Aargau-Fieber - Ina Haller - E-Book

Aargau-Fieber E-Book

Ina Haller

4,5

Beschreibung

Eine mysteriöse Krankheit verbreitet Angst und Schrecken im beschaulichen Aargau, auch Andrinas Schwester kämpft um ihr Leben. Als die Mitarbeiter eines ansässigen Pharmaunternehmens ermordet werden, fragt sich die Kantonspolizei rund um Marco Feller, ob zwischen den Geschehnissen ein Zusammenhang besteht – und was Fellers angeblicher Bruder damit zu tun hat, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Wer spielt hier ein mörderisches Spiel?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 454

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
12
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kurz- und Kindergeschichten sowie Kriminalromane. Im Emons Verlag erschienen «Tod im Aargau», «Gift im Aargau», «Der Metzger von Aarau» und «Schatten über dem Aargau».www.inahaller.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

©2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Brigitte Protzel Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-201-4 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für Urs, Pascale, Rebecca und Manuela

Einige Wochen zuvor

«Vergiss es! Das mache ich nicht.»

«Nicht?» Der blonde Mann lehnte sich lässig gegen das Regal.

«Nein!»

«Ich bin mir sicher, du wirst es tun.»

«Nie!» Er hatte gewusst, wie hinterhältig der Blonde sein konnte. Doch das hätte selbst er ihm nicht zugetraut.

«Ich bin nicht so skrupellos wie du.»

«Das ist mir neu.» Der Blonde knibbelte an seinem Daumennagel und wirkte gelangweilt. «Muss ich dich an das kleine Intermezzo vom letzten Jahr erinnern? Du hättest nicht mehr diese Position inne, wenn ich dir nicht geholfen hätte.»

«Das ist Erpressung.»

«Erpressung– so ein hässliches Wort.» Der Blonde lachte. Schweigen stellte sich ein und dehnte sich aus.

Er stand auf, trat ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Was sollte er tun? Er hatte gewusst, früher oder später würde ihn die Sache von damals einholen. In dem Fensterglas erkannte er sein Spiegelbild. Einen Mann Ende dreissig mit dunkelbraunen Haaren, in die sich langsam einzelne graue Haare mischten.

Warum hatte er diesem Treffen zugestimmt? Es war fast Mitternacht. Ihm hätte klar sein müssen, dass ein Treffen um diese Uhrzeit nichts Gutes bedeuten konnte.

«Es war ein Unfall», rief er. «Ich habe ihn nicht getötet.»

«Die Situation damals hat sich mir ganz anders dargestellt. Du musst zugeben, dieser– wie soll ich es nennen?– Vorfall hat dich vor einer Menge Probleme bewahrt. Du weisst genau, was passiert wäre, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, auszupacken. Sein kleiner Sturz war die Rettung für dich.»

«Nochmals, ich habe ihn nicht getötet.» Er drehte sich um und starrte den Blonden an. «Er hat einen Misstritt gemacht und ist die Treppe runtergefallen.»

«Du hast ihm einen Schubs gegeben.»

«Er hat mich am Kragen packen wollen. Es war Notwehr.»

«Na, na. Ganz so war es nicht. Das weisst du genauso gut wie ich. Also?»

«Nein. Ich werde sicher nicht tun, was du von mir verlangst.»

Die Hand des Blonden glitt unter den Kittel. Gleich darauf tauchte sie mit einer Waffe wieder auf.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er konnte den Blick nicht vom Lauf lösen, der sich auf ihn richtete. «Erschiess mich meinetwegen», sagte er mit bebender Stimme. «Noch einmal werde ich keine Schuld auf mich laden.»

«Wie edel das klingt. Aber keine Sorge, ich werde dich nicht töten, denn ich brauche dich noch.» Der Blonde griff in die Tasche seines Kittels und legte ein Foto auf den Tisch. «Falls du dich weigerst, könnten allerdings andere ein Problem bekommen.»

«Nein!» Sein Hals wurde eng, als er die Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt auf dem Bild erkannte. Sie hielt ein blondes vierjähriges Mädchen auf dem Arm. Daneben stand ein sechsjähriger braunhaariger Bub, der sich an das Bein der Frau klammerte. «Lass sie in Ruhe! Sie haben nichts damit zu tun.»

«Falls du dich weigerst, wird sich ein Kollateralschaden nicht vermeiden lassen.»

«Lass sie aus dem Spiel!»

«Das kann ich nicht. Dazu ist die Sache zu wichtig.» Der Blonde machte eine kurze Pause. «Machst du es oder nicht?»

Er schwitzte, und das Hemd klebte am Rücken. Sein Blick huschte zu dem Bild. «Ich tue es», quetschte er hervor.

EINS

«Wann heiratet ihr endlich?»

Andrina senkte den Kopf. Mit dem Finger fuhr sie am Rand ihrer Tasse entlang. Sie spürte Serainas prüfenden Blick.

«Hat es mit Marcos Mutter zu tun?», bohrte ihre Schwester weiter.

Wie waren sie auf dieses Thema gekommen?

Eigentlich hatte Andrina diesen sonnigen Sonntagvormittag geniessen wollen. Bis Seraina dieses Thema angeschnitten hatte, war das so gewesen. Feller hatte Dienst, und Serainas Mann Michael war ebenfalls unterwegs. Serainas eineinhalb Jahre alte Tochter machte einen Ausflug mit den Schwiegereltern. Daher hatten Andrina und ihre Schwester sich spontan zu einem Frauenmorgen verabredet. Sie sassen im Schatten des Kirschbaumes in Serainas Garten und tranken Tee.

«Hat sie so viel Einfluss auf euer Leben? Das kann ich nicht glauben.»

«Hat sie nicht.» Andrina reckte das Kinn.

Seraina war deutlich anzusehen, dass sie ihr das nicht abnahm. Andrina wich dem Blick der dunklen Augen ihrer Schwester aus und konzentrierte sich auf die Aussicht, um die sie Seraina beneidete. Man konnte bis zum Aarekanal schauen. Seraina wohnte am Hang unterhalb des Erlinsbacher Buechwaldes.

«Es kann nicht mit Marcos Unfall von Anfang Jahr und seiner Begründung zusammenhängen, kein humpelnder Bräutigam sein zu wollen. Inzwischen läuft er durch die Gegend, als sei nie etwas gewesen. Was ist also der Grund?»

«Ich will erst schwanger werden», sagte Andrina, mehr zu sich. Sie musste sich wie ein trotziges Kind anhören.

Seraina räusperte sich. «Wieso das denn?»

Andrina schwieg und starrte auf ihre Tasse.

«Du meinst, falls du kein Kind bekommst, kann Marco sich nach einer gebärfreudigeren Frau umsehen?»

Andrina sagte nach wie vor nichts.

«Das ist der grösste Blödsinn, der mir je untergekommen ist.»

Sie hatte recht. Das war völlig dämlich, und Andrina hätte das an Serainas Stelle auch gesagt. Sie senkte den Kopf ein Stück weiter, um vor Seraina die Tränen, die in ihre Augen traten, zu verbergen.

«Meinst du nicht, Marco ist es egal?» Seraina hustete und räusperte sich. «Er liebt dich, so wie du bist.»

«Schon», sagte Andrina gedehnt, «trotzdem.» Sie drehte eine Strähne ihrer langen dunkelbraunen gewellten Haare, die zu einem Rossschwanz zusammengebunden waren, um ihren Zeigefinger.

«Meinst du nicht, du setzt dich unnötig unter Druck?»

Andrina schwieg.

«Ich weiss, wie sehr du dir ein Kind wünschst, aber das ist keine Lösung. Mit Erzwingen, Bedingungenstellen und Definierenwollen, wann es klappen soll, funktioniert so was nicht. Was meint Marco dazu?»

«Er sagt, er will mich nicht unter Druck setzen.»

«Womit, mit dem Kinderkriegen oder mit der Hochzeit?»

«Mit beidem.»

«Er will dich nach wie vor heiraten, oder ist das nicht mehr so?»

Andrina nickte.

«Was, er will nicht mehr?»

«Nein. Er würde schon…»

«Kinder zu bekommen ist nicht alles auf der Welt. Viele sind ohne Kinder glücklich.»

«Das sagt genau die Richtige.»

Seraina seufzte. «Ich weiss, jetzt habe ich wieder das grosse Los gezogen. Ich wünschte, ich hätte es dir nicht gesagt.» Sie legte die Hand auf ihren Bauch, dem die Anzeichen einer Schwangerschaft nicht anzusehen waren.

«Früher oder später hätte ich es erfahren. Wenn du es mir verheimlicht hättest, hättest du mich verletzt.» Andrina schaffte es, zu lächeln. Sie sollte sich zusammenreissen und Seraina die Freude nicht nehmen, indem sie Trübsal blies und eifersüchtig war. «Wann ist es denn so weit?»

Seraina setzte zu einer Antwort an, bekam aber einen weiteren Hustenanfall. Sie trank einen Schluck.

«Hast du dich erkältet? Bei diesem Wetter?»

«Ich weiss nicht», krächzte sie. «Heute Morgen fing es mit dem Halskratzen an. Nein, es ist eher ein Brennen. Zusätzlich ist da dieser Durchfall, der vor einer Stunde einsetzte. Seitdem rumpelt es ununterbrochen in meinem Magen.»

Bis jetzt war ihr nicht gross etwas anzumerken gewesen. Andrina bekam ein schlechtes Gewissen. Sie war zu sehr mit sich und ihrem Selbstmitleid beschäftigt gewesen.

Sie fasste Seraina genauer ins Auge. Ihre Schwester sah blass aus– ganz untypisch für sie. Durch die dunkelbraunen Haare wurde die Blässe sogar verstärkt. «Du solltest zum Arzt gehen.»

«Wegen des bisschen Halskratzens und ein wenig WC-Rennerei?»

Kaum hatte Seraina das gesagt, riss sie die Augen auf, presste die Hand auf den Mund und rannte ins Haus. Erschrocken folgte Andrina ihr. Aus dem Gästebad neben der Haustür konnte Andrina hören, wie Seraina sich erbrach. Hatte das mit der Schwangerschaft zu tun? Eben hatte sie ihr erklärt, bisher dieses Mal von der lästigen Schwangerschaftsübelkeit verschont geblieben zu sein. Andrina starrte in den Spiegel am Garderobenschrank in ihre besorgten dunkelbraunen Augen, die denen ihrer Schwester ähnelten. Konnte während einer Schwangerschaft der Gesundheitszustand so schnell umschlagen? Seraina hatte erklärt, jede Schwangerschaft verliefe anders. Auf der anderen Seite musste der Durchfall nichts mit der Schwangerschaft zu tun haben. Seraina konnte sich einen Virus eingefangen haben. Wenn sich ihr Zustand nicht besserte, bis Andrina nach Hause fuhr, würde sie darauf bestehen, dass Seraina zum Arzt ging.

Die Spülung rauschte, und die Tür des Badezimmers öffnete sich. Seraina schwankte heraus. Sie war um eine Spur blasser, sofern das überhaupt möglich war, und stützte sich an der Wand ab. Als sie sich ein Lächeln abrang, gaben ihre Beine nach.

Andrina schaute auf ihre Uhr. Es war erst eine weitere Minute vergangen. Sie war mit der Ambulanz zum Spital gefahren. Auf der Fahrt hatte Seraina das Bewusstsein nicht zurückerlangt. Im Spital war Andrina gebeten worden zu warten.

Erneut fragte sie sich nach dem Grund für Serainas Zusammenbruch. Lag es an der extremen Hitze, die seit drei Wochen herrschte? Oder war es doch die Schwangerschaft?

Andrina vernahm rasche Schritte und drehte sich um. Michael, den sie angerufen hatte, stürzte auf sie zu. Er trug seine Polizeiuniform, und seine blonden Haare standen wirr vom Kopf ab, als habe er sie sich auf der Fahrt hierher gerauft. Er musste mit Blaulicht gefahren sein. Anders konnte sie sich sein schnelles Auftauchen nicht erklären.

«Was ist mit ihr?», stiess Michael atemlos hervor. Er beugte sich vor und küsste Andrina auf die Wangen.

«Ich weiss nicht mehr als das, was ich dir am Telefon sagen konnte.»

In diesem Moment öffnete sich eine Tür, und ein Arzt mit grauem Vollbart trat zu ihnen. Er hatte Seraina in Empfang genommen und war ihr als Dr.Clausen vorgestellt worden. Clausen musterte Michael.

«Das ist der Mann meiner Schwester», kam Andrina seiner Frage zuvor.

«Frau Steiger hat in der Zwischenzeit das Bewusstsein wiedererlangt», erklärte Clausen. Sein lupenreines Hochdeutsch wies ihn als deutschen Staatsbürger aus. «Ich vermute, sie hatte einen Kreislaufkollaps wegen irgendeines Infektes, den wir nicht genauer definieren können. Inzwischen hat sie sich mehrmals erbrochen, und der Durchfall ist blutig. Wir behalten sie hier und werden weitere Untersuchungen machen.» Clausen musterte erst Andrina und danach Michael. «Es könnte sich um eine Magen-Darm-Infektion handeln, allerdings gibt das Blut im Stuhl Anlass zur Sorge. Mir ist zudem nicht bekannt, dass eine derartig heftige Grippe im Umlauf ist. Daher meine Frage: Hat Frau Steiger etwas gegessen, das sie nicht vertragen hat?»

Andrina und Michael schauten einander an. «Heute Morgen hat sie ein Müesli gegessen, Orangensaft und einen Kräutertee getrunken», begann Michael. «Einen dieser Schwangerschaftstees. Bisher hat sie das gut vertragen.»

«Wir haben Pfefferminztee getrunken und Gebäck, das ich von unserem Bäcker mitgebracht habe, gegessen. Also nichts Ungewöhnliches.»

«Wissen Sie, ob sie in letzter Zeit öfter Blut im Stuhl gehabt hat?»

«Davon weiss ich nichts», sagte Michael und schaute Andrina fragend an.

«Mir hat sie nichts davon gesagt.» Hatte Seraina ihr etwas verschwiegen? Lag etwas Ernstes vor, und sie hatte Andrina nicht beunruhigen wollen? Zumindest Michael müsste davon wissen.

«Waren Sie in der letzten Zeit im Ausland, wo sie sich eine Infektion eingefangen haben könnte?»

Andrina und Michael schüttelten die Köpfe.

«Wir waren im Winter in den Skiferien, zusammen mit euch, bevor Marco diesen Unfall hatte», sagte er, und Andrina nickte. «Sonst waren wir nicht weg.»

«In dem Fall gehen wir von einem Magen-Darm-Infekt aus, der sich bei Frau Steiger heftig äussert. Trotzdem würde ich gerne eine Magen- und Darmspiegelung machen, wenn sich ihr Zustand stabilisiert hat.»

«Heisst das, es ist etwas Ernstes?», fragte Andrina.

«Wir wollen lieber alles abgeklärt haben, um uns nicht hinterher Vorwürfe machen zu müssen, etwas versäumt zu haben.» Das klang nicht gerade beruhigend.

«Was ist mit dem Baby?», fragte Michael und schielte unsicher zu Andrina.

«Wir werden dafür sorgen, dass es für das Baby nicht gefährlich wird.» Was war das für eine seltsame Formulierung? Der Arzt reichte Michael und Andrina die Hand.

«Darf ich zu ihr?», fragte Michael.

«Das können Sie gerne. Als ich eben bei ihr war, hat sie geschlafen.»

Andrina hätte sich Michael gerne angeschlossen, doch sie fand, es sei besser, die beiden alleine zu lassen.

* * *

«Eine Magen-Darm-Grippe?» Feller nippte an einem Glas Rotwein. «Soviel ich weiss, ist momentan nichts im Umlauf. Ich würde eher auf etwas anderes tippen. Vielleicht hat sie was Verdorbenes gegessen.»

«Das glaube ich nicht. Wie du weisst, wird Seraina genau aufgepasst haben, was sie isst. Als sie mit Regina schwanger war, war sie extrem heikel. Ich war froh, als Regina auf der Welt war.»

Sie sassen auf der Terrasse. Andrina hatte die Lammracks mariniert, die jetzt auf dem Grill lagen, und einen gemischten Salat gemacht. Bei dieser Hitze hatte keiner von ihnen Appetit auf ein reichhaltiges Nachtessen.

Feller stand auf und strich seine dunkelbraunen Haare aus der Stirn. In seinen blauen Augen spiegelte sich Besorgnis. Er prüfte das Fleisch auf dem Grill, befand es für gut und legte es auf zwei Teller.

«Damals war sie, wie du sagtest, schwanger. Nach Reginas Geburt hat sie ihre alten Essgewohnheiten wieder aufgenommen.»

«Sie ist wieder schwanger.»

Feller setzte sich Andrina gegenüber. Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf die Hände. Schweigend musterte er Andrina, als erforsche er, was in ihrem Inneren vor sich ging. Andrina hielt seinem Blick stand. Nach einer Weile griff er über den Tisch nach ihrer Hand. Mit dem Finger strich er über den Verlobungsring an ihrem linken Ringfinger.

«Ich freue mich für Seraina.» Andrina war sich bewusst, wie abgedroschen das klang. Aber sie freute sich wirklich, obwohl der Schmerz in ihrem Inneren, weil es bei ihr nicht klappte, eine neue Intensität bekommen hatte.

«Es könnte also damit zu tun haben?»

«Der Arzt meint, nein. Sie vermuten eine Infektion und wollen sie vorsichtshalber durchchecken. Das volle Programm. Magenspiegelung, Darmspiegelung und so weiter.»

«Das ist gut. Ich vermute, sie werden nichts finden. Du hast jedoch recht. Besser einmal mehr als zu wenig. Du wirst sehen, bald ist sie wieder die Alte.»

Feller schnitt ein Stück Fleisch ab und schob es in den Mund. «Es wird langsam Zeit, sich um einen Termin zu kümmern. Ich will nicht länger warten. Was hältst du vom nächsten Frühling?»

«Wovon sprichst du?»

«Flitterwochen im Mai und Juni sind bestimmt schön. Je nachdem, wo wir hinwollen.»

«Ist das…»

«Flitterwochen mit einem Baby sind nicht so entspannend.» In seinen Augen blitzte es. «Vielleicht wartet das Kind, bis wir endlich unseren Teil erledigt haben, damit es zu uns kommen kann.» Feller stand auf und ging um den Tisch herum. Er stellte sich hinter Andrina und legte die Arme um sie. Sein Kinn stützte er auf ihrem Kopf ab. «Kinder machen nämlich nicht unbedingt das, was wir wollen.» Er küsste sie auf die Haare. «Regina ist ein gutes Beispiel dafür.» Feller zog Andrinas Stuhl zurück und beugte sich zu ihr hinunter. Forschend schaute er sie an, bevor er sie auf den Mund küsste. «Ich will, du willst– ich hoffe doch, immer noch.» Andrina nickte und fuhr mit dem Finger Fellers Kinnpartie entlang.

«Warum warten wir? Darf ich endlich Max fragen, ob er Trauzeuge sein möchte?»

«Im Mai ist das Wetter nicht unbedingt stabil, wie die letzten Jahre gezeigt haben. Der Herbst wäre idealer.»

«Goldene Herbsttage im Oktober?»

«Zum Beispiel. Wir könnten im November, wenn der dauernde Hochnebel hier die Regie übernimmt, irgendwohin flüchten, wo es Sonne hat.»

«Das hat was. Bis zum Herbst ist es ein wenig knapp.» Er neigte den Kopf zur Seite. «Wenn ich es richtig überlege, wäre es gelacht, wenn wir bis dahin keine Hochzeit auf die Beine stellen.» Ein spitzbübisches Grinsen tauchte auf seinem Gesicht auf.

Andrina schluckte. Eigentlich hatte sie an den Herbst im nächsten Jahr gedacht. Das Ganze gewann eine Eigendynamik, die ihr jedoch gefiel, wie sie einräumen musste.

«Also, Frau Feller, im Oktober wird geheiratet. Oder ist dir Herr Kaufmann lieber? Heutzutage sind beide Varianten möglich.»

«Mit der Namensgebung bin ich altmodisch, Herr Feller.» Das Hochgefühl, das sich breitmachte, wirkte berauschend. Warum hatte sie es so lange hinausgezögert? Warum war sie sich selber im Weg gestanden? Plötzlich konnte sie es nicht mehr erwarten.

«Übrigens, den Schmuck für die Braut habe ich schon.» Feller holte eine kleine Schachtel aus dem Hosensack und reichte sie Andrina.

«Ist der schön.» Mit dem Zeigefinger fuhr sie dem unregelmässigen Viereck des goldenen Kettenanhängers nach. Danach strich sie über dessen raue Oberfläche. Sie fasste Fellers Nacken, zog ihn zu sich und küsste ihn. «Danke.»

«Probier sie an.»

«Vor der Hochzeit? Bringt das nicht Unglück?»

«Was ist das für ein dämlicher Aberglaube?» Feller nahm die Kette aus der Schachtel und legte sie Andrina um. «Ab zum Spiegel mit dir.»

Andrina stand auf. «Ich bringe gleich den Kalender und den Notizblock mit», sagte sie und eilte ins Haus. Sie hatte das Gefühl, zu schweben. Andrina Feller. Das hörte sich gut an. In diesem Moment klingelte das Telefon. Lächelnd nahm sie das Gespräch entgegen.

«Seraina geht es schlechter», sagte Michael ohne Einleitung.

«Was?»

«Sie hat sich mehrmals erbrochen, und der Durchfall wird heftiger.»

«Heisst das…»

«Die Ärzte behaupten, sie hätten es im Griff.»

«In dem Fall wird das so sein.» Andrina bemühte sich, möglichst zuversichtlich zu klingen.

«Zwei weitere Patienten sind mit ähnlichen Symptomen eingeliefert worden.»

«Das ist eine seltsame Magen-Darm-Grippe. Entweder man ist gesund, oder man muss gleich ins Spital.»

«Dr.Clausen ist sich inzwischen nicht mehr sicher, ob es eine Magen-Darm-Grippe ist.»

«Was soll es denn sonst sein?»

«Er weiss nicht, um welchen Infekt es sich handelt. Ob ein Virus dafür verantwortlich ist oder ob es Bakterien sind. Bis jetzt konnten sie nichts Konkretes nachweisen.» Er machte eine Pause. Andrina konnte ihn atmen hören. Es klang, als würde er um Fassung ringen. «Weisst du, bei den anderen zweien sieht es ähnlich ernst wie bei Seraina aus.» Eine neue Pause. «Ich möchte heute Nacht bei ihr im Spital bleiben.»

«Macht das Sinn?»

«Ich habe ein ungutes Gefühl.»

«Eben hast du gesagt, die Ärzte hätten es im Griff.»

«Was ist, wenn nicht?»

Kälte stieg in Andrinas Innerem auf. «Sag so was nicht.»

«Kann ich dir Regina heute Nacht bringen? Meine Eltern sind bei Freunden zu einem Nachtessen eingeladen und kommen erst spät nach Hause.»

«Natürlich. Wie du weisst, sind wir für mein Gottenkind eingerichtet.»

«Meine Eltern würden sie morgen früh holen, damit du pünktlich zur Arbeit kommst.»

«Keinen Stress. Marco geht morgen ein wenig später ins Polizeikommando.»

«Du bist ein Schatz. Ich bin in einer Viertelstunde da.»

«Bis gleich. Und Mike

ZWEI

«Wie ich einige Wochen zuvor erwähnte, haben die Sachbücher in letzter Zeit nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Wir haben uns zu stark auf die Belletristik konzentriert.» Elisabeth Veldt ordnete Block und Stift.

Sie befanden sich im Sitzungszimmer des Cleve Verlags zu ihrer Wochenstartsitzung.

Elisabeth platzierte ihre Lesebrille, die sie seit Kurzem benötigte, daneben und lockerte mit der Hand die kinnlangen braunen Haare, die von grauen Strähnen durchzogen waren. Anschliessend legte sie die Hände auf den Tisch und blickte in die Runde.

Andrina senkte den Kopf und starrte auf ihren Block. Die Notizen verschwammen vor ihren Augen. Sie war hundemüde, denn nachdem sie Regina zu Bett gebracht hatte, war sie ins Spital zu Seraina und Michael gefahren, während Feller bei ihrer Nichte geblieben war. Am Morgen war sie zurückgekommen und hatte die beiden vergnügt beim Frühstück vorgefunden. Die beiden so zusammen zu sehen, hatte neben der Sorge um ihre Schwester einen Stich in die Wunde «Kinderwunsch» gegeben. Feller wäre der ideale Vater.

«Unter anderem habe ich dabei erwähnt, gerne einen Berufsratgeber herauszugeben», fuhr Elisabeth fort. «Einen von der anderen Sorte. Was wir auf die Wettbewerbsausschreibung zugeschickt bekommen haben, überzeugt mich nicht. Daher habe ich beschlossen, den Ratgeber mit eurer Hilfe selbst zu produzieren.»

«Wir sollen ihn selber verfassen?», fragte Gabi Hug und zupfte an einer blonden Strähne, die sich aus ihrem Rossschwanz gelöst hatte.

«Genau.»

«Cool», rief Lukas Sandmeier. Seine braunen Augen blitzten vergnügt. Andrina konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Er war vorwiegend für das Marketing zuständig und war bestimmt schon dabei, eine Werbestrategie auszuarbeiten.

«Sag mal, seit wann hast du eine Brille?» Gabi beugte sich zu Lukas hinüber und musterte ihn betont kritisch.

«Seit sie am Samstag abholbereit war», knurrte er. «Wäre ich bloss nicht vor zwei Wochen zum Optiker gegangen.»

«Steht dir gut. Macht dich richtig intellektuell.»

«Sehr witzig. Sie ist total unpraktisch. Dauernd habe ich sie verlegt.»

«Du solltest sie auf der Nase lassen», gab Sophia Kiefer spitz dazu. Sie lehnte sich nach vorne, sodass sich ihr gewaltiger Busen auf dem Tisch abstützte. Andrina befürchtete, er werde aus dem Ausschnitt des ohnehin sehr knappen Trägertops quellen. Wie üblich trug Sophia keinenBH.

«Genug, Kinder. Für derartiges Geplänkel haben wir keine Zeit. Zurück zum Berufsratgeber. Ich habe als Inhaberin leider nicht genug Zeit, mich darum zu kümmern. Daher möchte ich die Hauptverantwortung gerne an einen von euch abgeben.» Sie blickte in die Runde. «Ausserdem werden wir Ressorts verteilen. Jemand ist für die medizinischen und naturwissenschaftlichen Berufe zuständig, der andere für alle kaufmännischen und so weiter.» Elisabeth machte eine Notiz. «Sophia ist am besten für die Leitung geeignet.»

Ein Ruck ging durch jeden Anwesenden. Gabi und Lukas schauten bestürzt Andrina an, die normalerweise die Verantwortliche für Spezialprojekte war. Sophia streckte ihren Rücken durch und blickte Andrina triumphierend an. Andrina war zu müde, um darauf zu reagieren. Im Grunde war es ihr im Moment egal.

Elisabeth machte eine weitere Notiz. «Du wirst die Verantwortung für die Verfassung der Texte und für die Inhalte haben. Hat jemand Fragen?»

«Warum nicht Andrina?», meldete sich Gabi zu Wort.

«Sophia ist besser geeignet», sagte Elisabeth in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Gabi holte Luft, aber Elisabeth kam ihr zuvor. «Stellst du etwa meine Entscheidungen in Frage?»

«Das nicht. Sonst ist Andrina diejenige, die–»

«Genug! Sophia übernimmt die Hauptverantwortung. Auf sie ist Verlass.»

«Im Gegensatz zu Andrina?», rief Gabi empört. «Sie ist es, die alles im Griff hat, wenn du fort bist.»

Elisabeth verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick bohrte sich in Gabis Augen. Andrina war Gabi dankbar, weil sie für sie Partei ergriff. Trotzdem wollte sie nicht, dass Gabi ihretwegen Schwierigkeiten bekam. Andrina drückte ihren Arm und dachte: Lass es gut sein. Es war eine Frage der Zeit gewesen, bis das passierte.

«Andrina hat es nicht verdient, so behandelt zu werden. Eine bessere Stellvertreterin…»

«Wo wir gerade dabei sind. Ab sofort übernimmt Sophia meine Stellvertretung.»

«Moment», mischte sich nun Lukas ein.

Elisabeth schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab und stand auf. «Ende der Diskussion», rief sie. «Ich sollte los. Sophia, komm bitte mit.» Damit rauschte sie, gefolgt von Sophia, aus dem Sitzungszimmer.

Andrina schlich hinterher und ging in ihr Büro. Kurz darauf polterte Gabi herein.

«Das ist unglaublich», rief sie entrüstet. «Das kann sie nicht machen.»

«Offensichtlich doch.» Andrina versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

«Warum wehrst du dich nicht?»

«Ich habe im Moment keine Kraft dazu.»

«Wenn ich an das Theater denke, das uns mit dem Ratgeber bevorsteht.»

«Lass es gut sein.»

«Trotzdem muss sie dich nicht zusätzlich degradieren», rief Gabi, als habe sie Andrina nicht gehört. «Wenn wir dich nicht hätten, wäre der Verlag längst bachab gegangen, wenn du für Sophia nicht die Kartoffeln aus dem Feuer geholt hättest. Denk doch mal beispielsweise daran, als sie die Cover von zwei Krimis vertauscht hat. Vor zwei Wochen hat sie die nicht lektorierte Version von dem Krimi ‹Wenn es in Aarau dunkel wird› für das Korrektorat parat gemacht. Dann die Sache mit den Rechnungen, die nicht gezahlt wurden beziehungsweise die sie verschlampt hat. Elisabeth gibt ihr so viele Vollmachten und kontrolliert es nicht. Nicht auszudenken, wenn du das nicht bemerkt hättest. Ich könnte so viel aufzählen. Das Projekt ist bei ihr in den denkbar schlechtesten Händen. Mir kommt ausserdem die Galle hoch, wenn ich daran denke, von nun an Sophias Handlanger zu sein.» Gabi sprach immer schneller.

Andrina legte ihr die Hand auf den Arm. «Wenn der Ratgeber in die Hose geht, sind wir wenigstens nicht schuld.»

«Wetten doch? Sophia wird es entsprechend drehen.»

«Ich finde diese ganze Sache mit dem Berufsratgeber sowieso witzlos. Es gibt so viele, und dieses Gerede von einem Ratgeber der ganz anderen Sorte nervt mich sowieso. Besonders gut durchdacht hat Elisabeth das nicht. Schau, wie unstrukturiert alles ist. Ich bin froh, nicht die Verantwortung für diesen Mist zu tragen.»

«Trotzdem, dich so abzuservieren… Wie gesagt, viele der Erfolge des Verlages gehen nur auf deine Leistung zurück.»

«Ich bin im Moment eh nicht richtig zurechnungsfähig.»

Gabi hielt inne. Ein besorgter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. «Was ist los? So kenne ich dich nicht. Normalerweise bist du nicht auf den Mund gefallen. Wo ist dein Kampfgeist?»

Andrina berichtete, was am Wochenende vorgefallen war.

«Hat Seraina etwa diese seltsame Krankheit, von der seit gestern in allen Nachrichten die Rede ist?»

«Ja, und es sieht im Moment ernst aus.»

Gabi legte den Arm um Andrina. «Das tut mir leid. Weiss man wirklich nichts?»

Andrina schüttelte den Kopf. «Man ist so hilflos und muss mitansehen, wie es schlimmer wird. Sie hat die Nacht mehr schlecht als recht überstanden.» Sie machte eine kurze Pause. «Weisst du, bevor es sich so dramatisch verschlechterte, haben Marco und ich unsere Hochzeit für den Herbst geplant.»

«Was? Endlich!»

Andrina warf Gabi einen Blick zu, und sie verstummte augenblicklich.

«Ich komme mir so mies vor», sagte Andrina leise.

Gabi strich über Andrinas Rücken. «Warum? Gerade jetzt ist das wichtig. Ihr müsst damit weitermachen. Das gibt dir Kraft, die du in dieser Situation dringend nötig hast.»

In diesem Moment klingelte das Telefon auf Andrinas Tisch. Sie erkannte die Handynummer auf dem Display sofort.

«Mike! Wie geht es ihr?»

«Überhaupt nicht gut.» Michael klang niedergeschlagen. «Die Ärzte sind machtlos. Im Moment können sie sie einigermassen stabil halten.»

«Weiss man immer noch nichts Genaueres?»

«Nein. Heute Morgen sind neue Patienten mit gleichen Symptomen eingeliefert worden, und einer von gestern ist gestorben.»

Andrina presste die Faust gegen ihren Mund und knabberte an den Fingerknöcheln. Bitte nicht, dachte sie. Es klang, als würde Michael weinen.

«Andrina», kam es nach einer Weile erstickt aus dem Hörer, «sie hat das Baby verloren.»

* * *

Andrina streifte die Sandalen aus und schleuderte sie in die Ecke. Sie lehnte sich gegen die Tür und kämpfte gegen die Tränen an. Serainas Zustand hatte sich drastisch verschlechtert, und sie kämpfte inzwischen um ihr Leben. Am Nachmittag war sie ins Koma gefallen. Die Ärzte waren sich nicht sicher, ob sie die Nacht überleben würde. Verschiedene Organe drohten zu versagen.

Die Türglocke erklang, und Andrina machte vor Schreck einen Satz nach vorne. Sie riss die Tür auf.

«Marco, Seraina…» Andrina verstummte.

Seraina stirbt, hatte sie sagen wollen, in der Annahme, es sei Feller. Aber er war es nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so schien. Seine Gesichtszüge ähnelten denen von Feller, sein Teint dagegen war dunkler und wirkte südländisch. Die Augen waren im Gegensatz zu Fellers blauen dunkelbraun, fast schwarz. Er hatte den gleichen Haarschnitt wie Feller. In seinen dunkelbraunen bis schwarzen Haaren war hier und da ein weisses Haar zu erkennen. Andrina schätzte ihn auf Ende dreissig.

Verunsichert grüsste Andrina den Mann.

«Ich möchte gerne zu Herrn Feller.» Hochdeutsch mit italienischem Akzent.

«Er ist nicht da», sagte Andrina in Mundart und wiederholte das Gleiche in Schriftdeutsch.

«Schweizerdeutsch ist kein Problem für mich.» Der Mann wirkte auf einmal unsicher. «Wann kommt er nach Hause?»

«Das weiss ich nicht.» Andrina wechselte zurück in Dialekt. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. «Normalerweise ungefähr jetzt, aber es könnte heute später werden.»

«Wo kann ich ihn erreichen?»

Andrina zögerte. Warum war ihr der Fremde unheimlich? Lag es an der Ähnlichkeit zu Feller? Sie wünschte sich, die Tür nicht geöffnet zu haben.

«Bitte, es ist wirklich wichtig.»

«Worum geht es?»

Sein Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an.

«Ich könnte ihm etwas ausrichten.»

«Sind Sie Signor Fellers Frau?»

«Gewissermassen.»

Verwirrung blitzte in seinen Augen auf. Fieberhaft überlegte Andrina, wie sie den Mann loswerden konnte. Die Situation kam ihr immer surrealer vor. Seine Augen wanderten zu dem Schild neben der Klingel.

«Signora Kaufmann?»

«Sì, ähm… ich meine…»

«Parla italiano?» Ein Ausdruck erschien in seinem Gesicht, der Erleichterung ähnelte, was Andrina umso mehr verwirrte. Gegen ihren Willen nickte sie.

«Darf ich Italienisch mit Ihnen reden?»

Andrina neigte den Kopf leicht nach vorne, was der Fremde offenbar als Ja deutete. «Grazie, das ist für mich einfacher, denn es ist eine lange und komplizierte Geschichte», fuhr der Mann fort. «Ich wäre nicht hier, wenn es nicht dringend wäre.»

Sag einfach, was du möchtest, dachte Andrina.

«Könnte ich bitte hier auf Signor Feller warten, wenn es Ihnen nichts ausmacht?»

Andrina spannte sich an, was dem Mann nicht verborgen blieb. Er setzte ein Lächeln auf, das erschreckend dem von Feller glich, wenn er Andrina unbedingt überzeugen wollte.

«Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Enrico Bianchi.» Er reichte Andrina die Hand, die sie mechanisch ergriff. Sein Händedruck war fest. «Ich bin Signor Fellers Bruder.»

«Glaubst du wirklich alles, was man dir erzählt?» Feller liess sich auf den Terrassenstuhl fallen. Er griff nach dem Wasserglas, das Andrina ihm hingestellt hatte, und leerte es in einem Zug.

Gerade als Andrina Bianchi hatte ins Haus bitten wollen, war Feller nach Hause gekommen. Mit einer üblen Laune. Irgendwas musste im Polizeikommando vorgefallen sein.

Als er den Fremden erblickt hatte, der sich obendrein als sein Bruder ausgab, hatte sich diese Laune explosionsartig entladen. Er hatte Bianchi unmissverständlich klargemacht, besser zu verschwinden und sie nicht weiter zu belästigen. Bianchi hatte Andrina einen resignierten Blick zugeworfen und war gegangen.

«Er sieht dir wirklich ähnlich.»

«Pah.»

«Du hättest euch nebeneinanderstehen sehen sollen. Man könnte euch wirklich für Geschwister halten.»

«Andrina! Ich habe keinen Bruder. Leider. Weisst du, wie sehr ich mir immer gewünscht habe, Geschwister zu haben?» Feller griff nach der Karaffe und schenkte sich Wasser ein.

«Warum sollte der Mann bei uns auftauchen und uns anlügen?»

«Bist du wirklich so naiv, oder tust du nur so? Okay, die Sorge um Seraina hat dein logisches Denken getrübt.»

Der Hieb sass. Andrina verschlug es die Sprache. Ihr Atem beschleunigte sich.

Feller schloss kurz die Augen. «Entschuldige. Das war mehr als unangebracht. Ich hatte einen Scheisstag, aber das ist kein Grund, es an dir auszulassen.» Er beugte sich vor und griff nach Andrinas Hand. «Es tut mir leid.» Der Ausdruck in seinen Augen unterstrich das Gesagte.

«Was ist überhaupt passiert?» Andrina schaffte es, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

«Dieser Umbau des Polizeikommandos raubt mir den letzten Nerv. Heute war es total laut, sogar bei geschlossenem Fenster. Die Hälfte unserer Leute ist in den Ferien. Leider hat sich die Arbeit nicht halbiert, und ich habe das Gefühl, jeder, der nicht weg ist, spinnt. Ich bin mehr als ferienreif. Leider muss ich bis zum Herbst warten. Dann diese Hitze…»

«Hitze und Vollmond sind nicht die ideale Kombination.»

«Da war dieser Typ vorhin das Pünktchen auf dem i.»

«Du hättest dir wenigstens sein Anliegen anhören können.»

Feller hob beide Hände. «Das hätte ich durchaus, aber nicht heute. Besonders nicht nach so einem Tag. Ausserdem ist er mir suspekt.»

«Warum?»

Feller zuckte mit den Schultern.

«Du kannst ihn überprüfen lassen. Möglichkeiten dazu hast du ja.»

«Hm.»

«So hättest du Gewissheit, wenn er wiederkommt.»

«Falls er wiederkommt. Das glaube ich jedoch nicht. Themenwechsel. Wie geht es deiner Schwester?»

Sofort schossen Tränen in Andrinas Augen. «Die Ärzte bezweifeln, dass sie diese Nacht überlebt.»

Feller stand auf und setzte sich neben sie. Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. «Möchtest du ins Spital?»

«Mike ist bei ihr.»

«Das beantwortet meine Frage nicht.»

«Er hat gesagt, ich solle diese Nacht schlafen, da ich mir die letzte Nacht im Spital um die Ohren geschlagen habe. Er ruft an, falls es eine Veränderung gäbe, falls ihr Zustand sich weiter verschlechtert.» Andrina presste die Hände gegen die Augen. «Wenn sie stirbt, habe ich niemanden mehr.»

Feller küsste Andrina auf den Scheitel. «Na, so ganz stimmt das nicht, und sie schafft es bestimmt. Du wirst sehen.»

«Ich meine, niemand wird mehr von meiner Familie übrig sein.»

«Mal den Teufel nicht an die Wand. Sie lebt, und das wird sie weiterhin.»

«Wie lange noch?»

«Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Die Ärzte tun alles, was in ihrer Macht steht. Sie schafft es. Wir müssen ganz fest daran glauben.» Er drückte sie fester an sich.

«Was geschieht mit Regina? Ich weiss, was es bedeutet, wenn man seine Eltern verliert.»

«Wo ist die Kleine überhaupt? Sollte sie nicht heute Nacht hier schlafen?»

«Nein, diese Nacht ist sie bei Mikes Eltern.»

DREI

«Das ist ja krass», sagte Gabi. Sie löste das Haarband und kämmte mit gespreizten Fingern durch ihre blonden Haare. Anschliessend fasste sie sie im Nacken zusammen.

Sie schloss die Tür des Büros, das sie sich teilten, und setzte sich Andrina gegenüber an ihren Schreibtisch.

«Erst die Sorge um deine Schwester und nun diese Geschichte. Er sah wirklich wie Marco aus?»

«Auf den ersten Blick sehen sie sich richtig ähnlich.»

«Auf den zweiten nicht mehr?»

«Marco könnte recht haben, und ich interpretiere zu viel hinein, weil ich momentan wegen Seraina nicht mehr klar denken kann. Herr Bianchi ist Italiener, und er sieht wie ein Süditaliener aus. Trotzdem weisen seine Gesichtszüge und die Augen eine gewisse Ähnlichkeit zu Marcos auf. Beide sind etwa gleich gross.»

«Vor einigen Jahren bin ich meinem Double am Strand auf Lanzarote begegnet. Ich war auf der Toilette, und als ich zurückkehrte, sah ich Frank mit einer fremden Frau sprechen. Als sie sich umdrehte, hatte ich das Gefühl, in den Spiegel zu schauen.» Gabi startete den Computer. «Wir waren beide gleich geschockt. Mit Ilona habe ich nach wie vor Kontakt. Sie lebt in der Nähe von Köln.»

«Diese Ilona hat dich im Gegensatz zu Herrn Bianchi nicht aufgesucht und behauptet, deine Schwester zu sein.»

«Nein. Es war eine Zufallsbegegnung.»

«Sie ist nicht mit dir in irgendeiner Weise verwandt?»

Gabi schüttelte den Kopf. «In einer Zeitschrift habe ich mal was über Doubles gelesen. Es kommt vor, dass sich Leute, die sich total fremd sind, ähneln. Bei Ilona und mir ist das so. Wir sind in keiner Weise verwandt.» Sie schwieg einen Augenblick.

Es klopfte an der Tür, und Lukas streckte seinen Wuschelkopf herein. «Gabi, kann ich kurz mit dir sprechen? Oh, hallo, Andrina. Wie geht es deiner Schwester?»

Andrina zuckte zusammen und gab betont konzentriert das Passwort in ihren Computer ein. Jeder fragte nach. Eigentlich nachvollziehbar, aber sie wollte am liebsten nicht darüber sprechen. Sie suchte stattdessen nach Themen, die sie von Seraina ablenkten, was mehr schlecht als recht gelang.

«Seraina lebt doch noch, oder?», hakte Lukas nach.

Andrina nickte. «Über Nacht hat sich ihr Zustand ein wenig stabilisiert. Sie liegt nach wie vor im Koma.»

Als Gabi mit Lukas den Raum verlassen hatte, startete Andrina Outlook und starrte auf die Mails. Wie sollte sie sich konzentrieren können, wenn ihre Schwester ums Überleben kämpfte?

Das Schrillen des Telefons schreckte Andrina auf. Auf dem Display las sie eine Handynummer, die sie nicht kannte.

«Buongiorno, Signora Kaufmann.»

Bevor der Mann seinen Namen genannt hatte, wusste Andrina, wer dran war. Wo hatte Bianchi ihre Telefonnummer vom Verlag her? Ganz einfach, aus dem Internet. Er würde nach ihrem Namen gegoogelt haben.

«Ich denke, mein Verlobter war gestern deutlich genug», knurrte Andrina auf Italienisch ins Telefon. Warum meldete er sich ausgerechnet bei ihr?

«Bevor Sie auflegen, lassen Sie es mich bitte erklären.» Bianchi sprach weiterhin Italienisch.

«Wie kommen Sie zu der Behauptung, Marcos Bruder zu sein?», fuhr Andrina ihn weiter an.

«Ich habe Beweise.»

Beweise? Andrina hielt inne. «Wie das?»

«Das möchte ich nicht am Telefon erklären. Können wir uns treffen?»

Daher wehte der Wind. «Für wie dumm halten Sie mich?»

«Wir können uns an einem belebten Ort treffen, falls Sie Angst haben, ich könnte Ihnen etwas antun.»

«Nehmen wir mal an, es stimmt, was Sie behaupten. Warum suchen Sie erst jetzt den Kontakt?»

«Das ist eine lange Geschichte, und ich möchte das, wie gesagt, nicht am Telefon erklären.»

Natürlich. Was für eine andere Antwort hatte Andrina erwartet?

«Warum kontaktieren Sie mich? Sie könnten es genauso gut direkt bei Marco versuchen. Schliesslich geht es um ihn und nicht um mich.»

«Ich habe das Gefühl, Sie sind empfänglicher.»

Wie bitte? In Andrina begann es zu brodeln. Was bildete sich dieser Typ ein? «Ich bin in festen Händen!», zischte sie ins Telefon.

«So habe ich das nicht gemeint.»

«Wie denn sonst?» Sie sollte das Gespräch besser beenden, doch dafür war sie zu sauer. Sie wollte diesem aufgeblasenen Kerl ordentlich die Meinung sagen.

«Ich meinte hiermit, dass Sie mir eher zuhören und eher eine Chance geben, es zu erklären. Bitte. Es hängt viel davon ab. Ich weiss nicht, was sonst passiert, wenn ich nicht mit ihm reden kann.»

Andrina war endgültig verwirrt. War das eine Drohung? Nein, der Tonfall hatte nicht danach geklungen. Bianchi wirkte eher angespannt. Es war mehr. Hatte gar Angst mitgeklungen? Warum musste dieser Mann so in Rätseln sprechen und kam nicht einfach zum Punkt?

«Marco hat mir gestern einen Korb gegeben.»

«Moment mal.» Andrina fuhr sich mit der Hand über die Stirn. «Sie kamen gestern zu uns, weil Sie Marco eröffnen wollten, er habe einen Bruder. Noch mal, warum kommen Sie erst jetzt und nicht viel früher? Sie wissen bestimmt schon lange von ihm.»

«Ich weiss das erst seit dem Tod meiner Mutter vor einem halben Jahr. Sie hat es mir auf dem Sterbebett gesagt.»

Jetzt hatte sie ihn der Lüge überführt. «Unmöglich, Marcos Mutter erfreut sich bester Gesundheit.»

«Wir haben den gleichen Vater– Claudio Feller.»

Andrina schloss für einen kurzen Moment die Augen. Das war natürlich die andere Möglichkeit. «Wie das?»

«Können wir persönlich darüber sprechen? Bitte. Da ich endlich herausgefunden habe, wo Sie wohnen– nämlich zufälligerweise in der gleichen Stadt–, möchte ich gerne meinen Bruder kennenlernen.»

Er hatte sie am Haken, und das wusste er. Er hatte es geschickt angestellt. Andrinas Neugierde würde über die Vernunft siegen.

«Okay. Wann und wo?»

«Ich lade Sie zum Mittagessen ein. Den Ort können Sie bestimmen.»

Als Andrina den Hörer zurück auf die Station stellte, verharrte ihre Hand eine Weile auf dem Telefon. War es schlau, sich mit diesem fremden Mann zu treffen? Die Pizzeria, die Andrina ausgewählt hatte, war in der Regel gut besucht, besonders über Mittag. Trotzdem machten sich Bedenken breit.

Andrina nahm die Maus und startete das Internet. Sie gab Bianchis Namen in der Google-Suchmaske ein.

Management JuraMedAG, las sie unter anderem in der Auflistung der Links. Als Andrina auf den Link klickte, erkannte sie Bianchis Foto an dritter Stelle. Head Sales– Leiter Verkauf? Er gehörte zur Geschäftsleitung dieses Pharmaunternehmens? Andrina klickte auf den Namen unter dem Foto und erhielt eine kurze Zusammenfassung zu Bianchis Person. Er war neununddreissig, also zwei Jahre älter als Feller und fünf Jahre älter als sie. Südlich von Neapel war er geboren worden. Bianchi sah in Anzug und Krawatte sehr seriös aus. Das musste jedoch nichts heissen. Trotzdem beruhigte es sie ein wenig.

Andrina betrachtete das Foto genauer. Die Ähnlichkeit mit Feller erschien ihr nicht so deutlich, wie sie sie gestern empfunden hatte, als er vor ihr gestanden war. Dennoch war sie da, wenn man lange genug hinschaute. Die Augen hatten die gleiche Form, und die Kinnpartie ähnelte der von Feller. Da Feller mehr von Claudio als von Laura geerbt hatte, konnte es also durchaus sein, dass die beiden denselben Vater hatten. Andrina neigte den Kopf und versuchte das Bild aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die vage Ähnlichkeit blieb. Oder bildete sie sich diese nur ein, weil sie Bianchi glauben und daher eine Ähnlichkeit sehen wollte? Andrina erschrak. Hatte er sie etwa überzeugt? Sie musste misstrauisch bleiben, bis Bianchi konkrete Beweise lieferte. Des Weiteren musste sie wissen, warum er den Kontakt suchte. Lag es nur an den Familienbanden, oder gab es einen anderen Grund? Womöglich einen nicht sehr seriösen, wie Feller gestern wiederholt gesagt hatte. Da war es besser, gut vorbereitet zu sein.

Kurz erwog sie, Feller zu informieren, liess es aber lieber. Er würde dagegen sein, wenn sie sich mit dem Mann traf. Es war früh genug, ihm heute Abend davon zu erzählen. Zuerst musste sie herausfinden, um was es wirklich ging.

Ausserdem würde sie das Mittagessen ein wenig von Seraina ablenken. Andrina warf einen letzten Blick auf Bianchi, der ihr von ihrem Bildschirm aus entgegenlächelte. Sympathisch sah er jedenfalls aus.

Andrina schloss das Internet und rief erneut ihre E-Mails auf. Es würde gar nicht so einfach sein, sich zu konzentrieren.

* * *

Eine Geruchsmischung aus Pizza, Pasta und Kaffee schlug Andrina entgegen, als sie sich der Pizzeria Riviera im Schachen näherte. Sie war eine Viertelstunde zu spät und sah sich um. Bis auf zwei waren alle Tische unter den Sonnenschirmen auf der Terrasse besetzt, und es herrschte ein grosser Lärmpegel von Besteckgeklapper und Gesprächen. Nirgends konnte sie Bianchi entdecken. Entweder war er gegangen, oder er sass drinnen. Als Andrina sich der Tür zuwandte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Gleich darauf entdeckte sie Bianchi an einem der Zweiertische am Rand der Terrasse.

Bianchi stand auf und lächelte Andrina mit Fellers Lächeln an.

«Entschuldigen Sie bitte, wenn ich zu spät bin», sagte Andrina in Schweizerdeutsch. «Ich bin aufgehalten worden.»

«Kein Problem», erwiderte er auf Italienisch. «Ich bin froh und dankbar, dass Sie überhaupt gekommen sind.» Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und bat Andrina, sich zu setzen.

«Im Verlag läuft momentan sehr viel.» Sie wechselte ins Italienische und verwünschte sich dafür, weil sie das Gefühl hatte, Bianchi die Führung, wie ihr Gespräch verlaufen sollte, in die Hand zu geben. Mit dem Zeigefinger und dem Daumen spielte sie an ihrem Kettenanhänger. Warum war sie so nervös? «Im nächsten Monat kommen fünf neue Krimis raus, aber die Druckerei hat Mist gebaut. Darum sind wir in Zeitnot.» Warum erzählte sie ihm das, als sei er ein alter Bekannter? Lag das an der Ähnlichkeit zu Feller? In natura glich Bianchi Feller nämlich mehr als auf dem Foto im Internet.

Der Kellner kam. Ohne einen Blick in die Karte geworfen zu haben, bestellte Andrina Wasser, eine Pizza Mascarpone mit Rohschinken und einen gemischten Salat. Bianchi hob eine Augenbraue und bat nach kurzem Zögern um das Gleiche.

«Sie essen offenbar öfter hier», sagte er.

«Ja, das Essen ist hier gut, besonders die Pizza Mascarpone habe ich sehr gerne.»

«Eine Kalorienbombe.» Er musterte sie. «Bei Ihnen scheint das kein Problem zu sein.»

Andrina spürte, wie sie errötete. Rasch schaute sie zur Seite. Lass das, du bist nicht zum Flirten hier. Sie verfluchte sich, weil er sie so einfach aus dem Konzept hatte bringen können.

«Möchten Sie ein Glas Wein?» Bianchi, der sie genau beobachtete, deutete mit der Hand auf die Weinkarte vor sich.

«Lieber nicht», sagte Andrina. Sie war nicht richtig bei der Sache. Im Grunde fühlte sie sich dem Treffen nicht gewachsen, da ihre Gedanken unaufhaltsam zu Seraina schweiften. Zusätzlich würde Wein die Situation nicht vereinfachen und ihre Konzentration weiter mindern. «Sonst sehe ich nachher die Buchstaben doppelt.»

Ein Lächeln erschien auf Bianchis Gesicht. Fältchen bildeten sich in den Augenwinkeln.

Der Kellner brachte das Wasser. Nachdem er eingeschenkt hatte und zwei Tische weitergeeilt war, beugte sich Bianchi vor.

«Am besten erzähle ich Ihnen erst einmal, wer ich bin. So können Sie sich ein Bild von mir machen. Ich meine, ein richtiges Bild. Ich bin in Palinuro aufgewachsen. Das ist südlich von Neapel. Nach der Schule habe ich Pharmazie studiert, fand aber nach dem Abschluss keinen Job. Meine Mutter meinte, ich solle es in der Schweiz versuchen. Damals wusste ich nichts von ihren beziehungsweise meinen Verbindungen in die Schweiz. Im Tessin bekam ich eine Stelle und arbeitete dort gut vier Jahre, bis ich einen Job als Aussendienstmitarbeiter bei einem Pharmaunternehmen annahm.»

«Bei der JuraMedAG?»

«Ich sehe, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.»

«Ich wollte wissen, mit wem ich es zu tun habe.»

«Vernünftig und verständlich.» Er lächelte. «Nein, zu JuraMed kam ich erst später. Vor fünf Jahren habe ich mich dort um die Stelle als Verkaufsleiter beworben.»

«Offenbar hatten Sie Glück.»

Bianchi neigte den Kopf zur Seite. Der Kellner brachte den Salat, und sie assen einen Augenblick schweigend.

«Haben Sie sich in Aarau beworben, weil Sie von Marco und seinem Vater wussten?»

«Nein. Ich wollte einen Karrieresprung machen, und JuraMed ist ein kleines, aber feines Unternehmen.» Ein Schatten huschte über sein Gesicht. «Zumindest war das bis vor Kurzem so.»

«Warum bis vor Kurzem?»

«Vergessen Sie es.» Er nahm ein Stück Brot und tupfte die Salatsauce vom Teller. Wieso wirkte er dabei so konzentriert und schaute Andrina nicht mehr offen in die Augen, wie er es bisher gemacht hatte? Irgendwo hinten in ihrem Kopf meldete sich eine Alarmglocke.

«Als Sie nach Aarau kamen, wussten Sie also nichts von Marco», nahm Andrina den Faden wieder auf, da Bianchi beharrlich schwieg.

Bianchi schüttelte den Kopf. «Meine Mutter hat mir erzählt, mein Vater habe uns wegen einer anderen sitzen gelassen. Sie hat es mir erst erzählt, als ich achtzehn wurde. Vorher nahm ich an, der Mann meiner Mutter sei automatisch mein leiblicher Vater.» Nach wie vor war er mit dem konzentrierten Auftupfen der Salatsauce beschäftigt. Er wirkte, als würde er eine unangenehme Aufgabe vor sich herschieben.

Der Mann meiner Mutter, wiederholte Andrina in Gedanken. Sie hatte offenbar wieder geheiratet. War sie überhaupt mit Claudio verheiratet gewesen, und hatte er sie verlassen? Andrina versuchte sich zu erinnern, was sie über Fellers Eltern wusste, und rechnete nach. Es könnte durchaus hinkommen. Wusste Laura von einer möglichen früheren Ehe und einem Sohn? Hätte sie Claudio überhaupt geheiratet, wenn ihr das bekannt gewesen wäre? Sie hatte sehr strikte, nicht immer nachvollziehbare Prinzipien, und ein Kind aus erster Ehe passte da definitiv nicht rein. Claudio hätte gar keine Chance bei ihr gehabt.

Bianchi lehnte sich nach hinten, als der Kellner die leeren Salatteller wegräumte. Nachdem der Kellner davongeeilt war, beugte er sich zu Andrina vor und schaute ihr in die Augen, als wollte er ihr sagen, dass er bereit für Fragen sei.

«Ihre Mutter hat also wieder geheiratet?»

«Sie war vorher nicht verheiratet. Es war für sie nicht leicht, ohne Mann schwanger zu sein. Sie lebte in Armut. Das besserte sich erst, als sie ein oder zwei Jahre nach meiner Geburt meinen Vater, ich meine, meinen emotionalen Vater heiratete, Paolo Bianchi.»

Vor Andrinas innerem Auge tauchte Claudio Feller auf. Er war nicht der Typ für eine flüchtige Affäre. Genauso wenig konnte sie sich vorstellen, dass er seine Freundin sitzen liess, wenn sie ein Baby von ihm erwartete. Zwischen den beiden musste etwas Unschönes vorgefallen sein, bevor sie sich getrennt hatten. Sosehr die Fragen auch unter Andrinas Nägeln brannten, sie riss sich zusammen, um Bianchi nicht zu unterbrechen. «Erst kurz bevor meine Mutter starb, erzählte sie von meinem biologischen Vater.» Bianchi verstummte, als der Kellner die Pizzen vor ihnen auf den Tisch stellte. Andrina ignorierte sie. Sie hing förmlich an Bianchis Lippen. Mit der Hand deutete er auf Andrinas Teller. «Bitte fangen Sie an. Kalt schmeckt sie bestimmt nicht mehr so gut.»

«Ihr biologischer Vater soll also Claudio Feller sein?», fragte Andrina, nachdem sie einige Bissen gegessen hatte. Sie spürte, wie es in ihrem Gesicht arbeitete. Bianchi schaute sie unverwandt an, als wolle er ihren Ausdruck deuten. Jetzt mussten Misstrauen und Unglaube deutlich erkennbar sein. Sie sollte es endlich schaffen, eine nichtssagende Miene aufzusetzen, damit er seine Geschichte nicht nach ihren Reaktionen anpassen konnte. Das alles passte nicht zu Fellers Vater.

«Genau.» Bianchi tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, ohne seine Augen abzuwenden. «Ich merke, Sie haben Ihren Schwiegervater sehr gerne und können sich nicht erklären, wie er so ein…», er suchte nach einem passenden Wort, «so ein Mistkerl sein kann und seine schwangere Freundin sitzen lässt.»

Andrina nickte.

«Ich kann Sie beruhigen, er ist kein Mistkerl.»

Verwirrt schaute Andrina ihn an.

«Er und meine Mutter lernten sich in Neapel kennen, wo er als Austauschstudent für ein Jahr Italienisch lernte. Sie verliebten sich, was von den Eltern meiner Mutter nicht gerne gesehen wurde. Sie setzten alles daran, die Beziehung zu zerstören. Das ist ihnen offenbar gelungen. Kurz bevor Claudio zurück in die Schweiz fuhr, musste etwas vorgefallen sein, was zu einem Bruch zwischen den beiden geführt hat. Meine Mutter ist hier nicht ins Detail gegangen. Er reiste ab, ohne sich mit ihr ausgesprochen zu haben. Einen Monat nach seiner Abreise merkte meine Mutter, dass sie schwanger war. Sie zog in Erwägung, Claudio zu informieren, liess es aber auf Druck ihrer Eltern sein. Es war schlimm genug, schwanger zu sein. Sex vor der Ehe– ein schlimmeres Vergehen gab es nicht. Verschlimmert wurde es durch die Tatsache, dass Claudio– der Vater– ein Ausländer war. Sie war der Schandfleck der Familie und musste zurück nach Palinuro, wo sie auf dem Hof ihrer Eltern half.»

«Das heisst, Claudio hat nie von Ihnen erfahren?»

«Genau.»

«Es gab nie mehr einen Kontakt zwischen ihm und Ihrer Mutter?» Warum konnte sie das nicht glauben? Sie an der Stelle von Bianchis Mutter hätte trotz allem Nachforschungen angestellt.

«Er hat zwei oder drei Briefe geschrieben, die von meinen Grosseltern abgefangen wurden. Das hat meine Mutter erst Jahre später erfahren. Da war ich ungefähr drei Jahre alt, wie sie mir gesagt hat. Sie sprach lange mit meinem Vater darüber, und sie kamen zu dem Schluss, nach Claudio zu suchen, um ihm von mir zu erzählen. Sie stellte Nachforschungen an und fand heraus, dass Claudio inzwischen verheiratet war und einen kleinen Sohn hatte.»

«Marco.»

«Genau. Sie beschloss, es definitiv sein zu lassen. Claudio hatte eine Familie, und sie waren glücklich miteinander. Warum dieses Glück zerstören? Bitte essen Sie weiter. Es wäre schade um die Pizza.»

Andrina schaute auf ihren Teller. Sie hatte nur einige Bissen gegessen, da sie gebannt Bianchis Ausführungen gefolgt war. Wie schaffte er es, sie so zu manipulieren, dass sie mit angehaltenem Atem seiner Geschichte folgte?

«Lebt Ihr Vater noch? Ich meine, Ihr Vater in Italien?»

«Er starb vier Jahre vor meiner Mutter an Lungenkrebs.»

Schweigend assen sie für einige Minuten. Die Gedanken kreisten unaufhörlich in Andrinas Kopf. War die Geschichte glaubwürdig? Wenn sie das wüsste. Sie schielte zu Bianchi hinüber. Bis jetzt gab es nur diese Geschichte und keinen weiteren Grund, warum er nach Feller suchte. Einen handfesten Beweis hatte er nicht geliefert.

«Warum haben Sie nicht sofort Kontakt zu Claudio aufgenommen, nachdem Sie die Geschichte erfahren hatten?»

«Meine Mutter nahm mir das Versprechen ab, keine Nachforschungen anzustellen. Nach ihrem Tod musste ich erst herausfinden, wo sie wohnten, und war sehr erstaunt, weil Marco ebenfalls in Aarau lebt.»

«Das finde ich ein wenig zu viel Zufall.»

«Nochmals, ich nahm die Stelle hier an, bevor ich davon erfuhr.»

«Hat Ihre Mutter sich nie dazu geäussert?»

«Rückblickend habe ich das Gefühl, es war ihr nicht recht. Meine Mutter hat zwar gefragt, warum ich unbedingt nach Aarau wolle, aber sie sah ein, dass es ein Karrieresprung für mich war, und beliess es dabei.»

«Wieso brechen Sie heute das Versprechen und nehmen, sozusagen gegen den Willen Ihrer Mutter, Kontakt zu Marco auf?»

Schweigend schaute Bianchi Andrina an. Das war der Knackpunkt an der Geschichte. Jetzt würde sich herausstellen, ob er ehrliche Absichten hatte oder ob mehr dahintersteckte und Feller am Ende recht behielt.

Der Kellner räumte die Teller ab und fragte sie, ob sie gerne ein Dessert oder einen Kaffee hätten.

Andrina schüttelte den Kopf. Bianchi bestellte einen Espresso. Dabei waren seine Augen unentwegt auf Andrina gerichtet. Andrina schaffte es, kein Wort zu sagen und weiterhin auf die Antwort zu warten. Das Schweigen dehnte sich aus und wurde unangenehm. Der Kellner brachte den Espresso. Bianchi trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück. Als er aufschaute, hatte sich der Ausdruck in seinen Augen verändert. War es Angst, die sie darin sah?

«Trotz allem glaubte meine Mutter an die Bande einer Familie, auch wenn diese Familie auseinandergerissen ist und die Mitglieder nichts voneinander wissen. Sie würde Verständnis haben.»

Das war keine Antwort auf ihre Frage. Er wich aus. Warum? Andrinas Augen bohrten sich in Bianchis. Er schien ihr Misstrauen zu spüren und rang mit sich.

Das Handy, das neben seinem Glas lag, klingelte. Bianchi schrak zusammen. Er lächelte Andrina entschuldigend an und nahm das Gespräch entgegen.

«Wie bitte», sagte er auf Deutsch. «Nein, nichts machen. Ich komme sofort.»

Er unterbrach das Gespräch und warf Andrina einen neuen entschuldigenden Blick zu.

«In der Firma ist was schiefgelaufen. Ich muss sofort los.»

Wie praktisch, dachte Andrina. In dem Moment, in dem es für ihn unangenehm wird, haut er ab. Oder gehörte der Telefonanruf zu einem ausgeklügelten Plan? So einfach kam er ihr nicht davon.

«Moment.» Andrina beugte sich über den Tisch und griff nach seinem Arm. Erschrocken über ihre Geste liess sie sofort los.

«Ich weiss, wir sind noch nicht fertig.» Er hob die Hand und gab dem Kellner ein Zeichen, ihm die Rechnung zu bringen. Als Andrina ihr Portemonnaie hervorholte, winkte Bianchi energisch ab. «Sie sind mein Gast.»

Andrina folgte Bianchi Richtung Parkplatz. Es wurde immer heisser, und die Schwüle war beinahe nicht auszuhalten. Trotz des dünnen Sommerkleides schwitzte sie und hatte das Gefühl, die gesamte Hautoberfläche wäre von einem klebrigen Film überzogen.

«Wie geht es weiter?»

«Darf ich Sie bitten, bei Marco ein gutes Wort für mich einzulegen? Ihn zu beruhigen, dass ich nichts von ihm will ausser meinen Bruder kennenlernen?»

«Was meinen Sie mit ‹nichts von ihm wollen›?»

«Wissen Sie, ich habe mir immer Geschwister gewünscht.»

Genau das Gleiche hatte Feller Andrina am Vorabend gesagt. «Nie hätte ich gedacht, dieser Traum könne in Erfüllung gehen. Genau kurz vor dem Ziel klappt es nicht.»

Von Neuem wich er aus.

«Das heisst, Sie haben keine Geschwister?»

«Nach meiner Geburt konnte meine Mutter keine Kinder mehr bekommen.»

«Was meinten Sie vorhin mit ‹nichts von ihm wollen›?», wiederholte Andrina ihre Frage.