohltuender Farbtupfer bei diesem andauernd grauen Wetter.
Lukas unterdrückte ein Gähnen. Andrina konnte es nachempfinden. Die Sitzung wurde zusehends ermüdender. Ähnlich schien es Stefanie, Gabi und Sybille zu gehen, die wie Andrina für das Lektorat zuständig waren. Nur Frederica, die seit Anfang Januar das Lektorinnen-Team verstärkte, saß aufrecht auf ihrem Stuhl und schien Elisabeths Ausführungen aufmerksam und interessiert zu folgen.
Der Marketingverantwortliche, der Andrina gegenübersaß, gähnte ausgiebig, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen.
»Kilian!«, rief Elisabeth.
»Was?« Er richtete sich auf. »Entschuldige, ich bin –«
»Jaja«, unterbrach Elisabeth ihn unwirsch.
»Ich brauche einen Kaffee.« Er legte die Hände auf den Tisch und erhob sich.
»Wir sind gleich fertig. So lange kann das warten.«
Kilian sackte zurück auf den Stuhl.
»Ich möchte nochmals über ›Grauen in den Bergen‹ von Melissa Sonderegger sprechen.«
»Wieso?«, fragte Stefanie.
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Buch in unser Programm aufnehmen sollen.«
»Ich dachte, es sei fix.«
»Das habe ich auch angenommen«, pflichtete Gabi Stefanie bei.
»Mich überzeugen die Pro-Argumente nicht mehr.«
Das unterdrückte Stöhnen war nicht zu überhören. Sie hatten den Krimi ausführlich diskutiert. Bis auf Frederica und Elisabeth waren alle, also die Mehrheit, dagegen gewesen. Zwar war der erste Band ein voller Erfolg gewesen, aber die Fortsetzung knüpfte bei Weitem nicht an die Qualität an.
»Stümperhaft«, war Sybilles Meinung gewesen. »Ein Schulaufsatz hätte mehr Potenzial.«
»Nach diesem qualitativ herausragenden Debüt können wir so was unmöglich veröffentlichen«, hatte Gabi Sybilles Argumente schließlich zusammengefasst. »Zuerst muss die Autorin nochmals darüber. Bevor sie keinen brauchbaren Roman liefert, würde ich den Text nicht einplanen.«
Elisabeth hatte über ihre Köpfe hinweg entschieden, es trotzdem zu machen. Wieso änderte sie jetzt die Meinung?
»Ich kann mich nicht mit ihm anfreunden, nachdem ich ihn erneut gelesen habe, und muss euch zustimmen. So was können wir nicht herausgeben, denn der Cleve-Verlag steht für Qualität. Die Story mutet wirr an und an den Haaren herbeigezogen.«
Andrina war endgültig verwirrt. Es war Elisabeth gewesen, die das Buch bei der letzten Besprechung in den höchsten Tönen gelobt hatte und die Chef-Entscheidung, wie sie es nannte, gefällt hatte.
»Inwiefern?«, fragte Andrina.
»Wie Sybille bei der letzten Sitzung es auf den Punkt gebracht hat: Es ist stümperhaft geschrieben.« Elisabeth holte einige Blätter aus einer Klarsichtmappe und legte sie nebeneinander vor sich auf den Tisch. »Ich habe den Anfang und das Exposé von ›Grauen in den Bergen‹ ausgedruckt.«
Frederica zog die Blätter zu sich und überflog den Text. »Wenn ich das ein zweites Mal lese, muss ich dir recht geben. Die Sprache ist holprig und die Story unausgereift.«
Stefanie nahm Frederica die Blätter ab. Bei der letzten Besprechung war sie nicht dabei gewesen, da sie Ferien gehabt hatte. »Uff«, stieß sie hervor. »Das ist in der Tat keine Glanzleistung. Beim Debüt war es aber ähnlich. Doch nach der Überarbeitung sah der Roman ganz anders aus. Damals haben wir ihr eine zweite Chance gegeben, und es hat sich gelohnt. Vielleicht sollten wir das bei diesem Band ebenfalls machen.«
»Das stimmt. Der erste ist gleich auf Platz eins auf der Bestsellerliste eingestiegen und findet sich auch heute noch unter den ersten zehn«, fügte Gabi an. »Okay, die Arbeit mit Frau Sonderegger war nicht unbedingt angenehm, wie ich während des Lektorats zu spüren bekommen habe, aber es ist das Ergebnis, das zählt.«
Nicht angenehm war untertrieben. Andrina dachte an das mühsame Korrektorat. Es hatte gedauert, bis eine Reaktion gekommen war. Andrina hatte mehrmals nachhaken müssen. Dabei ging es nur um das Ausmerzen von Wortwiederholungen sowie das Einfügen einer Zeile, damit der Buchsatz aufging.
»Drei renommierte Zeitungen haben schweizweit über das Ausnahmetalent berichtet«, sagte Kilian. »Sogar im Ausland wurde das Buch angekündigt. Das alles, bevor es überhaupt in die Buchhandlungen kam.«
»Wir müssen bald nachdrucken«, warf Lukas ein.
»Wenn ich es richtig mitbekommen habe, ist die Anfrage eines Verlages aus dem englischsprachigen Raum eingegangen, der ihn übersetzen möchte.«
»Das ist richtig«, erwiderte Tatjana. »Nach diesem Debüt hoffen alle auf weitere Krimis aus ihrer Feder. Das zusammengefasst ist nicht nur die beste Werbung für die Autorin, sondern auch für uns. Ein Folgeband drängt sich auf. Nach diesem Senkrechtstart ist es sogar Pflicht, und wir wären dumm, wenn wir den zweiten Band nicht veröffentlichen würden.«
Andrina war endgültig verwirrt. Das war widersinnig. Die vormalige Kontra-Fraktion mutierte zur Pro-Fraktion?
»Ich weiß. Ich weiß.« Elisabeth hob die Hände. »Es ist nicht nur der Schreibstil. Der Inhalt überzeugt mich auch nicht. Es ist, als würde sich die Autorin auf ihren Lorbeeren ausruhen und hätte einfach etwas hingeschludert.«
»Wie Stefanie gesagt hat, beim letzten Mal verlief der Start ebenfalls harzig«, hielt Sybille dagegen. »Die Autorin ist nochmals darübergegangen, und es ist ein wunderbarer, spannender Krimi geworden, der allen unter die Haut geht.«
»Ich stimme zu. Man kann sicher mit der Autorin darüber sprechen, was verbessert werden kann«, fügte Frederica an. »Es wird in ihrem Interesse sein, an den Erfolg anzuknüpfen.«
Na ja, dachte Andrina. Warte, bis du mit ihr Kontakt hast. Sie hatte es damals zu voreilig von Elisabeth gefunden, den Vertrag mit Melissa Sonderegger abzuschließen. Wobei sie zugeben musste, der Aufwand hatte sich gelohnt. Nicht nur der erste Platz, sondern auch die Verkaufszahlen konnten sich sehen lassen. Es war, wie Tatjana gesagt hatte, in beiderlei Interesse, einen Folgeband herauszugeben.
»Ich schlafe nochmals darüber«, sagte Elisabeth und schaute auf ihre Armbanduhr. Zur allgemeinen Erleichterung beendete sie die Sitzung. Sie nahm den Notizblock und verließ eilig den Raum.
»Ich wüsste nicht, was ich an Elisabeths Stelle machen würde«, sagte Gabi, als sie zur Verlagsküche abbogen. »Tee oder Cappuccino?«
»Tee. Kaffee verursacht mir nach wie vor Übelkeit. Schon allein den Geruch kann ich nicht vertragen.«
»Du hast gesagt, es sei besser.«
»Das ist es.« Andrina legte die Hand auf den Bauch, der sich leicht nach vorne wölbte. »Pünktlich zu Beginn des vierten Monats hat es sich massiv verbessert. Mir ist nicht mehr dauernd schlecht. Es gibt nur noch wenige Speisen und Getränke, bei denen mir übel wird. Dazu gehört der Kaffee.« Leider – Andrina liebte Cappuccino.
Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank und schaute Gabi zu, die Wasser in den Teekocher füllte.
»Kräutertee?«
»Nein. Lieber den Früchtetee mit Granatapfel.«
Gabi reichte ihr das Gewünschte.
»Hier steckst du«, sagte Kilian. »Lisa Welti.« Er hielt Gabi das Telefon hin. »Sie hat eine Frage zum Lektorat.«
Andrina nahm ihre Tasse und verließ die Küche. Vor der halb geöffneten Tür zu Stefanies und Sybilles Büro ließ sie ein Fluch innehalten. Andrina klopfte und stieß die Tür ganz auf. Stefanie stand am Fenster und hatte Andrina den Rücken zugekehrt. Energisch drückte sie auf den Tasten des Telefons herum, bevor sie es sich an das Ohr hielt.
»Geh ran«, sagte sie. »Verdammt, wieder die Combox. Bitte ruf mich zurück. Es ist dringend!« Sie unterbrach das Gespräch und starrte aus dem Fenster. »Katastrophe«, murmelte sie.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Andrina.
Stefanie fuhr herum. Sie wurde blass, bevor ihre Gesichtsfarbe zu Rot wechselte. »Wie lange stehst du schon da?«, fuhr sie Andrina an.
»Ich bin gerade reingekommen.«
»Was willst du?« Ihre Stimme wurde schneidender.
»Zu Sybille«, wich Andrina aus.
Stefanie musterte Andrina eindringlich und zupfte an einer Strähne ihrer zu einem Rossschwanz zusammengebundenen rotblonden Haare. »Was willst du von ihr?«
»Ist nicht so wichtig.« Andrina zog es vor, den Rückzug anzutreten.
Obwohl Andrina zuerst keine Lust gehabt hatte, bei dem nebligen Nieselwetter in die Stadt zu gehen, war Gabis Idee gut gewesen, die Mittagspause für einen Spaziergang zu nutzen.
»Das gibt einen klaren Kopf«, hatte sie erklärt.
Sie hatten sich ein Sandwich geholt und schlenderten den Graben entlang. Vor dem Schlossplatz bogen sie links ab. Andrina blieb stehen und schaute nach oben. Immer wenn sie in der Altstadt war, nahm sie sich die Zeit, um die bemalten Unterseiten der Dachgiebel anzuschauen. Jedes Mal entdeckte sie neue Details. Heute waren es die Ranken mit den Sonnenblumen.
»Es ist eine schwierige Entscheidung«, sagte Gabi und kehrte zum Gesprächsthema zurück, das sie unterbrochen hatten, als sie die Sandwiches gekauft hatten. Sie bogen abermals ab und schlenderten den eingefassten Stadtbach entlang. »Melissa Sondereggers Debüt hat wie eine Bombe eingeschlagen. Diese Lobeshymnen in den Medien. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas stört mich an dem Ganzen.«
»An welchem Ganzen?«
»An ihrem ersten Buch.«
»Was meinst du?«, fragte Andrina und steckte den letzten Bissen in den Mund. Sie liefen an der Gelateria FAB & JOHN vorbei. »Die ist ja offen. Ich habe Lust auf eine Glacé.«
»Ich hätte auch … Aber ich sollte erst den Weihnachtsspeck wieder loswerden.«
Andrina wählte ihre Favoriten, dunkle Schokolade und Ciao Belli, eine Komposition aus Erdbeere, Zitrone und Basilikum, und kehrte mit dem Cornet zu Gabi zurück.
»Der Krimi ist gut«, griff Gabi das Thema wieder auf, als sie ihren Weg fortsetzten. »Im Gegensatz zur Autorin.«
»Vielleicht ist es die, die dich stört. Der Mensch dahinter.«
Gabi biss von ihrem Sandwich ab. »Nun, diese Fortsetzung …«, sagte sie mit vollem Mund. Sie erreichten die Rathausgasse. »Nach diesem Erfolg ist es fast Pflicht. Trotzdem weiß ich nicht, ob es ratsam ist. Wenn der nächste Band ein Flop wird … Was ist denn hier los?« Sie zeigte nach vorne.
Vor einem der Häuser stand eine Ambulanz. Einige Personen waren stehen geblieben und reckten die Hälse. Ein Polizeibeamter in Uniform sprach auf sie ein und unterstrich das Gesagte mit Gesten.
Die Leute gingen weiter. In einiger Entfernung blieben sie erneut stehen und schauten zurück.
Ein Sanitäter umrundete die Ambulanz und stieg ein. Der Wagen fuhr ohne Blaulicht ab und gab den Blick auf ein anthrazitfarbenes Auto frei, das Andrina gut kannte.
»Das ist Marcos Auto«, sagte Gabi.
Wie zur Bestätigung erschienen zwei Personen in weißen Ganzkörperanzügen. Sie streiften die Kapuzen ab, und Andrina erkannte Marco Feller und Max Wagner von der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Aargau.
Ein Leichenwagen fuhr durch das Obertor und parkte hinter Marcos Wagen. Der Bestatter ließ das Fahrerfenster herunter, als Wagner auf ihn zuging. Er beugte sich zu ihm herab und sagte einige Worte.
»Es war schrecklich«, sagte jemand neben Andrina. Zuerst dachte sie, die Frau habe zu ihr gesprochen, bemerkte aber, dass sie mit einem Mann, der Anfang sechzig sein musste, redete. »So, wie sie da lag.«
»Du hast sie gefunden?«, fragte der Mann.
»Ja. Nein. Ich hörte einen Schrei und habe die offene Wohnungstür bemerkt. Ich bin hineingerannt, und da lag sie. So eine Tragödie.«
»Um ehrlich zu sein, wundert es mich nicht.«
»Du hast recht – Sodom und Gomorrha. Aber heute ist ja alles erlaubt.«
»Lass uns verschwinden.« Gabi zupfte an Andrinas Arm. »Ich habe keine Lust, mit den Gaffern in einen Topf geworfen zu werden.« Gabi machte eine ausladende Geste mit der Hand, die die Menschentraube einschloss, die sich in der Gasse versammelte und mit jeder Sekunde größer wurde.
»Du hast recht.« Andrina wollte sich abwenden, als sie eine Bewegung in dem Eingangsbereich ihnen gegenüber wahrnahm. Die Person wich nach hinten zurück. »Ist das da Stefanie?«
»Wo?«
Andrina deutete zur Tür. Aus dem Eingangsbereich huschte eine Person. Sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Auf der Seite lugten lange rotblonde Haare heraus. In gebeugter Haltung eilte sie zum Obertor und verschwand.
»Keine Ahnung«, erwiderte Gabi. »Vermutlich nicht. Was sollte sie hier wollen?«
***
Andrina bog mit dem Velo in ihre Einfahrt. Heute wünschte sie sich, das Auto genommen zu haben. Auf dem Rückweg von Seraina hatte es zu nieseln angefangen. Die Nässe drang durch die Jacke und den Stoff ihrer Jeans.
Sie hob Rebecca aus dem Kindersitz. Ihre Tochter hatte die bessere Kleidung für dieses Wetter an. Mit der roten Regenhose und der roten Regenjacke mit den Leuchtstreifen sah sie wie ein Feuerwehrmann aus.
Rebecca lief zur Straße und stampfte mit den Füßen in einer Pfütze. Wasser spritzte nach allen Seiten.
»Lass uns ins Haus gehen«, sagte Andrina.
Rebecca reagierte nicht und setzte sich auf den Boden. Mit der Hand schlug sie auf das Wasser. Andrina seufzte. Zum Glück war die Pfütze nicht tief. Rebecca und Wasser hatten die gleiche Anziehungskraft wie ein Eisenspan und ein Magnet.
»Vielleicht ist Papà zu Hause.«
Rebecca sprang auf und rannte zum Haus. Sie stürmte ins Innere, als Andrina die Tür aufgeschlossen hatte.
»Papà!« Sie eilte ins Wohnzimmer.
»Stopp! Zuerst Schuhe und Regenkleider ausziehen.«
Rebecca ignorierte sie und verschwand.
»Piccola, du bist nass«, schallte Enricos Protest aus dem Wohnzimmer. Er kam mit Rebecca an der Hand ins Entrée. Jedes Mal wenn sie die beiden nebeneinander sah, fiel ihr auf, wie stark Rebecca und Enrico sich ähnelten, obwohl alle behaupteten, Rebecca sei eine kleine Kopie von Andrina. Das traf auf die Gesichtsform und die dunkelbraunen, leicht gewellten Haare zu. Doch Rebecca hatte Enricos dunkleren Teint und die schwarzen Augen, die das Erbe seiner süditalienischen Mutter waren.
Enrico küsste Andrina zur Begrüßung, bevor er sich daranmachte, Rebecca die nasse Regenbekleidung auszuziehen. Seit Enrico Ende letzter Woche von der stationären Reha in die ambulante gewechselt hatte, folgte Rebecca ihm wie ein Schatten.
Enrico sah müde aus. Wie jedes Mal, wenn er einen Reha-Tag hinter sich hatte.
Aufgrund eines Mordanschlags im vergangenen November hatte er im Koma gelegen. Als er daraus erwacht war, war er eine Woche später in die Rehaklinik Bellikon verlegt worden. Dort hatte er sich während zwei Monaten ins Leben zurückgekämpft. Die körperlichen Fähigkeiten hatte er weitestgehend zurückerlangt, brauchte aber für vieles länger, was ihm zu schaffen machte.
Hinderlich war die linke Hand, die nicht ganz wiederhergestellt war. Sie war kraftlos, und die Koordination von Bewegungsabläufen funktionierte nicht einwandfrei.
Hinzu kamen Einschränkungen bei der kognitiven Leistungsfähigkeit. Die Konzentration ließ schnell nach, und er ermüdete rasch. Zudem war er lärmempfindlich.
»Hunger!«, rief Rebecca und rannte in die Küche.
»Ich habe den Tisch gedeckt«, sagte Enrico.
Das sollst du nicht, lag Andrina auf der Zunge. Knapp konnte sie es zurückhalten.
»Ich bin kein Invalide«, hatte er ihr ärgerlich erklärt, als sie ihn zu einem früheren Zeitpunkt darauf hingewiesen hatte, sich lieber zu schonen. »Teller, Gläser, Brot und Käse kann ich ohne Probleme auf den Tisch stellen.«
Andrina legte den Arm um seine Taille, und sie folgten Rebecca. »Wie war es?«, fragte sie, und sie setzten sich an den Tisch. »Langsam«, sagte sie zu Rebecca, als diese zwei Scheiben Brot auf ihren Teller legte und Käse in den Mund stopfte. »Eins nach dem anderen.«
»Nicht besonders zufriedenstellend. Heute gab es Gedächtnistraining am Computer, und es lief nicht so gut wie beim letzten Mal. Die Zugfahrt war mühsam. Der Zug hatte Verspätung, und ich habe den Anschluss verpasst.«
Enrico durfte nicht Auto fahren, solange er die Fahrtauglichkeit nicht geprüft hatte. Der Arzt hatte erklärt, bevor er sich wieder ans Steuer setzen durfte, musste neben einer körperlichen eine neuropsychologische Untersuchung durchgeführt werden.
»Es gibt bessere und schlechtere Tage.« Andrina drückte Enricos Hand. »Das ist normal. Du musst Geduld haben.«
»Das ist nicht ganz einfach. Ich will schnell an die Arbeit zurück. Immerhin habe ich ein Pharmaunternehmen, das es zu leiten gilt.«
»Ueli Siebert hat alles wunderbar im Griff.« Der COO von JuraMed hatte stellvertretend die Leitung übernommen.
»Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen«, hatte Enrico wiederholt betont.
»Mir ist klar, lernen zu müssen, mit der Situation umzugehen. Das ist nicht einfach, da ich bisher die Kontrolle über meinen Körper hatte. Nun gibt er vor, was ich wann und wie lange tun kann. Genug von mir. Ich will nicht jammern, da alles schlimmer sein könnte. Wie war dein Tag? Ihr hattet einen riesigen Aufruhr, nehme ich an.«
»Wieso Aufruhr? Es war wie immer.«
»Nach dem Tod dieser Autorin.«
»Wovon sprichst du?«
»Das weißt du nicht?« Enrico nahm das Handy von der Küchenanrichte und rief die Onlinezeitung auf. »Okay, der Bericht ist erst am Nachmittag aufgeschaltet worden.« Er reichte Andrina das Gerät.
»Aarauer Erfolgsautorin ist tot«, lautete der Titel. Darunter hatte es ein Foto von dem Haus in der Altstadt, an dem Andrina in der Mittagspause mit Gabi vorbeigekommen war. Mehr, als es anzustarren, konnte Andrina nicht, als sie Marcos Auto und den Leichenwagen erkannte.
»Ich war dort«, flüsterte sie.
»Du warst da?«, wiederholte Enrico entsetzt.
»Nicht so, wie du denkst. Ich bin mit Gabi in der Mittagspause durch die Stadt spaziert. Wir haben uns schnell verzogen, als wir das Aufgebot sahen.«
Sie überflog den Text unter dem Bild.
Wie inzwischen klar ist, handelt es sich bei der heute Vormittag in einer Wohnung in der Aarauer Altstadt aufgefundenen Frau um die Erfolgsautorin von »Hexendämmerung«, Melissa Sonderegger. Der Grund für den unerwarteten Tod ist unklar, wie der Pressesprecher der Kantonspolizei Aargau verlauten ließ. Ob ein Gewaltverbrechen zugrunde liegt, könne zum jetzigen Zeitpunkt weder bestätigt noch ausgeschlossen werden.
»Gewaltverbrechen?«, entfuhr es Andrina erschrocken, und sie las weiter.
Die Frau habe zwei Tage unbemerkt in der Wohnung gelegen und sei erst von ihrer Mitbewohnerin entdeckt worden, die heute heimgekehrt war.
Nach dem Essen räumten sie gemeinsam den Tisch ab. Enrico reichte Rebecca die Teller, die sie in den Geschirrspüler stellte. Stolz klappte sie die Tür zu.
Das Telefon klingelte.
»Ich«, rief Rebecca und rannte aus der Küche. Bevor Andrina ihr ins Wohnzimmer gefolgt war, hatte Rebecca das Telefon in der Hand.
»Hallo?« Sie lauschte und reichte es an Andrina weiter.
»Wer ist dran?«, fragte Andrina.
»Eine Frau.«
»Ich bitte dich, morgen um neun Uhr in den Verlag zu kommen«, sagte Elisabeth ohne Einleitung.
»Morgen ist –«
»Ich weiß, es ist Freitag und nicht dein Verlagstag. Wir haben eine Krisenbesprechung.«
»Kann ich per Teams teilnehmen? Seraina arbeitet, und ich finde so kurzfristig niemanden, der für Rebecca schaut.«
»Nein. Deine Anwesenheit vor Ort ist erwünscht. Frag deine Schwester oder Enrico.«
Bevor Andrina etwas erwidern konnte, hatte Elisabeth aufgelegt.
ZWEI
Andrina hastete die Treppe nach oben und betrat außer Atem die Büroräume des Verlags. Aus dem Sitzungszimmer drang Stimmengemurmel.
Seraina hatte sich gestern Abend bereit erklärt, Rebecca bis zum Mittag zu übernehmen. Wie so oft hatte Andrina sich gefragt, was sie ohne ihre Schwester machen würde. Seraina hatte eine Physiopraxis und an drei Tagen in der Woche Patienten.
Andrina war gerade abgefahren, als Seraina anrief. Regina habe erbrochen, und es sei keine gute Idee, Rebecca zu bringen. Andrina war nichts anderes übrig geblieben, als umzukehren und Enricos Angebot anzunehmen, da ihre Nachbarin einen Arzttermin hatte und nicht einspringen konnte. Ruth Bischofsberger hatte bereits öfter ausgeholfen, wenn Not am Mann war.
Andrina klopfte an die Tür zum Sitzungszimmer und öffnete sie.
»Schön, dass du endlich den Weg gefunden hast«, begrüßte Elisabeth sie. »Pünktlichkeit ist dir offenbar nicht bekannt.«
»Ich musste Rebecca erst –«
»Wenn du das Familienleben und den Job nicht unter einen Hut bringst, solltest du überlegen, ob –«
»Ob ich lieber kündige«, fauchte Andrina sie an. »Du hast recht, das sollte ich in Betracht ziehen.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
»Stopp.« Tatjana stand auf. »Andrina kommt außerhalb ihrer Präsenzzeit, und du hast sie erst gestern Abend verständigt, was ich nicht fair finde. Ich an deiner Stelle hätte ihr offeriert, Rebecca mitzubringen.«
Elisabeth öffnete den Mund, klappte ihn aber zu Andrinas Erstaunen gleich wieder zu.
»Ich finde es toll, wie Andrina sich organsiert hat«, fuhr Tatjana fort. »Da wäre eher ein Dankeschön als eine Rüge angebracht.«
Elisabeth funkelte Tatjana an, sagte zu Andrinas erneuter Verwunderung aber nichts. Andrina hätte es nicht gewagt, aber Tatjana genoss eine Sonderstellung. Wenn eine Elisabeth die Meinung sagen konnte, war sie es.
»Setz dich, Andrina.« Elisabeth zeigte auf den Stuhl neben Tatjana. »Wir sind fast fertig, und ich fasse zusammen. Ich nehme an, du hast von Melissa Sondereggers Ableben gehört?«
Andrina nickte.
»Die Polizei hat mich kontaktiert«, fuhr Elisabeth fort. »Herr Wagner sagte, sie würden gerne mit den Mitarbeitenden des Verlags sprechen, die mit ihr Kontakt hatten. Ihr unerwarteter Tod ist tragisch, aber ich frage mich, wieso die Polizei uns Fragen stellen will. Das bringt rein gar nichts.«
Las sie keine Zeitung? Auch in den Radionachrichten war am Morgen über den Tod berichtet worden. Inzwischen wurde wiederholt die Frage gestellt, ob es Mord war. Bisher hatte die Polizei es weder bestätigt noch dementiert.
»Bei einem außergewöhnlichen Todesfall schauen sie genauer hin«, sagte Andrina. »Sie wollen sichergehen, dass keiner nachgeholfen hat.«
»Woher weißt du das?«, fragte Elisabeth scharf.
»Das ist die normale Vorgehensweise«, schaltete sich Gabi ein. »Melissa Sonderegger war jung, und soweit ich in den Medien gelesen habe, bestanden keine gesundheitlichen Probleme. Daher darf man einen gewaltsamen Tod nicht außer Acht lassen.«
»Wieso wollen sie ausgerechnet mit uns sprechen? Ich nehme an, keiner von euch war an dem fraglichen Tag mit ihr zusammen.«
»Das ist auch normal«, sagte Andrina.
»Finde ich nicht. Wie gesagt, wir gehören nicht zum näheren Umfeld.«
»Indirekt tun wir das. Ihr Buch ist im Cleve-Verlag erschienen.«
Elisabeth spielte mit der Zigarettenpackung, die vor ihr auf dem Tisch lag. Es war offensichtlich, wie gerne sie sich eine angesteckt hätte. Dabei hatte sie sich zu Jahresbeginn vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören. Das hatte ganze zwei Tage funktioniert. Zwei Tage, in denen sie unausstehlich gewesen war.
»Was das bringen soll, steht für mich in den Sternen. Ihr Tod ist, wie gesagt, tragisch. Da wir am wenigsten damit zu tun haben, möchte ich nicht in diese Sache hereingezogen werden.«
Es erschreckte Andrina, wie sachlich Elisabeth über den Tod der Autorin sprach. Sachlich war zu wenig. Es klang kaltherzig. Obwohl Melissa Sonderegger alles andere als angenehm gewesen war, war der Tod das Letzte, das Andrina ihr gewünscht hätte.
»Wir stecken wegen des Buches mittendrin«, sagte Lukas und erntete einen wütenden Blick.
»Ich gehe davon aus, die Polizei wird wissen wollen, ob es Vorkommnisse gab und was für ein Verhältnis wir hatten. Wie ich euch vorhin gesagt habe, werden die Beamten gleich da sein. Ich habe keine Lust auf sich hinziehende Befragungen und möchte nicht im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen. Gestern hatte ich ein Gespräch mit Herrn Wagner. Ich habe Frau Sonderegger gelobt. Die Zusammenarbeit verlief gut, und wir hatten ein herzliches Verhältnis zu ihr.«
Andrina glaubte sich verhört zu haben.
»Ich bitte euch, ähnliche Aussagen zu machen und diese so knapp wie möglich zu halten. Schlechte Publicity können wir nicht gebrauchen.«
»Wir sollen lügen?«, rief Kilian entrüstet.
»Nicht lügen. Einfach nicht alles erzählen und schönreden.«
»Herzliches Verhältnis ist nicht schöngeredet, sondern voll gelogen«, warf Sybille ein.
»Ich hatte im Gegensatz zu euch keine Probleme mit der Frau und kann nicht nachvollziehen, wieso ihr euch mit ihr so schwertut.«
»Da gibt es eine einfache Erklärung«, sagte Kilian. »Sie durfte es sich mit dir nicht verscherzen. Du bist diejenige, die das letzte Wort hat.«
»Schluss jetzt!« Elisabeth schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wenn ihr Teil der Ermittlungen werden wollt, ist es eure Angelegenheit. Es ist eine wohlgemeinte Bitte meinerseits. Es wird die Konsequenz nach sich ziehen, dass nicht nur ihr, sondern auch der Verlag in den Fokus gerät. Darauf habe ich keine Lust. Zumal keiner von uns mit ihrem Tod zu tun hat.«
Elisabeths Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, nahm das Handy und eilte aus dem Raum.
»Klopf, klopf.« Gabi streckte den Kopf zur Bürotür herein. »Darf ich reinkommen?«
»Klar.« Andrina hatte aus dem Fenster gestarrt und drehte sich um, als Gabi eintrat.
»Ich kann mich nicht konzentrieren.« Gabi schloss die Bürotür.
»Da bist du nicht die Einzige.« Andrina lehnte sich gegen die Fensterbank.
»Ich frage mich, was in Elisabeth gefahren ist.« Gabi setzte sich seitwärts auf Lukas’ Stuhl und stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Lehne ab. »Sie hat regelmäßig ihre Phasen, aber so?«
»Das geht für mich eindeutig zu weit. Immerhin ist ein Mensch tot, und Melissa Sonderegger wurde vielleicht ermordet.«
Gabi fuhr mit der Zeigefingerspitze über die Lehne. »Was anderes. Möchtest du kündigen, wie du es heute angedeutet hast?«
Andrina brauchte einige Sekunden, bis sie mit dem abrupten Themenwechsel klarkam. »Ich weiß es nicht.«
In der Vergangenheit hatte Andrina öfter kurz davorgestanden, wenn Elisabeth ausfallend gewesen war, hatte es aber am Ende sein gelassen. Ihr machte die Arbeit Spaß, und sie schätzte die Kolleginnen und Kollegen. Sie waren ein wunderbares Team, und Andrina würde es bedauern, nicht mehr dazuzugehören.
»Du kennst Elisabeth«, fuhr Gabi fort. »Raue Schale, weicher Kern.«
Von dem weichen Kern war seit Längerem nichts mehr zu spüren gewesen, und die Schale empfand Andrina inzwischen als hart wie Stein. Die ehemals herzliche Frau wurde seit Jahren verbitterter. Andrina hatte keine Ahnung, woran es lag. Der Verlag stand gut da und machte jedes Jahr mehr Umsatz. Keine Selbstverständlichkeit in der heutigen Zeit in dieser Branche. Von privaten Problemen wusste Andrina nichts. Gab es neuen Ärger mit den Zwillingen? Mit Ruben wahrscheinlich weniger. Sein Bruder Richard war es, der einmal straffällig geworden war. Seitdem er eine Lehre als Schreiner begonnen hatte, lief es gut, wie Elisabeth erzählt hatte. Obwohl das nicht der Wahrheit entsprechen musste. Elisabeth würde nicht zugeben, wenn etwas im Argen lag. Das war für sie gleichbedeutend mit Schwäche, und Schwäche wäre das Letzte, das sie sich eingestehen würde.
»Ich würde mit einer Kündigung bis nach der Geburt warten«, sagte Gabi.
»Du hast recht.« Mehr als einmal hatte sie überlegt, wie es mit einem zweiten Kind weitergehen würde, war aber zu keinem Schluss gekommen. Seraina hatte zwar signalisiert, auch beim zweiten Kind an zwei Tagen in der Woche, in der Regel dienstags und donnerstags, Tagesmutter zu sein, doch Andrina war sich nicht sicher, ob sie das ihrer Schwester zumuten wollte. Andrina hatte das Gefühl, ihre Schwester auszunutzen.
»Wie geht es Enrico?«, fragte Gabi.
»Besser, obwohl es an manchen Tagen aussieht, als mache er Rückschritte. Er ist zu ungeduldig.«
»Das heißt, es war zu früh, von stationärer auf ambulante Reha zu wechseln?«
»Ja und nein. Er sollte sich mehr schonen. Ich finde, er mutet sich zu viel zu. Am Montag war er bei JuraMed, obwohl er krankgeschrieben ist. Er wollte sich ein Bild vor Ort machen. Dabei muss er sich keine Sorgen machen. Es läuft alles bestens.« Andrina setzte sich auf ihren Stuhl und streckte die Beine von sich. »Auch heute wird er sich nicht schonen. Er hütet Rebecca. Ich hoffe, ich sitze hier wegen der Befragungen nicht zu lange fest und kann bald gehen.«
»Was hältst du von Elisabeths Aufforderung?«
»Ich finde es befremdlich und kann ihre Instruktion nicht nachvollziehen«, erwiderte Andrina. »Hundertprozentig fällt ihr das auf die Füße. Das Gleiche gilt für diejenigen, die mitmachen. Dabei gibt es keinen Grund zu lügen. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen und nichts zu verbergen.« Oder hatte Elisabeth das etwa?
»Elisabeth hat Angst, es könnte auf den Verlag zurückfallen«, sagte Gabi.
»Wenn keiner etwas getan hat, wird es das nicht.«
»Die Aufforderung, ihre Anweisungen zu befolgen, ist zu spät.«
»Wieso zu spät?«
»Ich habe Marco erzählt, was für eine dumme Kuh Melissa Sonderegger war. Bei dieser Aussage werde ich bleiben müssen. Ansonsten wecke ich erst recht die Aufmerksamkeit der Ermittler.«
»Wurde Marco der Fall zugeteilt? Er war mit Max vor Ort, als wir gestern in der Stadt waren.«
Seit vergangenem November wohnte Gabi mit ihrem gemeinsamen Sohn wieder bei Marco. Zuerst hatte sie behauptet, es handle sich wegen des Rohrbruchs in dem Block, in dem ihre Wohnung war, nur um ein vorübergehendes Asyl. Inzwischen war klar, die beiden hatten wieder zueinandergefunden.
»Nein, Max hat den Fall Samuel Häusermann und Silvan Brogli zugeteilt.«
Andrina stöhnte auf. Ausgerechnet Brogli. Sie sah den Beamten mit der runden, gedrungenen Gestalt und den sich zunehmend lichtenden grauen Haaren vor sich. Die schmalen Lippen waren stets missbilligend zusammengekniffen. Bereits mehrmals war Andrina mit ihm aneinandergeraten. Er hatte von ihrer ersten Begegnung an etwas gegen Andrina gehabt. Wieso, konnte sie nicht sagen. Zu ihrem Bedauern gehörte er offenbar weiterhin zum Team. Trotz Personalknappheit hätte sie ihn an Max Wagners Stelle längst entlassen. Dieser Mann verursachte mehr Probleme, als diese zu lösen.
»Ursprünglich wurde Marco von Max die Hauptverantwortung übertragen«, fuhr Gabi fort. »Als klar wurde, dass die Autorin beim Cleve-Verlag veröffentlicht hat und ich mit drinstecke, wurde er aufgrund von Befangenheit abgezogen und der Fall Brogli übertragen.«
»Du steckst mit drin?«
»Das ist falsch formuliert. Ich bin indirekt involviert, da ich mit Melissa Sonderegger Kontakt hatte.«
»Du hast also Marco erzählt, dass sie eine Schnepfe war?«
»Ja. Und das nicht erst gestern. Wir haben schon früher über sie gesprochen, als ich das Lektorat machen und den Buchklappentext für sie entwerfen musste. Ich habe erzählt, wie wir alle über sie stöhnen. Das ist nicht verboten. Du sprichst mit Enrico auch über deine Arbeit.« Der letzte Satz klang defensiv.
»Das habe ich nicht gemeint. Wieso hast du es eben in der Sitzung nicht erwähnt?«
»Glaubst du, ich wollte Elisabeth noch mehr in Fahrt bringen?«
»Nun erzählen wir alle aber, wie nett Melissa Sonderegger gewesen ist. Was für eine angenehme Person sie war.«
Gabi schlug die Hand vor den Mund. Sie stand auf und ging im Raum auf und ab. »Ich hätte mein Gehirn einschalten und sie darauf hinweisen sollen, ungeachtet des Donnerwetters, das über mich hereingebrochen wäre. Mit diesen Aussagen ziehen wir vom Verlag erst recht das Augenmerk auf uns.«
»Genau das will ich damit sagen. Marco arbeitet nicht am Fall mit, aber die gegensätzlichen Aussagen werden trotzdem rauskommen und Fragen aufwerfen.«
»Und nun?«
»Lukas wird gerade befragt.«
»Das könnte man als seine Ansicht darlegen und wäre normal. Nicht jeder mag jeden.«
»Sybille und Stefanie wurden bereits befragt.«
»Glaubst du, sie haben sich an Elisabeths Anweisungen gehalten?«
»Es ist anzunehmen, so eingeschüchtert, wie die beiden ausgesehen haben.«
Wut keimte auf. Wie konnte Elisabeth sie dazu zwingen, Unwahrheiten zu sagen? Was war dabei, wenn keiner Melissa Sonderegger als Mensch geschätzt hatte, die Zusammenarbeit mit ihr mühsam gewesen war und sich jeder davor gedrückt hatte? Wieso sollte der Verlag so in den Fokus der Ermittlungen rücken? Die Frau war es nicht wert, sich Probleme zu generieren, wenn sie logen. Doch dazu war es zu spät. »Du wirst bei dem bleiben müssen, was du Marco erzählt hast, wenn auch in abgeschwächter Form, sonst ist es nicht glaubhaft und schürt Misstrauen.«
»Was machst du? Wenn ich allein über sie schimpfe, bin am Ende ich verdächtig.«
»Hallo, ihr zwei.« Lukas kam in den Raum und ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. »Oh Mann. Bei diesem Typ hat man das Gefühl, schuld an allem zu sein.« Er nahm die Mineralwasserflasche, die auf seinem Pult stand, und trank gierig einige Schlucke. »Du sollst zu ihnen kommen, Andrina.«
Unschlüssig, was sie tun sollte, hielt Andrina vor dem Sitzungszimmer inne. Hinter der Tür waren Stimmen zu hören. Die von Silvan Brogli und Samuel Häusermann. Was die beiden miteinander besprachen, konnte Andrina nicht verstehen.
Andrina fasste einen Entschluss und klopfte.
Das »Herein« folgte augenblicklich.
»Frau Kaufmann«, sagte Brogli.
»Bianchi«, korrigierte Häusermann, wofür Andrina dankbar war. Warum konnte dieser stets missgelaunte Mann nicht endlich begreifen, dass sie seit eineinhalb Jahren mit Enrico verheiratet war und dessen Namen angenommen hatte?
Brogli schaute sichtlich irritiert zu Häusermann.
»Sie heißt Andrina Bianchi«, wiederholte er und kam auf Andrina zu. Zwinkerte er ihr etwa zu, als er ihr die Hand reichte?
Broglis Miene verfinsterte sich weiter. Dieser Mann hatte grundsätzlich schlechte Laune. Zumindest in ihrer Gegenwart.
»Bitte setz dich.« Häusermann machte eine Geste zu den Stühlen. Einer war ein Stück vom Tisch weggeschoben. Dort musste Lukas gesessen haben.
Häusermann kehrte auf die andere Seite des Tisches zurück. Das nasskalte Wetter machte ihm offensichtlich zu schaffen, da heute das Hinken deutlich zu sehen war, das eine Spätfolge eines komplizierten Beinbruchs nach einem Skiunfall vor einigen Jahren war.
Brogli und Häusermann setzten sich Andrina gegenüber. Häusermann zeigte auf die Karaffe mit Wasser. Andrina schüttelte den Kopf.
»Wie geht es Enrico?«, fragte Häusermann.
Auf Small Talk hatte Andrina keine Lust. Sie wollte das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Gut.«
»Wir wollten ihn in Bellikon besuchen, aber bei dem ganzen Chaos zu Hause haben wir es nicht geschafft. Susanna ist mit den Zwillingen völlig absorbiert. Immerhin bekommt sie allmählich so etwas, das man als Routine bezeichnen könnte.«
Anfang Dezember waren die Zwillinge per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Ursprünglich war die Geburt auf Anfang Januar vorgesehen gewesen, aber es hatte Komplikationen gegeben. Was genau, hatte Häusermann nicht erzählt, als er angerufen und Andrina über Nualas und Noels Geburt informiert hatte.
Andrina fiel auf, wie müde Häusermann aussah. Er hatte Ringe unter den Augen und war blass.
»Wenn das so weitergeht, wird Susanna nicht mehr in den Dienst zurückkehren«, sagte Häusermann. »Dabei können wir es uns nicht leisten, wenn zusätzlich sie ausfällt. Bis wir Ersatz haben, dauert es.«
»Gib ihr Zeit«, erwiderte Andrina. »Der Anfang ist allgemein nicht leicht. Ihr müsst euch aneinander gewöhnen.« Susanna würde nach dem Mutterschaftsurlaub nicht in den Beruf zurückkehren, war Andrina überzeugt. Susanna hatte entsprechende Andeutungen gemacht, als sie einmal telefoniert hatten.
»Es ist mir egal, ob sie wieder arbeitet oder nicht. Sie sollte sich entscheiden. Solange sie das nicht macht, sucht Max keinen Ersatz. Uns wächst die Arbeit über den Kopf.«
»Daher haben wir keine Zeit für Gespräche, die damit nichts zu tun haben«, knurrte Brogli.
Häusermann öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, was Andrina erstaunte. Normalerweise verwies er Brogli in seine Schranken. Besonders, wenn er sich dieses Tonfalls bediente.
»Kennen Sie Frau Sonderegger?«, fragte Brogli.
»Kennen ist zu viel gesagt. Wir hatten Kontakt im Rahmen des Korrektorats ihres Krimis.«
»Korrektorat – was ist das?«
»Der Text bekommt dabei den letzten Schliff. Die Druckvorlage wird vor allem hinsichtlich Rechtschreibung, Grammatik und Typografie abschließend überprüft und letzte Fehler ausgemerzt, bevor er für den Druck freigegeben wird. Ich maile der jeweiligen Autorin, dem jeweiligen Autor die Druckfahne mit meinen Anmerkungen, und sie oder er gibt mir die Korrekturen beziehungsweise ihr oder sein Einverständnis durch.«
»Das heißt, Sie hatten nur schriftlichen Kontakt und haben sich nie persönlich getroffen?«
»Nein. Halt, vor Weihnachten bei dem Apéro habe ich sie gesehen.«
»Bei welchem Apéro?«
»In der Adventszeit veranstaltet der Verlag einen Apéro zum Jahresausklang für die Autoren. Vor drei oder vier Jahren war es das erste Mal. Es ist gut angekommen, und daher machen wir es weiterhin. Es ist eine schöne Gelegenheit, sich persönlich kennenzulernen.«
»Frau Sonderegger war dabei?«
»Ja.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Ja.«
»Wie verhielt sie sich?«
Katastrophal. Als Andrina sich ihr vorgestellt hatte, hatte Melissa Sonderegger sie von oben bis unten gemustert. »Sie sind das«, hatte sie gesagt und hatte Bemerkungen hinsichtlich des Korrektorats gemacht, bevor sie sich abgewendet hatte.
Wenn es nach Andrina gegangen wäre, hätte sie diese Frau ausgeladen. Bei Elisabeth dagegen verhielt Melissa Sonderegger sich zuvorkommend und freundlich. Das war untertrieben. Sie schleimte sich mit Komplimenten ein.
»Wir haben nicht viel miteinander geredet.« Das entsprach der Wahrheit.
»Wie verlief die Zusammenarbeit bei dem Korrektorat?«, schaltete sich Häusermann ein.
Aufgrund von Elisabeths Anweisungen hätte sie mit »Sehr gut« antworten müssen.
»Es war etwas harzig«, sagte Andrina.
»Was heißt das?«
»Sie ließ die Frist verstreichen und reagierte ungehalten auf meine Anmerkungen.« Melissa Sonderegger hatte sogar Elisabeth angerufen und sich über Andrina beschwert.
»Hatten Sie viel zu bemängeln?« Zwischen Broglis Zeilen klang deutlich mit, das Problem bei Andrina zu sehen.
»Nein. Es waren Kleinigkeiten.«
»Hättest du das nicht einfach anpassen können?«, fragte Häusermann.
»Nein, es ist nicht mein Text. Für alle Änderungen braucht es die Zustimmung der Autorin.«
»Hatten nur Sie ein Problem mit ihr, oder hatten Ihre Kolleginnen und Kollegen das gleichfalls?« Brogli setzte das für ihn typische süffisante Lächeln auf, das Andrina hasste.
»Das müssen Sie sie selbst fragen.«
»Ihr habt bestimmt miteinander darüber gesprochen«, hakte Häusermann nach.
Wieso blieben sie so hartnäckig? Natürlich hatten sie das. Ihre Aussage stand im totalen Widerspruch, sollten Lukas, Stefanie und Sybille sich an Elisabeths Anweisungen gehalten haben. Andrina schwitzte.
»Sagen wir es so, keiner riss sich um die Zusammenarbeit mit ihr. Das ist normal. Es gibt beliebtere und weniger beliebte Autorinnen und Autoren.«
In Häusermanns Kopf arbeitete es unübersehbar. Er musste die Ungereimtheiten spüren. Wie fest hatten Stefanie, Lukas und Sybille Melissa Sonderegger gelobt?
Manövrierte Andrina sich gerade in den Fokus der Beamten? Sie hätte sich an Elisabeths Anweisungen halten sollen. Aber lügen war ebenfalls keine Lösung und ging ihr eindeutig gegen den Strich.
»Lügen haben kurze Beine«, hatte Andrinas Mutter ihr und Seraina einmal erklärt, als sie erwischt worden waren, die Unwahrheit gesagt zu haben. Es war eine Bagatelle gewesen, an die Andrina sich nicht mehr erinnern konnte. Sie wusste nur, dass die Strafe Hausarrest gewesen war – nicht aufgrund des Vergehens, sondern wegen der Lüge.
»Wann hattest du das letzte Mal mit Frau Sonderegger Kontakt?«, fuhr Häusermann fort.
»Beim Apéro im Dezember.« Andrina war froh, von dem verfänglichen Terrain wegzukommen.
»Kein Telefon oder eine E-Mail zu einem späteren Zeitpunkt?«
»Nein.« Wiederum war Andrina froh, nicht lügen zu müssen. »Dazu gab es keinen Grund, nachdem das Korrektorat abgeschlossen war.«
»Wie war eure Reaktion, als das Buch auf der Bestsellerliste ganz oben landete?«
»Hervorragend. Wir haben mit Prosecco angestoßen.« Die Freude war riesengroß gewesen und die mühsame Arbeit in den Hintergrund getreten.
Häusermann schaute auf Andrinas Bauch.
»Ich habe mit Rimuss angestoßen«, beeilte sie sich zu sagen.
»Hatte jemand von euch an diesem Tag Kontakt zu Melissa Sonderegger?«
»Wieso?«
»Um ihr zu gratulieren«, sagte Häusermann erstaunt.
»Ich habe nicht mit ihr gesprochen. Soweit ich wusste, wollte Elisabeth das im Namen des gesamten Teams übernehmen. Ob sie Melissa Sonderegger erreicht hat, weiß ich nicht.«
»War ein neues Buch mit ihr geplant?«, fragte Brogli unvermittelt, und Andrina zuckte zusammen.
Es war ihr gelungen, ihn auszublenden und sich ganz auf Häusermann zu konzentrieren.
»Ja. Gestern war Sitzung, und es war klar, sie würde einen Platz im nächsten Herbstprogramm bekommen.«
Nun hatte sie doch gelogen. Die endgültige Entscheidung war nicht getroffen worden, doch sie war überzeugt, Elisabeth hatte sich dafür entschieden. Obwohl sie gestern zwischenzeitlich anderer Meinung gewesen war.
Brogli und Häusermann sahen sich an und nickten einander zu.
»Danke«, sagte Häusermann. »Kannst du bitte Gabi holen?«
Andrina bemühte sich, nicht ihre Erleichterung zu zeigen und fluchtartig den Raum zu verlassen.
Gabi kam gerade aus dem WC. »Und?«
Andrina beschränkte die Antwort auf ein Schulterzucken, da Brogli hinter ihr am Türrahmen lehnte und sie beobachtete.
»Du bist dran«, sagte sie. Ich habe die halbe Wahrheit erzählt, dachte Andrina und hoffte, Gabi verstand, was sie ihr ohne Worte sagen wollte. Gabi nickte langsam, bevor sie zum Sitzungszimmer ging. Brogli schaute einige Sekunden zu Andrina, dann schloss er die Tür.
Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz bemerkte Andrina die offene Tür zu Elisabeths Büro. Elisabeth, Stefanie und Sybille standen am offenen Fenster. Elisabeth reichte Stefanie die Zigarettenpackung. Mit zitternden Händen entnahm sie eine. Von Stefanie wusste Andrina, dass sie gelegentlich im Ausgang eine rauchte, aber im Verlag hatte sie bis vor Kurzem selten zur Zigarette gegriffen.
»Unsere Raucherecke«, sagte Lukas und hielt sich die Nase zu. »Wie war es?«