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Ein Mann wird in seiner Wohnung in Reykjavík ermordet aufgefunden. Auf seinem Schreibtisch liegen Zeitungsausschnitte aus den Kriegsjahren, die von einem brutalen Mord berichten: Ein Mädchen wurde damals mitten in der Stadt erdrosselt, dort, wo in jener Zeit das Lager des amerikanischen Militärs war. Konráð, ein pensionierter Polizist, erfährt davon, und seine Neugier erwacht. Er hatte schon früher von dem ermordeten Mädchen gehört - aber warum sollte jemand Berichte über ihren Tod so lange Zeit aufbewahren?
Wochenlang Platz 1 der isländischen Bestsellerliste
Mit dem Premio RBA de Novela Negra 2013 ausgezeichnet
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Seitenzahl: 441
ARNALDUR INDRIÐASON
SCHATTENWEGE
Island Krimi Übersetzung aus dem Isländischen von Coletta Bürling
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der isländischen Originalausgabe:
»Skuggasund«
Namen, Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2013 by Arnaldur Indriðason
Published by arrangement with Forlagið, www.forlagid.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München
© Johannes Wiebel, punchdesign, München
Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: BABAROGA |digieye
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-1307-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die beiden Polizisten hatten sich entschlossen, in die Wohnung zu gehen, doch statt die Tür aufzubrechen, bestellten sie den Schlüsseldienst. Ihrer Meinung nach würden ein paar Minuten mehr oder weniger ohnehin keine Rolle spielen.
Eine Nachbarin des Mannes hatte die Polizei benachrichtigt. Sie hatte nicht beim Notruf, sondern beim Hauptdezernat angerufen und verlangt, mit einem Polizeibeamten zu sprechen. Die Frau sagte dem Mann, mit dem sie verbunden wurde, dass sie ihren Nachbarn etliche Tage nicht mehr gesehen hatte.
»Er schaut manchmal bei mir vorbei, wenn er einkaufen geht«, sagte sie. »Ich höre auch, wenn er die Wohnung verlässt, und ich kann vom Fenster aus sehen, wenn er nach Hause kommt. In den letzten Tagen hab ich ihn aber überhaupt nicht gesehen.«
»Könnte es nicht sein, dass er einfach mal aus der Stadt gefahren ist?«
»Meinst du aufs Land? Er fährt nie aus der Stadt.«
»Auch nicht, um Freunde oder Verwandte zu besuchen?«
»Ich glaube, er hat nicht viele Freunde. Und er hat nie von irgendwelchen Verwandten geredet.«
»Wie alt ist er?«
»Um die neunzig. Aber sehr rüstig. Er kommt allein zurecht.«
»Könnte es sein, dass ihm etwas passiert ist, dass er vielleicht im Krankenhaus liegt?«
»Nein, ich … Das hätte ich bestimmt mitgekriegt. Er wohnt schließlich direkt gegenüber.«
»Vielleicht ist er in ein Altersheim gezogen? Es hört sich so an, als wäre es an der Zeit gewesen.«
»Ich … Mein Gott, was sind denn das für Fragen. Was soll ich dazu sagen? Wer will schon ins Altersheim. Er war sehr rüstig.«
»Vielen Dank, dass du angerufen hast, meine Liebe. Am besten schicke ich ein paar Leute vorbei.«
Und jetzt standen also zwei Polizisten vor der Tür des alten Mannes und warteten auf den Schlüsseldienst. Die Nachbarin hieß Birgitta, sie wartete mit ihnen. Einer der Polizisten war stämmig und hatte einen Kugelbauch. Der andere war jünger und so hager, dass die Uniform an ihm herunterhing. Sie gaben ein komisches Paar ab, wie sie da auf dem Treppenabsatz standen und sich über alles Mögliche unterhielten. Der Dicke war älter und erfahrener, er hatte sich schon öfter mit Hilfe eines Schlüsseldienstes Zutritt zu einer Wohnung verschafft. Es kam immer mal wieder vor, dass die Polizei gebeten wurde, bei Menschen nach dem Rechten zu sehen, die keine Angehörigen hatten und durch irgendwelche Maschen im Sozialsystem gerutscht waren. Der Mann vom Schlüsseldienst hieß Ómar und war mit ihm verwandt, er war ein Profi und konnte sich im Handumdrehen Zutritt zu verschlossenen Wohnungen verschaffen.
Sie begrüßten sich vertraut, als Ómar die Treppe hinaufkam. Nach ein paar Handgriffen am Schloss ging die Tür auf.
»Hallo!«, rief der Dicke in die Wohnung hinein.
Er erhielt keine Antwort und bat seinen Verwandten und die Nachbarin, auf dem Flur zu warten. Sein dünner Kollege folgte ihm in die Wohnung.
»Hallo!«, rief er noch einmal, aber wieder erfolgte keine Reaktion.
Die beiden Polizisten gingen bedächtig vor. Der Dicke schnupperte, denn ein penetranter Geruch lag in der Luft, und sie hielten sich Mund und Nase zu. Sämtliche Vorhänge waren zugezogen. In der kleinen Diele, im Wohnzimmer und in der Küche brannte Licht.
Die Stimme des Dünnen klang ein wenig schrill, als er rief: »Hallo! Ist hier jemand?«
Er bekam keine Antwort. Der Mann vom Schlüsseldienst und Birgitta warteten immer noch draußen vor der Tür.
Die Küche war klein und ordentlich aufgeräumt, zwei Stühle standen an einem Tisch, und auf der Arbeitsplatte neben der Spüle war eine Kaffeemaschine mit halbvoller Kanne. Sie war ausgeschaltet. Im Waschbecken waren ein Teller und zwei Tassen abgestellt worden. Außerdem gab es in der Küche noch einen kleinen Kühlschrank und einen altmodischen Herd mit drei Platten. Im Wohnzimmer befand sich eine Sofagarnitur mit einem Couchtisch, und vor einem Fenster, das nach Süden ging, stand ein Schreibtisch. Es gab auch einige Regale mit Büchern, aber keinerlei Nippes. Das Wohnzimmer war genauso ordentlich wie die Küche.
Abgesehen von Bad und Küche war die ganze Wohnung mit Teppichboden ausgelegt. Auf den meistbegangenen Wegen zwischen Wohnzimmer, Küche, Toilette und Schlafzimmer war er verschlissen, und an einer Stelle war er sogar so abgetreten, dass man nur noch die weißen Fäden sah, die ihn zusammenhielten. Die Polizisten öffneten die Tür zum Schlafzimmer, und dort lag ein Mann in seinem Bett. Die Augen waren halb geöffnet, die Arme lagen zu beiden Seiten. Er war vollständig angekleidet, trug Hemd, Hose und Socken. Es machte ganz den Eindruck, als hätte er sich tagsüber etwas zur Ruhe gelegt und wäre nicht wieder aufgestanden. Auf den ersten Blick sah er keineswegs wie neunzig aus. Der ältere Polizist ging zu dem Bett und fühlte am Hals und an den Handgelenken nach dem Puls. Einen angenehmeren Tod kann man sich nicht wünschen, war das Erste, was ihm einfiel.
»Ist er tot?«, fragte der Dünne.
»Sieht ganz so aus«, antwortete sein Kollege.
Birgitta konnte auf dem Flur nicht länger an sich halten, sie betrat die Wohnung und spähte in das Zimmer, in dem ihr Nachbar einsam und friedlich in seinem Bett lag.
»Ist er … Ist er tot?«
»So viel steht fest«, sagte der ältere Polizist.
»Der Arme, er war bestimmt froh, Ruhe zu finden«, sagte sie leise.
Später am Tag wurde die Leiche ins Krankenhaus gebracht, wo die diensthabende Pathologin sie registrierte. Wie in solchen Fällen vorgeschrieben, war der Bezirksarzt noch in der Wohnung hinzugerufen worden, um den Totenschein auszustellen. Von Seiten der Polizei bestand kein Anlass, den Todesfall genauer zu untersuchen, es sei denn, dass sich bei der Obduktion etwas Unnatürliches ergeben würde. Bis das Gutachten aus der Gerichtsmedizin vorlag, würde die Wohnung versiegelt bleiben.
Die Pathologin hieß Svanhildur. Sie verschob die Untersuchung der Leiche in die zweite Wochenhälfte. Es handelte sich nicht um einen dringlichen Fall, und die vielbeschäftigte Ärztin hatte zuvor noch einige wichtigere Aufgaben zu erledigen, bevor sie ihren dreiwöchigen Urlaub antrat, den sie auf den schönen Golfplätzen in Florida verbringen wollte.
Deswegen lag die Leiche erst zwei Tage später auf dem Seziertisch. Eine kleine Gruppe von Medizinstudenten war anwesend, und sie ging die Prozedur Schritt für Schritt mit ihnen durch. Sie informierte sie über die äußeren Umstände, unter denen die Leiche gefunden worden war – eine Nachbarin hatte sich bei der Polizei gemeldet. Nichts deutete auf etwas anderes hin, als dass der Mann eines natürlichen Todes gestorben war. Der Ärztin gelang es allerdings, das Interesse der Studenten zu wecken. Einer nahm sogar die Stöpsel seines iPods aus dem Ohr.
Sie ging davon aus, dass die Todesursache ein Herzschlag gewesen war, und es sollte sich später herausstellen, dass diese Vermutung stimmte. Der Mann war an einem Herzschlag gestorben.
Sie untersuchte die Augen.
Sie schaute ihm tief in den Hals.
»Nanu?«, flüsterte sie, und die Studenten beugten sich tief über den Seziertisch.
Immer wenn sie über die belebtesten Straßen der Stadt gingen, bemühten sie sich, es nicht so aussehen zu lassen, als seien sie ein Pärchen. Ihre Eltern hatten sich fürchterlich aufgeregt, als sie von der Beziehung erfuhren, und sie hatten verlangt, dass sie unverzüglich Schluss mit ihm machen müsste. Ihr Vater hatte ihr angedroht, sie aus dem Haus zu werfen, und sie wusste, dass er zu seinem Wort stehen würde. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass die Reaktion so heftig und hasserfüllt sein würde. Es fiel ihr schwer, etwas gegen den Willen der Eltern zu tun, aber sie konnte ihre Beziehung zu dem jungen Mann auf gar keinen Fall beenden. Sie redete einfach nicht mehr über ihn, sie tat, als sei die Sache vorbei. Aber sie trafen sich immer noch heimlich, so wie jetzt, als sie an den Sandsäcken vor dem Nationaltheater vorbeiliefen.
Es gab nicht viele Stellen, wo sie sich lieben konnten. Zu Beginn ihrer Beziehung im Spätherbst hatten sie sich bei gutem Wetter manchmal in dem Wald unterhalb der Heißwassertanks getroffen. Jetzt aber herrschte tiefster Winter, und es gab nicht viele Möglichkeiten. Ein Hotelzimmer zu mieten oder sich in eine der Militärbaracken zu schleichen kam absolut nicht in Frage. Sie hatten sich schon einmal im Dunkeln hinter dem Nationaltheater getroffen, das wie eine Felsbastion an der Hverfisgata aufragte. Umrahmt von Basaltsäulen sollte sich in diesem Haus die isländische Schauspielkunst entfalten. Die Architektur des Theaters signalisierte ehrgeizige Pläne, doch es war noch nicht weit über den Rohbau hinausgekommen. Bereits während der Weltwirtschaftskrise wurde ein Baustopp verhängt. Und als der Krieg ausgebrochen war, wurde das Gebäude von der britischen Besatzung beschlagnahmt, die dort ein großes Depot einrichtete. Diesem Zweck diente es auch noch, nachdem die Briten von den Amerikanern abgelöst worden waren. Und zudem trafen sich dort Liebespaare, die ungestört sein wollten.
»Diesen Mann wirst du nie wieder treffen!«, hatte ihr Vater sie wutschäumend angeschrien. Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte er sie beinahe geschlagen, wenn ihre Mutter nicht dazwischengetreten wäre.
Sie hatte es ihrem Vater hoch und heilig versprochen, aber das Versprechen sofort wieder gebrochen. Ihr Freund hieß Frank und kam aus Illinois, ein geschniegelter, gestriegelter und wohlriechender junger Mann mit schönen weißen Zähnen, der sich ihr gegenüber immer wie ein Gentleman verhielt. Sie hatten darüber gesprochen, zusammen nach Amerika zu gehen, wenn der Krieg vorüber war. Sie war überzeugt, dass ihr Vater bestimmt noch Gefallen an dem Amerikaner finden würde, wenn der sture Alte nur erst bereit sein würde, ihn zu treffen.
Ihre Beziehung zu Frank war keineswegs etwas Einmaliges, und sie war nicht allein mit ihrem Problem. Bei Ausbruch des Krieges war Reykjavík eine Stadt von vierzigtausend Einwohnern, in die es in den ersten Jahren des Kriegs Tausende von Soldaten der Besatzungsmächte verschlug. Dass sich dabei gewisse Beziehungen zwischen ihnen und den isländischen Frauen anbahnen würden, war unvermeidlich. Zuerst ging es um die Tommys, aber die Liebe wurde nicht geringer, als die Briten von den Amis abgelöst wurden. Sie waren wesentlich gepflegter, warfen mit Dollars um sich und traten sehr viel eleganter auf. Fast so wie Filmstars. Die Sprache war kein Hindernis. Im Bett verstand jeder jeden. In Island wurde eigens eine Kommission eingerichtet, um dem entgegenzusteuern. Diese angespannte Situation spiegelte sich in nur einem einzigen Wort wider, im Volksmund wurde sie als »der Zustand« bezeichnet.
Ihr selber waren die Kommission und der sogenannte »Zustand« völlig egal, als sie mit Frank aus Illinois über die Hverfisgata lief. Es war Mitte Februar und ziemlich kalt. Der Wind heulte um diese Felsbastion von Menschenhand, die an die isländischen Volkssagen über Elfen und anderen verborgenen Wesen erinnern sollte. Die zukünftigen Theatergäste sollten in die glänzend schöne und märchenhafte Welt der Elfen versetzt werden, die dem Volksglauben zufolge überall im Land in Felsen und Hügeln lebten. Die Soldaten, die sich in ihrer Sandsackstellung gegen die Kälte zu schützen versuchten, schenkten den beiden kaum Aufmerksamkeit, als sie um die Ecke des Theaters bogen und dorthin gingen, wo es keine Straßenbeleuchtung gab. Sie trug einen dicken Wintermantel, den sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, und er steckte in seiner Uniform, die sie so sehr bewunderte. Darüber trug er einen Militärmantel. Er war Sergeant, aber sie wusste nicht so recht, was für eine Funktion so ein Sergeant hatte. Ihr Englisch beschränkte sich auf nicht viel mehr als yes und no und darling, und nicht anders verhielt es sich mit seinen Isländischkenntnissen. Trotzdem hatte es zwischen ihnen bislang keinerlei Verständigungsprobleme gegeben. Doch heute musste sie ihm etwas sagen, was ihr große Sorgen bereitete.
Sobald sie Schutz vor dem Wind gefunden hatten, begann Frank, sie leidenschaftlich zu küssen. Sie spürte seine tastenden Hände unter dem Mantel und musste an ihren Vater denken. Wenn der sie jetzt sehen würde! Sie hörte die zärtlichen Worte, die Frank ihr ins Ohr flüsterte, spürte seine kalten Hände auf der Bluse, die sie sich nach Neujahr bei Jacobsen gekauft hatte. Er streichelte ihre Brüste unter der Bluse, er knöpfte sie auf und berührte ihre nackte Haut. Sie hatte kaum Erfahrung in Sachen Liebe und verhielt sich deswegen eher zurückhaltend. Aber sie liebte es, ihn zu küssen, und wenn er sie berührte, spürte sie, wie eine siedend heiße Welle durch ihren Körper lief. In diesem Moment aber war ihr kalt und ganz und gar nicht danach zumute, weil der Zorn ihres Vaters allzu präsent war. Und auch das, worüber sie mit Frank reden wollte, ließ ihr keine Ruhe.
»Frank, ich muss dir etwas sagen …«
»My darling.«
Er bedrängte sie so sehr, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf irgendetwas trat, das sie beinahe zu Fall gebracht hätte. Er hielt sie fest und wollte weitermachen, aber sie bat ihn, damit aufzuhören. Sie standen bei einem der Seiteneingänge, und dort lag etwas, worüber sie fast gestolpert wäre. Sie sah ein Stück von einem Pappkarton und dachte, er stamme aus dem Depot. Den hatte sie gar nicht bemerkt, als er sie in die Nische gedrängt hatte. Jetzt sah sie, dass unter dem braunen Karton zwei halbnackte Beine herausragten.
»Jesus«, stöhnte Frank.
»Was ist das?«, fragte sie. »Wer ist das?«
Sie starrten auf die Beine – in Schuhen mit Schnürriemen, in Socken, die knapp bis über die Knöchel reichten, darüber weißlich blaue Haut. Mehr war nicht zu sehen. Frank zögerte einen Augenblick, bevor er sich bückte und nach dem Pappkarton griff.
»Was machst du denn da?«, flüsterte sie. Er zog die Pappe weg, und zum Vorschein kam eine junge Frau, kaum älter als zwanzig. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken zur Wand. Im selben Augenblick wussten beide, dass sie tot war.
»Um Gottes willen«, stöhnte sie und klammerte sich an Frank, der seine Blicke nicht von der Leiche losreißen konnte.
»What the hell?«, hörte sie ihn flüstern, als er neben dem Mädchen niederkniete. Er griff nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen, doch er spürte nichts. Er legte ihr zwei Finger an den Hals, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Ein Schauder durchfuhr den amerikanischen Soldaten. Er hatte noch nie an einem Gefecht teilgenommen und hatte noch keine Leichen gesehen. Ihm war klar, dass sie dem Mädchen nicht mehr helfen konnten, und er suchte hastig nach Spuren, die auf die Todesursache hindeuten konnten. Er fand aber nichts.
»Was sollen wir machen?«
Frank richtete sich auf und nahm seine isländische Freundin in die Arme. Er mochte sie, aber er verstand auch gut, warum sie ihn noch nie zu sich nach Hause eingeladen und ihrer Familie vorgestellt hatte. Soldaten waren nicht überall willkommen.
»Let’s get the hell out of here«, sagte er und blickte sich um, ob noch andere Leute unterwegs waren.
»Müssen wir nicht die Polizei verständigen?«, fragte sie. »Get police.«
Es waren keine anderen Menschen in der Nähe, und als er um die Ecke spähte, sah er, dass die Wachsoldaten hinter den Sandsäcken immer noch an Ort und Stelle waren.
»No police. No! Let’s go. Come on!«
Er packte sie bei der Hand, und sie liefen rasch zur Lindargata und dann zu dem Hügel mit der Statue des ersten Siedlers. Frank war schneller als sie und musste sie mehr oder weniger hinter sich herziehen. Die beiden fielen aber einer alten Dame auf der Lindargata auf, die unterwegs zur Hverfisgata war. Sie bemerkten sie nicht, doch die Frau sah, wie die beiden aus einer dunklen Nische am Theater auftauchten und wegrannten. Die jungen Mädchen waren heutzutage wirklich nicht mehr ganz normal, dachte sie. Und dieses Mädchen kannte sie nämlich, aber sie hatte nicht gewusst, dass sogar sie sich mit Soldaten herumtrieb.
Als die alte Dame am Theater vorbeiging, warf sie einen Blick in die dunkle Ecke, aus der das Pärchen zum Vorschein gekommen war. Sie hielt inne, als sie die nackten Beine bemerkte. Dann trat sie einen Schritt näher heran, um besser sehen zu können, und da sah sie die Leiche einer jungen Frau, die offensichtlich unter Pappkartons und Abfallpapier versteckt worden war. Sie bemerkte sofort, wie unpassend das Mädchen für diese Jahreszeit gekleidet war, sie trug nur ein ganz leichtes Kleid.
Der Wind heulte um das Gebäude.
Die junge Frau war auch im Tod noch schön, ihre gebrochenen Augen schienen an dem Bauwerk hochzublicken, so als sei sie in jene verborgene Welt der Felsbewohner eingegangen, auf die die Gestaltung der Außenwände Bezug nahm.
Marta saß in einem thailändischen Restaurant. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie hatte die Nummer sieben bestellt, ein Schweinefleischgericht, das angeblich das schärfste auf der Speisekarte war. Konráð hatte davon probiert, aber nichts geschmeckt außer Chili. Zunge und Lippen und Rachen brannten. Er hatte Zitronenwasser geschluckt und nach Luft geschnappt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er selber hatte sich ein Gericht mit Hühnchenfleisch bestellt, das ihm durchaus geschmeckt hatte, da es gut zubereitet war.
Das Lokal befand sich am Rande von Reykjavík in einem Gewerbegebiet. Von außen sah es nicht besonders einladend aus, die Straßenfront erinnerte eher an eine Autowerkstatt als an ein Restaurant. Marta fand ein spezielles Vergnügen daran, in solchen gastronomischen Einrichtungen zu essen. Sie waren nicht teuer, die Bedienung war fix und aufmerksam, und das Essen gut. Zudem bestand keine Gefahr, dass sich irgendwelches versnobte Pack dorthin verirrte.
Sie hatte Konráð vom Dezernat aus angerufen und gefragt, ob er Lust hätte, mit ihr essen zu gehen. Konráð hatte zugesagt, denn es war schon einige Zeit her, seit er von Marta gehört hatte. Da er bereits pensioniert war, wusste er kaum viel Besseres mit seiner Zeit anzufangen. Als Kollegen bei der Kriminalpolizei hatten sie trotz des relativ großen Altersunterschieds gut zusammengearbeitet, aber nachdem Konráð aufgehört hatte, war das Verhältnis zwischen ihnen ein ganz anderes geworden, sie sahen sich nur noch selten und unter völlig anderen Umständen als früher. Alles war irgendwie anders, seitdem er nicht mehr arbeitete, so als seien sie nicht mehr in derselben Mannschaft. Konráð hatte sich ausgestempelt, doch Marta steckte immer noch mittendrin, und noch nie war so viel für sie zu tun gewesen.
»Ist dein Schwein nicht ein bisschen scharf?«, fragte Konráð, als er die Schweißtropfen über Martas Stirn perlen sah.
»Kann sein, aber es schmeckt gut. Ich hab schon Schärferes gegessen.«
»Ja, bestimmt«, entgegnete Konráð und verzichtete darauf, Marta auf die Schippe zu nehmen. Marta war manchmal ein viel zu leichtes Ziel dafür. Sie konnte erst nachgeben, wenn sie selber merkte, dass sie unrecht hatte. Sie musste immer alles besser wissen als alle anderen.
»Wie geht es dir?«, fragte Marta.
»Ganz gut. Und dir?«, antwortete Konráð.
Marta war fertig mit ihrem Teller und trocknete sich den Schweiß ab. Sie war mollig, hatte dicke Finger, ein Doppelkinn und schwere Augenlider, die dazu neigten herabzusinken, vor allem nach einer ausgiebigen Mahlzeit. Ihr Haar war meist unordentlich, und sie trug fast nur Hosen und weite Hemden, weil sie nicht viel Lust hatte, sich zurechtzumachen. Sie hätte nicht gewusst, für wen. Von den hämischen Kollegen bei der Polizei wurde sie oft die smarte Marta genannt. Sie hatte einige Zeit mit einer Frau von den Westmännerinseln zusammengelebt, doch die hatte sie verlassen und war auf ihre Inseln zurückgekehrt. Seitdem lebte sie allein.
»Hast du in letzter Zeit mal was von deiner Freundin Svanhildur gehört?«, fragte Marta. Sie griff nach einem Zahnstocher und fing an, ihre Zähne damit zu bearbeiten. Eine Unsitte, die Konráð auf die Nerven ging, vor allem wenn sie anschließend lautstark die Luft zwischen den Zähnen einsog.
»Nein«, sagte Konráð. Er hatte in letzter Zeit nicht viel von Svanhildur, der Pathologin am Nationalkrankenhaus, gehört.
»Sie hat sich mit uns wegen eines Mannes in Verbindung gesetzt, der tot bei sich zu Hause aufgefunden wurde. Er hieß Stefán þórðarson. Hast du das nicht mitbekommen?«
Konráð nickte. Er erinnerte sich dunkel an eine Zeitungsmeldung vor einigen Tagen, dass ein alter Mann tot in seiner Wohnung aufgefunden worden war. Ein alleinstehender Mensch, der anscheinend auch allein und verlassen gestorben war. Eine Nachbarin hatte die Polizei verständigt, nachdem sie den Mann einige Tage lang nicht gesehen hatte.
»Und was ist damit?«, fragte Konráð.
»Ich dachte, Svanhildur hält dich auf dem Laufenden, wenn was Ungewöhnliches passiert?«
»Da irrst du dich.«
»Sie hat was Erstaunliches herausgefunden, das dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, völlig entgangen ist.«
»Sie ist ganz schön clever.«
»Sie glaubt, dass dieser Stefán erstickt worden ist. Wahrscheinlich mit seinem eigenen Kopfkissen.«
»Im Ernst?«
»Sie glaubt, es war Mord.«
»Wieso das denn? Der Mann war doch schon steinalt?«
»Willst du wissen, weshalb er umgebracht wurde, oder weshalb Svanhildur glaubt, dass er umgebracht wurde?«, war Martas Gegenfrage.
Sie sah Konráð offensichtlich gesättigt und zufrieden an und stocherte weiter zwischen ihren Zähnen. Konráð musste lächeln und bedauerte es, dass er die Gelegenheit nicht genutzt hatte, sie auf den Arm zu nehmen.
»Na schön«, sagte er. »Beginnen wir mit der ersten Frage: Weshalb wurde er umgebracht?«
»Das wissen wir nicht.«
»Und weshalb glaubt Svanhildur, dass er umgebracht wurde?«
»Wegen irgendwelcher Partikel im Rachen und den Atemwegen. Außerdem hat sie geplatzte Äderchen in den Augen gefunden. Die ganze Palette.«
»Was für Partikel? Von seinem Kopfkissen?«
»Ja. Svanhildur meint, dass jemand ihm das Kopfkissen aufs Gesicht gedrückt hat, bis er seinen letzten Schnaufer getan hat. Buchstäblich. Er hat sich gar nicht wehren können, er war ja auch schon über neunzig. Lange hat es wohl nicht gedauert, aber es hat trotzdem Spuren hinterlassen.«
»War er schon so alt?«
»Ja, und deswegen waren keine großen Kräfte erforderlich, um ihn zu ersticken. Die Polizisten, die zuerst bei ihm eintrafen, haben keinen Verdacht geschöpft. Es gab zwei Kopfkissen, eins hatte er unter dem Kopf und das andere befand sich am Fußende des Betts. Er … Es sah so aus, als wäre er im Schlaf gestorben.«
»Mit anderen Worten, jemand wollte es so aussehen lassen, als sei er im Schlaf hinübergegangen.«
»Genau.«
»Und dieses Täuschungsmanöver ist euch entgangen?«, fragte er, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte. »Warst du etwa dabei?«
Marta sog wieder die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Der hinzugerufene Arzt hat nichts Auffälliges bei dem Mann bemerkt. Wir sind keine Ärzte. Die beiden Polizisten haben ihm nicht mit einem Vergrößerungsglas in den Hals geschaut.«
»Aber warum hat Svanhildur es getan?«
»Wieso fragt du sie nicht selber?«
»Vielleicht mach ich das.«
»Tu das.«
»Was war das für ein Mann? Habt ihr ihn gekannt?«
»Meinst du, ob er ein guter Bekannter der Polizei war? Nein, das war er nicht. Wie gesagt, er war alleinstehend. Ist nie mit der Polizei in Berührung gekommen, oder zumindest nicht in den letzten Jahrzehnten. Wir haben niemanden auftreiben können, der ihn kannte, abgesehen von der Nachbarin.«
»Keine Freunde oder Anverwandte?«
»Unseres Wissens nicht. Jedenfalls hat sich noch niemand gemeldet. Vielleicht ändert sich das jetzt. Die Nachricht wird heute Abend noch im Internet zu lesen sein, morgen steht sie in der Zeitung. Warten wir ab, was dabei herauskommt.«
»War es ein Einbruch? Wurde etwas gestohlen?«
»Dafür gibt es keine Anzeichen. Die Wohnung ist von der Spurensicherung durchkämmt worden, die Leute waren heute den ganzen Tag dort.«
»Also muss dieser Stefán den Täter gekannt haben? Ihm die Tür geöffnet und ihn in die Wohnung eingelassen haben?«
»Bist du nicht pensioniert?«, fragte Marta.
»Doch«, antwortete Konráð. »Glücklicherweise.«
Als Konráð abends in seine Wohnung zurückkehrte, legte er eine Platte mit isländischen Schlagern der sechziger Jahre auf, öffnete eine Flasche The Dead Arm – diesen Rotwein mochte er sehr. Er setzte sich an den Küchentisch. Das Fenster ging nach Westen und bot Aussicht auf eine milde Abendröte. Er hörte sich häufig alte Schlager an und kannte sie in- und auswendig. Sie fielen ihm oft ohne jeden Anlass ein und ließen Erinnerungen aufleben, die mit dieser Musik verbunden waren. Als die Combo von Ingimar Eydal Frühling im Vaglaskógur spielte, musste er an den Sommer 1966 denken, als er das Lied zum ersten Mal gehört hatte. Seine Erinnerungen wurden aber vom Telefon unterbrochen, das im Wohnzimmer klingelte. Es war schon nach elf, es konnte also höchstens Marta sein. Sie hatte die Angewohnheit, zu allen möglichen und unmöglichen Tages- und Nachtzeiten anzurufen. Meist wegen irgendwelcher Lappalien, aber oft auch nur, um zu reden. Sie war einsam, seitdem die Frau von den Inseln nicht mehr bei ihr war.
»Hast du schon geschlafen?«, fragte Marta. Sie hörte sich aber nicht so an, als hätte sie deswegen irgendwelche Gewissensbisse.
»Nein.«
»Und was machst du gerade?«
»Nichts. Gibt’s was Neues in dem Fall mit dem alten Mann?«
»Wir haben die ganze Wohnung durchsucht.«
»Natürlich.«
»Was Besonderes haben wir nicht gefunden. Er hat allein gelebt, und wir haben immer noch nicht herausgekriegt, ob es irgendwelche lebende Verwandte gibt. In seiner Wohnung waren zumindest keine Familienfotos an den Wänden, und wir haben auch kein Familienalbum gefunden. In der Schublade des Nachtschränkchens neben seinem Bett lag das Foto eines jungen Mannes. Er hat einige Bücher besessen, aber sonst gibt es kaum was Persönliches. Das einzig Interessante sind vielleicht Zeitungsausschnitte, die er vor langer Zeit ausgeschnitten und aufbewahrt hat.«
»Ach ja?«
»Ja, aber denen kann man nicht viel entnehmen. Ich erinnere mich nicht, jemals von diesem Fall gehört zu haben.«
»Was für einem Fall ?«
»Um den Fall, um den es in den Zeitungsausschnitten geht. Es sind drei Artikel, wahrscheinlich sogar aus der gleichen Zeitung, aber alle ohne Datum oder andere Angaben. Man kann aus ihnen nicht entnehmen, ob der Fall aufgeklärt wurde, oder ob das amerikanische Militär den Fall übernommen hat. Im letzten Artikel ist davon die Rede, dass dem Fall weiter nachgegangen würde, auch wenn die Polizei bislang noch kaum Erfolge gehabt hat.«
»Wovon redest du da? Wieso geht es auf einmal um amerikanisches Militär?«
»Ich rede über die Ermittlung in einem Mordfall von 1944«, sagte Marta. »Im Zweiten Weltkrieg. Ein Mädchen, das hinter dem Nationaltheater erwürgt aufgefunden wurde. Bist du nicht in dem Jahr geboren?«
»Ja.«
»Die polizeilichen Akten des Falls scheinen sich irgendwie in Luft aufgelöst zu haben«, sagte Marta. »Ich finde bei uns jedenfalls nichts darüber.«
»Ein Mädchen, das hinter dem Nationaltheater gefunden wurde?«
»Ja. Ist was?«
»Nein …«
»Weißt du vielleicht mehr darüber?«
Konráð zögerte.
»Nein, ich weiß nichts«, sagte er.
»Was ist los?«
»Nichts«, erklärte Konráð.
»Warum bist du auf einmal so komisch?«
»Ich bin einfach nur müde«, sagte Konráð abwesend. »Es ist ganz schön dreist, so spät am Abend bei jemandem anzurufen. Lass uns morgen darüber reden.«
Er wünschte Marta eine gute Nacht, trank sein Glas aus und ging zu Bett, hatte aber Probleme mit dem Einschlafen. Die Gedanken an seinen Vater und das tote Mädchen beim Nationaltheater hielten ihn noch lange wach. Er hatte gezögert, Marta davon zu erzählen, dass er deswegen von dem Fall wusste, weil sein Vater etwas damit zu tun gehabt hatte. Konráð legte aber keinen Wert darauf, über ihn zu sprechen. Das Mädchen wurde in dem Jahr ermordet aufgefunden, als Konráð zur Welt kam. Seltsamerweise war sein Vater in diesen Fall verwickelt gewesen, wenn auch nur ganz am Rande.
Der Vater hatte sich eine Zeit lang mit übersinnlichen Phänomenen beschäftigt und Verbindung zu Sehenden gehabt, die nicht unbedingt in einem guten Ruf standen. Eines Tages hatten die Eltern dieses Mädchens Kontakt mit einem Medium aufgenommen, mit dem sein Vater zusammenarbeitete. Die Eltern hatten den Mann gebeten, Verbindung zu ihrer toten Tochter herzustellen, und Konráðs Vater hatte dem Medium assistiert. Doch das, was bei dieser Séance geschah, war an die Öffentlichkeit gelangt.
Konráð strich sich über den linken Arm, der sehr viel schwächer als der rechte war. Ein Geburtsfehler, der ihn aber nur selten störte. Und andere Leute bemerkten meist gar nicht, dass der linke Arm verkümmert war und weniger Kraft besaß. Konráð wälzte sich im Bett und überlegte hin und her, ob er Marta besuchen sollte oder nicht. Irgendwo in der Leere zwischen Wachen und Traum hörte er wieder die ersten Klänge von Frühling im Vaglaskógur, und er glitt mit schönen Erinnerungen an einen hellen Strand in Nauthólsvík, an Kinder, die am Ufer spielten, und an einen Kuss, der nach Blumen duftete, in den Schlaf hinüber.
Sie zuckte zusammen, als unten an die Tür geklopft wurde. Es war spät am Abend, und ihr Gefühl sagte ihr sofort, dass es nur die Polizei sein konnte, die nach ihr suchte.
Sie und Frank waren den Hügel mit der Statue von Islands erstem Siedler zum Kalkofnsvegur heruntergelaufen, und von da aus waren sie zur Lækjargata spaziert und hatten so getan, als sei nichts vorgefallen. Sie sah noch das Mädchen vor sich, das an einem Hintereingang des Nationaltheaters lag, und sie wusste, dass sie diesen Anblick nie vergessen würde. Franks Reaktion verstand sie überhaupt nicht, und die hektische und seltsame Flucht war ihr unerklärlich. Er hatte sofort entschieden, dass sie sich aus dem Staub machen mussten, während sie lieber die Polizei verständigt hätte. Als sie endlich an der Hverfisgata ihr Tempo verlangsamten, versuchte er ihr zu erklären, warum er nichts damit zu tun haben wollte. Die Leiche war nicht ihr business. Das Mädchen war tot, ihr konnte nicht mehr geholfen werden. Irgendein anderer würde sie bald finden, und damit wäre die Sache für sie beide aus der Welt.
Die Menschen flüchteten vor dem scharfen Wind in die Kinos oder die Kaffeestuben, oder sie schneiten bei Freunden und Bekannten herein. Soldaten in Jeeps fuhren die Lækjargata entlang und bogen nach rechts in die Bankastræti. Frank hielt es für das Beste, dass sie sich sofort trennten und sich erst in ein paar Tagen wieder trafen, und zwar dort, wo sie normalerweise verabredet waren, hinter der Domkirche. Dann würde alles ausgestanden sein. Er küsste sie zum Abschied, und sie machte sich quer durchs Stadtzentrum auf den Weg nach Hause.
Sie wusste zwar, dass es nicht richtig gewesen war wegzurennen, aber andererseits verspürte sie auch Erleichterung. Vielleicht hatte Frank ja recht. Es wäre alles andere als angenehm gewesen, den Polizisten oder jemand anderem zu erklären, warum sie sich mit einem amerikanischen Soldaten bei dem Theater herumgetrieben hatte. Und falls das ihrem Vater zu Ohren käme, würde er wieder einen Wutanfall kriegen.
Noch einmal wurde unten an der Tür geklopft, diesmal etwas energischer. Ihre Eltern waren schon ins Bett gegangen, und ihre beiden jüngeren Brüder schliefen fest. Sie hatte sich klammheimlich ins Haus und auf ihr Zimmer geschlichen und versucht, einen Liebesroman zu lesen – aber sie konnte an nichts anderes denken als an das tote Mädchen hinter dem Nationaltheater – und an Frank. An Schlaf war nach den Ereignissen des Abends einfach nicht zu denken.
Blöde Gans, dachte sie – so als wäre die tote junge Frau schuld an ihren Problemen.
Sie hörte, dass ihr Vater aufstand und die Treppe hinunterging, jede Stufe knarrte. Sie horchte an der Tür, um herauszufinden, was da unten vor sich ging. Vielleicht war es ja gar nicht die Polizei, sondern jemand anders.
Aber das war nur eine Wunschvorstellung. Sie fuhr zusammen, als ihr Vater nach ihr rief, und wich unwillkürlich zurück in ihr Zimmer.
»Ingiborg!«, rief er noch einmal. Und ein drittes Mal. Bei jedem Ruf steigerte sich die Ungeduld in seiner Stimme.
Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich, ihre Mutter steckte den Kopf herein.
»Dein Vater ruft nach dir, mein Kind, hörst du das nicht?«, sagte sie. »Die Polizei will mit dir reden. Was hast du getan?«
»Nichts«, antwortete sie, wusste aber, dass es nicht überzeugend klang.
»Geh sofort nach unten«, befahl die Mutter. »Nun mach schon! Was soll denn das Theater?«
Sie folgte ihrer Mutter bis zum Treppenabsatz und sah zwei Männer und ihren Vater im Eingang stehen. Sie blickten zu ihr hoch.
»Da bist du ja endlich«, sagte ihr Vater sichtlich erregt. »Hier sind zwei Herren von der Polizei, die …«
Er wendete sich an einen der Männer.
»Entschuldigung, wie war noch Ihr Name?«
»Flóvent«, sagte der Mann. »Und das hier ist Thorson«, fügte er hinzu und deutete auf den Mann, der mit ihm gekommen war. »Er ist bei der amerikanischen Militärpolizei, aber er ist Kanadier isländischer Abstammung. Sein Isländisch ist besser als meins.«
»Ja. Ich bin West-Isländer«, sagte Thorson. »Ich komme aus Manitoba.«
Beide waren in Zivil. Der isländische Polizist ging auf die vierzig zu, er war schlank und hochgewachsen und wirkte athletisch. Der ebenfalls athletisch gebaute Thorson war etwas kleiner und etwa zehn Jahre jünger. Sie trugen beide lange Wintermäntel und hatten die Hüte abgenommen, als sie das Haus betreten hatten.
»Manitoba, sieh mal einer an«, sagte ihr Vater. »Die beiden wollen mit dir sprechen, Ingiborg«, sagte er wütend zu ihr. »Über etwas, was beim Nationaltheater passiert ist. Sie wollen mir nicht sagen was, sie wollen zuerst mit dir reden. Was ist passiert? Was hattest du dort zu suchen?«
Sie traute sich kaum, ihrem Vater ins Gesicht zu sehen, geschweige denn, ihm zu antworten. Die Polizisten bemerkten sofort, dass sie verängstigt war.
»Wenn es Ihnen recht ist, würden wir gerne allein mit ihr reden«, sagte Flóvent.
»Allein?«, schnaubte der Vater. »Wieso das denn?«
»Wenn Sie es uns bitte gestatten wollen. Wir können uns dann später mit Ihnen unterhalten, wenn Sie möchten, im Beisein Ihrer Tochter.«
»Was hat das zu bedeuten, Ingiborg, antworte mir gefälligst!«, sagte ihr Vater mit erhobener Stimme. »Wieso steht hier auf einmal jemand von den Amerikanern vor der Tür? Kannst du mir das bitte erklären? Hast du vielleicht immer noch was mit diesem Amisoldaten? Hab ich dir das nicht strengstens untersagt, Mädel?«
»Ja doch«, antwortete sie zögernd.
»Und du hast immer noch was mit ihm? Trotzdem?«
Es sah so aus, als würde er sie am liebsten packen und runter in die Diele schleifen.
»Jetzt beruhige dich, Ísleifur«, sagte seine Frau energisch. Sie stand neben ihrer Tochter auf dem Treppenabsatz. »Es sind Gäste im Haus. Rede nicht so in Anwesenheit von Fremden.«
Der Hausherr knickte ein wenig ein und starrte seine Frau an. Dann blickte er wieder zu den beiden Polizisten, die mit ihren Hüten in den Händen immer noch im Hauseingang standen. Ihnen war in der Zwischenzeit warm in den dicken Wintermänteln geworden. Draußen hatte es angefangen zu schneien, und drinnen perlten Wassertropfen von den Mänteln.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Ísleifur.
»Keine Ursache«, entgegnete Thorson. »Es ist Ihnen sicher unangenehm, am späten Abend einen Besuch wie diesen zu bekommen.«
»Ich habe ihr jeglichen Umgang mit Soldaten strikt verboten, aber sie hört überhaupt nicht auf das, was ich sage. Das hat sie von ihrer Mutter, die erzieht sie zu diesem Ungehorsam.«
»Könnten wir vielleicht … Gibt es nicht einen Raum, wo wir uns mit Ingiborg allein unterhalten können, das wäre sehr gut«, erklärte Flóvent. »Es dauert bestimmt nicht lange. Und wir bitten noch einmal um Entschuldigung für die späte Störung. Aber aus unserer Sicht duldet die Angelegenheit leider keinen Aufschub.«
»Sie können ins Wohnzimmer gehen«, sagte Ingiborgs Mutter und kam nach unten. Die Tochter folgte ihr, hielt aber immer noch ängstlich ihren Vater im Blick. Sie wollte ihn auf gar keinen Fall noch wütender machen, denn trotz allem hatte sie Respekt vor ihm. Ihr war klar, dass sie ihn hintergangen hatte, weil sie sich trotz seines Verbots mit Frank getroffen hatte. Und jetzt war die Polizei im Haus, und es war ihre Schuld.
Ihre Mutter führte die Männer ins Wohnzimmer und schob Ingiborg hinterher. Ísleifur wollte ihnen folgen, aber seine Frau hielt ihn zurück.
»Wir können später mit ihnen reden«, sagte sie und schloss die Tür zum Wohnzimmer.
»Aber auch mit ihr«, entgegnete Ísleifur. »Sie soll uns Rede und Antwort stehen, die dumme Göre!«
»Sag doch nicht sowas«, entgegnete seine Frau, die jetzt ebenfalls wütend war. »Hör auf, so über deine Tochter zu reden!«
»Red doch kein dummes Zeug, Frau«, fuhr er sie an. »Begreifst du denn gar nichts? Das Mädchen hat sich mit einem Ami eingelassen. Und hier in unserem Haus ist die Polizei. Warum tut sie mir das an? Was werden die Leute sagen? Verstehst du denn nicht, dass die sich die Mäuler über uns zerreißen werden? Ich muss auf meinen Ruf achten. Ist dir das nicht klar? Daran denkst du wohl gar nicht, an meine gesellschaftliche Stellung?«
Sie waren froh, die dicken Mäntel ausziehen zu können. Sie legten sie über eine Stuhllehne im Wohnzimmer. Flóvent setzte sich, nachdem Ingiborg Platz genommen hatte, Thorson blieb aber hinter ihm stehen. Vor fast zwei Stunden hatte Flóvent die Meldung erhalten, dass eine ältere Frau auf dem Weg ins Schattenviertel hinter dem Nationaltheater auf die Leiche einer jungen Frau gestoßen war. Außerdem hatte sie zwei Personen beobachtet, die Hals über Kopf davongerannt waren, und eine von ihnen konnte nur ein amerikanischer Soldat gewesen sein. Flóvent hatte sich mit Thorson in Verbindung gesetzt. Sie hatten schon vorher in einigen Fällen zusammengearbeitet, bei denen sowohl die isländische Polizei als auch die amerikanische Militärpolizei zuständig waren.
Bei Ausbruch des Krieges hatte Thorson sich sofort zur Armee gemeldet und war bald darauf als Dolmetscher nach Island versetzt worden, nachdem die Briten die Insel besetzt hatten. Erst arbeitete er für die britische Militärpolizei und später für die amerikanische, nachdem die Amerikaner die Briten abgelöst hatten. Als Kind isländischer Auswanderer war er in Kanada zur Welt gekommen. Da er fließend Isländisch sprach, war er ein wichtiger Verbindungsmann der Besatzungsmächte zur isländischen Polizei. Thorson hatte zwar kaum Erfahrung mit polizeilichen Ermittlungen, aber sein Interesse daran war groß. Deswegen war es zwischen ihm und Flóvent zur Zusammenarbeit in allen wichtigen Fällen gekommen, bei denen isländische Staatsbürger und Angehörige der Besatzungsmächte involviert waren. Sie verstanden sich gut, weil sie beide immer darauf bedacht waren, die anliegenden Fälle unbürokratisch zu lösen und soweit wie möglich eine komplizierte Abwicklung über offizielle Kanäle zu vermeiden, denn die beanspruchte enorm viel Zeit.
Flóvent war allein im Büro der Kriminalpolizei im Haus am Fríkirkjuvegur 11 gewesen, als der Leichenfund gemeldet wurde. Das Haus am Stadtteich ähnelte mit seinen Säulen und Balkons einer italienischen Villa. Es hatte lange einer der reichsten Familien des Landes gehört, doch vor dem Krieg war es in den Besitz des Anti-Alkoholiker-Verbands übergegangen, der einen Teil der Räumlichkeiten weitervermietete, unter anderem auch an die Kriminalpolizei. Flóvent arbeitete gern dort. Die Wenigen, die sich mit schweren kriminellen Delikten befassten, mussten sich wegen des Krieges mit anderen akuten und wichtigeren Dingen befassen. Die Arbeit der Kriminalpolizei lag sozusagen danieder.
Als das Telefon klingelte, war Flóvent gerade wieder ins Büro zurückgekehrt. Er hatte mit seinem Vater zu Abend gegessen und hatte vor, sich mit der Fingerabdrucksammlung zu beschäftigen. Sie hatten wieder einmal über die Grabstätte auf dem Friedhof an der Suðurgata gesprochen. Flóvent war alles andere als angetan von der Idee seines Vaters, herausfinden zu wollen, wo auf dem Friedhof sich die sterblichen Überreste seiner Mutter und seiner Schwester befanden. Der Vater wollte sie in ein neues Grab umbetten lassen, in dem auch sie beide zu gegebener Zeit eine Ruhestätte finden könnten. Flóvent hielt es für besser, nicht an vergangene Dinge zu rühren, versprach aber doch mit halbem Herzen, sich darum zu kümmern und herauszufinden, wer sonst noch in der alten Grabstätte lag, und ob es möglich war, sie zu öffnen. Das Grab war während der Spanischen Grippe ausgehoben worden, die 1918 auch in Island grassiert hatte. Damals starben oft so viele Menschen an einem Tag, dass sie nur in einem Massengrab bestattet werden konnten.
Auf dem Weg zum Büro blies der Wind kräftig aus dem Norden, als Flóvent schnellen Schritts die Lækjargata entlangging. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, den großen Dichter Jónas Hallgrímsson zu grüßen, wenn er an dessen Statue vorbeikam. Wie selbstverständlich hob er entweder die Hand zum Gruß oder rief sich die ein oder andere Zeile aus einem seiner Gedichte in Erinnerung. Es kam fast einem bösen Omen gleich, wenn er es vergaß. Wer weint um einen Isländer, einsam und gestorben …
Am Nationaltheater standen ein paar Gestalten, die Frau, die die Leiche gemeldet hatte, sowie zwei, drei andere Passanten und die Wachsoldaten aus der provisorischen Sandsackstellung.
Thorson hatte den Einsatzbefehl bekommen, als er sich im Militärbarackenviertel der amerikanischen Marine in der Nähe der Nauthólsvík-Bucht im Süden von Reykjavík aufgehalten hatte. Ihm stand ein Militärjeep zur Verfügung. Er fuhr so schnell wie möglich in die Stadt und traf genau in dem Augenblick beim Nationaltheater ein, als die Leiche abtransportiert werden sollte. Er begrüßte seinen isländischen Kollegen Flóvent und kniete neben der Leiche nieder.
»Sind das nicht Verletzungen am Hals?«, fragte Thorson.
»Es sieht so aus, als sei sie erwürgt worden«, antwortete Flóvent.
Beide kamen zu der Ansicht, dass die junge Frau nicht an diesem Ort ums Leben gekommen war, sondern wahrscheinlich erst nach dem Tod in dieser Nische abgelegt wurde. Das schlossen sie vor allem daraus, wie sie angezogen war. Sie trug nur ein dünnes Kleid, in dem hätte sie sich sicherlich nicht lange draußen aufhalten können. Zudem sah es danach aus, als hätte jemand versucht, ihre Leiche zwischen Pappkartons und anderem Abfall zu verstecken.
»Kein sonderlich gutes Versteck«, sagte Thorson und sah an den bedrohlich wirkenden dunklen Wänden des Gebäudes hoch.
»Nein, ganz gewiss nicht.«
»Vor dem Gebäude ist sogar eine militärische Stellung.«
Flóvent zuckte die Achseln. »Man kann von hinten an das Haus heranfahren, und man braucht nicht viel Zeit, um sich hier einer Leiche zu entledigen.«
»Aber wieso am Nationaltheater?«
»Ja genau, wieso hier?«
»Vielleicht wollte der Mörder dem Ganzen so etwas wie einen dramatischen Rahmen verleihen, als er sie genau hier platzierte«, sagte Thorson.
»Was ist mit den Soldaten in diesem Depot?«, fragte Flóvent. »Kam sie von dort? Hat sie hier jemanden gekannt?«
»Wieso ist die Frau so sicher, dass es ein Amerikaner war?«, fragte Thorson, statt auf die Frage zu antworten. Er sah zu der Frau hinüber, die die Leiche gefunden hatte. Sie stand etwas abseits bei zwei Polizeibeamten und beklagte sich, sie habe keine Zeit, sie müsse schon längst zu Hause sein.
»Sie ist sich anscheinend ganz sicher.«
»Es gibt aber doch noch anderes Militär hier. Es sind immer noch ein paar Engländer da, aber auch Kanadier und Norweger.«
»Die Frau hat das junge Mädchen erkannt, das bei diesem Soldaten war.«
»Tatsächlich?«
»Sie sagt, sie hat das Mädchen unterrichtet. Sie ist Lehrerin am Gymnasium.«
»Es ist anscheinend kein allzu schwieriger Job«, sagte Thorson und zog den Mantel dichter an sich.
»Was?«
»Polizeibeamter in Reykjavík zu sein.«
»Mag sein«, entgegnete Flóvent. »Ich werde jetzt einen Fotografen hierher bestellen. Wir brauchen Fotos vom Tatort.«
Ingiborg traute sich kaum hochzublicken, sie hatte sich auf einen Sessel gekauert und stellte sich die ganze Zeit ihren Vater draußen in der Eingangshalle vor. Flóvent und Thorson war klar, dass sie äußerst behutsam vorgehen mussten, weil sonst die Gefahr bestand, dass das Mädchen zusammenbrechen würde.
»Sie sind nicht die Einzige, die sich heimlich mit Soldaten trifft«, sagte Thorson freundlich. »Nicht die Erste und auch nicht die Letzte.«
Ingiborg versuchte zu lächeln.
»Wie heißt er?«, fragte Flóvent. »Der Soldat, mit dem Sie zusammen waren?«
»Könnten wir uns nicht lieber duzen?«, bat sie.
»Selbstverständlich«, sagte Flóvent.
»Frank«, erklärte sie. »Er heißt Frank. Habt ihr schon mit ihm gesprochen?«
»Nein. Kennst du seinen Nachnamen?«, fragte Thorson.
»Natürlich kenne ich seinen Nachnamen. Frank Caroll. Er ist Sergeant. Wieso wisst ihr, dass ich dort war? Hat mich jemand gesehen?«
»Reykjavík ist eine sehr kleine Stadt«, sagte Thorson.
»Eine Frau hat euch gesehen, die dich kennt«, sagte Flóvent. »Es spielt keine Rolle, wer sie ist – aber sie hat dich zusammen mit einem amerikanischen Soldaten gesehen. Sie dachte, dass ihr etwas mit dem toten Mädchen zu tun hattet und dass ihr deswegen weggelaufen seid. Stimmt das?«
»Nein!«, sagte Ingiborg. »Das Mädchen habe ich noch nie gesehen. Niemals. Frank und ich, wir waren … Wir sind dort hingegangen, um … Ihr wisst schon …«
»Um euch zu lieben?«, fragte Thorson.
»Mein Vater ist dagegen, dass ich mit ihm zusammen bin. Das habt ihr ja mitbekommen. Er hat mir verboten, ihn zu treffen. Es ist alles so schwierig hier. Ich wollte auf keinen Fall in die Soldatenquartiere gehen, aber ich mochte auch nicht meine Freundinnen bitten, uns ihr Zimmer zu überlassen. Deswegen sind wir meist unter freiem Himmel zusammen. Wir waren auch schon vorher mal hinter dem Nationaltheater.«
»Gehört er zu den Bodentruppen?«
»Ich weiß nur, dass er Sergeant ist. Wir reden nicht viel über militärische Dinge. Er ist nicht gern Soldat, und er hat Angst davor, nach Europa versetzt zu werden.«
»Wo habt ihr euch kennengelernt?«
»Beim Tanz im Hotel Borg. Im vergangenen Herbst, oder eigentlich eher zu Beginn des Winters. Er ist ein ganz toller Mann, so höflich und zuvorkommend.«
»Ihr habt euch also meist bei Tanzveranstaltungen getroffen?«
»Ja. Er … Er tanzt unglaublich gut.«
»Du findest es also schön, mit ihm zu tanzen?«, fragte Thorson, um die Atmosphäre etwas aufzulockern.
»Ja.«
»Was weißt du sonst noch über Frank?«
»Er kommt aus Illinois. Er ist fünf Jahre älter als ich. Wenn er aus dem Militärdienst entlassen wird, möchte er Autohändler werden. In Amerika haben alle ein Auto. Er geht gern ins Kino, aber ich wollte nicht mehr mit ihm ins Kino gehen, nachdem mein Vater mir verboten hatte, mich mit ihm zu treffen. Er hat zwei Brüder, und er wohnt noch bei seinen Eltern. Sein Vater ist aber schon tot.«
»Hat er dieses Mädchen erwürgt?«, fragte Flóvent abrupt.
Ingiborg schrak zusammen. Die Frage traf sie völlig unerwartet.
»Um Himmels willen, nein! Er hat ihr überhaupt nichts getan! Ich weiß nicht, wer das Mädchen war. Mein Gott, wie kommt ihr denn auf so etwas? Ist sie erwürgt worden?«
»Hast du ihm dabei zugesehen, als er die Tat verübt hat?«
»Ich?! Nein, ich … Nein, wie kannst du so etwas sagen!«
»Habt ihr sie hinter das Nationaltheater geschafft und dort wie Abfall deponiert?«
»Mein Gott, wie kannst du so etwas sagen …«
Sie fing an, leise zu schluchzen.
»Weshalb seid ihr dann weggelaufen?«
»Er wollte es. Frank hielt es für das Vernünftigste. Er hat gesagt, es sei nicht unser business. Und … er hatte ja auch völlig recht. Wir hatten nicht das Geringste damit zu tun. Absolut gar nichts. Es ist einfach schrecklich. Wirklich schrecklich. Natürlich hätten wir nicht weglaufen sollen, aber …«
»Weiß dein Freund, dieser Frank, dass dein Vater ein hochgestellter Ministerialbeamter ist?«
»Nein.«
»Er wird nach der Gründung der Republik im Sommer einer der wichtigsten Ratgeber der isländischen Regierung sein.«
Ingiborg sah Flóvent an.
»Frank weiß nur eines, nämlich dass mein Vater ihn verachtet und nichts mit ihm zu tun haben will.«
»Hast du das Mädchen schon früher mal getroffen?«
»Nein, noch nie. Ich hab sie noch nie gesehen, und ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Wisst ihr schon, wer sie ist?«
»Weshalb hat dieser Frank gesagt, dass es am besten sei wegzulaufen?«, fragte Thorson, ohne auf Ingiborgs Frage einzugehen.
»Weil sie uns gar nichts anging«, erklärte Ingiborg. »Das stimmt wirklich. Wir haben sie nur gefunden. Wir haben ihr nichts getan. Wir haben ihr wirklich nichts getan.«
»Woher weißt du das?«
»Was?«
»Dass sie euch nichts anging?«
»Ich weiß ja noch nicht einmal, wer sie ist. Ich hab sie nie zuvor gesehen.«
»Und was ist mit deinem Freund Frank?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Kannte er das Mädchen?«
»Frank? Nein.«
»Woher weißt du das?«
»Weil … Ich weiß es einfach. Wieso fragst du danach? Wieso glaubst du, dass er sie gekannt hat?«
»Weil er abgehauen ist«, erklärte Thorson. »Es könnte eine Erklärung dafür sein, dass er die Flucht ergriffen hat. Weil er sie kannte.«
Ingiborg starrte ihn entgeistert an, während sie zu begreifen versuchte, was Thorson gerade angedeutet hatte.
»Er hat sie nicht gekannt«, sagte Ingiborg. Sie klang aber nicht mehr so überzeugt wie zuvor, denn wenn sie es recht bedachte, wusste sie nicht sehr viel über ihren Liebsten, Frank Caroll aus Illinois.
»Na schön, Ingiborg«, sagte Flóvent, »ich glaube, es reicht für den Augenblick.«
»Nehmt ihr mich jetzt fest?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Flóvent. »Wir werden dich nicht festnehmen. Aber wir müssen vielleicht später noch mal mit dir reden. Vielleicht sogar gleich morgen. Es macht dir hoffentlich nichts aus.«
Ingiborg nickte zustimmend.
»Vielleicht solltest du jetzt ihre Eltern hereinholen«, sagte Flóvent zu Thorson. Er sah die entsetzte Miene, die sich auf dem Gesicht der jungen Frau ausbreitete.
Am Spätnachmittag des nächsten Tages, als Thorson sämtliche Rekrutierungslisten der in Island stationierten Amerikaner sowie sicherheitshalber auch die Listen mit Armeeangehörigen anderer Nationalitäten durchforstet und einige Telefonate geführt hatte, rief er im Fríkirkjuvegur 11 an.
»Sie hat uns angelogen«, sagte er, als Flóvent ans Telefon ging.
»Was genau meinst du damit?«
»Wir finden ihren Sergeanten nicht.«
»Ihr findet diesen Frank nicht?«
»In Island gibt es keinen Soldaten mit dem Namen Frank Caroll.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Diesen Mann gibt es nicht.«
»Und dass er womöglich aus Illinois stammt, hilft auch nicht weiter?«
»Nein. Das ist selbstverständlich auch eine Lüge«, erklärte Thorson.
Marta war sehr beschäftigt, als Konráð im Polizeidezernat vorbeischaute. Nach seiner Pensionierung hatte er sich nur noch sehr selten dort blicken lassen. Meist erfuhr er nur aus den Nachrichten, welche Fälle gerade bearbeitet wurden.
»Ich wüsste gern, ob du vielleicht Hilfe gebrauchen kannst, was den Fall mit dem alten Mann betrifft«, sagte er, als Marta für einen Augenblick den Hörer niederlegte. Sie saßen in ihrem Büro, das mit Stapeln von Papieren, Aktenordnern, Zeitungen und anderen Dingen vollgestopft war, die Marta im langen Lauf der Jahre angesammelt hatte. Das wenigste davon gehörte in ein Büro. So gab es dort den eindrucksvollen Säbel eines dänischen Offiziers, der um die Jahrhundertwende gelebt hatte. Sie war in einem Antiquitätenladen auf ihn gestoßen. Er steckte in der Scheide und beschwerte einen Papierstapel auf der Fensterbank. Konráð hatte nie danach gefragt, weshalb sie dieses Objekt gekauft hatte, aber er erinnerte sich dunkel, dass jemand ihm gesagt hatte, ihr Großvater sei Kommandant bei der isländischen Küstenwache gewesen.
»Im Ernst?«, fragte Marta.
»Fehlen denn nicht immer Leute?«
»Hast du nicht aufgehört?«
»Ja, natürlich. Und ich möchte auch nicht wieder einsteigen, mach dir keine Sorgen. Ich dachte nur, ich könnte dir bei diesem Fall helfen, wenn du möchtest.«
»Warum?«
»Ich langweile mich«, erklärte Konráð. »Du brauchst niemandem etwas davon zu sagen. Ich würde in Verbindung mit dir bleiben, und falls ich was Wichtiges herausfinde, melde ich mich bei dir.«
»Konráð … Ich … Du bist doch pensioniert«, sagte Marta. »Ist es nicht am besten, es dabei zu belassen? Du kannst nicht einfach so einen Deal mit mir machen, das geht nicht. Du kommst vielleicht auf Ideen.«
»Du entscheidest natürlich«, sagte Konráð.
»Klar tu ich das«, entgegnete Marta.
»Na gut.«
»Ja. Wir bleiben in Verbindung«, sagte Marta und griff nach ihrem Mobiltelefon.
»Es ist nur …«
»Was?«
»Ich bin in dem Stadtviertel aufgewachsen«, sagte Konráð. »Und ich habe von dem toten Mädchen gehört, als ich noch dort lebte. Also bin ich …«
»Du bist neugierig?«
»Ich wüsste zu gern, weshalb dieser Mann die Zeitungsausschnitte über diesen Fall aufbewahrt hat. Ich glaube, er ist nie aufgeklärt worden.«
»Konráð …«
»Du würdest mir einen großen Gefallen tun, Marta, aber dazu müsste ich in seine Wohnung kommen, alles andere kriege ich geregelt. Du kannst nicht verhindern, dass ich mich über einen Mordfall informiere, der vor fünfundsechzig Jahren geschehen ist. Sobald die Leute von der Spusi ihren Job gemacht haben, besteht doch keine Gefahr mehr, dass ich irgendwelche Spuren vernichte.«
»Uns fehlen natürlich immer Leute«, sagte Marta nach längerem Schweigen. »Willst du dich wirklich mit so einem uralten Fall beschäftigen?«
»Ja.«
»Du musst mir aber eins versprechen.«
»Was?«
»Wenn du etwas herauskriegst, sagst du mir Bescheid. Und zwar umgehend.«
Zwei Tage später durfte Konráð in die Wohnung des Toten. Die Techniker von der Spurensicherung hatten alles untersucht, es bestand keine Notwendigkeit mehr, die Wohnung zu versiegeln. Konráð öffnete die Eingangstür mit einem Schlüssel, den er sich bei Marta im Büro geholt hatte. Er machte die Tür sorgfältig hinter sich zu.
Er wusste nicht genau, wonach er suchte. Außer dem Schlüssel hatte Marta ihm auch die Kopien der Zeitungsausschnitte gegeben, er hatte sie bereits im Auto gelesen. Sie hatten sich in einem Buch auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer befunden. In diesen Artikeln gab es drei Varianten von Nachrichten über das Mädchen, das an einem Hintereingang des Nationaltheaters tot aufgefunden worden war. Alle drei waren nicht datiert, doch sie schienen aus der Zeitung Tíminn