Der Metzger von Aarau - Ina Haller - E-Book

Der Metzger von Aarau E-Book

Ina Haller

4,3

Beschreibung

In Aarau wird eine Anschlagserie auf Supermärkte verübt. Gleichzeitig erhält der Verlag, für den Andrina arbeitet, Postsendungen mit abgehackten Händen. Die Kantonspolizei unter der Leitung von Marco Feller steht vor einem Rätsel, noch dazu verschwindet eine Polizeibeamtin spurlos. Dann gerät Andrina ins Visier des Täters, und der Polizei droht endgültig die Zeit davonzulaufen . . . Starke Figuren, ein rasanter Plot und viel Aarau-Kolorit: gefährlich, romantisch und geheimnisvoll.

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Ina Haller wurde 1972 geboren. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kurz- und Kindergeschichten sowie Kriminalromane. Sie lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Im Emons Verlag erschienen «Tod im Aargau» und «Gift im Aargau».www.inahaller.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende findet sich ein Glossar.  

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/*princessa* Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-763-5 Originalausgabe

Für Urs, Pascale, Rebecca und Manuela

EINS

Eine Windböe fegte über den Parkplatz und wirbelte Blätter umher. Einzelne Regentropfen schlugen auf den Boden auf. Andrina presste das Veloschloss zusammen und rannte auf den Eingang der kleinen Coopfiliale an der Herzogstrasse zu. Auf halbem Weg öffnete der Himmel die Schleusen. Sie beschleunigte und erreichte das Vordach. Sie atmete stossweise. So ein Mistwetter. Das hatte ihr noch gefehlt. Eine neue Windböe schlug ihr den Regen ins Gesicht. Sie wich noch ein Stück zurück. Ein Schmerz fuhr wie ein Blitz in ihren Unterleib. Sie presste die Hand auf den Bauch und krümmte sich leicht nach vorne. Der Spurt war alles andere als ideal gewesen. Sie versuchte, langsam durch die Nase ein- und durch den Mund auszuatmen. Nach und nach verebbte der Schmerz ein wenig. Tränen schossen ihr in die Augen. Wütend wischte sie sie fort.

Die letzten Tage waren eine Achterbahn der Gefühle. Auf der einen Seite hatte sich Freude eingestellt, auf der anderen jedoch so etwas wie Unsicherheit und Beklemmung. Letztes Wochenende hatte sie beschlossen, es endlich Feller zu sagen, aber die ganze Woche hatte sich keine passende Gelegenheit ergeben. Gestern Abend hatte der Körper ihr das Problem abgenommen, und das Thema hatte sich von selbst erledigt.

Wieder fegte der Wind Regen unter das Vordach. Andrina warf einen Blick auf die Baustelle auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Die ganze Strasse wurde aufgerissen, da die Kanalisation erneuert werden musste. Die Bauarbeiter hatten Schutz beim Transformatorenhäuschen, das sich neben dem Stadtbach befand, gesucht. Dicht gedrängt standen sie beieinander und rauchten. Sie schienen eine heftige Diskussion zu führen.

Andrina wandte sich um und stutzte. Die Glasschiebetür war halb geöffnet, und das Innere war dunkel. Andrina schaute auf die Uhr. Kurz vor halb sechs. Nein, zu spät war sie nicht dran. Sie schaute über die Schulter zurück auf die Strasse. Es schien bereits zu dämmern. Reichlich früh, fand Andrina. Aber das konnte natürlich an dem Gewitter liegen. In keinem der umliegenden Häuser brannte Licht. Die Strassenlaternen hatten sich auch nicht eingeschaltet.

Andrina streckte den Kopf in die Filiale und konnte im Halbdunkel eine Gestalt an der Kasse ausmachen.

«Kommen Sie nur herein. Der Strom ist schon vor einer Viertelstunde ausgefallen. Das ganze Quartier ist ohne Strom. Die Arbeiter auf der Baustelle haben ein Kabel getroffen. Hoffentlich haben sie den Schaden bald behoben.»

«Gibt es keine Notbeleuchtung?»

«Eigentlich schon, aber die ist ebenfalls ausgefallen. Dabei wurde das Notstromsystem erst letzte Woche gewartet. Ich arbeite seit zehn Jahren hier, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Es funktioniert überhaupt nichts mehr.»

«Kann ich trotzdem einkaufen?» Inzwischen hatten sich Andrinas Augen an das schummrige Licht gewöhnt, und sie erkannte die Gesichtszüge der dunkelhaarigen Kassiererin.

«Wenn Sie bar zahlen, ist es kein Problem.» Sie hob einen Taschenrechner hoch. «Sonst müssten Sie in die Stadt. Die Innenstadt ist nicht betroffen.»

Andrina schaute kurz zur Tür in den Regen. Nicht sehr verlockend. Sie strich die nassen Haare aus dem Gesicht, holte ihr Portemonnaie hervor und inspizierte den Inhalt. «Ich kann bar bezahlen.»

Andrina griff einen Einkaufskorb und schlenderte zwischen den Regalen hindurch. Der halbdunkle Laden wirkte gespenstisch. Sogar die Kühlregale waren unbeleuchtet. Sie schien die einzige Kundin zu sein. Andrina legte ein Päckchen Nudeln in den Korb, bog um das Regal herum und blieb stehen.

Auf dem Boden lag eine Gestalt. In dem Dunkeln hoben sich die Konturen kaum von den Regalen ab. Andrina stellte den Korb auf den Boden und machte fünf Schritte auf die Gestalt zu.

Eine Person mit langen dunklen Haaren, die sich wie ein Fächer um den Kopf ausbreiteten, lag bäuchlings auf dem Boden und hatte die Beine ausgesteckt. Die Arme befanden sich unter dem Körper. Andrina bückte sich und rüttelte sanft an der Schulter der Frau.

«Ist alles in Ordnung mit Ihnen?»

Keine Reaktion.

«Sind Sie gestürzt?»

Keine Antwort.

Andrina tastete am Hals nach dem Puls. Ein leichtes, oberflächliches Pochen war zu spüren. Vorsichtig drehte Andrina die Frau auf den Rücken und strich ihr die langen dunklen Haare aus dem Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Das Gesicht wirkte gespenstisch weiss. Die Hände der Frau waren auf den Bauch gepresst. Dort wo sie gelegen hatte, war ein grosser dunkler Fleck.

Andrina griff nach den Händen und spürte eine klebrige Flüssigkeit zwischen ihren Fingern. Jetzt nahm sie auch den leicht metallischen Geruch wahr.

Blut!

Inzwischen war das Licht angegangen, doch die Neonröhren flackerten beängstigend. Andrina befürchtete, sie würden gleich wieder erlöschen. Sie schaute sich in dem Büroraum um, der eher wie ein Lager wirkte. Kisten waren im ganzen Raum gestapelt. Grosse Plastiksäcke, die mit Petflaschen gefüllt waren, standen in der Ecke.

Andrinas Blick fiel auf ihre Hände, die auf der Tischfläche lagen. Zwar hatte sie sie mit heissem Wasser und viel Seife geschrubbt, trotzdem hatte sie das Gefühl, das Blut würde unsichtbar an ihnen haften. Der Geruch hing nach wie vor deutlich in ihrer Nase. Erneute Übelkeit stieg in ihr auf. Mit einer heftigen Bewegung schob sie die Tasse Tee von sich, die ihr die Kassiererin hingestellt hatte.

Zum wiederholten Mal spielte sich die Szene vor ihrem inneren Auge ab. Nach ihrem Aufschrei war die Kassiererin herbeigeeilt. Diese hatte eine Packung Putztücher aus dem Regal genommen, aufgerissen und Andrina die Tücher zugeworfen. Andrina hatte die Tücher der verletzten Frau fest auf den Bauch gepresst. In kürzester Zeit waren sie blutdurchtränkt gewesen. Andrina hatte versucht, so viel Druck wie möglich auszuüben, aber das Blut war weiter unter den Tüchern und zwischen ihren Fingern hervorgesickert.

Besser wäre es gewesen, Handschuhe anzuziehen. Allerdings hatte sie nicht wie Feller standardmässig Latexhandschuhe in der Handtasche. Was war, wenn die Frau krank war und Andrina sich an dem Blut angesteckt hatte? Vielleicht hatte sie Aids. Andrina schaute auf ihren rechten Zeigefinger. Am Morgen hatte sie sich im Büro an einem Blatt Papier geschnitten.

Was für Gedanken machst du dir eigentlich, schalt sie sich. Die Frau schwebte in Lebensgefahr und überlebte vermutlich nicht. Warum hatte sie eine so stark blutende Wunde im Unterleib?

Andrina war mit einem Mal eiskalt. Sie griff nach der Tasse und schnupperte. Schwarztee. Sie überwand sich und trank einen kleinen Schluck. Die inzwischen lauwarme Flüssigkeit rann ihre Kehle hinunter. Im Magen machte sie kehrt und schoss wieder nach oben. Andrina sprang auf und rannte zu dem Waschbecken, das sich neben den Säcken mit den Petflaschen befand.

Nachdem der Würgereiz abgeebbt war, fühlte sie sich ein wenig besser, auch wenn sie immer noch stark vor Kälte zitterte. Sie spülte das Becken aus und trat ans Fenster. Andrina öffnete es und sog die kühle Luft in ihre Lungen. In ihrem Magen rumorte es weiterhin, aber die Übelkeit hatte nachgelassen.

Andrina wandte sich um und starrte auf die geschlossene Tür. Sie konnte Gemurmel von der anderen Seite ausmachen. Jemand lachte. Wie konnte man in so einer Situation lachen? Lebte die Frau überhaupt noch?

Nach einer gefühlten Ewigkeit waren Sanitäter gekommen und hatten Andrina zur Seite geschoben. Die Kassiererin hatte sie in dieses Büro gebracht.

«Die Polizei sollte gleich da sein», hatte sie gesagt.

Andrina stiess sich von der Fensterbank ab und durchquerte den Raum. Vor dem grauen Tisch blieb sie stehen und starrte auf das Chaos, das darauf herrschte. Die Tastatur des Computers verschwand unter Briefen, Bestellbögen und anderen Papieren. Die Kassiererin hatte nur einen kleinen Teil zur Seite geschoben, um Platz für die Tasse zu schaffen. Die Neonröhre an der Decke flackerte immer stärker.

Ängstlich hob Andrina den Kopf. Sie löste die Haarspange und schüttelte ihre dunklen langen Haare, bis sie in leichten Wellen über ihre Schultern herabfielen. Andrina wollte die Haarspange in ihre Hosentasche stecken, überlegte es sich jedoch anders und band die Haare im Nacken zu einem losen Rossschwanz zusammen.

Warum brauchte die Polizei so lange? Beamte von der Kripo müssten längst vor Ort sein. Andrina wünschte sich, Marco Feller würde kommen, aber er war an einer Fortbildung in Bern und würde erst am späteren Abend zurück sein. Ausserdem würde er sie nicht befragen dürfen, da er als ihr Freund befangen war.

Die Tür wurde geöffnet. Erschrocken fuhr Andrina herum. Ein Mann, der Anfang vierzig sein musste, betrat den Raum. Er musterte Andrina mit seinen dunkelbraunen Augen und schloss die Tür. Seine dunkelbraunen Haare waren glatt nach hinten gekämmt und kräuselten sich im Nacken.

Der Mann kam auf sie zu und zog leicht das linke Bein nach.

«Frau Kaufmann?», fragte er.

Jetzt, wo er dicht vor ihr stand, konnte sie erkennen, dass seine Haare feucht waren. Der Mann wäre attraktiv gewesen, hätte er nicht diesen verhärmten Gesichtsausdruck gehabt.

Zögernd nahm Andrina die Hand, die er ihr reichte.

«Ich bin Samuel Häusermann von der Kripo Aargau. Gerne würde ich Ihnen einige Fragen stellen.»

Häusermann? Andrina durchforschte ihr Gehirn. Hatte Feller diesen Namen mal erwähnt? Sie konnte sich nicht erinnern. Vielleicht gehörte Häusermann zu einer anderen Abteilung.

Häusermann deutete mit der Hand auf den Stuhl, auf dem Andrina vorher gesessen hatte. Er selbst zog sich einen anderen heran und setzte sich mit einem Aufseufzen. Das linke Bein streckte er aus und rutschte ein wenig hin und her, bis er eine bequeme Position gefunden zu haben schien. Aus seiner Jackentasche holte er ein Notizbuch. Er schlug es auf, und Andrina konnte erkennen, wie er das Datum und «Befragung der Zeugin Andrina Kaufmann» notierte.

«Warum waren Sie im Laden?», begann er.

Andrina fragte sich, wieso das so barsch klang. Es hörte sich an, als sei es ein Verbrechen, in einer Coopfiliale zu sein.

«Ich wollte einkaufen.» Andrina schilderte, wie sie den Laden betreten hatte.

«Waren Sie die einzige Person im Laden, abgesehen von der Verkäuferin?»

«Ich habe niemanden sonst gesehen.»

«Sie sind also zwischen den Regalen durchgegangen und haben Ihren Einkaufskorb gefüllt?»

Andrina nickte.

«Konnten Sie überhaupt was erkennen?»

«Nicht sehr viel. Ich kaufe allerdings öfter hier ein und weiss, wo die Sachen stehen, die ich brauche.»

«Wie sind Sie auf Géraldine Hüssi gestossen?»

«Wer ist das?»

«Das ist die Frau, auf die geschossen wurde.»

Geschossen! Die Übelkeit war wieder da. Wenn der Frau in den Bauch geschossen worden war, war klar, warum sie so viel Blut verloren hatte. Würde sie überleben? Lebte sie überhaupt noch? Warum schoss jemand auf eine Frau, die einkaufen war? Vermutlich nicht, um sie auszurauben. Sie hatte offenbar ihren Ausweis in der Handtasche gehabt, sonst wüsste die Polizei nicht, wer sie war. Vielleicht hatte die Kassiererin sie gekannt und der Polizei die entsprechende Information gegeben. Das war die andere Möglichkeit.

Die Gedanken vermischten sich immer mehr, und Andrinas Verwirrung stieg. Sie realisierte, dass Häusermann mit ihr sprach.

«Entschuldigen Sie bitte, ich war in … in Gedanken.»

«Kein Problem. Das muss ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein.» Er klang besorgt. Der barsche Tonfall war verschwunden, und sein Gesicht hatte einen weichen Zug angenommen. «Können wir das Gespräch fortsetzen, oder möchten Sie zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden?»

Der Ausdruck in seinem Gesicht sagte klar und deutlich, welche Variante er bevorzugte.

«Es geht schon», sagte Andrina. «Wird sie überleben?»

Häusermann öffnete den Mund, hielt aber kurz inne.

«Wir wissen es nicht. Der Krankenwagen ist abgefahren, als wir eingetroffen sind. Zu diesem Zeitpunkt hat sie gelebt, aber sie hat sehr viel Blut verloren. Ihr Zustand ist mehr als kritisch.»

Andrina senkte den Kopf und zupfte an einem Hautfetzen neben dem Daumennagel.

«Wie haben Sie Frau Hüssi gefunden?», wiederholte Häusermann seine Frage.

Warum klang das wieder so barsch? Er schien sie nicht zu mögen, oder bildete sie es sich nur ein?

«Sie lag am Boden.»

«Sie sind zu ihr hingegangen. Warum? Neugier?»

Wieder dieser abfällige Unterton in der Stimme. Andrina zwang sich, ruhig zu bleiben. Wenn sie wütend wurde, half das niemandem. Am wenigsten der verletzten Frau.

«Es war unheimlich. Als ich näher heranging, erkannte ich, dass es eine Frau war.»

In stockenden Sätzen berichtete Andrina, was sie gemacht hatte. Hin und wieder machte Häusermann eine Notiz.

Als sie geendet hatte, setzte Schweigen ein, was Andrina als unangenehm empfand. Häusermann schien darauf zu warten, ob sie etwas anfügen wollte. Das Schweigen zog sich in die Länge. Schliesslich gab er ihr seine Visitenkarte.

«Das reicht mir fürs Erste. Falls Ihnen noch etwas einfällt, wäre ich froh, wenn Sie mir Bescheid geben könnten. Darf ich zum Schluss Ihre Personalien aufnehmen, falls ich noch Rückfragen habe?»

Er notierte Andrinas Adresse und runzelte für einen kurzen Moment die Stirn. Dann glätteten sich die Falten, und er stand auf. Andrina erhob sich ebenfalls.

«Darf ich gehen?»

Sie hoffte, ihre Erleichterung war nicht allzu deutlich. Sie konnte es nicht erwarten, endlich von Häusermann wegzukommen.

«Ja, aber wie bereits gesagt, falls Sie sich an etwas erinnern, auch wenn es Ihnen völlig banal erscheint, melden Sie sich bitte.»

ZWEI

«Du scheinst wirklich eine besondere Begabung für solche Sachen zu haben», sagte Feller und trank seinen Espresso aus.

«Ich finde das nicht witzig.»

«Das war nicht als Witz gemeint.» In seinem Gesicht blitzte Besorgnis auf.

Die Fortbildung gestern hatte länger gedauert als geplant, und anschliessend waren die Kursteilnehmer essen gegangen.

Feller schnitt ein Brötchen auseinander und bestrich es mit Butter und Konfitüre.

Andrina zog einzelne kleine Teigfetzen aus dem Inneren ihres Brötchens und drapierte sie auf dem Tellerrand. Sie schob sie hin und her und betrachtete die Muster, die dabei entstanden. Mit dem Zeigefinger ordnete sie die Brocken neu zu einem Herzen.

«Du solltest ein wenig essen.»

«Ich habe keinen Hunger.»

«Trotzdem. Trink erst einmal deinen Cappuccino, bevor der Schaum ganz in sich zusammengefallen ist.»

Andrina streute ein wenig Zucker auf den Schaum, rührte um und schleckte den Löffel ab.

«Weisst du, wie es ihr geht?»

Feller antwortete nicht.

«Ich weiss, du darfst nicht darüber reden. Aber ich war es, die sie gefunden und Erste Hilfe geleistet hat. Daher werde ich diese Auskunft wohl erhalten dürfen.»

Er lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust. Lange betrachtete er Andrina.

«Also gut. Du wirst eh keine Ruhe geben. Sie hat die Operation überstanden. Ansprechbar ist sie aber nicht. Die Ärzte behalten sie im künstlichen Tiefschlaf, da ihr Zustand immer noch sehr kritisch ist. Sie hat sehr viel Blut verloren.»

«Was ist mit ihr? Ich meine, Herr Häusermann sagte etwas davon, auf sie sei geschossen worden. Stimmt das wirklich?»

Während Andrina sich in der Nacht hin- und hergewälzt hatte, hatte sie sich gefragt, warum jemand auf eine Kundin in einer Coopfiliale schoss.

Feller schien mit sich zu ringen, gab aber nach einer Weile nach. «Gemäss den Ärzten ist der Schuss in die rechte Bauchseite gegangen. Die Leber wurde verletzt. Das erklärt den hohen Blutverlust. Ein Teil der Leber musste operativ entfernt werden.»

«Die Leber? Geht das denn? Ich meine, ohne sie kann man nicht leben, oder?» Andrina wurde eiskalt.

«Nach Angaben der Ärzte hat die Leber ein hohes Regenerationspotenzial. Falls Frau Hüssi überlebt, wächst sie wieder nach.»

«Das heisst, sie wird ganz normal weiterleben können, ohne Beschwerden?»

«Wenn ich das richtig verstanden habe, ja. Aber sie muss das Ganze erst einmal überleben, und da sind die Chancen nicht besonders gross. Ihr Zustand ist momentan sehr kritisch. Immerhin hat sie die Nacht überlebt, und ich bin einfach mal vorsichtig optimistisch, dass sie es schaffen wird.»

«Das musst du auch, denn sie könnte dir sagen, wer auf sie geschossen hat. Und warum.» Andrina ordnete die Brocken des Brötchens neu auf ihrem Teller an. Jetzt bildeten sie eine Spirale.

«Iss bitte etwas.» Feller schob Butter, das Honigglas und die Konfitüre zu Andrina hin.

«Ich habe keinen Hunger.»

«Wie ich dich kenne, hast du gestern Abend nichts gegessen. Demnach liegt deine letzte Mahlzeit beinahe vierundzwanzig Stunden zurück.»

Andrina verdrehte die Augen.

«Mit anderen Worten, du machst irgendwann schlapp. Weder du noch ich können das gebrauchen. Also, iss jetzt!»

Widerwillig nahm Andrina den Honig und bestrich ihr Brötchen. Als sie hineinbiss, gab der Magen ein Brummen von sich.

Andrina kaute konzentriert. Sie schluckte und führte den nächsten Bissen zum Mund. Feller stützte beide Ellenbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf die Handflächen. Aufmerksam sah er Andrina beim Essen zu.

Er hatte sich noch nicht rasiert, und die Stoppeln warfen einen Schatten auf seine Wangen. Ausserdem war ein Coiffeur-Termin wieder einmal fällig, einzelne Strähnen seines dunkelbraunen Haares streiften seine Augenbrauen. Er machte einen verwegenen Eindruck und gefiel ihr so, wie Andrina einräumen musste.

«Musst du nicht gehen?»

«Zum Coiffeur?»

Wie hatte er ihren Gedanken erraten? Manchmal fragte Andrina sich, ob alles, was durch ihren Kopf ging, wie in einem offenen Buch lesbar war.

Feller grinste. «So wie du meine Frisur kritisch musterst, ist es nicht schwer zu erraten, worüber du gerade nachgedacht hast.» Er strich seine Haare aus der Stirn. «Ich muss zugeben, du hast recht. Sie sind ein wenig lang.»

«Ich meinte eigentlich in das Polizeikommando.»

Feller schnitt eine Grimasse. «Auf die paar Minuten kommt es nicht an. Ich will sicher sein, dass du das da aufisst.»

«Ich nehme an, du bist heute den ganzen Tag im Polizeikommando, auch wenn Samstag ist.»

«Du könntest durchaus recht haben. Kaufst du bitte ein, damit wir am Wochenende genug zu essen haben?»

Im Kühlschrank herrschte nach wie vor gähnende Leere.

«Das mache ich. Hoffentlich passiert heute nichts, was mich daran hindert.» Andrina trank den Cappuccino aus und schob den leeren Teller von sich.

«So gefällst du mir besser. Du hast wieder Farbe im Gesicht.» Feller stand auf und begann den Tisch abzuräumen.

«Wer ist eigentlich dieser Herr Häusermann?», fragte Andrina und stellte die Butter und Konfitüre in den Kühlschrank. «Er hat mich gestern befragt, aber ich kann mich nicht erinnern, dass du ihn einmal erwähnt hast. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals mit ihm zu tun gehabt zu haben.»

Feller schloss die Klappe des Geschirrspülers und reichte Andrina einen feuchten Lappen, mit dem sie den Tisch abwischte.

«In seinen Skiferien im Februar ist er auf der Piste mit einer Frau zusammengestossen. Dabei hat er sich eine Gehirnerschütterung und einen komplizierten Beinbruch geholt. Für eine längere Zeit musste er in die Reha.»

«Stimmt, ich kann mich dunkel erinnern, dass du einmal erzählt hast, einer deiner Mitarbeiter sei verunglückt. Es ist auch der, dessen Frau vor einigen Jahren an Krebs gestorben ist.»

«Genau.» Feller verliess von Andrina gefolgt die Küche und lief die Treppe hoch.

«Humpelt er wegen des Unfalls?»

Andrina folgte Feller ins Bad. Er holte aus dem Spiegelschrank Zahnbürste und Zahnpasta.

«Ja. Er hat nach wie vor sehr starke Schmerzen.»

«Was ist mit der Frau, mit der er zusammengestossen ist?»

«Susanna Marioni? Sie hat sich nicht verletzt.»

«Du kennst sie?» Andrina kam der Name bekannt vor, wusste aber nicht, woher.

Feller schrubbte seine Zähne und murmelte etwas, das Andrina nicht verstand.

«Es ist kompliziert», sagte er, nachdem er seinen Mund ausgespült hatte. «Erinnerst du dich, wie wir Huwylers Stelle neu besetzt haben?»

«Ja, mit einer Frau. Die erste und einzige in eurem Team.»

«Das ist Susanna.»

«Nun verstehe ich gar nichts mehr.»

«Ich sage ja, es ist kompliziert. Lass uns ein anderes Mal darüber reden.»

Feller holte Rasierschaum und Rasiermesser aus dem Spiegelschränkchen und überlegte. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte die Sachen zurück. Andrina räusperte sich.

«Ich denke, das geht heute so», sagte er und lief die Treppe hinunter.

Als Feller die Haustür öffnete, klingelte das Telefon. Andrina eilte ins Wohnzimmer und nahm das Gespräch entgegen.

«Max Wagner. Ist Marco da? Er hat nämlich sein Handy ausgeschaltet.»

«Er wollte gerade gehen.» Andrina reichte den Hörer an Feller weiter, der ihr gefolgt war.

Seine Miene verdüsterte sich schlagartig. Andrina schluckte. Das sah nicht nach guten Nachrichten aus. Vermutlich war Géraldine Hüssi gestorben.

Feller beendete das Gespräch.

«Unten im Schachen ist eine Frau vor ihrer Haustür erschossen worden. Ich melde mich später.»

Er gab Andrina einen Kuss und war sofort zur Tür hinaus.

* * *

Andrina stellte die Einkaufstasche auf den Gepäckträger des Velos. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war zwei Uhr.

Am Vormittag hatte sie ihre Essensvorräte aufgefüllt. Da sie bis zu diesem Zeitpunkt nichts von Feller gehört hatte, wollte sie sich ein wenig die Zeit vertreiben. Lust auf Hausarbeit hatte sie nicht. Sie fuhr zum Telli Einkaufscenter und wollte in den Kleidergeschäften ein wenig stöbern. Da es leicht zu regnen begonnen hatte, als sie dort angekommen war, hatte sie ihr Velo in dem Parkhaus abgestellt.

Von der Ausfahrt des Telliparkhauses führte die Strasse direkt an dem Polizeikommando vorbei. Sollte sie dort anhalten und nach Feller fragen? Nein, das war keine gute Idee. Immerhin galt es, einen Überfall und einen Mord aufzuklären. Die Polizei hatte genug zu tun.

Andrina strampelte auf den Ausgang zu und wurde langsamer. Draussen goss es in Strömen. Sie fragte sich, ob es besser wäre, noch ein wenig zu warten.

Plötzlich knallte es hinter ihr zweimal. Sogleich hörte sie mehrere Leute aufschreien.

«Er hat eine Pistole!»

Erschrocken sah Andrina sich um. Sie fuhr einen Schlenker. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren und musste absteigen. Im selben Moment raste ein Töff an ihr vorbei. Das Geschrei hinter ihr wurde immer lauter. Kurz entschlossen lehnte Andrina das Velo an die Wand und rannte zurück.

«Er blutet am Arm», hörte sie eine Frau kreischen.

Andrina kämpfte sich durch die Ansammlung und sah einen grauhaarigen Mann auf dem Boden sitzen. Er lehnte gegen einen dunkelblauen VW und hielt sich den Unterarm. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor. Andrina stiess eine Frau vor sich zur Seite und kniete sich neben den Verletzten.

«Zeigen Sie bitte!»

Der Mann starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, streckte ihr jedoch den Arm hin. Die Bewegung wirkte mechanisch, wie von einem Roboter. Andrina schob den Ärmel der Jacke hoch. Es scheint nur ein Streifschuss zu sein, dachte sie, als sie die stark blutende Wunde betrachtete. Rasch löste sie ihr Halstuch und wickelte es um den Arm.

«Steht nicht so herum, ruft endlich einen Krankenwagen und tretet einen Schritt zurück!»

In die Menschengruppe kam Bewegung. Mehrere Leute zückten ihr Handy.

Andrina wandte sich dem Mann zu. «Ist alles in Ordnung mit Ihnen?»

Der Mann stammelte etwas, das Andrina nicht verstand, und brachte schliesslich ein Ja zustande.

«Wurden Sie nur am Arm verletzt oder noch an einem anderen Ort getroffen?»

Der Mann blickte an sich hinunter.

«Ich glaube nicht. Wer sind Sie?»

Ein Gemurmel ging durch die Menschenmenge, und Andrina erfasste Wut. Konnten die Leute denn nichts anderes tun als Gaffen? Knapp konnte Andrina ihren Zorn unterdrücken. Es brachte nichts, die Leute anzufahren.

In diesem Moment teilte sich die Menschenmenge, und zwei Rettungshelfer knieten sich neben Andrina und den Mann.

Im Polizeikommando sass Andrina Häusermann gegenüber in dem Besprechungsraum, in dem sie bereits früher einige Male gewesen war. Eine Sekretärin stellte Tee vor ihnen auf den Tisch und verschwand.

«Möchten Sie Zucker?», fragte Häusermann.

«Nein danke.»

Andrina legte die Hände um den Becher. Nach und nach drang die Wärme zu den Nerven ihrer klammen Hände vor.

«Sie waren einkaufen und wollten nach Hause fahren», setzte Häusermann seine Fragen fort. «Habe ich das richtig verstanden?»

Andrina nickte.

«Mit dem Velo? Bei diesem Wetter?»

«Wir haben nur einen Wagen, und den benötigt mein Freund zurzeit.»

Häusermann hob die Tasse an die Lippen. Er trank einen Schluck und musterte Andrina, die sich unter dem durchdringenden Blick unwohl fühlte.

«Können Sie mir detailliert schildern, was passiert ist?»

«Das weiss ich gar nicht so genau.»

Verwirrung blitzte in Häusermanns Gesicht auf. «Man hat mir gesagt, Sie seien Zeugin gewesen – eine von vielen.»

«Ja und nein.»

Häusermann stand auf und humpelte um den Tisch. Er setzte sich neben Andrina auf einen Stuhl und schaute sie eindringlich an. Der Ausdruck, der in seinen Augen lag, gefiel ihr nicht, und Andrina hatte das Bedürfnis, ein Stück von ihm wegzurücken. Der Mann war ihr unheimlich.

«Als die Schüsse fielen, fuhr ich gerade mit dem Velo aus dem Parkhaus.»

«Sie haben also nichts gesehen?» Häusermann streckte vorsichtig sein linkes Bein aus. Es schien heute mehr zu schmerzen als am Vortag.

«Kurz nach den Schüssen brauste ein Töff an mir vorbei.»

«Können Sie den Fahrer beschreiben? War es ein Mann oder eine Frau?»

«Er trug einen schwarzen Töffanzug und einen dunklen Helm. Viel habe ich von ihm also nicht gesehen. Daher kann ich nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte.»

«Konnten Sie das Nummernschild lesen?»

«Da war keins.»

«Wie meinen Sie das? Normalerweise hat jeder Töff ein Nummernschild.»

«Ich glaube, dieser hatte keins.»

Häusermann beugte sich über den Tisch und angelte nach seinem Notizbuch. Er machte einige Notizen und unterstrich anschliessend etwas mehrmals.

«Was haben Sie gemacht, nachdem der Töff an Ihnen vorbeigefahren ist?»

«Es entstand ein Tumult.»

«Tumult? Was meinen Sie damit genau?»

«Die Leute schrien durcheinander.»

«Sie sind zurückgekehrt, um nachzuschauen, was genau los war.»

Er musterte sie abfällig. Es war klar, was er dachte – Sensationslust. Gafferin.

Andrina spürte, wie sie errötete.

«Ich wollte helfen.» Ein Ausdruck tauchte auf seinem Gesicht auf, der nichts anderes hiess als: Das würde ich an Ihrer Stelle auch sagen.

Andrina bemühte sich, Häusermann auszublenden und sich ganz auf die genaue Schilderung zu konzentrieren. Trotzdem fragte sie sich, warum er offenbar so wenig von ihr hielt. Bereits gestern war seine Einstellung ihr gegenüber deutlich zwischen den Worten herauszuhören gewesen. Vermutlich beruhte die Antipathie auf Gegenseitigkeit.

«Es hatte sich eine Menschentraube um einen Wagen gebildet. Alle standen nur da, und niemand rührte sich. Ich erhaschte einen Blick auf einen Mann, der am Boden lag.»

«Sie gesellten sich zu den anderen, weil es so spannend war und …»

«Nein!», fuhr Andrina dazwischen. Häusermann mit seiner Selbstgefälligkeit ging ihr auf die Nerven. «Da sich niemand um den verletzten Mann kümmerte, habe ich das übernommen.»

Ein spöttischer Ausdruck huschte über Häusermanns Gesicht, der wohl «wie edel und selbstlos von Ihnen» bedeuten sollte.

«War der Mann ansprechbar?» Seine Miene war wieder ausdruckslos, worüber Andrina froh war.

«Nicht wirklich. Ich habe herausbekommen, dass er Hansruedi Widmer heisst.»

«Die Personalien haben wir. Hat er Ihnen etwas über den Tathergang mitteilen können?»

Andrina schüttelte den Kopf. «Er stand unter Schock.»

Häusermann machte weitere Notizen. Als er aufschaute, lag ein seltsames Glitzern in seinen Augen, was Andrina mehr beunruhigte als der Spott von vorhin.

«Sie waren gestern und heute am Schauplatz einer Schiesserei. Das erscheint mir als ziemlich erstaunlich.» Er drehte den Kugelschreiber in seinen Händen hin und her.

«Was wollen Sie damit andeuten?»

Der Satz war heraus, bevor Andrina es sich anders überlegt hatte. Er will dich aus irgendeinem Grund aus der Reserve locken, dachte sie wütend. Allmählich solltest du wissen, wie diese Beamten ticken.

«Wie gesagt, ich finde es seltsam und kann nicht an einen Zufall glauben.»

«Wollen Sie etwa andeuten, ich habe etwas damit zu tun?» Sei ruhig, befahl sich Andrina.

«Das haben Sie gesagt und nicht ich.»

«Es schwingt aber bei Ihnen zwischen den Zeilen mit. Ich muss Sie enttäuschen, denn ich habe weder mit dem Anschlag auf Frau Hüssi noch mit dem auf Herrn Widmer zu tun. Ich kenne keinen von beiden, und ich wäre froh, wenn Sie solche Unterstellungen unterlassen könnten.»

«Wo waren Sie heute Morgen zwischen acht und neun Uhr?»

«Wie bitte?»

«Sie haben meine Frage sehr genau verstanden.»

In Andrinas Ohren rauschte es. «Ich habe gefrühstückt.»

«Allein?»

«Nein, mein Freund war anwesend.»

«Ich würde gerne mit ihm sprechen.»

«Das haben Sie vermutlich heute mehrmals getan. Marco Feller sollte irgendwo im Polizeikommando sein.»

Kurz entgleisten Häusermanns Gesichtszüge, bevor er sie wieder unter Kontrolle hatte.

1:0 für mich, dachte Andrina und genoss die Genugtuung, die in ihr aufbrandete. Eigentlich sollte er im Bild sein, wer Andrina war, aber er hatte vermutlich im Eifer des Gefechts nicht daran gedacht.

Sie stand auf. «Es ist mehr oder weniger gern geschehen, Ihnen zur Verfügung gestanden zu sein. Falls mir noch etwas einfällt, lass ich es Sie oder lieber einen Ihrer Kollegen wissen.»

Sie nahm ihre Jacke, die sie über den Nachbarstuhl gelegt hatte, und wandte sich der Tür zu.

«Einen Moment, Frau Kaufmann. Ich entscheide, wann unser Gespräch beendet ist.»

«Ich muss mir Ihre Andeutungen nicht bieten lassen.» Andrina marschierte auf die Tür zu, sich voll bewusst, dass Häusermann ihr nicht so schnell folgen konnte. «Den Weg finde ich allein hinaus, vielen Dank.»

Du verhältst dich nicht gerade schlau, dachte sie. Obwohl sie Fellers Freundin war, konnte sie sich nicht alles erlauben. Aber sie konnte nicht anders, und mit den Folgen, die ihr Verhalten eventuell haben würde, würde sie sich später befassen.

Im gleichen Moment öffnete sich die Tür, und Feller, gefolgt von Wagner und Meili, betrat den Raum. Völlig verdutzt blieb Feller stehen, und die beiden anderen Beamten stolperten in ihn hinein.

«Andrina? Was machst du hier?»

«Frag ihn», schnaubte Andrina und wies mit dem Daumen auf Häusermann, der sich inzwischen ächzend aus dem Stuhl erhoben hatte. «Gib ihm aber bitte vorher einen Kurs in anständigem Verhalten gegenüber Zeugen.»

Feller hielt Andrina am Arm fest, als sie an ihm vorbei aus dem Raum schlüpfen wollte. Fragend schaute er Häusermann an.

«Was ist hier los, Sämi?»

«Frau Kaufmann ist Zeugin an dem Überfall auf Herrn Widmer.»

«Du meinst den angeschossenen Mann in dem Parkhaus des Telli Einkaufscenters?»

«Genau den.»

«Wieso sagt mir niemand, dass es sich bei der Hauptzeugin um meine Freundin handelt?», donnerte Feller, und seine blauen Augen verdunkelten sich, wie immer, wenn er sauer war.

Wagner und Meili schienen um einige Zentimeter zu schrumpfen. Verlegen fuhr Wagner mit der rechten Hand über seine kurzen grauen Haarstoppeln und nahm die Brille ab, die er umständlich zu putzen begann. Meili kratzte sich an seinem glatten Schädel, der von einem Haarkranz umgeben war und ihm zusammen mit der gedrungenen Gestalt das Aussehen eines Mönches verlieh.

«Was hattest du da überhaupt zu suchen?», wandte sich Feller an Andrina.

«Ich war shoppen, weil ich mir die Zeit vertreiben wollte, bis du nach Hause kommst.»

Feller brummte etwas, das Andrina nicht verstand, und wandte sich an Häusermann. «Ihr beide seid nicht fertig, wenn ich das richtig deute.» Fellers Blick wechselte zwischen Andrina und Häusermann hin und her. Auf Häusermanns Gesicht erschien ein selbstgefälliger Ausdruck.

«Nein. Frau Kaufmann hat einfach beschlossen zu gehen.»

«In dem Fall wirst du wohl oder übel noch bleiben müssen, Andrina.»

1:1, dachte Andrina frustriert und setzte zu einer Erwiderung an.

Feller hob die Hand. «Hans, kannst du bitte zusammen mit Sämi die Befragung fortsetzen?» Eindringlich schaute er Andrina an. «Wie du wissen solltest, ist es wichtig für uns, so viel Information wie möglich zu bekommen.»

Wagner und er verliessen den Raum. Andrina versuchte das Grinsen, das über Häusermanns Gesicht huschte, zu ignorieren und nahm wieder Platz.

DREI

«Na, so schlau war das nicht», sagte Seraina und nahm Brot aus dem Regal.

Ihre zehn Monate alte Tochter Regina sass in dem Klappsitz des Einkaufswagens und schaute sich interessiert um. Andrina war immer aufs Neue erstaunt, wie schnell ihr Gottenkind Fortschritte machte.

«Ich weiss. Mir ist nur dieser Typ mit seinem selbstgefälligen Gehabe auf den Geist gegangen.»

«In manchen Situationen ist es besser, wenn man seinen Unwillen nicht zeigt.»

Andrina schnaubte.

«Du bist zu impulsiv, Schwesterherz. Inzwischen solltest du gelernt haben, dass spontane Handlungen, auch wenn sie völlig nachvollziehbar sind, in manchen Situationen nicht hilfreich sind und eher das Gegenteil bewirken, als man geplant hat.» Seraina packte Äpfel ab und wog sie, bevor sie zu dem Brot in den Einkaufswagen wanderten.

«Trotzdem», murmelte Andrina verdrossen. Betont konzentriert betrachtete sie die Backwaren in dem Regal.

«Nichts trotzdem. So was kann schiefgehen. Ich meine, du könntest in das falsche Licht rücken.»

«Was meinst du damit?»

Andrina streckte ihre Hände in die Jackentasche und stapfte neben Seraina durch die Regalreihen. Ihr Unmut wuchs zusehends. Ursprünglich hatte sie sich gefreut, Seraina zu treffen, aber eine Moralpredigt von ihrer fünf Jahre älteren Schwester war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Wenn Andrina ihr auch im tiefsten Inneren recht geben musste.

Sie schielte zur Seite. Seraina hatte ihre schulterlangen braunen Haare im Nacken zusammengefasst und machte einen rundum zufriedenen Eindruck.

«Du könntest als verdächtig gelten.»

Andrina sagte nichts.

«Immerhin bist du an zwei Orten gewesen, wo geschossen wurde.»

«Das ist ein blöder Zufall.»

«Das ist dir und mir klar. Aber das muss nicht unbedingt einem Polizeibeamten klar sein. Es gehört zu seinem Job, alles zu hinterfragen und einen Zusammenhang zu sehen.»

«Marco …»

«Marco kann dich nicht immer vor Ungemach schützen.»

Andrina steckte die Hände tiefer in die Jackentaschen und schnaubte erneut. Ihre Laune verschlechterte sich weiter, als sie an den gestrigen Sonntag dachte. Feller war kurz zu Hause gewesen, und sie hatten ein ähnliches Gespräch geführt. Insgeheim musste sie beiden recht geben, aber es wurmte sie, weil Feller sich hinter Häusermann gestellt und nicht ansatzweise Verständnis für sie gezeigt hatte. Und Seraina blies in das gleiche Horn.

«Sei nicht sauer», sagte Seraina und berührte ihren Arm. «Wir alle wissen, wie impulsiv du sein kannst, und das ist nicht unbedingt immer zu deinem Besten.»

Regina gab einen Jauchzer von sich und strahlte Andrina an. Gegen ihren Willen musste sie lächeln.

«So gefällst du mir besser.» Seraina stiess Andrina leicht mit der Faust gegen den Oberarm. «Lass uns das Thema wechseln. Wie läuft es im Verlag?»

Andrina seufzte. Wenn Seraina ihre Laune hatte verbessern wollen, war das eindeutig das falsche Thema. «Frag besser nicht.»

«So viel zu tun?» Seraina legte Milch, Butter und Joghurt in den Einkaufswagen.

«Das auch», brummte Andrina, die beim besten Willen keine Lust hatte, darüber zu sprechen.

«Habt ihr nicht zwei neue Mitarbeiter eingestellt, oder bin ich falsch informiert?»

«Das ist es ja gerade. Okay, Lukas ist ein Schatz. Er hilft und entlastet uns wirklich. Die Schnepfe Sophia kannst du allerdings vergessen.»

«Ist sie nicht in der Probezeit?»

«Ja, das ist sie», erwiderte Andrina gedehnt. «Elisabeth hält leider grosse Stücke auf sie, doch die Prinzessin reisst sich nur die Arbeiten unter den Nagel, die sie spannend und für sich lukrativ findet, alles andere schiebt sie ab. Die Starallüren habe ich langsam leid.»

«Moment, habt ihr keine Arbeitsaufteilung?»

«Normalerweise schon, aber sie sind nicht hundertprozentig definiert. Elisabeth ist sich nämlich nicht im Klaren, wie sie es aufteilen möchte. Bis dahin macht jeder alles.»

«Das klingt ziemlich mühsam.» Seraina holte ihren Einkaufszettel hervor und überflog ihn.

«Was brauchst du noch?», fragte Andrina.

«Windeln und Babyshampoo. Das ist alles.»

Seraina schob den Einkaufswagen zu den Regalen mit den Babyartikeln. Regina quietschte und fuchtelte mit den Armen.

Andrina schlenderte neben den beiden zwischen den Regalen hindurch und blieb bei der Babynahrung stehen.

«Erstaunlich, was es alles gibt», sagte sie mehr zu sich.

Sie griff nach einer Packung und drehte sich um. Seraina war weitergegangen. Stattdessen stand ein Mann hinter ihr, der Mitte vierzig sein musste. Seine Augen bohrten sich in ihre. Das Gesicht war leicht vernarbt. Allerdings wirkte es nicht abstossend, sondern verlieh ihm eine gewisse Attraktivität. Wenn da nicht die ungesunde Gesichtsfarbe gewesen wäre.

«Oh, Entschuldigung, wenn ich Ihnen im Weg stehe.» Andrina eilte mit der Packung in der Hand zu ihrer Schwester, die gerade ihre Taschen absuchte.

«Wo habe ich den Einkaufszettel hingetan?»

«Eben hast du gesagt, du benötigst ausser Windeln und Shampoo nichts mehr.»

«Du hast recht, danke.» Serainas Blick fiel auf die Packung in ihrer Hand. «Milchpulver brauche ich definitiv nicht.»

«Ich weiss, schau dir nur mal den Namen an. Wirklich sehr kreativ.» Andrina grinste.

«‹Happy Baby›? Das ist ein grosser Schweizer Hersteller für Babyprodukte. Das Babyshampoo ist wirklich gut.»

Andrina brachte die Packung zurück und sah sich kurz um. Der Mann mit den Aknenarben war verschwunden.

Sie folgte Seraina zur Kasse und legte zusammen mit ihrer Schwester den Einkauf aufs Förderband. Seraina zahlte, und Andrina half ihr, den Einkauf in den Tragtaschen zu verstauen.

«Bleibt es bei morgen?», fragte Seraina, als sie an ihrem Auto in der Tiefgarage unter dem Igelweid-Center angekommen waren.

«Ich denke es mal, obwohl ich von Marco momentan nicht sehr viel sehe und nicht sagen kann, ob er Zeit hat.»

«Das ist schrecklich, was die letzten Tage alles passiert ist. Ich habe mich gefragt, ob Aarau zum Wilden Westen verkommt. Hat man eine Ahnung, warum sich diese Überfälle häufen?»

«Heute Morgen habe ich Marco nur kurz gesehen. Er hat nichts gesagt. Ich vermute allerdings, sie sind noch nicht weiter, da sie drei Verbrechen aufklären müssen, also an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen.»

«Wie geht es dem Mann und der Frau, die angeschossen wurden?»

«Der Mann darf heute nach Hause. Die Frau liegt nach wie vor im künstlichen Koma.»

Seraina schnallte Regina im Kindersitz fest und küsste Andrina auf beide Wangen.

«Ich sehe dir an, du möchtest weiter.»

«Ja, ich habe noch einen Termin», sagte Andrina und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

«Schön, dass es heute Mittag mit dem Essen geklappt hat und du mir beim Einkaufen Gesellschaft geleistet hast. Wir sehen uns in letzter Zeit so wenig. Wenn die Ressorts fertig übergeben sind und alles endlich klar definiert ist, wird es bestimmt wieder besser.»

Hoffentlich, dachte Andrina und schaute an Seraina vorbei. Auf der gegenüberliegenden Seite erhaschte sie einen Blick auf den Mann mit den Narben im Gesicht. Er schaute ihr direkt in die Augen. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. In Andrinas Magen kribbelte es, und sie konnte nicht verhindern zurückzulächeln.

Pfui, schalt sie sich. Du bist in festen Händen. Wage es nicht, mit jemandem zu flirten. Sie drehte sich um und küsste Seraina auf die Wangen.

«Kennst du den?»

«Nein.»

«Wirklich nicht? Warum wirst du rot? Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?» Mahnend hob sie den Zeigefinger. «Das dürfte Marco nicht gefallen.»

«Seraina! Er erinnert mich einfach an einen Schauspieler, ich weiss nur nicht, an welchen.»

Seraina runzelte die Stirn und blickte zu dem Mann hinüber. «Schauspieler? Ich weiss nicht. Gut sieht er jedenfalls aus, trotz der Narben.» Sie grinste. «Ich muss dir recht geben, er wirkt anziehend. Wenn ich nicht …»

Andrina hob den Zeigefinger. «Das dürfte Mike nicht gefallen.»

«1:1 – Ausgleich.» In Serainas Augen blitzte es, aber sie wurde sogleich ernst. «Was ich dich noch fragen wollte … Sag mal … hast du es inzwischen Marco gesagt?» Seraina deutete auf Andrinas Bauch.