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Island 2005 - die Wirtschaft boomt in nie gekanntem Ausmaß. Ehrgeizige junge Unternehmer machen durch clevere Finanzgeschäfte weltweit von sich reden. Ganz Island bewundert seine "Expansionswikinger". In dieser Zeit des unbegrenzten Wachstums stürzt ein Banker von einer Steilklippe in den Tod. Ein Unfall? Kurz darauf wird eine junge Frau von einem Schuldeneintreiber zu Tode geprügelt. Beide Ereignisse scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben. Nur eines ist sicher, Geld spielt in beiden Fällen die entscheidende Rolle...
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Seitenzahl: 447
Cover
Titel
Impressum
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
ARNALDUR INDRIÐASON
ABGRÜNDE
Island Krimi
Übersetzung aus dem Isländischen von Coletta Bürling
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch bei Lübbe Audio erhältlich.
Titel der isländischen Originalausgabe: »Svörtuloft«
Namen, Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.
In Island duzt heutzutage jeder jeden. Man redet sich nur mit dem Vornamen an. Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten.
Für die Originalausgabe: Copyright © 2009 by Arnaldur Indriðason Published by arrangement with Forlagið, www.forlagid.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung von Motiven von © Cavan Images/GettyImages, © Stephanie Frey/shutterstock; NOPPHARAT7824/shutterstock; Rawpixel.com/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-1014-3
luebbe.de
lesejury.de
Er nahm die Ledermaske aus der Plastiktüte. Ein handwerkliches Meisterstück war sie nicht, denn er hatte sie nicht mit der erforderlichen Sorgfalt herstellen können. Aber sie würde ihren Zweck erfüllen.
Seine Befürchtung, unterwegs einem Bullen zu begegnen, erwies sich als unbegründet. Und auch niemand anderes schenkte ihm Beachtung. In der Tüte befand sich nicht nur die Maske. Im Alkoholladen hatte er sich zwei Flaschen Brennivín besorgt, und in einem Baumarkt einen kurzstieligen Hammer und einen spitzen Metallstift.
Das Material, das er für die Maske brauchte, hatte er tags zuvor bei einem Großhändler erstanden, der Leder und Felle importierte. Bevor er zu ihm gegangen war, hatte er sich so gut es ging rasiert und sich Sachen angezogen, die einigermaßen vorzeigbar waren. Er hatte genau gewusst, was er brauchte: Leder, Zwirn und eine gute Ledernadel.
Zu dieser frühen Morgenstunde bestand ohnehin kaum die Gefahr, dass er irgendjemandem auffiel. Nur wenige Menschen waren in der Stadt unterwegs. Er blickte niemandem ins Gesicht, sondern ging mit gesenktem Kopf und großen Schritten zu einem Holzhaus an der Grettisgata. Dort beeilte er sich die Kellertreppe hinunter, betrat die Wohnung und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.
Nur einen kurzen Moment hielt er in der Dunkelheit inne. Inzwischen kannte er sich so gut aus, dass er sich auch im Stockfinsteren zurechtfand. Die Wohnung im Keller war nicht groß. Das fensterlose Badezimmer befand sich auf der rechten Seite des Flurs, die Küche ebenfalls. Sie hatte ein großes Fenster zum Hinterhof, vor das er eine dicke Decke gehängt hatte. Direkt gegenüber der Küche war das Wohnzimmer, daneben das Schlafzimmer. Das Fenster im Wohnzimmer ging zur Grettisgata hinaus, und die schweren Vorhänge dort waren zugezogen. Ins Schlafzimmer hatte er nur ein einziges Mal geschaut, das kleine Fenster oben an der Wand war mit einer schwarzen Plastiktüte zugeklebt.
Er machte kein Licht, sondern nahm den Kerzenstummel zur Hand, den er auf einem Regal im Flur aufbewahrte. Er zündete ihn mit einem Streichholz an und ging in dieser schummrigen Beleuchtung ins Wohnzimmer. Er hörte die unterdrückten Laute des Unmenschen, der gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl saß. Er vermied es, den Kerl anzusehen, vor allem wollte er ihm nicht in die Augen blicken. Er stellte die Plastiktüte auf den Tisch und holte den Hammer, die Maske, den Metallstift und die beiden Flaschen heraus. Er öffnete eine Brennivín-Flasche, setzte sie gierig an den Mund und ließ den lauwarmen Inhalt die Kehle hinunterlaufen. Schon seit vielen Jahren spürte er dabei kein Brennen mehr im Hals.
Er stellte die Flasche ab und nahm die Maske zur Hand. Das Material war erstklassig, dickes Schweinsleder mit doppelten Ledernähten aus Takelgarn. Auf der Stirn hatte die Maske eine kreisrunde Öffnung von der Größe eines Ein-Kronen-Stücks, wo der Metallstift angesetzt werden konnte. Den Rand der Öffnung hatte er verstärkt, damit der Stift aus galvanisiertem Eisen Halt darin hatte. Seitlich waren Schlitze für die Lederriemen angebracht, die im Nacken verknotet werden mussten, und außerdem hatte die Maske Öffnungen für Augen und Mund. Der obere Teil reichte bis auf den Schädel hinauf, und das dort befestigte Lederband konnte mit den Riemen im Nacken verzurrt werden, damit die Maske fest saß. Genaue Maße hatte er nicht genommen, er hatte sie nach seinem eigenen Kopf angefertigt.
Er nahm einen weiteren Schluck Brennivín und versuchte, das unterdrückte Wimmern zu ignorieren.
Als kleiner Junge hatte er eine solche Maske gesehen, als er auf dem Land lebte. Die war allerdings aus Eisen gewesen und wurde im alten Schafstall aufbewahrt. Er durfte sie nicht anrühren. Heimlich hatte er es dann doch getan. Das Eisen war rostig und fühlte sich kalt an, und er sah verkrustete Blutflecken an der Öffnung für den Eisenstift. Und nur ein einziges Mal hatte er zugesehen, wie sie verwendet wurde, als der Bauer in einem Sommer ein krankes Kalb töten musste. Der Bauer war so arm, dass er nicht einmal eine Flinte besaß. Die Maske tat ihren Dienst, obwohl sie eigentlich zu klein für einen Kalbskopf war, denn sie war für Schafe gedacht, hatte der Bauer ihm erklärt. Dann nahm er einen großen Hammer zur Hand und schlug einmal kräftig gegen den Eisenstift, der im Kopf des Tieres verschwand. Es brach zusammen und rührte sich danach kaum noch.
Ihm war es auf dem Land gut gegangen. Niemand hatte ihm dort vorgeworfen, ein Nichtsnutz und Versager zu sein.
Den Namen dieser Vorrichtung mit dem Stift, der wie ein Versprechen von einem schnellen und schmerzlosen Tod aus ihr herausragte, hatte er nie vergessen können.
Der Bauer hatte sie die Todesmaske genannt.
Das Wort hatte bedrohlich in seinen Ohren geklungen.
Er blickte lange auf den Metallstift, der aus seinem Machwerk herausragte. Er würde fünf Zentimeter in den Schädel eindringen, das reichte.
Sigurður Óli ächzte laut. Er saß schon seit drei Stunden in seinem Auto vor diesem Haus, ohne dass irgendetwas passiert wäre. Die Zeitung steckte immer noch im Briefkasten. Zwar hatten einige Personen das Haus betreten oder verlassen, aber sie hatten der Zeitung, die halb aus dem Briefkasten herausragte, keinerlei Beachtung geschenkt. Dabei wäre es kein Problem gewesen, sie mitgehen zu lassen, wenn man kleptomanisch veranlagt gewesen wäre oder die alte Dame im ersten Stock hätte ärgern wollen.
Dieser Fall war wohl der lausigste, mit dem sich Sigurður Óli in seiner gesamten Laufbahn bei der Kriminalpolizei befasst hatte. Seine Mutter hatte ihn angerufen und ihn gebeten, einer alten Freundin von ihr diesen Gefallen zu tun. Die Freundin lebte in einem Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur. Die Sonntagsausgabe der Zeitung, die sie abonnierte, war regelmäßig aus dem Briefkasten verschwunden, wenn sie sie holen wollte. Der alten Dame war es nicht gelungen, den Übeltäter ausfindig zu machen. Sie hatte sich bei ihren Nachbarn erkundigt, ob sie vielleicht versehentlich ihre Zeitung genommen hätten, aber alle hatten hoch und heilig geschworen, sie niemals angerührt zu haben. Einige hatten sogar Witze über die Zeitung gemacht und sie ein konservatives Käseblatt genannt, das sie nie im Leben lesen würden. Im Grunde genommen war sie der gleichen Meinung, blieb aber der Zeitung wegen der Nachrufe auf verstorbene Mitmenschen treu, die dort in aller Ausführlichkeit abgedruckt wurden und manchmal bis zu einem Viertel des Inhalts ausmachten.
Die Freundin verdächtigte einige Mitbewohner im Haus. Ein Stockwerk über ihr wohnte beispielsweise eine Frau, die nach Meinung der alten Dame mannstoll war. Bei ihr gaben sich die Männer die Klinke in die Hand, vor allem abends und an Wochenenden. Vielleicht war ja einer von den Männern der Dieb, oder aber die Frau selber. Ein weiterer Hausbewohner, der zwei Stockwerke über ihr wohnte, hatte anscheinend keine Arbeit und lungerte den ganzen Tag zu Hause herum. Angeblich war er Komponist.
Gerade eben betrat ein junges Mädchen das Haus, das allem Anschein nach die Nacht durchgemacht hatte. Sie war ziemlich alkoholisiert und brauchte eine Weile, um ihre Schlüssel in der kleinen Handtasche zu finden. Dabei musste sie sich am Türgriff festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie würdigte die Zeitung im Briefkasten keines Blickes. Von ihr war bestimmt kein Bild in den Klatschspalten, dachte Sigurður Óli, während er dem Mädchen nachblickte, das die Treppe hinaufwankte.
Ihm steckte immer noch eine hartnäckige Grippe in den Knochen. Wahrscheinlich war er damit nicht lange genug im Bett geblieben, ihm war es aber schlicht zu langweilig geworden, im Bett zu liegen und sich Spielfilme auf dem neuen 42-Zoll-Flachbildschirm anzusehen. Es war besser, sich mit irgendetwas zu beschäftigen, auch wenn er sich noch immer sehr schlapp fühlte.
Ihm ging der gestrige Abend durch den Kopf. Er war auf einem Abiturtreffen gewesen, das bei Goofy stattgefunden hatte. Goofy war der Spitzname dieses aufgeblasenen Wichtigtuers aus der Juristenzunft, der Sigurður Óli schon seit der gemeinsamen Schulzeit auf die Nerven ging. Es war typisch für Goofy, der sich schon in jungen Jahren angewöhnt hatte, eine Fliege zu tragen, dass er alle zu sich nach Hause eingeladen hatte, nur um diese Rede halten zu können, in der er seinen ehemaligen Klassenkameraden selbstgefällig mitteilte, dass ihm vor Kurzem die Leitung irgendeiner Abteilung in der Bank übertragen worden war. Das sei doch wohl ein guter Grund zum Feiern, hatte er betont. Sigurður Óli hatte nur sehr zurückhaltend geklatscht.
Er hatte seine ehemaligen Klassenkameraden betrachtet und darüber nachgedacht, ob er tatsächlich derjenige war, der es seit dem Abitur im Leben am wenigsten weit gebracht hatte. Dieser Gedanke drängte sich ihm auf Klassentreffen immer auf, wenn er sich überhaupt dazu aufraffte, sich auf einem solchen Treffen blicken zu lassen. Die meisten waren entweder Juristen wie Goofy oder Ingenieure, und außerdem gab es noch zwei Pfarrer und drei Ärzte, die eine lange Ausbildung hinter sich hatten. Auch einen Schriftsteller gab es, von dem Sigurður Óli allerdings noch nie eine Zeile gelesen hatte, obwohl er in gewissen Kreisen wegen seiner stilistischen Brillanz hochgejubelt wurde, weil er angeblich an die Schranken irgendwelcher Mysterien rührte, wenn man diesem tiefsinnigen Geschwafel Glauben schenken durfte. Wenn Sigurður Óli sich mit den Leuten aus seiner Klasse verglich und an Erlendur und Elínborg, seine Kollegen bei der Kriminalpolizei, dachte und an all die verkrachten Existenzen, mit denen er sich tagtäglich herumschlagen musste, fiel dieser Vergleich nicht gerade zu seinen Gunsten aus. Seine Mutter war immer der Meinung gewesen, dass er zu etwas Besserem getaugt hätte als zu so etwas, und damit meinte sie die Kriminalpolizei. Sein Vater hingegen war sehr zufrieden mit ihm, weil sein Sohn seiner Meinung nach mehr zum Wohl der Gesellschaft beitrug als manch anderer.
»Und, wie läuft’s denn so bei der Kripo?«, fragte Patrekur, einer der Ingenieure. Er hatte während Goofys Rede neben ihm gestanden. Sie hatten sich schon während der Schulzeit angefreundet.
»Na ja, wie’s halt so läuft«, sagte Sigurður Óli. »Und bei dir, hast du bei bei dem Bauboom hier und all den Kraftwerken, die gebaut werden, nicht irre viel zu tun?«
»Wir können uns vor Arbeit nicht retten«, sagte Patrekur, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst klang. »Übrigens wollte ich dich fragen, ob wir uns vielleicht mal treffen könnten, da ist etwas, worüber ich mit dir reden möchte.«
»Na klar. Muss ich Handschellen mitbringen?«
Patrekur verzog keine Miene. »Ich ruf dich am Montag an, wenn du nichts dagegen hast«, sagte er und machte Anstalten, sich zu entfernen.
»Tu das«, sagte Sigurður Óli und nickte Patrekurs Frau zu. Sie hieß Súsanna und war mit ihm zu der Feier gekommen, obwohl die meisten normalerweise nicht mit Partner erschienen. Sie lächelte ihm zu. Sigurður Óli hatte sie immer gemocht, seiner Meinung nach war sein Freund ein Glückspilz.
»Du bist immer noch Bulle?«, fragte Ingólfur, der mit einem Bier in der Hand auf Sigurður Óli zukam. Er war einer von den beiden Pfarrern in der Klasse. Er stammte sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits von lauter Theologen ab und hatte sich nie etwas anderes vorstellen können, als in Gottes Dienste zu treten. Aber er war frei von Scheinheiligkeit und Pathos, war weder den Frauen noch dem Alkohol abgeneigt und bereits zum zweiten Mal verheiratet. Er machte sich gern einen Spaß daraus, einen Streit mit Elmar, dem zweiten Pfarrer in der Klasse, vom Zaun zu brechen. Elmar war aus völlig anderem Holz geschnitzt, er war überaus religiös und asketisch und glaubte felsenfest an fast alles, was in der Bibel stand. Alle Veränderungen waren ihm ein Dorn im Auge, vor allem, wenn es um die Homosexuellen ging, die es gerade darauf anlegten, die tief verwurzelten Kirchentraditionen in Island auf den Kopf zu stellen. Ingólfur dagegen war es vollkommen gleichgültig, was für Pärchen aus der menschlichen Flora sich an ihn wandten. Er hielt sich einzig und allein an die Regel, die ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Er liebte es, Elmar aufzuziehen, und er fragte ihn regelmäßig, ob er nicht eine Sekte gründen wolle, die Elmariten.
»Und du bist immer noch Pfaffe?«, fragte Sigurður Óli im Gegenzug.
»Wir sind wohl beide unersetzlich«, entgegnete Ingólfur grinsend.
Goofy gesellte sich zu ihnen und schlug Sigurður Óli jovial auf die Schulter.
»Und was sagt unser Bulle?«, fragte er laut und vernehmlich, der frischgebackene Abteilungsleiter.
»Alles bestens«, sagte Sigurður Óli.
»Hast du es nie bereut, dass du das Jurastudium nicht zu Ende gebracht hast?«, fragte Goofy herablassend. Er hatte mit den Jahren reichlich Speck angesetzt, und die Fliege, die ihm früher einmal gut gestanden hatte, verschwand jetzt beinahe unter seinem enormen Doppelkinn.
»Kann ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Sigurður Óli, obwohl er tatsächlich manchmal darüber nachdachte, den Polizeidienst zu quittieren, das Jurastudium fortzusetzen und irgendetwas Sinnvolles in Angriff zu nehmen. Goofy gegenüber hätte er das aber niemals zugegeben, denn er lieferte ihm ein wichtiges Argument bei solchen Überlegungen: Wenn solche Schwachköpfe wie Goofy imstande waren, sich durch den Paragraphendschungel hindurchzuwuseln, dann konnten das nach Sigurður Ólis Meinung andere auch.
»Du traust also jetzt schon Paare mit widernatürlichen Neigungen«, sagte Elmar, der zu ihnen getreten war und Ingólfur mit tiefer Trauer in den Augen ansah.
Oh Mann, nicht schon wieder, dachte Sigurður Óli, erblickte aber im gleichen Moment eine Chance, den Rückzug anzutreten, bevor die beiden sich wieder wegen Glaubensfragen in die Haare gerieten.
Steinunn ging mit einem Glas Rotwein in der Hand an ihnen vorbei, und Sigurður Óli heftete sich sofort an ihre Fersen. Bis vor Kurzem hatte sie beim Finanzamt gearbeitet, und Sigurður Óli hatte sie hin und wieder um Rat gefragt, wenn er mit seiner Steuererklärung nicht zurechtkam, und sie war ihm immer gern behilflich gewesen. Er wusste, dass sie sich vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt hatte. Seitdem lebte sie allein und schien es zu genießen. Nicht zuletzt ihretwegen hatte er sich dazu durchgerungen, auf der Party bei Goofy zu erscheinen.
»Steinunn«, rief er, »ich hab gehört, du bist nicht mehr beim Finanzamt?«
»Nein, ich arbeite jetzt in derselben Bank wie Goofy«, sagte Steinunn lächelnd. »Ich helfe den Reichen dabei, sich um die Steuern herumzudrücken. Die reinste Goldgrube, sagt Goofy.«
»Und bestimmt zahlt die Bank besser«, entgegnete Sigurður Óli.
»Viel besser. Mein Gehalt hat schwindelnde Höhen erreicht«, sagte Steinunn.
Sie lächelte und entblößte dabei ihre weißen Zähne, während sie eine blonde Locke zurückschob, die ihr in die Stirn gefallen war. Sie hatte schöne, dunkle Augen und färbte ihre Augenbrauen schwarz. Die Haare ringelten sich bis auf die Schultern hinunter, ihr Gesicht war eher breit. Sie sah aus wie eine etwas zu drall geratene Barbie-Puppe, und Sigurður Óli überlegte, ob sie sich dessen bewusst war. Eigentlich zweifelte er nicht daran, denn sie war nicht auf den Kopf gefallen.
»Ja, wie man hört, nagt ihr nicht am Hungertuch«, sagte Sigurður Óli.
»Und was ist mit dir, spekulierst du nicht auch ein bisschen?«
»Ich? Spekulieren?«
»Du hast doch bestimmt Aktien«, sagte Steinunn. »Jedenfalls würde es gut zu dir passen.«
»Zu mir passen?«, fragte Sigurður Óli lächelnd.
»Ja, in dir steckt doch was von einem Zocker?«
»Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Risiken einzugehen«, erklärte Sigurður Óli. »Ich hab nur ganz sichere Wertpapiere.«
»Was heißt schon sicher?«
»Ich kaufe nur Bankaktien«, sagte Sigurður Óli.
Steinunn hob ihr Glas. »Sicherer geht es nicht.«
»Lebst du immer noch allein?«, fragte er.
»Ja, und ich genieße es.«
»Ja, es kann ganz nett sein«, entgegnete Sigurður Óli.
»Was ist mit dir und Bergþóra?«, fragte Steinunn. »Ich hab gehört, dass es nicht mehr so richtig läuft?«
»Ja, es läuft ziemlich schief«, gab Sigurður Óli zu. »Leider.«
»Bergþóra ist eine tolle Frau«, sagte Steinunn, die Bergþóra bei Klassentreffen ein paarmal begegnet war.
»Ja, das war … Das ist sie. Ich überlege die ganze Zeit, ob wir uns nicht vielleicht einmal treffen könnten. Auf einen Kaffee oder was auch immer.«
»Ich soll mit dir ausgehen?«
Sigurður Óli nickte.
»Meinst du so etwas wie ein richtiges Date?«
»Nein, Date, ich weiß nicht, oder ja, vielleicht doch, irgendwas in der Art, wenn du so willst.«
»Siggi«, sagte Steinunn und tätschelte ihm die Wange, »du bist einfach nicht mein Typ.«
Sigurður Óli sah sie an.
»Siggi, das weißt du doch, das bist du nie gewesen, bist es nicht und wirst es auch nie sein.«
»Dein Typ!«
Sigurður Óli spuckte das Wort fast aus, während er vor dem grauen Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur auf den Zeitungsdieb wartete. Typ? Was sollte das eigentlich? War er ein blöderer Typ als die anderen? Und wieso redete Steinunn eigentlich immer über ihren Typ?
Ein junger Mann mit einem Instrumentenkoffer betrat den Hauseingang. Ohne zu zögern schnappte er sich die Zeitung aus dem Briefkasten und öffnete die Tür zum Treppenhaus mit seinem Schlüssel. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, war Sigurður Óli bereits am Eingang, setzte seinen Fuß zwischen die Tür und gelangte ins Treppenhaus. Er packte den jungen Mann, dem nichts Böses schwante, auf dem Weg nach oben am Arm, zog ihn zu sich hinunter, entriss ihm die Zeitung und versetzte ihm damit einen Schlag auf den Kopf. Der Mann ließ vor lauter Schreck den Instrumentenkasten fallen, verlor das Gleichgewicht und fiel hin.
»Steh auf, du Blödmann!«, schnauzte Sigurður Óli und versuchte, den Mann hochzuziehen. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um den Tagedieb handelte, der zwei Stockwerke über der Freundin seiner Mutter wohnte, den Kerl, der sich als Komponist ausgab.
»Tu mir nichts«, rief der Komponist.
»Ich tu dir doch gar nichts! Aber wie wär’s, wenn du damit aufhören würdest, Guðmunda aus dem ersten Stock ihre Zeitung zu klauen? Weißt du überhaupt, wer sie ist? Nur ein Vollidiot stiehlt alten Damen die Sonntagszeitung! Macht es dir Spaß, Leute zu ärgern, die sich nicht wehren können?«
Der junge Mann war aufgestanden und sah Sigurður Óli wütend an. Dann riss er ihm die Zeitung aus der Hand.
»Das ist meine Zeitung«, sagte er. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Deine Zeitung?«, rief Sigurður Óli. »Oh nein, Freundchen, die gehört Guðmunda.«
Doch dann blickte er nach unten in den Eingangsbereich zu den Briefkästen, fünf nebeneinander und drei übereinander, und sah, dass die Zeitung immer noch so aus Guðmundas Briefkasten herausguckte, wie er sie selber hineingesteckt hatte.
»Scheiße«, schnaubte er, setzte sich wieder ins Auto und fuhr frustriert davon.
Am Montagmorgen wurde Sigurður Óli bereits auf dem Weg zur Arbeit benachrichtigt, dass man in einer Mietwohnung im Þingholt-Viertel die Leiche eines jungen Mannes gefunden hatte. Ihm war die Kehle durchgeschnitten worden. Sigurður Ólis Tag ging damit drauf, die Nachbarn des Toten zu vernehmen. Elínborg war bereits vor ihm am Tatort eingetroffen, sie leitete die Ermittlung so besonnen und ausgeglichen wie immer, für Sigurður Ólis Geschmack viel zu besonnen und ausgeglichen.
Gegen Mittag erhielt er einen Anruf von Patrekur, mit dem er sich auf dem Klassentreffen für Montag verabredet hatte. Patrekur hatte in den Nachrichten von dem Mord erfahren und sagte Sigurður Óli, dass er sich wegen des Treffens keine Gedanken zu machen bräuchte. Sigurður Óli sagte ihm, dass er am späteren Nachmittag loskommen könnte und schlug ein Café vor. Ein zweiter Anruf kam vom Dezernat. Ein Mann hatte dort nach Erlendur gefragt und weigerte sich jetzt, das Gebäude zu verlassen, bevor er nicht mit ihm gesprochen hätte. Man hatte dem Mann gesagt, dass Erlendur im Urlaub und nicht in der Stadt sei. Daraufhin hatte der Mann verlangt, mit Sigurður Óli zu sprechen. Seinen Namen hatte er nicht nennen wollen, und auch nicht sein Anliegen, und schließlich war er dann doch wieder gegangen. Nach diesem Gespräch rief Sigurður Óli Bergþóra an, um sich für den morgigen Abend mit ihr zu verabreden.
Sigurður Óli verbrachte den ganzen Tag am Tatort und konnte erst um fünf zu dem verabredeten Treffen mit Patrekur aufbrechen. Der wartete bereits im Café auf ihn. Er war jedoch nicht allein, sondern zusammen mit Hermann gekommen, den Sigurður Óli von Partys bei seinem Freund kannte. Er arbeitete bei einer Importwarenhandlung und war mit der Schwester von Patrekurs Frau Súsanna verheiratet. Vor Hermann standen ein halbvolles Bier- und ein leeres Schnapsglas.
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben an einem Montagnachmittag?«, fragte Sigurður Óli mit einem Seitenblick auf die Gläser, als er sich zu ihnen setzte.
Hermann grinste verlegen und sah Patrekur an. »Ich habe es dringend nötig«, sagte er und trank einen Schluck Bier.
»Was ist los, stimmt etwas nicht?«, fragte Sigurður Óli.
Irgendwie war Patrekur nicht wie sonst, und Sigurður Óli nahm an, dass es ihm unangenehm war, ihn zu diesem Treffen überredet zu haben, ohne ihm zu sagen, worum es ging. Normalerweise war Patrekur immer sehr ausgeglichen, lachte viel und war stets zu Späßen aufgelegt. Sie trafen sich manchmal morgens früh im Fitness-Studio und redeten bei einer Tasse Kaffee ein paar Minuten miteinander, sie unternahmen gemeinsame Ausflüge und gingen manchmal zusammen ins Kino. Patrekur war vielleicht der einzige vertraute Freund, den Sigurður Óli hatte.
»Du hast sicher schon mal von einer Schnitzelparty gehört?«
»Nein. Wird da gegrillt?«
Patrekur lächelte. »Schön wär’s«, sagte er und sah Hermann an, der wieder das Glas zum Munde führte. Sein Händedruck war kraftlos und feucht gewesen, als Sigurður Óli ihm zur Begrüßung die Hand gereicht hatte. Er trug zwar Anzug und Krawatte, hatte sich aber einige Tage nicht rasiert. Dünnes Haar rahmte die regelmäßigen, aber wenig ausdrucksvollen Gesichtszüge ein.
»Also geht es nicht um Schnitzel, die man auf den Grill wirft?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein. Bei diesen Partys geht es nicht um solche Schnitzel«, erklärte Patrekur dumpf.
Hermann leerte sein Glas und bestellte das nächste.
Sigurður Óli sah Patrekur lange an. In ihren Jahren auf dem Gymnasium hatten sie den neoliberalen Verein »Milton« gegründet und ein Blatt mit dem gleichen Namen herausgegeben, in dem der Lobgesang des freien Marktes und der Privatinitiative gesungen wurde. Sie hatten aufstrebende Nachwuchspolitiker aus den Reihen der Konservativen zu Informationsveranstaltungen in der Schule eingeladen, die aber meist sehr schlecht besucht waren. Später war Patrekur zu Sigurður Ólis großer Verwunderung mit fliegenden Fahnen zu den Linken übergewechselt. Er hielt flammende Reden gegen den amerikanischen Stützpunkt in Keflavík und für den Austritt aus der Nato. Zu dem Zeitpunkt kannte er seine spätere Frau bereits, die ihn wahrscheinlich beeinflusst hatte. Sigurður Óli hatte mit allen Mitteln versucht, die Zeitung Milton am Leben zu erhalten, aber die ursprünglichen acht Seiten schrumpften auf vier zusammen, und als die neoliberalen Nachwuchskonservativen sich nicht mehr auf den Veranstaltungen blicken ließen, gingen Verein und Mitteilungsblatt den Bach hinunter. Sigurður Óli besaß aber immer noch sämtliche Exemplare, darunter auch eines, das einen Essay von ihm enthielt – »Amerika bringt Rettung: Die Lügen über die cia in Südamerika«.
Patrekur und er immatrikulierten sich an der Universität. Als Sigurður Óli das Jurastudium abbrach und nach Amerika ging, um Kriminalwissenschaften zu studieren, schrieben sie sich regelmäßig. Patrekur kam einmal mit seiner Frau und dem ersten Kind zu Besuch und bombardierte ihn mit seinem Wissen über Laufgewichtswaagen und Maßstäbe.
»Wieso reden wir hier eigentlich über Schnitzel?«, fragte Sigurður Óli, der keine Ahnung hatte, was mit seinem Freund los war. Er wischte sich ein Stäubchen von seinem neuen hellen Sommermantel, den er immer noch trug, obwohl es bereits Herbst war. Er hatte ihn im Ausverkauf erstanden und fand, dass er ihm sehr gut stand.
»Es ist nicht ganz einfach für mich, mit dir darüber zu reden. Ich habe dich noch nie in deiner Eigenschaft als Kriminalbeamter um einen Gefallen gebeten«, sagte Patrekur verlegen grinsend. »Hermann und seine Frau stecken in einem miesen Schlamassel, und zwar wegen Leuten, die sie gar nicht richtig kennen.«
»In was für einem Schlamassel?«
»Es geht um die Leute, die sie zu dieser Party eingeladen haben.«
»Fang nicht schon wieder mit Schnitzeln an!«
»Lass mich das erklären«, sagte Hermann. »Wir haben das früher gemacht, aber jetzt nicht mehr. Schnitzelparty ist ein anderes Wort für …« Hermann räusperte sich verlegen. »… ein anderes Wort für eine Swinger-Party.«
»Swinger-Party? Also Partnertausch?«
Patrekur nickte. Sigurður Óli starrte seinen Freund an.
»Du und Súsanna auch?«, fragte er.
Patrekur zögerte, als würde er die Frage nicht verstehen.
»Du und Súsanna?«, wiederholte Sigurður Óli völlig perplex.
»Nein, nein, wir nicht«, sagte Patrekur. »Wir haben nichts damit zu tun. Es geht um Hermann und seine Frau, Súsannas Schwester.«
»Es sollte einfach eine harmlose Abwechslung im Ehealltag sein«, erklärte Hermann.
»Eine harmlose Abwechslung?«
»Musst du eigentlich alles wiederholen, was wir sagen?«, fragte Hermann.
»Praktiziert ihr das schon lange?«
»Praktizieren? Ich weiß nicht, ob das der richtige Ausdruck ist.«
»Und ich schon gar nicht«, sagte Sigurður Óli.
»Wir haben es vor ein paar Jahren gemacht, aber jetzt nicht mehr.«
Sigurður Óli sah erst seinen Freund und dann Hermann an.
»Ich brauche mich dafür nicht zu rechtfertigen«, sagte Hermann. Sigurður Óli ging ihm ganz offensichtlich auf die Nerven. Als ihm das Bier gebracht wurde, nahm er einen ordentlichen Schluck.
»Das war wohl keine gute Idee«, sagte er zu Patrekur.
Patrekur antwortete nicht darauf, sondern sah Sigurður Óli ernst an.
»Du hast da nicht mitgemacht?«, fragte Sigurður Óli.
»Natürlich nicht«, antwortete Patrekur. »Ich möchte ihnen nur helfen.«
»Und was geht mich das an?«
»Sie haben Probleme bekommen«, sagte Patrekur.
»Was für Probleme?«
»Es dreht sich darum, dass man sich mit Leuten amüsiert, die man überhaupt nicht kennt«, sagte Hermann, den das Bier aufgemuntert zu haben schien. »Darin besteht der Kick.«
»Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Sigurður Óli.
Hermann holte tief Luft. »Wir sind Betrügern in die Klauen geraten.«
»Um was haben die euch betrogen, einen Fick?«
Hermann blickte Patrekur an. »Ich war dagegen, sich mit ihm zu treffen«, sagte er.
»Hör ihm bitte zu«, sagte Patrekur zu Sigurður Óli. »Sie stecken wirklich in der Scheiße, und ich dachte, du könntest ihnen vielleicht helfen. Hör jetzt damit auf und hör ihm zu.«
Sigurður Óli tat wie gewünscht. Es stellte sich heraus, dass Hermann und seine Frau vor einigen Jahren sowohl zu Swinger-Partys gegangen als auch zu solchen eingeladen hatten. Sie hatten eine offene Beziehung, wie es hieß, und Hermann zufolge waren beide zufrieden damit. Der Sex war spannend, und sie waren nur mit »zuverlässigen« Leuten zusammen gewesen. Es gab auch einen Club für Leute mit gleich gelagerten Interessen.
»Doch dann haben wir Lína und Ebbi getroffen«, sagte Hermann.
»Und wer sind Lína und Ebbi?«, fragte Sigurður Óli.
»Gesocks«, sagte Hermann und leerte sein Glas in einem Zug.
»Also keine ›zuverlässigen‹ Leute?«
»Sie haben Aufnahmen gemacht.«
»Von euch?«
Hermann nickte.
»Beim Geschlechtsverkehr?«
»Und jetzt drohen sie uns, die ins Internet zu stellen, wenn wir nicht zahlen.«
»Ist nicht Súsannas Schwester in der Politik?«, fragte Sigurður Óli Patrekur.
»Könntest du vielleicht ein Wörtchen mit denen reden?«, fragte Hermann.
»Ist sie nicht sogar die rechte Hand von irgendeinem Minister?« Sigurður Óli richtete seine Frage an Patrekur.
Patrekur nickte. »Das ist wirklich eine Scheißsituation für die beiden«, sagte er. »Hermann hatte die Idee, dass du vielleicht mit den Leuten reden könntest, um an die Aufnahmen heranzukommen. Sie ein bisschen unter Druck setzen, damit sie alles rausrücken, was sie aufgenommen haben.«
»Was haben sie in der Hand?«
»Fotos«, sagte Hermann.
»Von euch beim Geschlechtsverkehr?«
Hermann nickte.
»Wusstet ihr nicht, dass Aufnahmen gemacht wurden? Habt ihr nichts gemerkt?«
»Es ist schon reichlich lange her, und wir haben nichts davon mitgekriegt«, sagte Hermann. »Sie haben uns ein Foto geschickt. Anscheinend hatten sie da irgendwo eine Kamera versteckt. Ich kann mich erinnern, einmal so ein kleines Ding bei ihnen im Wohnzimmer in einem Regal gesehen zu haben. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, dass sie es verwenden würden.«
»Technisch gesehen ist das überhaupt nicht kompliziert«, sagte Patrekur.
»War das bei diesen Leuten zu Hause?«
»Ja.«
»Und wer sind die beiden?«
»Wir kennen sie nicht, und wir haben sie seitdem auch nie mehr getroffen. Sie haben wahrscheinlich meine Frau wiedererkannt, sie ist manchmal in den Medien präsent. Und dann haben sie beschlossen, uns zu erpressen.«
»Was ihnen ja offensichtlich auch ganz gut gelingt«, sagte Patrekur und blickte Sigurður Óli an.
»Was wollen diese Leute?«
»Geld«, sagte Hermann. »Viel mehr Geld, als wir flüssig machen können. Als die Frau sich mit uns in Verbindung setzte, habe ich ihr das gesagt. Sie hat nur erklärt, dass wir dann eben ein Darlehen aufnehmen müssten. Jedenfalls dürften wir auf keinen Fall die Polizei einschalten.«
»Hast du einen Beweis dafür, dass diese Aufnahmen existieren?«
Hermann sah zu Patrekur hinüber. »Ja.«
»Nämlich?«
Hermann blickte sich verstohlen um, dann griff er in seine Brusttasche und zog ein Foto heraus, das er Sigurður Óli so unauffällig wie möglich hinschob. Das Bild war nicht sehr deutlich, wahrscheinlich am Computer ausgedruckt, und zeigte Leute beim Geschlechtsverkehr, zwei Frauen, die nur sehr verschwommen zu sehen waren, und Hermann. Ihn konnte man gut erkennen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme schien er beim Höhepunkt angelangt zu sein.
»Und du möchtest, dass ich mich mit diesen Leuten befasse?«, fragte Sigurður Óli und sah seinen Freund an.
»Bevor das noch mehr aus dem Ruder läuft«, sagte Patrekur. »Von allen Leuten, die wir kennen, bist du der einzige, der mit solchem Gesocks umgehen kann.«
Er hatte das Scheusal einige Monate lang beobachtet, bevor er zur Tat geschritten war.
Bei jedem Wetter und zu allen erdenklichen Tages- und Nachtzeiten hatte er vor der Kellerwohnung Posten bezogen und stets darauf geachtet, in Deckung zu bleiben und gehörigen Abstand zu halten, um keinen Verdacht zu erregen. Er war nie lange an einer Stelle stehen geblieben, um zu vermeiden, dass Passanten und Anwohner auf ihn aufmerksam wurden und womöglich sogar die Polizei verständigten. Das durfte auf gar keinen Fall geschehen, denn er war schon mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Die meisten Häuser in dieser Gegend waren sich sehr ähnlich, doch an einigen Stellen standen auch neuere Häuser, einige moderne, aber auch andere, die sich gut in das ursprüngliche Straßenbild einfügten; niedrige und bescheidene ein- oder zweigeschossige Holzhäuser, von außen mit Wellblech verkleidet, darunter ein betonierter Keller. Einige sahen gepflegt aus, andere waren genauso heruntergekommen wie das Haus des Scheusals. Das Dach war in einem erbärmlichen Zustand, an der Straßenseite fehlte die Dachrinne, und von der hellblauen Farbe war fast nichts mehr übrig. Sowohl am Dach als auch an den Hauswänden breiteten sich riesige Rostflecken aus. In der Etage über der Kellerwohnung schien niemand zu leben. Die Fenster waren immer zugezogen, und er hatte nie gesehen, dass dort jemand aus- und einging.
Das Scheusal lebte nach festen Gewohnheiten. Die Jahre hatten ihn schwer gezeichnet, er musste wohl schon auf die achtzig zugehen, er ging steifbeinig und hielt sich krumm. Das graue Haar guckte strähnig und zottelig unter der Wollmütze hervor. Sein Wintermantel war alt und abgewetzt. Nichts an ihm erinnerte an die alten Zeiten. Jeden zweiten Tag ging er morgens früh in die Badeanstalt, manchmal so früh, dass er vor dem Eingang warten musste, bis geöffnet wurde. Wahrscheinlich hatte er in der Nacht nicht geschlafen, denn nach dem Besuch in der Badeanstalt begab er sich nach Hause und rührte sich anschließend den ganzen Tag nicht. Gegen Abend verließ er das Haus erneut, um in einem Lebensmittelgeschäft in der Nähe Milch, Brot und andere Lebensmittel einzukaufen. Manchmal, aber nicht sehr oft, stattete er dem Alkoholladen einen Besuch ab. Unterwegs grüßte er niemanden, sprach mit niemandem und erledigte die Einkäufe mit einem Minimum an Zeitaufwand. Besuch erhielt er nie. Hin und wieder bekam er Post. Abends hielt er sich meist zu Hause auf, nur zwei Mal hatte er einen längeren Spaziergang am Meer entlang unternommen und war dann durch die Weststadt und das Þingholt-Viertel wieder nach Hause gegangen.
Beim zweiten Mal hatte es unterwegs angefangen zu regnen, und im Schutz der Dunkelheit hatte er sich im Garten eines alten, zweistöckigen Hauses untergestellt, wo er in die erleuchteten Fenster im Souterrain starrte und beobachtete, wie die Leute zu Bett gingen. Wenn die Lichter ausgeschaltet waren, schlich sich der Widerling zum Kinderzimmerfenster und starrte lange hinein, bevor er sich wieder auf den Weg zur Grettisgata machte.
In dieser Nacht hatte er lange im strömenden Regen vor dem Haus in der Grettisgata gestanden und auf die Eingangstür zum Keller gestarrt. Er hatte das Gefühl gehabt, für alle unschuldigen Kinder von Reykjavík Wache stehen zu müssen.
Als die Dämmerung hereingebrochen und die Stadt zur Ruhe gekommen war, klingelte Sigurður Óli bei der mutmaßlichen Erpresserin Sigurlína Þorgrímsdóttir an, die immer nur Lína genannt wurde. Er wollte das Gespräch mit ihr hinter sich bringen. Sie und ihr Mann Ebbi, mit vollem Namen Ebeneser, wohnten in einem Reihenhaus im Ostteil der Stadt, nicht weit vom Laugarás-Kino. Sigurður Óli blickte zu dem Kino hinüber, in dem er etliche gute Filme gesehen hatte. In seinen jüngeren Jahren war er häufig ins Kino gegangen, aber er konnte sich keinen der Filme, die er gesehen hatte, ins Gedächtnis rufen, er vergaß die Handlung immer sofort. Trotzdem nahm das Laugarás-Kino einen besonderen Platz in seinen Erinnerungen ein, und zwar wegen eines unvergesslichen Kinobesuchs während seiner Zeit auf dem Gymnasium. Er hatte damals zum ersten Mal eine Schulkameradin ins Kino eingeladen. Sie hatte sich dann aber in jemand anderen verliebt, und so war ihm nur die Erinnerung an einen langen Kuss im Auto vor ihrem Elternhaus geblieben.
Im Grunde genommen hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er Hermann und seiner Frau helfen konnte. Er hatte sich vorgenommen, Lína und Ebbi gehörig den Marsch zu blasen und ihnen polizeiliche Maßnahmen anzudrohen. Vielleicht würde das ja reichen. Nach dem zu urteilen, was Hermann gesagt hatte, schienen sie nicht sonderlich routiniert in der Art von Erpressung zu sein, auf die sie sich verlegt hatten, es war ja auch ein eher seltenes Metier.
Auf dem Weg zu Lína war ihm der gestrige Abend durch den Kopf gegangen. Er hatte gemütlich auf dem Sofa gelegen und sich eine amerikanische Sportsendung angesehen, als das Telefon klingelte. Während seiner Studienzeit in Amerika hatte er zwei Sportarten lieben gelernt, die ihm bis dahin ein Buch mit sieben Siegeln gewesen waren. Beim American Football hielt er in der National Football League mit den Dallas Cowboys. Und im Baseball waren die Red Sox aus Boston seine Favoriten. Als er nach Island zurückgekehrt war, hatte er sich eine Satellitenschüssel angeschafft, um die Direktübertragungen der Spiele mitverfolgen zu können. Das war allerdings nicht immer ganz einfach, denn wegen des Zeitunterschieds fanden die Spiele nach isländischer Zeit mitten in der Nacht statt. Sigurður Óli brauchte allerdings nicht viel Schlaf, und es war kaum je vorgekommen, dass er sein morgendliches Training im Fitness-Studio wegen seiner Sportbegeisterung ausfallen lassen musste. Isländischen Sportarten wie Fußball und Handball konnte er nichts abgewinnen, seiner Meinung nach war das Niveau einfach peinlich, verglichen mit dem, was im Rest der Welt an Leistungen erbracht wurde, selbst isländische Spitzenspiele waren es kaum wert, im Fernsehen übertragen zu werden.
Er lebte zurzeit in einer kleinen Mietwohnung auf dem Framnesvegur. Bergþóra und er hatten sich nach einigen Jahren des Zusammenlebens getrennt und alles in bestem Einvernehmen unter sich aufgeteilt, Bücher, CDs, Küchengeräte und Möbel. Er war vor allem scharf auf den Flachbildschirm gewesen, während Bergþóra sich mehr für ein Gemälde eines jungen isländischen Malers interessiert hatte, das ihnen gemeinsam geschenkt worden war. Bergþóra sah nicht viel fern, und sie hatte nie Verständnis für sein Interesse am amerikanischen Sport aufbringen können. Seine jetzige Wohnung war noch ziemlich leer, und er hatte bisher auch nicht viel unternommen, um das zu ändern. Vielleicht hoffte er im Innersten, dass die Beziehung zu Bergþóra doch nicht vollständig im Eimer war.
Sie hatten sich zum Schluss ständig gestritten und konnten kaum noch miteinander reden, ohne aneinanderzugeraten und sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Sie hielt ihm vor, ihr nicht genügend Unterstützung gegeben zu haben, als sie zum zweiten Mal eine Fehlgeburt hatte. Es war ihnen nicht gelungen, Kinder zu bekommen, und sämtliche Versuche, mit den Mitteln der modernen Medizin nachzuhelfen, waren gescheitert. Als sie eine Adoption vorschlug, hatte er spontan Bedenken geäußert und ihr schließlich rundheraus erklärt, er könne sich nicht vorstellen, ein Kind aus China zu adoptieren, so wie es ihr vorschwebte.
»Und was bleibt dann eigentlich noch?«, hatte Bergþóra gefragt.
»Wir beide«, war seine Antwort gewesen.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, hatte Bergþóra entgegnet.
Zum Schluss hatten sie sich darauf geeinigt, dass ihre Beziehung wohl einfach nicht mehr zu retten war. Sie fanden es besser, sich das einzugestehen, auch, dass beide daran ihren Anteil hatten. Nachdem sie zu diesem Ergebnis gekommen waren, schien sich ihr Zusammenleben ein wenig zu verbessern, die Spannungen verringerten sich, und ihr Umgang war weniger feindselig, nicht mehr so hasserfüllt. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnten sie miteinander reden, ohne dass es mit Streit, Bitterkeit und Schweigen endete.
Er hatte auf dem Sofa vor dem großen Flachbildschirm gelegen, sich eine Orangenlimonade genehmigt und ganz versunken die Football-Übertragung mitverfolgt, als plötzlich das Telefon klingelte. Er sah auf die Uhr, es war schon nach Mitternacht. Er blickte auf das Display und nahm das Gespräch an.
»Hallo«, sagte er.
»Warst du schon im Bett?«, fragte seine Mutter.
»Nein.«
»Du schläfst zu wenig, du solltest schon längst im Bett sein.«
»Dann hättest du mich aber mit deinem Anruf geweckt.«
»Was, ist es schon so spät? Ich dachte, du würdest vielleicht anrufen. Hast du etwas von deinem Vater gehört?«
»Nein«, sagte Sigurður Óli, dessen Aufmerksamkeit voll und ganz auf den Bildschirm gerichtet war, und er wusste ganz genau, dass seine Mutter ebenfalls ganz genau wusste, wie spät es war.
»Du weißt, dass sein Geburtstag näher rückt.«
»Das habe ich nicht vergessen.«
»Kommst du morgen vorbei?«
»Im Augenblick ist viel los bei mir, ich sehe zu, was sich machen lässt. Ich melde mich.«
»Schade, dass du den Dieb nicht erwischt hast.«
»Ja, hat nicht geklappt.«
»Du versuchst es vielleicht später noch einmal. Die arme Guðmunda ist völlig fertig deswegen. Vor allem wegen dieses angeblichen Musikers.«
»Mal sehen«, antwortete Sigurður Óli träge. Was geht es mich an, verdammt noch mal, wie sich diese alte Dame fühlt, dachte er, behielt das aber für sich.
Er verabschiedete sich von seiner Mutter und versuchte, sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren, aber das gelang ihm nicht so recht. Das Telefongespräch hatte ihn irritiert, auch wenn es nicht lange gedauert und an der Oberfläche ganz harmlos geklungen hatte. Trotzdem verspürte er Gewissensbisse. Die Art und Weise, in der seine Mutter mit ihm redete, war speziell darauf angelegt, seinen Seelenfrieden zu stören. Alles, was sie sagte, klang unterschwellig nach Vorwurf und Einmischerei. Er schlief nicht genug, also vernachlässigte er seine Gesundheit. Er hatte sich längere Zeit nicht bei ihr gemeldet und war nicht zu Besuch gekommen. Sie hatte seinen Vater erwähnt, den er offensichtlich ebenfalls vernachlässigte. Und diese verdammte Guðmunda hatte er auch immer noch am Hals, um nicht die Erwartungen seiner Mutter ein weiteres Mal zu enttäuschen. Denn selbstverständlich hatte sie ihm auch die Tatsache unterjubeln müssen, dass er es nicht einmal geschafft hatte, einen kleinen, miesen Zeitungsdieb zu schnappen, weil er sich dabei genauso ungeschickt angestellt hatte wie bei allem anderen.
Seine Mutter hatte BWL studiert und arbeitete als Wirtschaftsberaterin in einem großen Unternehmen mit einem eindrucksvoll klingenden ausländischen Namen. Sie hatte eine leitende Position und verdiente gut. Vor einiger Zeit hatte sie sich auf eine Beziehung mit einem anderen Wirtschaftsberater eingelassen, einem Witwer, den Sigurður Óli ein paarmal bei ihr getroffen hatte. Als seine Eltern sich scheiden ließen, war Sigurður Óli noch in der Grundschule gewesen, und seine Mutter hatte das Sorgerecht für ihn erhalten. Sie war damals sehr rastlos gewesen und immer wieder in andere Stadtviertel umgezogen, sodass er als Junge nie Zeit gehabt hatte, sich irgendwo einzuleben und Freunde zu finden. Nach der Scheidung hatte sich seine Mutter mit einigen Männern eingelassen, diese Beziehungen waren jedoch nie von langer Dauer gewesen.
Sein Vater war Installateur und hatte sehr dezidierte politische Ansichten, er war ein überzeugter Linker und hasste die Konservativen und die Kapitalisten, mit anderen Worten die Partei, die sein Sohn immer wieder aus Überzeugung wählte. Niemand hat ein stärkeres und gerechteres politisches Bewusstsein als diejenigen, die ganz links stehen, hatte der Vater seinem Sohn erklärt. Sigurður Óli hatte längst aufgehört, mit seinem Vater über Politik zu sprechen. Sigurður Ólis unerschütterliche politische Haltung führte sein Vater sowieso nur darauf zurück, dass seine Mutter ihm diesen reaktionären Quatsch eingeimpft hatte.
Das Telefongespräch mit seiner Mutter hatte Sigurður Óli so aus dem Takt gebracht, dass ihm die Lust auf Football vergangen war. Er hatte den Fernseher ausgeschaltet und war ins Bett gegangen.
Nun drückte er mit einem Seufzen ein weiteres Mal bei Lína auf die Klingel.
Die Wirtschaftsberaterin und der Klempner.
Sigurður Óli hatte nie begriffen, was seine Eltern irgendwann einmal zusammengebracht hatte. Wesentlich einfacher war es seiner Meinung nach zu verstehen, weshalb sie sich hatten scheiden lassen – obwohl weder sein Vater noch er jemals eine zufriedenstellende Erklärung dafür bekommen hatten. Auf der ganzen Welt gab es wohl kaum zwei unterschiedlichere Menschen als seine Eltern. Und er war der Spross aus dieser merkwürdigen Beziehung und noch dazu ein Einzelkind. Sigurður Óli wusste nur zu gut, dass die Erziehung seiner Mutter seine Sicht auf die Welt geprägt hatte, auch die Einstellung zu seinem Vater. Lange Zeit war es sein einziger Wunsch gewesen, bloß nicht wie sein Vater zu werden.
Sein Vater wies ihn auch immer wieder darauf hin, dass er noch etwas anderes von seiner snobistischen Mutter hatte, nämlich seine Arroganz, seinen unverbesserlichen Hang, auf andere herabzusehen.
Vor allem auf Versager.
Niemand reagierte auf das Klingeln, also versuchte er es mit Klopfen. Er hatte keine Ahnung, wie er Lína und Ebbi dazu bringen sollte, ihre absurden Erpressungsversuche einzustellen, er wollte sich erst einmal anhören, was sie zu sagen hatten. Möglicherweise bildete sich dieser Schwippschwager von Patrekur das alles nur ein. Falls nicht, konnte er die beiden vielleicht mit Drohungen von ihrem Vorhaben abbringen. Sigurður Óli konnte ziemlich massiv werden, wenn es erforderlich war.
Er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn die Tür öffnete sich einen Spalt weit, als er anklopfte. Zögernd rief Sigurður Óli ins Haus hinein, ob jemand zu Hause wäre, erhielt aber keine Antwort. Er hätte sich jetzt einfach umdrehen und weggehen können, aber irgendetwas zog ihn in das Haus, woran immer es liegen mochte – an seiner angeborenen Neugierde oder seiner angeborenen Zerstreutheit.
»Hallo!«, rief er, während er einen kurzen Flur betrat, der an der Küche vorbei ins Wohnzimmer führte. An der Wand neben der Küche hing ein kleines Aquarell schief, und er rückte es gerade.
Das Haus lag völlig im Dunkeln, aber in der schummrigen Beleuchtung, die von den Straßenlaternen draußen hereindrang, sah Sigurður Óli, dass im Wohnzimmer ein wüstes Chaos herrschte. Lampen und Vasen waren zerbrochen und lagen auf dem Boden, neben der Deckenlampe und den Bildern, die an den Wänden gehangen haben mussten.
Und mitten in diesem Chaos lag ein Frauenkörper auf dem Boden, blutüberströmt und mit einer klaffenden Wunde am Kopf.
Er hielt es für wahrscheinlich, dass es sich um Lína handelte.
Er versuchte festzustellen, ob sie noch irgendwelche Lebenszeichen von sich gab, was anscheinend aber nicht der Fall war. Allerdings war er kein Experte, was den Grenzbereich zwischen Leben und Tod betraf, und hatte bereits einen Krankenwagen bestellt. Auf einmal ging ihm auf, dass er wohl in irgendeiner Weise seine Anwesenheit im Haus erklären musste. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, sich irgendeine glaubhafte Lüge auszudenken, einen anonymen Anruf oder so etwas, kam aber schließlich zu dem Ergebnis, dass es wohl besser sein würde, einfach die Wahrheit zu sagen. Dass Freunde ihn überredet hatten, sich wegen eines dümmlichen Erpressungsversuchs einzuschalten. Patrekur und seine Frau und Súsannas Schwester mit ihren politischen Ambitionen hätte er liebend gern aus der Sache herausgehalten, aber ihm war klar, dass das schwierig werden würde. Sobald die Ermittlung ihren Lauf nahm, würden sich deren Verbindungen zu Lína und Ebbi unweigerlich herausstellen. Und etwas anderes war ebenfalls sonnenklar: In dem Moment, in dem Sigurður Óli Rechenschaft darüber ablegen musste, weshalb er dieses Haus betreten hatte, würde er von der Ermittlung ausgeschlossen werden.
All das ging ihm durch den Kopf, während er auf den Krankenwagen und die Polizei wartete. Auf den ersten Blick konnte er keinerlei Anzeichen für einen Einbruch feststellen. Der Täter hatte offensichtlich das Haus durch die Tür betreten und verlassen und sich nicht die Mühe gemacht, sie ordentlich zu schließen. Es war denkbar, dass die Nachbarn in den umliegenden Häusern etwas gehört oder gesehen hatten, ein Auto oder jemanden, der mit dem Vorsatz gekommen war, Línas Wohnung zu demolieren und sie zu überfallen.
Er bückte sich gerade ein weiteres Mal zu Lína hinunter, als er ein Rascheln hörte und aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Trotz der Dunkelheit sah er, wie jemand mit etwas, was er für eine Baseballkeule hielt, zum Schlag ausholte. Blitzschnell zog er den Kopf ein, sodass der Hieb auf seiner Schulter niederging und ihn zu Boden streckte. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war der Angreifer längst zur Tür hinaus.
Sigurður Óli rannte nach draußen und sah den Mann nach rechts laufen. Er nahm die Verfolgung auf, fischte das Handy aus der Tasche und bat um Verstärkung. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich. Der Mann legte ein Affentempo vor, er sprang in einen Garten und verschwand hinter der Hausecke. Sigurður Óli sprintete hinter ihm her, schwang sich über den Zaun, rannte um die Ecke und in den Nachbargarten, dann quer über die Straße und wieder in einen Garten hinein. Dort kam ihm aber eine Schubkarre in die Quere, er stolperte, stürzte in die Johannisbeersträucher und wälzte sich in seinem neuen Mantel im Dreck. Als er wieder aufgestanden war, musste er sich neu orientieren, bevor er die Verfolgungsjagd wieder aufnehmen konnte. Der Mann hatte inzwischen einen beträchtlichen Vorsprung, rannte über den Kleppsvegur und Sæbraut und nahm Kurs auf die psychiatrische Klinik Kleppur.
Unter Aufbietung aller Kräfte setzte Sigurður Óli ihm nach und rannte quer über die vierspurige Sæbraut. Autofahrer bremsten scharf und hupten wild. Das Telefon in seiner Hand klingelte, aber bei seinem Tempo konnte er unmöglich antworten. Er sah, wie der Mann auf die Klinik zurannte und in einer Senke des Parks, der die Klinik umgab, verschwand. Das Gebäude selbst war erleuchtet, aber ringsherum war alles stockfinster. Keine Spur von den Streifenwagen, die er angefordert hatte, als die Verfolgungsjagd begann. Er verlangsamte sein Tempo, als er sich dem Gebäude näherte, und nahm das Gespräch entgegen. Es war ein Polizist aus einem der Streifenwagen, der falsche Informationen erhalten hatte und beim Seniorenheim Hrafnista nach ihm Ausschau hielt. Sigurður Óli beorderte ihn zur Klinik und verlangte nicht nur weitere Verstärkung, sondern auch Suchhunde. Im nächsten Augenblick rannte er in Richtung Meer zu der kleinen Bucht Kleppsvík, die völlig im Dunkeln lag. Er blieb stehen, sah sich in alle Richtungen um und lauschte. Keine Bewegung, kein Geräusch. Der Mann hatte sich in der Dunkelheit in nichts aufgelöst.
Sigurður Óli lief zurück zur Klinik. Dort fuhren gerade zwei Streifenwagen vor, die er zum Gewerbegebiet Holtagarðar und zum Meer hinunter dirigierte. Er gab ihnen eine knappe Beschreibung des Mannes, mittelgroß, Lederjacke, Jeans, Baseballschläger. Sigurður Óli war der Meinung, dass der Mann den Schläger immer noch bei sich haben musste.
Sie verteilten sich nach seinen Anweisungen über das Gelände. Er forderte weitere Polizisten an, und nach kurzer Zeit erschienen auch Angehörige des SEK, um sich an der Fahndung zu beteiligen. Das Suchgebiet wurde erweitert, die Leute durchkämmten jetzt das gesamte Gelände zwischen Sæbraut und der Elliðavogur-Bucht.
Sigurður Óli schwang sich in einen der Streifenwagen bei der Klinik und fuhr zurück zu dem Reihenhaus. Lína war mit Blaulicht ins Krankenhaus transportiert worden, sie war tatsächlich noch am Leben gewesen. Polizeiautos versperrten fast die ganze Straße, und im Haus hatten die Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit aufgenommen.
»Kennst du diese Leute?«, fragte sein Kollege Finnur, der vor dem Haus stand. Sigurður Ólis Notruf war an ihn weitergeleitet worden.
»Wisst ihr schon, wo ihr Mann ist?«, fragte Sigurður Óli, der sich nicht mehr so sicher war, ob er die ganze Wahrheit sagen sollte.
»Er heißt Ebeneser«, sagte Finnur.
»Genau. Idiotischer Name.«
»Wir wissen nicht, wo er ist. Hinter wem bist du da hergelaufen?«
»Wahrscheinlich hinter dem Mann, der die Frau überfallen hat«, sagte Sigurður Óli. »Ich gehe davon aus, dass er sie mit dem Baseballschläger am Kopf getroffen hat. Der verdammte Hund hat mir auch einen Hieb versetzt, ich war einen Moment lang außer Gefecht.«
»Warst du wirklich da drinnen im Haus?«
»Ich hatte etwas mit ihr zu besprechen. Als ich hereinkam, lag sie auf dem Boden, und dann ist auf einmal dieser Kerl über mich hergefallen.«
»Glaubst du, dass er eingebrochen ist? Wir haben keine Anzeichen für einen Einbruch gefunden. Er muss durch die Haustür hereingekommen sein, und sie hat sie ihm wahrscheinlich selber geöffnet.«
»Die Tür war nicht im Schloss, als ich kam. Der Kerl hat vermutlich geklingelt und ist dann über sie hergefallen. Das ist kein normaler Einbruch, da steckt etwas anderes dahinter. Ich gehe nicht davon aus, dass etwas geklaut wurde. Er demoliert die Wohnung und versetzt der Frau einen Hieb auf den Kopf. Wir werden sicher bald erfahren, ob sie noch weitere Verletzungen hat.«
»Also …«
»Meiner Meinung nach war das ein Schuldeneintreiber. Wir sollten uns ein paar von diesen Typen vorknöpfen. Den hier kannte ich nicht, ich habe ihn allerdings auch nicht richtig sehen können. Ein Sprinter wie der ist mir noch nicht untergekommen.«
»Wenn man die Schläge und sein Vorgehen betrachtet, klingt das ziemlich wahrscheinlich. Es könnte darum gegangen sein, Geld von ihr einzutreiben.«
Sigurður Óli und Finnur gingen ins Haus.
»War er allein?«, fragte Finnur.
»Soweit ich weiß, ja.«
»Was hattest du eigentlich hier verloren? Woher kennst du diese Leute?«
Sigurður Óli hatte inzwischen den Gedanken aufgegeben, die ganze Wahrheit zu sagen. Am liebsten hätte er das getan, aber dann würde sich nicht mehr verheimlichen lassen, dass dieser Angriff auf Lína etwas mit ihrem kindischen und ungeschickten Versuch zu tun hatte, sich durch Erpressung zu bereichern. Es konnte nämlich durchaus sein, dass Hermann ihr diesen Gangster auf den Hals gehetzt hatte. Seinem Freund Patrekur traute er das nicht zu. Er beschloss, zunächst keine Namen ins Spiel zu bringen und erklärte nur, er sei einem Hinweis nachgegangen. Es ginge darum, dass Lína und Ebbi anrüchige Geschäfte mit irgendwelchem Bildmaterial gemacht hätten.
»Geht es um Porno?«
»Etwas in der Art.«
»Kinderporno?«
»Das wohl nicht, aber etwas sehr Kindisches steckt schon dahinter.«
»Mir ist gar nicht bekannt, dass uns so ein Tipp zugegangen ist«, sagte Finnur.
»Nein«, sagte Sigurður Óli, »der ist erst heute eingegangen. Möglicherweise geht es um Erpressung, und das könnte den Besuch eines Geldeintreibers erklären. Wenn es denn einer war.«
Finnurs Blick ließ keinen Zweifel daran, dass ihn Sigurður Ólis Ausführungen nicht wirklich überzeugten.
»Und du wolltest dich bloß mal mit den beiden unterhalten? Das kapier ich nicht so ganz, Siggi.«
»Der Fall ist doch noch total im Anfangsstadium.«
»Ja, aber …«
»Wir müssen Mr. Scrooge finden«, erklärte Sigurður Óli entschlossen, wie um zu zeigen, dass jetzt keine Zeit für lange Erklärungen sei.
»Scrooge?«
»Ja, diesen Ebeneser. Und nenn mich nicht Siggi.«
Auf dem Weg nach Hause fuhr Sigurður Óli noch einmal beim Hauptdezernat vorbei. Elínborg hatte schon Feierabend gemacht. Auf einer Bank auf dem Flur saß ein junger Bursche, der sich nicht zum ersten Mal durch kleinere kriminelle Aktivitäten, aber auch durch Gewalttätigkeit in Schwierigkeiten gebracht hatte. Sohn eines Kriminellen und einer Alkoholikerin. Dergleichen Schicksale gab es genug in Reykjavík. Sigurður Óli hatte das erste Mal mit dem Jungen zu tun gehabt, als er achtzehn war, und da hatte er bereits einige Straftaten auf dem Buckel. Seitdem waren ein paar Jahre vergangen.
Sigurður Óli war immer noch wütend auf sich selber, weil ihm der Geldeintreiber durch die Lappen gegangen war. Auf dem Weg zu seinem Büro sah er den Jungen, zögerte und setzte sich dann neben ihn auf die Bank.
»Und was ist jetzt schon wieder?«, fragte Sigurður Óli.
»Nichts«, entgegnete der junge Mann.
»Einbruch?«, fragte Sigurður Óli.
»Geht dich nichts an.«
»Hast du jemanden zu Brei geschlagen?«
»Wo ist das Arschloch, das mich vernehmen soll?«
»Mann, wie kann man nur so bescheuert sein wie du.«
»Klappe.«
»Du weißt ganz genau, wie bescheuert du bist.«
»Klappe!«
»Das ist ja auch nicht so kompliziert«, sagte Sigurður Óli, »nicht mal für Hirnis wie dich.«
Der Junge antwortete ihm nicht.
»Du bist ein totaler Versager.«
»Selber einer.«
»Was anderes wirst du nie sein«, sagte Sigurður Óli, »das weißt du.«