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Island, eine friedliche Insel im Nordatlantik? Mitnichten. Ein pensionierter Lehrer wird in der Innenstadt von Reykjavík brutal ermordet. Zur gleichen Zeit begeht einer seiner ehemaligen Schüler in der psychiatrischen Klinik Selbstmord. Dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen besteht, findet als Erster der jüngere Bruder des Selbstmörders heraus. Erlendur und seine Kollegen von der Kripo Reykjavík schalten sich ein ...
Kommissar Erlendur Sveinsson ermittelt in seinem ersten Fall.
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Seitenzahl: 425
Cover
Titel
Impressum
Vorbemerkung
Zitat
Widmung
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißeig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Arnaldur Indriðason
Menschensöhne
Island-Krimi
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 1997 Arnaldur Indriðason
Originalverlag Vaka-Helgafell, Reykjavík
Titel der Originalausgabe: SYNIR DUFTSINS
Copyright © 2005 für die deutschsprachige Ausgabe:
Bastei Lübbe AG, Köln
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling
Die Übersetzung wurde von einer überarbeiteten Fassung des isländischen Originals vorgenommen.
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-1261-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Vorbemerkung:
In Island duzt heutzutage jeder jeden. Man redet sich nur mit dem Vornamen an. Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten.
Namen, Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt,dass er seinen einzigen Sohn hingab,damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren ist,sondern das ewige Leben hat.
Für Anna
Aus der Ferne sah das Gebäude wie ein Gefängnis aus. Es war über Jahre hinweg nicht instand gehalten worden. Mittelkürzungen im Gesundheitsbereich wurde so etwas genannt, und Kliniken wie diese waren immer am schlimmsten davon betroffen. Das monumentale Gebäude machte einen heruntergekommenen Eindruck. Es stand unten am Meer, umgeben von einer großen dunklen Parkanlage mit hohen Bäumen. Aus allen Fenstern drang gelbliches Licht in die winterliche Dunkelheit des frostkalten Januars hinaus.
Pálmi ging von der Haltestelle zur Klinik und stellte fest, dass weitere Gitter an den Fenstern im zweiten Stock hinzugekommen waren. Solange er zurückdenken konnte, war er jede Woche einmal hierher gekommen, um seinen Bruder zu besuchen. Die Behandlung der Patienten hatte sich parallel zum Zustand des Hauses verschlechtert, und mittlerweile war es nur noch so etwas wie ein Verwahrungsort für psychisch Kranke, die mit Medikamenten ruhig gestellt wurden. Für Pálmi hatte dieses Gebäude immer eine Bedrohung dargestellt, und als kleiner Junge hatte er sich oft geweigert, mit seiner Mutter hineinzugehen. Stattdessen hatte er draußen gewartet, bis die Besuchszeit vorbei war. Aber jetzt konnte er nicht mehr draußen bleiben. Seine Mutter war tot, und außer ihm gab es niemanden mehr, der den Bruder besuchte.
Durch eine schmale Seitentür gelangte er direkt auf den Korridor, den die Patienten als Raucherzone benutzten. Das war nicht der Haupteingang, aber der kürzeste Weg zum Zimmer seines Bruders. Er spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Bei diesem Eingang standen normalerweise immer einige Patienten und rauchten. Sie wurden in kleinen Gruppen nach unten gelassen, und dort lungerten sie dann herum und starrten auf ihre gelben Finger. Alle kannten Pálmi, der darauf achtete, jedes Mal, wenn er zu Besuch kam, eine Schachtel Zigaretten für sie dabeizuhaben. Einige bedankten sich, andere starrten nur teilnahmslos vor sich hin. Diesmal war jedoch niemand auf dem Korridor. Pálmi hörte von irgendwoher Gebrüll, und in der Ferne schrillten Alarmglocken.
Der lange, enge und schlecht beleuchtete Korridor war vor langer Zeit vom Boden bis zur Decke mit dicker grüner Schiffsfarbe gestrichen worden. Ganz am Ende lag das Zimmer von Pálmis Bruder, aber es war niemand darin. Sonst war es immer ordentlich aufgeräumt, doch heute hatte es den Anschein, als hätte in diesem engen Raum ein Berserker gewütet. Der Kleiderschrank war kurz und klein geschlagen worden und das Bett umgekippt. Daníels Habseligkeiten lagen über das ganze Zimmer verstreut. Pálmi drehte sich um und ging rasch wieder den Gang zurück, um jemanden vom Personal zu finden. Er kam zu einer Nische, wo sich zwei Aufzüge befanden, und drückte auf beide Knöpfe. Als sich beim linken die Türen öffneten, stürzten zwei Aufseher mit einem Patienten zwischen sich heraus. Er war geknebelt.
»Wo ist Daníel?«, fragte Pálmi. Er blickte erschrocken in die panisch aufgerissenen Augen des Patienten, der wild um sich schlug. Er hieß Natan, so viel wusste Pálmi, und war erst vor kurzem in die Klinik eingeliefert worden. Die Dreiergruppe hastete an ihm vorbei, und einer der Aufseher rief ihm zu:
»Danni macht hier alle total verrückt. Er ist im obersten Stock und will sich umbringen. Vielleicht kannst du ihm gut zureden.«
Dann waren sie verschwunden. Pálmi stürzte in den Aufzug und drückte auf den Knopf für den fünften Stock. Der Aufzug öffnete sich in einen geräumigen Gemeinschaftsbereich hinein. Tische und Stühle lagen wild durcheinander, die Einrichtung war demoliert, und in einer kleinen Küche brannte es. Die Angestellten kämpften mit dem Feuer und versuchten, es mit Handfeuerlöschern einzudämmen. Weiter hinten hatte es den Anschein, als wären die Patienten unter Kontrolle gebracht worden, indem man sie in einer Ecke des Raums zusammendrängte und so in Schach hielt. Von dort wurden sie einer nach dem anderen geholt und zu den Aufzügen gebracht. In einer anderen Ecke des Gemeinschaftsraums befanden sich ein paar mannshohe nebeneinander liegende Fenster. Eines von ihnen hatte eine zerbrochene Scheibe. Dort stand Pálmis Bruder und hatte dem Winterdunkel den Rücken zugekehrt.
»Pálmi«, rief Daníel, als er seinen Bruder näher kommen sah. »Sag ihnen, dass sie sich verpissen sollen. Sie wollen mir was antun, diese verfluchten Scheißkerle.«
»Kannst du nicht versuchen, ihn zur Raison zu bringen?«, fragte ein offensichtlich aufgebrachter Aufseher, der auf Pálmi zukam. »Er hat hier alles in Aufruhr gebracht und droht jetzt damit, sich umzubringen. Wenn wir es schaffen, ihn zu beruhigen, kriegen wir die Situation wieder unter Kontrolle.«
»Kommt bloß nicht in meine Nähe, ihr Scheißkerle«, schrie Daníel die Aufseher an, die einen Halbkreis um ihn gebildet hatten und darauf achteten, gebührenden Abstand zu halten. Pálmi beachtete sie aber nicht, sondern ging zu seinem Bruder hinüber. Er machte keinen Versuch, sich auf ihn zu stürzen und ihn vom Fenster wegzuziehen, sondern er stellte sich neben ihn ans Fenster und blickte hinunter. Fünf Stockwerke tiefer sah man den Park, der hinter der Anstalt lag. Früher einmal war er großzügig beleuchtet gewesen, aber jetzt schimmerte nur noch ein kümmerliches Licht irgendwo in der Ferne.
»Weißt du, was sie mir angetan haben, diese verdammten Schweine?«, fragte Daníel. Pálmi hatte ihn nie zuvor so erregt gesehen. Daníel war knapp über vierzig, eher klein gewachsen, trug Jeans und ein weißes Hemd und hatte kurz geschorenes Haar. Er hatte ein Faible für weiße Hemden, wusch sie selbst und bügelte sie sorgfältig, oft stundenlang. Er war barfuß.
»Haben sie dich schlecht behandelt?«
»Diese Scheißkerle. Können wir nicht nach Hause gehen, Pálmi? Warum kannst du nicht einfach für mich sorgen?« »Sollen wir nicht lieber auf dein Zimmer gehen und darüber reden?«
»Nein, lass uns hier reden. Ich komm mit dir nach Hause, Pálmi, und dann wohnen wir zusammen, und ich brauch diese verdammten Schweine nie wieder zu sehen. Bitte, Pálmi, bitte. Ich halte es hier nicht mehr aus, und Mama hat immer gesagt, dass du für mich sorgen würdest. Warum tust du das nicht?«
»Komm doch erst mal vom Fenster weg.«
»Warum nicht, Pálmi?«
»Los, Daníel, komm, wir gehen nach unten.«
»Sie haben mir Gift eingetrichtert, Pálmi. Diese verdammten Arschlöcher. Uns allen. Das sind Unmenschen. Mörder.«
»Lass uns doch unten darüber reden, Daníel. Komm vom Fenster weg.«
Es hatte den Anschein, als hätte die Spannung etwas nachgelassen. Die letzten Patienten wurden aus dem Gemeinschaftsbereich weggeführt, und auch die Aufseher bei den Brüdern wirkten etwas gelassener. Man hatte das Feuer in der Küche gelöscht. Das Gebrüll war verstummt, und die Alarmglocken schrillten nicht mehr. Daníel schien sich beim Anblick seines Bruders ebenfalls etwas beruhigt zu haben.
»Pálmi, kannst du dich erinnern, als ich das erste Mal krank wurde und ihr mich hierher gebracht habt? Ich habe gesagt, dass ich mit einer Sternschnuppe aus dem Paradies auf die Erde gekommen bin. Man hat mich rausgeworfen, weil ich aufgehört hatte zu glauben. Habe ich dir von all den anderen erzählt?«
Daníel hatte seinem Bruder den Arm um die Schultern gelegt. Die Aufseher waren fast alle verschwunden. Daníel flüsterte seinem Bruder ins Ohr.
»Frag danach, woher die anderen gekommen sind.«
»Was für andere, Daníel?«
»Die anderen aus der Schule, Pálmi. Frag, ob sie auch aus dem Paradies vertrieben worden sind.«
Er umklammerte Pálmis Schulter.
»Wen soll ich fragen?«
»Sie wissen ganz genau, was sie verbrochen haben, diese Schweine.«
»Wovon redest du, Daníel? Komm doch jetzt vom Fenster weg. Tu mir den Gefallen und komm runter auf dein Zimmer. Dort können wir in aller Ruhe darüber reden, ob du nicht wieder nach Hause kommen kannst.«
»Weißt du, jetzt sind wir der Sonne am nächsten, mein lieber Pálmi«, sagte Daníel und schien wieder völlig ruhig zu sein. Er küsste seinen Bruder behutsam auf die Stirn, und als sich sein Antlitz entfernte, wurde Pálmi klar, was er vorhatte. Er sah es, aber er begriff es einen Sekundenbruchteil zu spät. Er sah es in den Augen. Der Lebensfunken erlosch. Daníel drehte sich schweigend um und sprang aus dem Fenster. Eine Ewigkeit verging, bevor Pálmi den Aufprall hörte.
Fassungslos näherte er sich dem Fenster und blickte hinunter. Daníel lag rücklings mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf den harten, steilen Treppen, die in den Keller des Hauses führten. Es hatte angefangen, zu schneien. Als der Krankenwagen endlich kam, hatten die weißen Flocken Daníel mit einem hauchdünnen Leichentuch bedeckt.
In einem anderen Stadtteil stand ein kleines, einstöckiges über hundert Jahre altes Holzhaus, das von außen mit Wellblech verkleidet und schwarz angestrichen war. Es war von einem ungepflegten und nicht eingezäunten Gärtchen umgeben. In einer Ecke stand eine große Kiefer. Auf dem gefrorenen Rasen lag ein Benzinkanister. Er hatte keinen Verschluss mehr.
Die Haustür stand offen. Drinnen war die Luft stickig. Von einem alten Herd, auf dem Haferbrei übergekocht war, stieg schwarzer Rauch hoch. Der Gestank vermischte sich mit dem üblen Geruch, der schon vorher da gewesen war. Die Küche und das ganze Haus waren völlig verdreckt. Überall stapelten sich Zeitungen auf dem Fußboden. Schmutziges Geschirr stand herum, und schäbige Kleidungsstücke hingen entweder an irgendwelchen Haken oder lagen auf den Möbeln. Bis auf den Schein der Straßenlaternen, der zu den Fenstern hereindrang, und ein schwaches Licht, das durch die Tür aus einem kleinen Nebenzimmer ins Wohnzimmer fiel, war das Haus dunkel.
Dieses Zimmer war mit allem möglichen Kram voll gestopft. Es hatte keine Fenster, und von der Decke hing eine nackte Glühbirne. Auf dem Schreibtisch stand eine alte grüne Lampe, die sich über die Schreibfläche zu beugen schien, als hätte sie Angst, hochzublicken. Von ihr kam der Lichtschein. Auf dem Schreibtisch lagen Stapel von Büchern und Zeitschriften neben Tintenfässchen und teuren Füllfederhaltern. Aus einem alten Plattenspieler drang Musik, Dvořák. Die Neue Welt.
Am Schreibtisch saß ein alter Mann in einem dicken roten Hausmantel, der zwar verschlissen war, aber warm aussah. An den Füßen trug er Filzpantoffeln. Die Hände mit den schmalen Fingern und überlangen Nägeln waren totenbleich. Seine Halbglatze war von farblosen Haarbüscheln umrahmt, die bis auf die Schultern hinunterhingen. Die Augen waren klein. Ein einige Tage alter Bart verhüllte einen Teil des Gesichts. Der Mann war auf dem Stuhl festgebunden und klatschnass. Er roch nach Benzin.
Eine kleine Benzinlache hatte sich unter ihm gebildet. Und von ihr führte eine Spur bis ins Wohnzimmer hinein. Die entzündliche Flüssigkeit war offenbar über Wände, Möbel und Kleiderhaufen gekippt worden. Auch in der Küche und in der Diele war Benzin. Der Mann auf dem Stuhl rührte sich nicht. Er gab keinen Laut von sich und machte keinen Versuch, sich zu befreien. Er schien ruhig abzuwarten, was da auf ihn zukam, so, als hätte er sich damit abgefunden, dass er das, was ihm bevorstand, verdient hätte. Er schien auf eine merkwürdige Weise mit der Welt im Reinen zu sein.
Mit leisem Zischen flammte das Streichholz auf. Der Mann auf dem Stuhl blickte starr vor sich hin. Nun liefen Tränen über seine Wangen, aber er bäumte sich nicht auf. Er wiegte sich nur vor und zurück, und seine Lippen bewegten sich zu der Melodie eines Kinderlieds, das er vor sich hin summte, wie um sich zu beruhigen.
Das brennende Streichholz wurde dem alten Mann zwischen die Finger geschoben, er hielt es eine Weile fest, bevor er es zu Boden fallen ließ. Das Feuer flammte sofort auf und umhüllte den Mann, den Stuhl und den Schreibtisch. Es züngelte blitzschnell über den Fußboden ins Wohnzimmer und die Wände hinauf. Im Handumdrehen brannte das Haus lichterloh. Die Fensterscheiben zersprangen, und die Flammen schlugen in die Nacht hinaus. Der Mann versuchte aufzustehen, kippte aber nach hinten durch die Tür in das lodernde Flammenmeer im Wohnzimmer.
Die Wände des Wohnzimmers waren vom Boden bis zur Decke mit eingerahmten Fotografien bedeckt, die sorgfältig in Reihen angeordnet waren. Sie schienen das Einzige zu sein, was in diesem Haus pfleglich behandelt worden war. In den ältesten Rahmen befanden sich ovale, schwarzweiße Porträtfotos von Jugendlichen, deren Namen in geschwungener Schrift unter den Fotos eingetragen worden waren. In der Mitte hing das Foto eines Schulgebäudes. Diese Art von Erinnerungsfotos war irgendwann aus der Mode gekommen und Gruppenfotos an ihre Stelle getreten. Auf ihnen waren die Schüler in zwei oder drei Reihen aufgestellt, und der Klassenlehrer stand neben ihnen. Auf den älteren Bildern hatten die Kinder Sonntagskleider an und sahen geschniegelt und gestriegelt aus, die Jungen mit glatt gekämmten Haaren und die Mädchen mit Zöpfen. Auf den älteren Bildern hatten die Fotografen versucht, eine gewisse Harmonie zu erzielen, und die Schüler nach Geschlecht und Größe aufgestellt. Die erste Reihe saß auf dem Boden, die mittlere auf Stühlen, die dritte Reihe stand dahinter. Auf den neueren Bildern hatten sich die Schüler aufgestellt, wie es der Zufall ergab, und für die Klassenaufnahme zog man sich nicht mehr extra fein an. Auf den Bildern wurde viel gelächelt, kleine Lächeln, breite Lächeln, schüchterne Lächeln, und einige lachten sogar. Man konnte nicht nur die Veränderungen der Mode aus den Bildern ablesen, sie zeugten auch von einer anderen Einstellung. Auf den älteren Bildern schauten die Kinder erwartungsvoll in die Zukunft; sie standen diszipliniert, ordentlich und ein wenig schüchtern vor der Kamera. Auf den jüngsten Bildern aber ging es lockerer und weniger diszipliniert zu, man schien keine Ehrfurcht mehr vor diesem Augenblick zu haben, vielleicht auch nicht mehr vor der Tradition oder dem Schulgeist. Auf allen Bildern, die jetzt eins nach dem anderen den Flammen zum Opfer fielen, war derselbe Lehrer zu sehen. An ihm waren ähnliche Veränderungen festzustellen wie an seinen Schülern. Die ältesten waren Klassenfotos aus der Zeit, als er selbst noch zur Schule gegangen war, und dann kamen die Bilder, auf denen er als Lehrer bei seiner ersten Klasse stand, im Anzug mit schmaler Krawatte, und das dünne Haar war zur Seite gekämmt. Hornbrille. Die Zukunft lag vor ihm. Später trug er eine abgewetzte Strickjacke, sah mitgenommen aus, und die Haare hatten sich stark gelichtet. Auf einem von den älteren Bildern stand er über einem Schüler, der nicht in die Kamera blickte, sondern zu seinem Lehrer aufschaute. Dieser Junge war Daníel.
An den Stuhl festgebunden lag der alte Lehrer auf dem Boden und spürte, wie sein Leben in Flammen aufging.
Pálmi stand bei dem zerbrochenen Fenster und schaute zu Daníel hinab. Dann drehte er sich um und lief zu den Aufzügen. Keiner von ihnen war oben, deswegen nahm er die Treppe und rannte hinunter. Er bildete sich ein, eine Bewegung gesehen zu haben, ein Hoffnungsschimmer durchzuckte ihn. Er flog von einem Treppenabsatz zum anderen, schoss aus dem Haus und rannte zur Kellertreppe hinter dem Gebäude. Aber er hätte sich nicht beeilen müssen. Daníel war tot. Es gab kaum einen Knochen in seinem Körper, der nicht gebrochen war.
Er setzte sich in den Schnee und sah zu, wie die Schneeflocken auf Daníel fielen. Er saß noch da, als Polizei und Krankenwagen eintrafen. Niemand nahm Notiz von ihm. Daníels Leiche wurde in den Krankenwagen getragen, der sich dann langsam in Bewegung setzte. Selbstmorde wurden wie Kriminalfälle behandelt, und die Beamten der Kriminalpolizei vernahmen die Belegschaft, die Ärzte und Pálmi, obwohl es kaum etwas zu sagen gab. Die Nachricht, dass Daníel tot war, sprach sich schnell unter den Patienten herum. Stille senkte sich über das düstere Gebäude.
»Daníel war eigentlich ganz in Ordnung«, sagte ein älterer Aufseher, der schon lange an der Klinik tätig war und sich um Daníel gekümmert hatte. In der Cafeteria für die Belegschaft hatten sich einige der Aufseher und Krankenpfleger an einen Tisch gesetzt und redeten mit Pálmi, der im Grunde genommen immer noch nicht begriffen hatte, was passiert war. Er hatte keine Kraft, zu gehen. Weg. Oder nach Hause. Irgendwohin.
Jemand vom Personal hatte ihn aus dem Schneetreiben geholt und ins Haus gebracht. Die Kriminalpolizei hielt sich nicht lange auf. Der Fall lag auf der Hand. Aufruhr in der psychiatrischen Klinik. Selbstmord. Es gab viele, die bezeugen konnten, dass Daníel sich aus dem Fenster gestürzt hatte, es war kein Unfall gewesen. Er hatte es vorgehabt.
»Was ist denn eigentlich vorgefallen?«, fragte Pálmi geistesabwesend. Er beugte sich vor und schlug die Hände vors Gesicht. Er hatte eine angenehme und klare Stimme, lispelte jedoch ein wenig.
»Daníel war in den letzten Wochen irgendwie anders«, sagte der Aufseher, ein freundlicher Mann um die fünfzig mit dichtem Haarschopf, großer Nase und fleischigem Gesicht. Er hieß Guðbjörn.
»Er war eigentlich immer ziemlich unruhig, sodass wir ständig mit ihm zu tun hatten. Du weißt selbst, wie er war, wenn er sich weigerte, seine Medikamente zu nehmen, und den anderen Patienten immer erklärte, sie seien völlig gesund. Er konnte total über die Stränge schlagen. Aber in letzter Zeit war er wie ausgewechselt, er lief nur völlig apathisch herum und hat mit niemandem gesprochen.«
»Ich bin aber doch jede Woche hierher gekommen. Auch letzte Woche. Und mir ist überhaupt nichts aufgefallen. Stimmt, er war ganz ruhig, aber so war er doch häufig. Er hat ungewöhnlich viel über alle hier im Haus geredet. Was meinte er damit, als er euch ›Scheißkerle‹ nannte?«
»Es hat ihm doch immer Spaß gemacht, uns schlecht zu machen und uns alles Mögliche vorzuwerfen«, sagte ein anderer Aufseher, der Elli genannt wurde.
Pálmi wusste, dass das stimmte. Daníel hatte den Angestellten der Klinik, den Ärzten und dem Krankenpflegepersonal gerne vorgehalten, dass er schlecht behandelt würde. In regelmäßigen Abständen verlangte er, von einem neutralen Arzt untersucht zu werden. Da er nämlich nur eine sehr eingeschränkte Ausgeherlaubnis hatte, waren Arztbesuche eine willkommene Gelegenheit, aus der Klinik herauszukommen.
»Weswegen war er so verändert?«, fragte Pálmi.
»Danach musst du den Arzt fragen. Meiner Meinung nach hatte das mit diesem Mann zu tun, der ihn in letzter Zeit häufig besucht hat. Er war sehr viel älter als Danni. Sie saßen stundenlang da und haben sich unterhalten. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er bedeutete Danni etwas, so viel steht fest.«
»Stimmt, warte mal. Wie hat Danni ihn noch genannt?«, versuchte eine Krankenschwester sich zu erinnern. Sie hieß Andrea, war klein und mollig und hatte einen freundlichen Gesichtsausdruck.
»War es nicht Hilmar oder Haukur oder so was?«, sagte Elli. »Ich hatte keine Ahnung, worüber sie redeten. Irgendwann haben sie sich, glaube ich, über Lebertranpillen ziemlich aufgeregt. Ich bilde mir auf jeden Fall ein, das Wort Lebertranpillen öfter gehört zu haben. Aber ich kann mich auch täuschen, ich habe nicht vorsätzlich gelauscht«, sagte er fast entschuldigend, »ich kam nur gerade in der Cafeteria an ihrem Tisch vorbei.«
»Wieso Lebertranpillen?«, fragte Pálmi. »Kriegen die Patienten hier Lebertranpillen?«
»Nein, wo denkst du denn hin«, antwortete Andrea. »Das hier ist doch keine Kurklinik«, sagte sie und blickte in die Runde.
»Abgesehen von mir und euch hat sich niemand um Daníel gekümmert. Ich verstehe nicht, wer ihn da besucht haben könnte«, sagte Pálmi nachdenklich. »Sind außer mir sonst noch andere Leute zu Besuch gekommen?«
»Nein«, sagte Andrea, »nur der Typ in den letzten Wochen. Ich dachte, wir hätten dir davon erzählt.«
»Ich höre das zum ersten Mal«, sagte Pálmi. »Wisst ihr denn wirklich nicht, wie dieser Mann hieß, oder wer das war?« »Ich kann mich einfach nicht so genau erinnern. Am besten redest du mit Jóhann«, sagte Andrea.
Jóhann war der Aufseher, der am meisten mit Daníel zu tun gehabt hatte. Er hatte vor zehn Jahren in der Klinik angefangen, und im Lauf der Zeit war eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Pálmi war seit langem davon überzeugt, dass Jóhann wichtiger für Daníel war als alle Ärzte und Medikamente, mit denen er im Lauf seiner Krankengeschichte in Berührung gekommen war.
»Wo ist Jóhann?«, fragte er.
»Er hat vor gut einer Woche das Handtuch geworfen, nachdem er denen da oben in der Verwaltung ordentlich die Meinung gesagt hat«, erklärte Guðbjörn. »Ich glaube, sie haben ihn geschasst.«
»Wieso ist er entlassen worden?«
»Er stand schon seit langem auf Kriegsfuß mit der Klinikleitung«, sagte Andrea.
»Man hat uns nie was Konkretes gesagt«, sagte Guðbjörn. »Aber Jóhann hatte sich schon seit langem mit der Verwaltung herumgestritten. Jetzt hat wohl irgendwas das Fass zum Überlaufen gebracht, und er hat das Handtuch geworfen. Er hatte diesen Saftladen satt. Die medizinische Versorgung wurde auf das absolute Minimum reduziert. Es gibt einfach zu wenig Pflegepersonal, und die meisten bleiben nicht lange hier. Die kennen hier nur eine Methode, nämlich die Patienten mit Medikamenten voll zu pumpen, um sie ruhig zu stellen. Darin besteht die ganze Behandlung. Früher, bevor dieses ganze Geschwafel über Kostenreduzierung anfing, war hier alles viel besser. Jóhann war vehement gegen diese Art von Einsparungen. Er nahm sich die Behandlung der Patienten mehr zu Herzen als wir anderen. Nur die allerschlimmsten Fälle sind jetzt noch hier, alle anderen wurden nach Hause geschickt, was natürlich furchtbar für die Angehörigen ist.«
»Kann man auf diese Weise überhaupt eine psychiatrische Klinik führen?«, fragte Pálmi.
»Hier ist alles möglich«, sagte Elli.
»Eins ist mir an diesem Mann aufgefallen, der Danni besucht hat«, sagte Guðbjörn nachdenklich. »Obwohl, es war etwas ziemlich Albernes, das vielleicht gar keine Rolle spielt … Er kam ja immer donnerstags um dieselbe Tageszeit, so gegen fünf, und er hatte immer eine alte Mappe dabei. Aber ich habe nie gesehen, dass er sie aufgemacht hat. Er sah bleich aus und hatte kaum noch Haare. Was ich so albern fand, wenn ich darüber nachdenke, war, dass er ständig etwas vor sich hin gemurmelt hat.«
»Halt mal, heute ist Freitag, ist dieser Mann dann gestern da gewesen?«, fragte Pálmi.
»Ich habe ihn zwar nicht gesehen, aber es ist ziemlich wahrscheinlich.«
»Und was hat er vor sich hin gemurmelt?«, fragte Pálmi.
»Das ist ja das Komische«, erwiderte Guðbjörn. »Es kam mir so vor, als ob es etwas von Jónas Hallgrímsson war. … und die Stunde der strahlendsten Gunst zuckt wie ein Blitz durch die Nacht.«
Als Pálmi gegen Mitternacht in seine Wohnung zurückkehrte, hatte er immer noch nicht ganz begriffen, was sich an diesem Abend abgespielt hatte. Tief in Gedanken versunken machte er Licht in der Diele. Aus der Wohnung nebenan, wo Dagný lebte, hörte er den Fernseher. Er selbst besaß kein Fernsehgerät. Die Wohnung war voll mit anderen Sachen, Gemälden und vor allem Büchern, die überall ordentlich in Bücherregalen aufgereiht standen. Pálmi war leidenschaftlicher Büchersammler und besaß ein Antiquariat im Zentrum von Reykjavík. Er lebte allein und hatte keine Kinder.
Er machte etwas Wasser im Wasserkocher heiß, um vor dem Schlafengehen einen Tee zu trinken. Er dachte an Daníel und Jóhann − und den Mann, der seinen Bruder besucht hatte. Er dachte über den Selbstmord nach und fragte sich, ob das womöglich die einzige Lösung für seinen Bruder gewesen war. Sie hatten häufig über Selbstmord gesprochen. Für Pálmi war Selbstmord etwas Unvorstellbares, er hatte so etwas nie in Betracht gezogen und fand es unbegreiflich, dass jemand seinem Leben ein Ende setzen wollte. Daníel hingegen hatte Selbstmord als etwas ganz Normales angesehen. Falls er sich umbringen wollte, ging das seiner Meinung nach niemanden etwas an. Sich die Pulsadern oder die Kehle aufzuschneiden oder sich zu erhängen, war für ihn allerdings ein entwürdigender und unmenschlicher Akt. Daníel ging sogar so weit zu sagen, dass Selbstmord medizinisch gesehen genauso selbstverständlich sein sollte wie Krampfadernziehen oder Mandeloperationen.
Einer der Gründe, weshalb er und Pálmi nicht zusammenleben konnten, war genau der. Dass er verschiedene Versuche unternommen hatte, sich das Leben zu nehmen, und ihm das in zwei Fällen auch beinahe geglückt war. Während seiner gesamten Krankengeschichte hatte er starke Psychopharmaka bekommen, aber Pálmi konnte nie sicher sein, dass sein Bruder die Medikamente auch schluckte, die die Suizidneigung in Schranken halten sollten. Er hatte versucht, alles aus seiner Wohnung zu entfernen, was Daníel möglicherweise für einen Selbstmordversuch verwenden konnte, aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Einmal, als Pálmi nach Hause gekommen war, hatte er Daníel mit einer zugebundenen Plastiktüte über dem Kopf vorgefunden. Damals war es ihm gelungen, ihn wieder ins Leben zurückzuholen. Ein anderes Mal überraschte er ihn mit einem Strick um den Hals, der abgerissen war; Daníel lag auf dem Boden und versuchte mit aller Kraft, die Schlinge zuzuziehen.
Das war vor zwei Jahren gewesen, und danach hatte Pálmi Daníel wieder in die Klinik gebracht. Seitdem hatte Daníel keinen weiteren Selbstmordversuch unternommen. Pálmi hatte bereits in Erwägung gezogen, ihn wieder zu sich nach Hause zu holen, hatte aber noch nichts Konkretes in die Wege geleitet. Er lebte allein in einer Wohnung, die er von seiner Mutter geerbt hatte.
Bei Daníel war vor vielen Jahren Schizophrenie diagnostiziert worden, und Pálmi konnte sich nur dunkel an die Anfänge erinnern. Zwischen den Brüdern bestand ein Altersunterschied von zehn Jahren, und er war noch sehr klein gewesen, als die ersten Anzeichen bei Daníel auftraten. Er konnte sich daran erinnern, wie unglücklich seine Mutter damals gewesen war. Er erinnerte sich aber auch noch an Daníel als einen fröhlichen Jungen, der mit ihm spielte. Aber das schienen nur kurze Abschnitte aus einer ansonsten trostlosen Jugend gewesen zu sein. Am deutlichsten standen ihm immer noch der Kummer seiner Mutter, Daníels Aggressivität und die ständigen Besuche in dieser entsetzlichen Klinik vor Augen.
Daníel war irgendwann aus dem Paradies vertrieben worden.
Mit dreizehn Jahren hatte er sich aus heiterem Himmel vollkommen verändert. Er fing an, mit seinen Klassenkameraden zu trinken, und harte Drogen kamen ins Spiel. In den darauf folgenden Jahren gab es dauernd Konflikte mit seiner Mutter. Und mit der Polizei, die ihn zugedopt oder betrunken zu Hause ablieferte, nachdem er irgendwo in der Gosse aufgefunden worden war. Er schien mit einem Mal keinen Schlaf mehr zu brauchen. Nach einiger Zeit behauptete er, Stimmen zu hören, und unterhielt sich oft mit seinen Phantasiegebilden und Halluzinationen. Nächtelang las er Bücher, statt zu schlafen. Der Inhalt spielte offenbar überhaupt keine Rolle. Er verschlang nicht nur alles, was ihm in die Finger kam, sondern behielt es auch und hatte deswegen auf den ungewöhnlichsten Gebieten ein unglaubliches Wissen. Morgens nickte er dann meist ein und schlummerte für ein paar Stunden. Seine Mutter stand dem Ganzen völlig hilflos gegenüber. Sie schob das alles auf die schlechte Gesellschaft, in die er geraten war, auf seine Klasse. Daníel fing sogar auf dem Gymnasium an, hielt aber nicht lange durch. In dieser Zeit wurde er mit einem Mal sehr gläubig, ohne dass er sich zuvor auch nur im Geringsten für Religion interessiert hatte. Die religiösen Botschaften, die ihm diese Stimmen zu übermitteln schienen, hatten ihn in eine besondere Position im Universum versetzt. Er las in der Zeitung, dass man seltsame Zeichen am Himmel gesehen habe, wahrscheinlich einen Meteor, der Funken sprühend in der Atmosphäre verglüht war, und er bildete sich ein, dass er selbst dieser verglühende Meteor gewesen war, der zur Erde fiel. Weil man ihn aus dem Paradies vertrieben hatte. Um wieder aufgenommen zu werden, musste er bereuen und Buße tun. Die schlimmsten Seelenqualen, die er in den folgenden Jahren durchlitt, hingen mit diesem verlorenen Paradies zusammen.
Daníel selbst begriff damals die Veränderungen an sich nicht, und er akzeptierte nicht, dass er krank war. Er war, ganz im Gegenteil, davon überzeugt, den gesündesten Verstand von allen zu haben. Seine Reaktion, als seine Mutter in ihrer Angst und Sorge einen Arzt zu Rate zog, war extrem gewesen. Er wurde überheblich und aufsässig, und von Jahr zu Jahr verschlimmerte sich sein Zustand. Zuletzt war er unfähig, einer Arbeit nachzugehen. Schließlich wurde er gewalttätig. Und er versuchte, Hand an sich zu legen. Dann fiel er eines Tages über Pálmi her und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass Pálmi das Bewusstsein verlor. Als die Mutter Pálmi zu Hilfe kommen wollte, griff Daníel nach einem Küchenmesser, stach ihr in die Schulter und rannte auf die Straße. Seine Mutter hatte sich lange dagegen gesträubt, ihn einliefern zu lassen, aber als er ein weiteres Mal über Pálmi herfiel, kam nichts anderes mehr in Frage.
Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Die Mutter war vor sieben Jahren gestorben, und seitdem lebte Pálmi allein.
Daníel war für die Ärzte ein klassischer Fall von Schizophrenie, doch was seiner Mutter zu Lebzeiten das meiste Kopfzerbrechen verursachte, war die Tatsache, dass es sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits keinerlei Fälle von Geisteskrankheit in den Familien gab. Sie war davon überzeugt, dass Schizophrenie erblich bedingt war. Aber nun trat die Krankheit urplötzlich bei ihrem Jungen auf und machte ihr das Leben zur Hölle. Sie weinte oft vor Verzweiflung, denn sie hatte ihm immer sehr nahe gestanden – bevor die Krankheit über ihn hereinbrach.
Pálmi saß mit seinem Tee im Wohzimmer. Er massierte sich die rechte Hand und verzog das Gesicht, so, als würde er noch jetzt Schmerzen verspüren. Die Hand war mit Brandnarben übersät, er konnte weder den kleinen Finger noch den Ringfinger bewegen.
Ihre Familie hatte nur aus ihnen dreien bestanden. Der Vater war kurz nach Pálmis Geburt gestorben. Er war Seemann gewesen und in einem schlimmen Orkan vor der Westküste des Landes über Bord gegangen. Pálmi kannte ihn einzig und allein aus den Erzählungen seiner Mutter, denen zufolge es auf dem ganzen Erdenrund keinen besseren Mann gegeben hatte. Sogar seine Fehler hatten im Laufe der Zeit nur noch positive Seiten und boten Stoff für unterhaltsame Geschichten. Ein Beispiel dafür war seine Trinkerei. Er war Quartalssäufer gewesen, aber im Lauf der Jahre wurden diese Eskapaden als Abenteuerdrang und als Bedürfnis nach geselligem Beisammensein mit Freunden verklärt. Keiner von diesen zahlreichen »Freunden« setzte sich aber nach seinem Tod mit der allein stehenden Mutter und ihren zwei Kindern in Verbindung. Die Eltern von Pálmis Vater waren nicht mehr am Leben, und Geschwister hatte er keine gehabt.
Ihre Mutter war schon sehr jung von zu Hause fortgegangen und hatte zu ihren Eltern, die nach Dänemark gezogen waren, kaum mehr Kontakt gehabt. Pálmi wusste nur, dass dort sein hochbetagter Großvater lebte. Als die Tochter starb, kamen die Eltern, flogen nach zwei Tagen wieder zurück nach Dänemark und hinterließen das unangenehme Gefühl von Desinteresse und Übellaunigkeit.
Pálmi hörte, wie leise an die Tür geklopft wurde. Er wusste, dass es Dagný sein musste. Sie war vor einigen Jahren mit ihren beiden Kindern nebenan eingezogen, und es war so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Dagný war schlank und nicht sehr groß. Sie arbeitete als Sekretärin bei der Staatlichen Krankenversicherung. Wenn Pálmi Lust hatte, sich etwas im Fernsehen anzusehen − was allerdings selten der Fall war −, konnte er jederzeit zu Dagný gehen, die sich über seine Gesellschaft freute. Sie hatte eine missglückte Ehe hinter sich und seitdem so viel Pech mit den Männern gehabt, dass sie jetzt, was das anging, am liebsten ihre Ruhe haben wollte. Eine kurze Bekanntschaft mit einem Großhandelskaufmann, der unentwegt an seinem Handy hing, sogar wenn sie miteinander schliefen, beendete sie durch einen Anruf. Ein anderer war Kinderpsychologe, der ihre Kinder nicht ausstehen konnte. Sie ließ ihm durch ihre Kinder ausrichten, dass sie ihn nicht mehr sehen wolle. Die Bekanntschaft mit Pálmi war eine willkommene Abwechslung, und die Kinder mochten ihn sehr.
»War das dein Danni in den Nachrichten?«, fragte sie, als er ihr geöffnet hatte.
»Ja«, sagte Pálmi und machte die Tür hinter ihr zu.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es eigentlich noch gar nicht. Mittags ist er wohl völlig durchgedreht und hat die ganze Klinik auf den Kopf gestellt. Es endete damit, dass er aus einem Fenster im obersten Stock sprang. Er war auf der Stelle tot.«
»Der arme Danni.«
»Ich weiß, dass er ab und zu solche Anwandlungen hatte, aber trotzdem ist das irgendwie seltsam.«
»Selbstmord ist immer irgendwie seltsam.«
»Ich weiß. Ich verstehe es trotzdem nicht. Daníel hat außerdem in den letzten Wochen öfter mal Besuch bekommen. Ich kenne aber niemanden, der Anlass dazu gehabt hätte. Und in der Klinik wusste keiner, wer das war.«
»Niemand hat ihn nach seinem Namen gefragt?«
»Nein. Allerdings habe ich noch nicht mit Jóhann gesprochen. Vielleicht kennt der ihn ja. Keiner weiß, worüber sie geredet haben. Einer der Aufseher meinte, dass sie über Lebertranpillen gesprochen hätten.«
»Lebertranpillen?«
»Er kann sich auch verhört haben.«
»War er schon tot, als du kamst?«
»Nein«, sagte Pálmi. »Er ist mir buchstäblich aus den Händen gesprungen. Ich hätte ihn wahrscheinlich sogar packen und festhalten können, wenn ich schneller reagiert hätte.« Er schwieg.
»Wenn ich die ganzen Umstände richtig eingeschätzt hätte. Aber ich habe erst zu spät gemerkt, was los war, deshalb habe ich ins Leere gegriffen. Und dann lag er da unten auf der Treppe, und plötzlich war alles zu Ende. Ich kann das überhaupt noch nicht begreifen.«
»Das ist wohl eine ganz normale Reaktion, dass man sich selbst die Schuld an so etwas gibt«, sagte Dagný und streichelte seine Wange. Sie standen immer noch im Flur. Ihre Beziehung war nie bis ins Schlafzimmer vorgedrungen, und sie waren beide zufrieden mit diesem Arrangement. »Er hat über die anderen geredet. Er wollte, dass ich mich nach irgendwelchen Leuten erkundige, die er die anderen nannte. Ich weiß nicht, wen er damit gemeint hat. Und er redete über das Paradies. Das war ja nichts Neues, aber dann sprach er von den anderen. Ich habe ihn noch nie so reden gehört.«
»Was kann er damit gemeint haben?«
»Und dann hat er noch etwas über seine Schule gesagt. Er redete ja ständig darüber, dass er aus dem Paradies vertrieben worden war und dass er versuchen müsste, wieder hineinzugelangen. Dann wäre alles wieder in Ordnung. Er würde wieder gesund werden. Jetzt hat er mir aber gesagt, ich solle nachforschen, woher die anderen kamen. Die anderen? An wen soll ich mich denn damit wenden?«
»Was hat er genau gesagt?«
»Es hat irgendwas mit der Schule zu tun. Daníel war an drei Schulen,« fügte er nachdenklich hinzu, »erst auf dem alten Gymnasium in der Stadtmitte, dann, ein Jahr lang, an einer Gesamtschule und vorher die ganze Zeit in der Víðigerði-Volksschule.«
»Waren das alles nicht einfach nur Hirngespinste? Er hat doch so viele merkwürdige Dinge von sich gegeben.«
»Er hat noch gesagt, dass wir jetzt der Sonne am nächsten stehen. Das war es, was er als Letztes gesagt hat: ›Jetzt stehen wir der Sonne am nächsten.‹ Wie soll man so was bloß verstehen?«, seufzte Pálmi.
»Weißt du das nicht?«, fragte Dagný, die sich in Bezug auf Astrologie und den Gang der Gestirne bestens auskannte. »Hierzulande gehen alle wie selbstverständlich davon aus, dass das im Juli der Fall ist, aber in Wirklichkeit steht die Erde jetzt im Januar der Sonne am nächsten.«
Das alte, nahezu baufällige Haus stand im Handumdrehen in Flammen. Als Feuerwehr und Polizei eintrafen, war es schon beinahe niedergebrannt. Die Feuerwehr war in Alarmbereitschaft, denn das Haus stand mitten im dicht besiedelten Þingholt-Viertel zwischen anderen Holzhäusern. Es war aber windstill an diesem Abend, sodass die alles verzehrenden Flammen senkrecht zum Himmel schlugen.
Erst am nächsten Tag fand man die Leiche in der verkohlten Ruine. Erlendur Sveinsson von der Kriminalpolizei, der sich bereits mehrmals mit Bränden hatte befassen müssen, sah gleich, als er aus dem Auto gestiegen war, dass es sich um Brandstiftung handeln musste. Das war nicht schwierig, und es bedurfte kaum seiner viel gerühmten Kombinationsgabe, um diese Feststellung zu treffen. Es hatte vielmehr ganz den Anschein, als hätte der Brandstifter eine Nachricht hinterlassen wollen. Ein Benzinkanister, der zehn Liter fasste, lag auf dem gefrorenen Gras im Hinterhof. Es fing gerade an, hell zu werden, und Rauch stieg aus der Ruine auf. Das gelbe Absperrband der Polizei war rings um das Grundstück gespannt, und einige Polizisten stapften in den Trümmern umher.
Erlendur verscheuchte sie, indem er sie barsch anwies, zur Seite zu treten. Nach kurzer Zeit fand er das Skelett und beugte sich über es. Kein Fetzen Fleisch war mehr daran, und es lag ausgestreckt auf dem Boden. Die Kiefer standen klaffend auseinander, die leeren Augenhöhlen starrten zu den dunklen Wolken hinauf. Er bemerkte sofort die Reste von Fesseln an Knöcheln und Handgelenken.
»Weiß man schon, wer in diesem Haus gewohnt hat?«, fragte Erlendur seinen Kollegen Sigurður Óli, der ihm gefolgt war.
»Ein Mann namens Halldór. Er hat allein hier gelebt, war unverheiratet und hatte keine Kinder. Er hat in diesem Haus gewohnt, seit er in die Stadt gezogen ist. Hat früher in der Volksschule in Víðigerði unterrichtet, ist aber vor kurzem in Pension gegangen. Geboren 1928, im Árnes-Bezirk.«
»Womöglich hast du auch schon in Erfahrung gebracht, wer ihn angezündet hat?«, fragte Erlendur. Morgens war er meist schlecht aufgelegt.
»Ich habe den ganzen Morgen herumtelefoniert«, anwortete Sigurður Óli. »Ist er wirklich ermordet worden?«
»Gegrillt, meinst du wohl. Falls er hier wirklich dieser Halldór ist.«
Er beugte sich wieder über das Skelett.
»Viele ansehnliche Plomben. Du hast nicht zufällig schon herausgefunden, wer sein Zahnarzt ist?«
»Ich werde dem nachgehen.«
»Weißt du, ob er Verwandte hat?«
»Eine Schwester, wenn ich den Schulleiter richtig verstanden habe. Sie ist älter als er und lebt in einem Altersheim in Hafnarfjörður.«
»Hast du sie schon benachrichtigt?«
»Ich wollte anschließend hinfahren. Der Schulleiter sagte, das Halldór noch ein Jahr länger hätte unterrichten können. Da er schon ziemlich alt war, hatte man ihn zuletzt nur noch Vertretungsstunden oder so was machen lassen. Das muss immer ziemlich schlimm für ihn gewesen sein, denn die Kinder haben ihn tyrannisiert, wenn ich es richtig verstanden habe. Einmal sollen sie ihn umzingelt und angespuckt haben, sodass er von oben bis unten besudelt war. Vielleicht sind diese Kinder ja gestern Abend aufs Ganze gegangen.«
»Wohl kaum, wenn er in der Schule aufgehört hatte. Aber ausschließen kann man es wohl auch nicht. Manchmal hat man ja den Eindruck, dass die Jugendlichen heutzutage vor fast gar nichts mehr zurückschrecken.«
Erlendur untersuchte die Lage und die Umgebung der Leiche und überlegte, wie der Grundriss des Hauses wohl ausgesehen hatte.
»Da sind sogar noch Reste von einer Fessel«, sagte Sigurður Óli.
»Die muss aus einem besonders hitzebeständigen Material bestanden haben. Besorg dir die Zeichnungen vom Haus beim Grundbuchamt.«
»Ist bereits geschehen«, sagte Sigurður Óli und konnte ein selbstgefälliges Lächeln kaum unterdrücken. Er war ziemlich neu bei der Kriminalpolizei und war Erlendur zugeteilt worden, der schon seit Jahrzehnten dort arbeitete. Er ging Erlendur ziemlich auf die Nerven. Was allerdings nicht viel besagte, denn es gab nur wenig, was ihm nicht auf die Nerven ging. Sigurður Óli ließ sich dadurch offenbar nicht beirren. Er war auch in der Nacht am Tatort erschienen, aber anschließend nicht wie Erlendur nach Hause gefahren. Erlendur ärgerte es, wie gepflegt und frisch er aussah.
»Und warum hast du sie dann nicht dabei?«, fragte er.
»Sekunde, sie sind im Auto«, sagte Sigurður Óli und rannte los.
Der verdammte Kerl nimmt bestimmt Anabolika, überlegte Erlendur und fuhr fort, die Umgebung des Skeletts zu untersuchen. Der untere Teil lag auf verkohlten Holzresten, die ein Stuhl gewesen sein mochten. Er hatte den Eindruck, dass rings um die Leiche das Feuer am heftigsten gewütet hatte, aber auch sonst deutete alles darauf hin, dass das Haus im Nu lichterloh gebrannt hatte. An Benzin war offenbar nicht gespart worden.
Der Fotograf traf ein, um Aufnahmen zu machen. Erlendur wies ihn an, sich noch etwas zu gedulden.
Der Vergleich mit den Zeichnungen ergab, dass das Skelett im Türrahmen zwischen einem Zimmer am Ende des Hauses und dem Wohnzimmer lag. Erlendur schloss daraus, dass der Mann versucht hatte, irgendwie aus dem Haus zu gelangen. Vor dem Wohnzimmer war eine kleine Diele gewesen, aus der man auch in die Küche kommen konnte. Küche und Wohnzimmer waren nur durch eine dünne Wand getrennt gewesen. Der Fußboden war übersät mit Glasscherben, viel mehr, als von den beiden Scheiben im Wohnzimmer stammen konnten, die durch den Hitzedruck von innen geplatzt und wahrscheinlich nach außen gedrückt worden waren. Auf den Scherben im Wohnzimmer lag etwas, das Erlendur für verkohlte Bilderrahmen hielt, einige aus Metall, einige aus verkohltem Holz. Die Beamten der Spurensicherung waren am Tatort eingetroffen, wagten sich aber nicht an die Trümmer heran, bevor Erlendur seine Erlaubnis gab. Er wies sie auf den Benzinkanister hin, den sie vorsichtig aufhoben und in eine Tüte packten.
»Hier wurden keine großen Umstände gemacht«, sagte Erlendur wie zu sich selbst und beugte sich noch einmal über das Skelett. Sigurður Óli wurde hellhörig. »Dieser Mann hatte nicht die geringste Chance«, fuhr Erlendur fort. »Aber wenn es Mord war, warum wurde das so schlampig arrangiert, warum ist man nicht etwas geschickter vorgegangen und hat wenigstens versucht, die Tat zu verschleiern? Es hätte kaum großer Anstrengungen bedurft. Ich habe es schon oft mit Brandstiftung zu tun gehabt, aber so ein Szenario ist mir noch nicht untergekommen. Ein leerer Benzinkanister auf dem Grundstück!«
»Was schließt du daraus?«, fragte Sigurður Óli und blickte seinen Kollegen an.
Erlendur ließ die Leute von der Spurensicherung wissen, dass sie jetzt anfangen konnten. Drei Männer, bewaffnet mit großen Taschen und Geräten, betraten vorsichtig die immer noch rauchende Ruine.
»Überheblichkeit«, sagte Erlendur. Er trat wieder an das Skelett heran und betrachtete intensiv die Position. Sein Blick blieb an den Knochen hängen, die einmal die Hände gewesen waren. Sie waren offenbar zu Fäusten geballt gewesen, wie um den grauenvollen Tod herauszufordern. Halldór – falls das hier tatsächlich seine Überreste waren – hatte einen zarten Knochenbau und feingliedrige Hände gehabt.
»Warten wir ab, bis wir ihn mit Hilfe der Zahnarztkartei identifiziert haben, bevor wir der Schwester auf die Bude rücken«, sagte Erlendur wohl wissend, dass Sigurður Óli über seine flapsige Wortwahl schockiert sein würde.
Jóhann, der ehemalige Aufseher an der psychiatrischen Klinik, wohnte in einer ausgebauten Kellerwohnung an der Miklubraut. Rund um die Uhr drang der Straßenlärm herein, und die Luft war geschwängert von Auspuffgasen. Jóhann hatte zwar in der Küche, deren Fenster auf eine der meistbefahrenen Straßen von Reykjavík hinausgingen, Vierfach-Thermopanescheiben einsetzen lassen, aber auch das hatte wenig genutzt. Der einzige Vorteil war, dass die Wohnungspreise hier zu den niedrigsten in Reykjavík gehörten. Am schlimmsten war es abends und nachts, wenn Motorradfahrer die Straße als Motodrom verwendeten. Egal wie häufig die Polizei diesen Typen auflauerte, sie kamen immer wieder.
Seitdem er nicht mehr in der Klinik arbeitete, hatte Jóhann die meiste Zeit zu Hause herumgelungert. Er war froh, den Verantwortlichen dort gehörig seine Meinung gesagt zu haben. Er war normalerweise ein verträglicher Mensch, aber als er im Verwaltungstrakt seinen Vorgesetzten gegenüberstand, war er ausgerastet und hatte sich seinen Zorn von der Seele gebrüllt, hatte sich die verschlissene Schirmmütze vom Kopf gerissen und auf den Boden geschleudert. Jetzt war sie wieder auf seinem Kopf, und er saß mit einem Becher Kaffee in der Hand in der kleinen Essecke und beobachtete Pálmi, der die Treppe zu seiner Wohnung herunterkam. Er hatte die Nachrichten vom Aufruhr in der Klinik und von Daníels Tod gehört und damit gerechnet, dass Pálmi früher oder später bei ihm auftauchen würde.
»Komm herein, Pálmi«, sagte er, während er die Tür öffnete. »Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie schrecklich Leid mir das tut, was mit deinem Bruder passiert ist.«
»Danke, Jóhann«, sagte Pálmi und betrat die Wohnung. Sie gingen in die Küche, und Jóhann goss Kaffee in eine zweite Tasse. In dem sauberen Raum war alles ordentlich an seinem Platz, Fußboden und Schränke glänzten. Jóhann hatte sein ganzes Leben lang allein gelebt und war als ordnungsliebender Mensch bekannt. Pálmi hatte sich vom ersten Augenblick an, als Jóhann seinen Bruder in der Klinik unter seine Fittiche genommen hatte, gut mit ihm verstanden. Jóhann war groß und kräftig und hatte Hände, die zupacken konnten, aber seine Stimme war weich und freundlich, und er strahlte Vertrauen aus. Sogar sein Gang wirkte Vertrauen erweckend. Er humpelte zwar ein wenig, denn das eine Bein war sichtlich kürzer als das andere, aber er trat trotzdem fest und sicher auf.
»Ich kann mich erinnern, wie ich Danni in der Klinik kennen gelernt habe. Damals glaubte er, er würde nicht lange drinnen bleiben«, sagte Jóhann und setzte sich zu Pálmi. »Und man hat gehofft, dass er Recht behalten würde. Aber dann musste er natürlich doch den größten Teil seines Lebens dort verbringen. Was für ein Leben«, fügte er leise hinzu.
»Ich wollte dir danken für all das, was du in diesen Jahren für ihn getan hast, und dafür, dass du ihm ein Freund gewesen bist«, sagte Pálmi und nippte an dem kochend heißen Kaffee.
»Es ist wohl eher angebracht, dass ich mich bedanke. Wahrscheinlich habe ich mehr von dieser Freundschaft profitiert als Danni. Ich mochte ihn sehr, sehr gern. Und jetzt muss ich immer daran denken, dass ich ihm, wenn ich nicht die Schnauze so voll gehabt hätte von dieser Klinik, vielleicht in seinen letzten Tagen hätte helfen können. Ich wollte mich auch von ihm verabschieden, das hatte ich die ganze Zeit vor, aber ich bin vor Wut einfach aus dem Gebäude gerannt und nicht wiedergekommen.«
»Warum bist du gegangen?«
»Das, was in der Klinik vorgeht, ist im Grunde genommen ein Riesenskandal, und das schon seit Jahren. Ich bin deswegen oft bei der Leitung vorstellig geworden, aber die einzige Antwort, die ich dann immer bekommen habe, war die, dass wir in einer Rezession steckten und die öffentliche Hand Einsparungen vornehmen müsse. Ich habe erklärt, dass ich in all den Jahren, die ich dort gearbeitet habe, schon öfter erlebt habe, dass die Mittel knapper wurden. Aber so schlimm wie jetzt ist es noch nie gewesen. Außer den Aufsehern gibt es da doch kaum noch jemanden, der sich um die Patienten kümmert. Und von denen ist niemand für so etwas ausgebildet. Meiner Meinung nach haben diese hohen Herren einen an der Klatsche, und das habe ich dem Direktor und allen anderen da auf der Verwaltungsetage so direkt gesagt, ob sie es hören wollten oder nicht.«
»Genützt hat es aber wohl nichts.«
»Ich hatte echt die Schnauze voll, Pálmi. Ich konnte da einfach nicht länger bleiben.«
»Wann hast du Daníel das letzte Mal gesehen?«
»An dem Tag, als ich abgehauen bin, genau vor einer Woche. Ich hatte kurz davor noch mit ihm in seinem Zimmer gesprochen.«
»War er in den letzten Wochen, in denen du mit ihm zu tun hattest, irgendwie anders?«
»Das lässt sich nicht abstreiten. Eigentlich war er mal wieder genau wie immer, wenn er seine Medikamente nicht einnahm. Das hat er manchmal gemacht. Dann war er ja irgendwie ruhiger, obwohl sich das komisch anhört, und er konnte sich stundenlang ganz normal und verständig mit einem unterhalten. Ich bin übrigens der Meinung, dass ihm die Medikamente überhaupt nichts genützt haben. Ich glaube nicht an Medikamente. Mir war es scheißegal, wenn er das Zeug nicht nehmen wollte. Dann wird den Pharmakapitalisten weniger Geld in den Rachen geworfen. Kann natürlich sein, dass diese Medikamente auch was genützt haben. Ich weiß es nicht. Es ist aber entsetzlich, wenn man mit ansehen muss, was für Mengen davon ausgeteilt werden, und das seit jeher. Jede Menge, jede Größe, Pillen in allen Farben des Regenbogens werden den Patienten eingetrichtert. Und weißt du, warum? Die Krankenhäuser haben kein Geld für was anderes als medikamentöse Behandlung. Das Personal ist dermaßen abgebaut worden, dass die Patienten mit Pillen zugedröhnt werden müssen, wenn nicht alles drunter und drüber gehen soll. Anständige Gehälter können die angeblich nicht bezahlen, diese Herrschaften, aber stattdessen werden jährlich hunderte und aberhunderte Millionen Kronen in die Pharmaindustrie gepumpt. Ich habe viele Jahre da gearbeitet und zusehen müssen, wie das Zeug tonnenweise von diesen armen Menschen geschluckt wird. Oder sie werden einfach nach Hause geschickt, egal in was für einem Zustand sie sich befinden, und sind oft noch schlimmer dran, wenn sie wieder eingeliefert werden.«
Jóhann schweig eine Weile. Nachdem er einen Schluck Kaffee getrunken hatte, fuhr er fort.
»Irgendjemand hat Daníel in den letzten Wochen besucht, was ich sehr ungewöhnlich finde. Jahrelang war ich der Einzige, der zu Besuch kam. Weißt du etwas über diesen Mann? Besuche werden in der Klinik nicht registriert.«
»Das war sein alter Lehrer aus der Volksschule, Halldór hieß er, glaube ich. Irgendwie ein ziemlich merkwürdiger Kerl, er wirkte schwächlich und fast so, als sei er auf der Flucht. Soweit ich weiß, hat er ihn insgesamt drei Mal besucht«
»Was hat dieser alte Lehrer denn von ihm gewollt? Daníel hat diesen Mann mir gegenüber nie erwähnt, und ich fiel aus allen Wolken, als mir deine ehemaligen Kollegen gestern von ihm erzählten.«
»Er hatte einen merkwürdigen Einfluss auf Danni. Ich kann mich an den ersten Besuch erinnern. Danni hat ihn rausgeworfen und ihm gesagt, er solle sich nie wieder blicken lassen. Das ging aber ganz ruhig vonstatten, er hat ihm bloß klipp und klar gesagt, dass er verschwinden solle. Ich weiß nicht, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Als ich Danni danach fragte, wollte er nichts sagen.«
»Du hast nicht gewusst, worüber sie gesprochen haben?« »Nein.«
»Woher weißt du denn, dass er sein Lehrer war?«
»Das hat Danni mir gesagt. Eine Woche später kam dieser Mann wieder und hat es geschafft, dass Danni sich mit ihm hinsetzte. Sie haben sich lange unterhalten, aber als ich fragte, worüber sie gesprochen hätten, war nichts aus Danni herauszukriegen. Sonst hat er mich eigentlich immer ins Vertrauen gezogen und mir gesagt, worüber er nachdachte oder was ihn bedrückte. Es war völlig klar, dass dieser Mann oder das, was er zu sagen hatte, großen Einfluss auf Daníel hatte.«
»Was für einen Einfluss?«
»Du weißt, wie Danni war. Er konnte redselig und manchmal richtig unterhaltsam sein, aber manchmal auch ziemlich unerträglich. Er riss die Klappe auf und zog über die Leute her – oder war überhaupt nicht ansprechbar. Alles, was ihm in den Sinn kam, sprach er sofort laut aus, und er konnte ziemlich ordinär werden. Jetzt war er aber auf einmal völlig anders, und man konnte kein Wort aus ihm herausbekommen. Er war völlig weggetreten, war in seiner Gedankenwelt versunken und redete mit niemandem.«
»Hast du das mit den Besuchen dieses Manns in Verbindung gebracht?«
»Eigentlich nicht. Danni war im Grunde genommen ja schon immer ziemlich unberechenbar.«
»Deinen Kollegen ist das aber auch aufgefallen. Im Gegensatz zu dir waren sie froh darüber, denn jetzt konnten sie etwas besser mit ihm fertig werden.«
»Wir haben halt eine unterschiedliche Einstellung.«
»Elli glaubte gehört zu haben, dass sie über Lebertrankapseln gesprochen haben. Hast du eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«
»Du weißt, wie Elli ist. Aber trotzdem, das kann gut sein. Mehr weiß ich nicht.«
»Über was hast du mit Daníel gesprochen, als du ihn das letzte Mal gesehen hast?«
»Nicht viel. Über seine Story mit dem Paradies, aus dem er angeblich vertrieben worden ist, und die er mit diesem Meteoritenfall in Verbindung brachte, über den er gelesen hatte. Er sagte, dass da noch andere mit ihm im Paradies gewesen wären. Seine Freunde von früher. Mehr war es nicht.«