Frevelopfer - Arnaldur Indriðason - E-Book + Hörbuch

Frevelopfer Hörbuch

Arnaldur Indriðason

4,5

Beschreibung

In einer Wohnung mitten in Reykjavík wird ein Mann tot aufgefunden - mit durchtrennter Kehle. Der Täter scheint das Opfer gekannt zu haben, denn nichts weist auf einen Einbruch hin. Kommissarin Elinborg findet am Tatort einen Kaschmirschal, der einen merkwürdigen Geruch verströmt, und in der Jackentasche des Opfers eine Vergewaltigungsdroge. Erlendurs Kollegin ahnt, dass der Mord die Rache für ein brutales Verbrechen war. Und ihm Freveltaten vorrausgingen, die nie gesühnt werden können ... Während Kommissar Erlendur in de Ostfjorden seine traumatischen Kindheitserlebnisse aufzuarbeiten versucht, ermittelt Elínborg in einem Mordfall, der nicht nur sie erschüttert.

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Zeit:4 Std. 54 min

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Inhalt

CoverTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißig

ARNALDUR INDRIÐASON

FREVELOPFER

Island Krimi

Übersetzung aus dem Isländischen von Coletta Bürling

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch bei Lübbe Audio lieferbar

Titel der isländischen Originalausgabe: »Myrká«

Namen, Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.

In Island duzt heutzutage jeder jeden. Man redet sich nur mit dem Vornamen an. Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten.

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by Arnaldur Indriðason

Published by agreement with Forlagið, www.forlagid.is

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2010/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung von Motiven von © Stephanie Frey/shutterstock; © Natthawat/GettyImages

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-1075-4

luebbe.de

lesejury.de

Eins

Er zog seine schwarze Jeans, ein weißes Hemd und ein bequemes Jackett an, schlüpfte in seine besten Schuhe, die er sich vor drei Jahren zugelegt hatte, und ging im Geiste bestimmte Lokale in der Innenstadt durch, die eine von ihnen ihm gegenüber erwähnt hatte.

Während er vor dem Fernseher saß und den richtigen Zeitpunkt abwartete, um in die Stadt zu gehen, mixte er sich zwei Drinks. Er durfte nicht zu früh los, weil dann womöglich jemand auf ihn aufmerksam werden würde, wenn er zu lange in einem halb leeren Lokal herumhing. Genau das galt es zu vermeiden. Das Wichtigste war, in der Menge unterzutauchen, nicht aufzufallen, ein Gast wie jeder andere zu sein. Er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, musste unbemerkt bleiben. Falls ihm später wider Erwarten Fragen gestellt würden, hatte er den ganzen Abend zu Hause vor dem Fernseher verbracht. Wenn alles nach Wunsch verlief, würde niemand sich daran erinnern, ihn irgendwo gesehen zu haben.

Als es Zeit war, stand er auf, trank sein Glas aus und verließ das Haus. Er war ein wenig angeheitert. Seine Wohnung lag in der Nähe des Zentrums, und im herbstlichen Dunkel steuerte er zu Fuß die erste Kneipe an. In der Innenstadt wimmelte es bereits von Menschen, die sich ins Wochenendvergnügen stürzen wollten. Türsteher bauten sich vor den Eingängen auf, und die Leute beschwerten sich, wenn sie nicht gleich eingelassen wurden. Musik drang bis auf die Straße hinaus. Der Essensgeruch aus den Restaurants vermischte sich mit dem Alkoholdunst aus den Kneipen. Schon jetzt waren einige Leute betrunken. Er fand sie abstoßend.

Nach relativ kurzer Wartezeit wurde er eingelassen. Das Lokal war im Moment zwar nicht besonders angesagt, doch an diesem Abend war es brechend voll. Das war gut so. Auf seinem Weg durch die Stadt hatte er bereits nach Mädchen oder jungen Frauen Ausschau gehalten, die möglichst nicht über dreißig und nicht mehr ganz nüchtern sein durften. Sie sollten etwas beschwipst sein, aber nicht zu sehr.

Er verhielt sich unauffällig und fühlte noch einmal in seiner Jackentasche nach, ob er es dabeihatte. Das hatte er schon mehrmals auf dem Weg in die Stadt gemacht und dabei überlegt, dass er wohl einer von diesen nervösen Typen war, die dauernd alles kontrollieren mussten: ob sie die Tür zugeschlossen hatten, ob sie die Schlüssel auch nicht vergessen hatten, ob die Kaffeemaschine wirklich ausgestellt war, ob noch eine Herdplatte an war. Das war schon eine regelrechte Manie bei ihm, er hatte in einem Lifestyle-Magazin über derartige Zwangshandlungen gelesen. In demselben Artikel stand auch etwas über einen anderen Tick, den er hatte. Er wusch sich zwanzig Mal am Tag die Hände.

Die meisten Leute hatten ein großes Bier vor sich stehen, und er bestellte sich ebenfalls eines. Der Barkeeper nahm ihn kaum wahr, und er bezahlte nicht mit Karte, sondern bar. Es war ein Leichtes für ihn, in der Menge unterzutauchen. Die meisten anderen Gäste waren in seinem Alter und saßen oder standen mit Freunden oder Arbeitskollegen zusammen. Der Lärm war ohrenbetäubend, da die Leute versuchten, die gellende Rap-Musik zu übertönen. Er blickte sich in aller Ruhe um und sah einige Cliquen von Freundinnen, aber auch Frauen, die mit ihren Partnern da zu sein schienen, doch keine Frau ohne Begleitung.

Er verließ die Kneipe, noch bevor er das Glas ausgetrunken hatte. Im dritten Lokal entdeckte er eine Frau, die er kannte. Seiner Schätzung nach war sie um die dreißig, und sie schien allein zu sein. Sie saß zwar zusammen mit etlichen anderen an einem großen Tisch in der Raucherzone, aber sie gehörte offenbar nicht zu der Gruppe. Sie nippte an einer Margarita, und während er sie aus einiger Entfernung beobachtete, rauchte sie zwei Zigaretten. Das Lokal war brechend voll, aber keiner von den Typen, die sich mit ihr unterhielten, schien zu ihr zu gehören. Zwei Männer sprachen sie an, doch sie schüttelte den Kopf, woraufhin sie wieder abzogen. Ein dritter stand eine Weile neben ihr und schien entschlossen zu sein, sich nicht abwimmeln zu lassen.

Sie war dunkelhaarig, sah gut aus und war ein wenig kräftig gebaut. Sie war geschmackvoll gekleidet und trug einen Rock und ein helles T-Shirt, auf dem »San Francisco« stand. Eine kleine Blume lugte aus dem F hervor. Um die Schultern hatte sie ein schönes Tuch drapiert.

Sie machte diesem hartnäckigen Verehrer unmissverständlich klar, dass sie ihn loswerden wollte, und er hatte den Eindruck, als würde er sie anpöbeln. Er ließ der Frau ein wenig Zeit, um sich wieder zu fangen, bevor er zu ihr hinüberging.

»Bist du schon einmal dort gewesen?«, fragte er.

Die dunkelhaarige Frau sah hoch, schien ihn aber nicht gleich zu erkennen.

»In San Francisco«, sagte er und deutete auf das T-Shirt.

Sie sah auf ihre Brust.

»Du meinst das hier?«, antwortete sie.

»Eine zauberhafte Stadt«, sagte er. »Da solltest du unbedingt mal hin.«

Sie sah ihn an und war sich augenscheinlich nicht sicher, ob sie ihn, genau wie den anderen, abblitzen lassen sollte. Doch auf einmal schien sie sich zu erinnern, dass sie ihn schon einmal getroffen hatte.

»Da ist unheimlich viel los«, sagte er. »In Frisco. Es gibt so viel zu sehen.«

Sie lächelte.

»Du hier?«, sagte sie.

»Ja. Nett, dich zu treffen. Bist du allein?«

»Allein? Ja.«

»Warst du schon mal in Frisco? Da musst du unbedingt hin.«

»Ich weiß, ich bin …«

Ihre Worte gingen im Lärm unter. Er befühlte noch einmal seine Jackentasche und beugte sich zu ihr hinunter.

»Der Flug ist ziemlich teuer«, sagte er. »Aber ich meine … Ich bin einmal dort gewesen, es war fantastisch. Eine zauberhafte Stadt.«

Er verwendete gewisse Worte ganz bewusst. Sie sah zu ihm hoch, und er stellte sich vor, wie sie an den Fingern einer Hand abzählte, wie viele junge Männer sie in ihrem Leben schon getroffen hatte, die Wörter wie »zauberhaft« in den Mund nahmen.

»Ich weiß, ich war schon mal dort.«

»Ach so. Darf ich mich vielleicht zu dir setzen?«

Sie zögerte einen Augenblick und rückte dann ein Stück zur Seite, um Platz zu machen.

Niemand in der Kneipe schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit, auch nicht, als sie eine gute Stunde später gemeinsam das Lokal verließen und auf wenig frequentierten Straßen zu ihm nach Hause gingen. Da hatte das Mittel bereits angefangen zu wirken. Er hatte sie zu einer weiteren Margarita eingeladen. Als er mit ihrem dritten Drink von der Bar zurückkam, glitt seine Hand in die Jackentasche, und er gab das Mittel in ihr Getränk. Sie hatten sich gut unterhalten, und er wusste, dass sie keine Schwierigkeiten machen würde.

Die Meldung erreichte die Kriminalpolizei zwei Tage später. Elínborg nahm sie entgegen und gab den Einsatzbefehl. Angehörige der Verkehrspolizei hatten die Straße im Þingholt-Viertel bereits abgesperrt, als Elínborg und ihre Kollegen von der Spurensicherung eintrafen. Sie sah den Vertreter des Amtsarztes aus seinem Auto steigen. Zunächst durfte nur die Spurensicherung hinein, um ihre Untersuchungen vorzunehmen. Sie legten den Tatort auf Eis, wie sie sich ausdrückten.

Elínborg leitete unterdessen alles Notwendige in die Wege und wartete geduldig auf das Zeichen, dass sie die Wohnung betreten durfte. Fernseh- und Zeitungsreporter fanden sich ein, und sie beobachtete sie bei der Arbeit. Sie waren lästig, und einige wurden sogar unverschämt den Polizisten gegenüber, die ihnen den Zugang zum Gelände versperrten. Elínborg kannte zwei oder drei aus dem Fernsehen, einen Talkshow-Moderator, der vor kurzem zum Nachrichtenredakteur avanciert war, und einen Mann, der ein politisches Diskussionsforum leitete. Sie hatte keine Ahnung, was der unter den Reportern verloren hatte. Elínborg, die zu den ersten weiblichen Angehörigen der Kriminalpolizei gehörte, erinnerte sich, dass die Reporter früher sowohl höflicher als auch weniger zahlreich gewesen waren. Die Zeitungsreporter waren ihr etwas sympathischer als die Fernsehleute. Die Vertreter des gedruckten Worts nahmen sich mehr Zeit, sie waren gelassener und nicht so aufdringlich und wichtigtuerisch wie diejenigen mit den Fernsehkameras auf den Schultern. Einige von ihnen konnten sogar durchaus gute Texte schreiben.

Die Leute in den benachbarten Häusern standen an den Fenstern oder waren vor die Tür getreten und standen nun mit vor der Brust verschränkten Armen in der kühlen herbstlichen Luft. Man sah ihnen an, dass sie nicht die geringste Ahnung hatten, was vorgefallen war. Sie wurden bereits von einigen Polizisten befragt, ob sie etwas Ungewöhnliches in der Nähe des Hauses oder in der Straße bemerkt hatten, ob sie Menschen in der Nähe des Hauses gesehen hatten, ob sie sich hier auskannten oder dieses Haus schon einmal betreten hatten.

Elínborg hatte früher einmal in einer Mietwohnung im Þingholt-Viertel gelebt, noch bevor dieser Stadtteil in Mode gekommen war. Sie hatte sich wohlgefühlt in diesem altehrwürdigen Stadtteil, der sich an den Hängen oberhalb des Stadtzentrums ausgebreitet hatte. Die Häuser stammten aus unterschiedlichen Zeiten und spiegelten ein Jahrhundert Reykjavíker Architekturgeschichte wider; es gab sowohl bescheidene Arbeiterunterkünfte als auch Villen von Unternehmern. Arbeitende Bevölkerung und Oberklasse hatten hier immer einträchtig nebeneinandergewohnt. Jetzt lockte das Viertel junge Leute an, die sich aus Protest gegen die sich in alle Richtungen ausdehnenden Außenviertel lieber im Herzen der Stadt einnisteten. Künstler und alle möglichen modisch gekleideten Menschen zogen in die Häuser ein, und die Superreichen kauften die alten Villen der Großimporteure. Die Anwohner schienen die Postleitzahl des Viertels wie eine Identifikationsmarke vor sich herzutragen: 101 Reykjavík.

Der Leiter der Spurensicherung kam um die Ecke des Hauses und rief Elínborg zu sich. Er schärfte ihr ein, vorsichtig zu sein und nichts anzurühren.

»Es sieht ziemlich scheußlich aus«, sagte er.

»Tatsächlich?«

»Ein bisschen wie in einem Schlachthaus.«

Die Wohnung hatte einen separaten Eingang in dem Teil des Gartens, den man von der Straße nicht einsehen konnte. Sie befand sich zu ebener Erde, und über einen plattenbelegten Weg, der hinter das Haus führte, gelangte man zur Eingangstür. Das Erste, was Elínborg erblickte, als sie die Wohnung betrat, war die Leiche eines jungen Mannes, der auf dem Boden im Wohnzimmer lag, seine Hose war heruntergelassen, und er war mit nichts anderem bekleidet als mit einem blutigen T-Shirt, auf dem »San Francisco« stand. Aus dem F lugte eine kleine Blume hervor.

Zwei

Auf dem Heimweg fuhr Elínborg bei einem Supermarkt vorbei. Sie nahm sich normalerweise ausreichend Zeit für den Einkauf und vermied die Billigmärkte, da es dort nur wenig Auswahl gab und die Qualität dem Preis entsprach. Doch heute hatte sie es eilig. Ihre beiden Jungen hatten sie angerufen und gefragt, ob sie wie versprochen ein Abendessen für sie kochen würde. Sie hatte gesagt, dass es dabei bliebe, aber es würde ein wenig später werden. Sie versuchte, jeden Abend eine ordentliche Mahlzeit auf den Tisch zu bringen, damit sie mit ihrer Familie zusammensitzen und Zeit mit ihr verbringen konnte, und sei es nur für die Viertelstunde, die die Kinder dazu brauchten, um das Essen in sich hineinzustopfen. Wenn sie nicht kochte, kauften sich die Jungs nur irgendwelche teuren Fast-Food-Produkte für das Geld, das sie sich mit ihren Sommerjobs verdient hatten, oder sie brachten ihren Vater dazu, das für sie zu tun. Teddi, ihr Mann, hatte eine Autowerkstatt und war, was das Kochen betraf, ein hoffnungsloser Fall. Er konnte Haferbrei machen und Spiegeleier braten, mehr aber auch nicht. Dafür packte er aber nach dem Essen mit an und half auch ansonsten im Haushalt. Elínborg hielt Ausschau nach etwas, was nicht viel Zeit in Anspruch nehmen würde, entdeckte akzeptables Fischhack an der Theke, schnappte sich eine Packung Reis, ein paar Zwiebeln und außerdem noch das ein oder andere, was im Haushalt fehlte. Nach zehn Minuten stieg sie wieder in ihr Auto.

Eine Stunde später saßen sie am Küchentisch. Ihr älterer Sohn nörgelte an den Fischfrikadellen herum und wies darauf hin, dass es am Abend vorher ebenfalls Fisch gegeben hatte. Er mochte keine Zwiebeln und schob sie sorgfältig an den Tellerrand. Der jüngere Sohn schlug Teddi nach und aß alles, was ihm vorgesetzt wurde. Ihre Tochter Theodóra war die Jüngste. Sie hatte angerufen und gefragt, ob sie bei ihrer Freundin zu Abend essen dürfte. Die beiden machten zusammen Schulaufgaben.

»Gibt’s nur die Sojasoße?«, fragte ihr Ältester. Er hieß Valþór, war siebzehn und hatte gerade auf eine weiterführende Schule gewechselt. Er wusste genau, was er werden wollte, und hatte nach Ende der zehnjährigen Grundschulpflicht das Handelsgymnasium gewählt. Elínborg glaubte zu wissen, dass er eine Freundin hatte, auch wenn er selbst nichts durchblicken ließ. Er erzählte nie etwas über sich. Es hatte jedoch keiner besonderen Nachforschungen bedurft, um das herauszufinden. Als sie vor einiger Zeit seine Hose in die Waschmaschine stecken wollte, hatte sie ein Kondom in der Hosentasche gefunden. Sie hatte ihn nicht darauf angesprochen, denn so war der Gang des Lebens. Letzten Endes war sie nur froh gewesen, dass er so vernünftig war. Es war ihr nie wirklich gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen. Ihre Beziehung war ziemlich angespannt. Der Junge war schon immer sehr selbstständig gewesen, manchmal sogar aufsässig. Irgendetwas an seiner Art gefiel Elínborg nicht, aber sie wusste nicht, was es war und woher er es hatte. Teddi kam wegen ihres gemeinsamen Interesses für Autos besser mit ihm zurecht.

»Ja«, antwortete Elínborg auf seine Frage und leerte den Rest aus der Weißweinflasche in ihr Glas. »Ich hatte keine Lust, auch noch eine Soße zu machen.«

Sie sah ihren Sohn an und überlegte, ob sie ihm nicht doch von ihrem Fund erzählen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie zu müde war, um einen Streit mit ihm zu riskieren. Sie ging davon aus, dass er sich nicht gerade über das freuen würde, was sie in Erfahrung gebracht hatte.

»Du hattest uns aber für heute Abend Steaks versprochen«, sagte Valþór vorwurfsvoll.

»Was ist das für eine Leiche, die ihr da gefunden habt?«, fragte der Jüngere, der Aron hieß. Er hatte die Nachrichten gesehen, in denen über den Mord berichtet worden war. Seine Mutter war auch zu sehen gewesen.

»Ein Mann um die dreißig«, antwortete Elínborg.

»Wurde er umgebracht?«, fragte Valþór.

»Ja«, sagte Elínborg.

»In den Nachrichten wussten sie noch nicht, ob es wirklich Mord war«, sagte Aron. »Angeblich bestand nur der Verdacht auf Mord.«

»Der Mann wurde ermordet«, sagte Elínborg.

»Und wer ist es?«, fragte Teddi.

»Niemand, den wir kennen.«

»Wie wurde er denn umgebracht?«, wollte Valþór wissen.

Elínborg sah ihn an. »Du weißt, dass du solche Fragen nicht stellen darfst.«

Valþór zuckte mit den Achseln.

»Hat es was mit Drogen zu tun?«, fragte Teddi.

»Bitte hört jetzt damit auf«, bat Elínborg. »Wir wissen noch gar nichts.«

Alle in der Familie wussten, dass Elínborg nicht über ihre Arbeit reden durfte. Doch die männlichen Familienangehörigen fanden alles spannend, was mit der Kriminalpolizei zu tun hatte, und wenn sie erfuhren, dass Elínborg an einem komplizierten Fall arbeitete, wollten sie unbedingt etwas über die näheren Umstände erfahren und ihre Kommentare dazu abgeben. Meist verrauchte aber das Interesse, wenn sich der Fall in die Länge zog, und dann hatte Elínborg wieder ihre Ruhe.

Sie sahen sich mit Vorliebe Krimiserien im Fernsehen an, und als die beiden Jungen noch kleiner gewesen waren, hatten sie es spannend gefunden, dass ihre Mutter bei der Kriminalpolizei arbeitete, genau wie diese tollen Typen im Fernsehen. Sie mussten jedoch ziemlich bald feststellen, dass einiges von dem, was ihre Mutter ihnen erzählte, keineswegs mit dem übereinstimmte, was sie vom Bildschirm kannten. Die Krimihelden waren smart und sahen aus wie Models, sie konnten schießen wie die Weltmeister und lieferten sich schlagfertige Wortgefechte mit aalglatten Gangstern. Sie lösten die schwierigsten Fälle im Handumdrehen und gaben zwischen ihren atemberaubenden Verfolgungsjagden Zitate aus der Weltliteratur zum Besten. Grauenvolle Morde waren an der Tagesordnung, manchmal sogar zwei oder drei in einer Folge, aber der Schurke wurde zum Schluss immer geschnappt und erhielt seine verdiente Strafe.

Die Jungen wussten inzwischen sehr genau, dass sich ihre Mutter für den mickrigen Lohn verdammt abrackern musste, wie sie immer sagte. Und an irgendwelchen Verfolgungsjagden hatte sie noch nie teilgenommen. Sie besaß keine Pistole, ganz zu schweigen von einem Karabiner, denn die isländische Polizei trug keine Waffen. Die Kriminellen waren zumeist verkrachte Existenzen oder Loser, wie Sigurður Óli sie nannte, und die meisten waren schon mehrfach mit der Polizei in Berührung gekommen. Einbrüche und Autodiebstähle waren die häufigsten Straftaten – und natürlich Körperverletzungen. Für die Drogendelikte war das Rauschgiftdezernat zuständig. Schwere Verbrechen wie Vergewaltigungen landeten auf dem Tisch von Elínborg. Morde passierten selten, obwohl das von Jahr zu Jahr variierte; manchmal gab es in einem Jahr keinen einzigen Mord, im nächsten konnten es vier sein. Aus der Sicht der Polizei war die Entwicklung in den letzten Jahren besorgniserregend, die Verbrechen waren organisierter, es waren häufiger Waffen im Spiel, und die Gewalttaten wurden immer brutaler.

Wenn Elínborg abends todmüde nach Hause kam, schaffte sie es meist gerade noch, ein warmes Essen auf den Tisch zu bringen und an Rezepten zu feilen, denn Kochen war ihre Leidenschaft. Wenn sie dazu keine Kraft mehr hatte, legte sie sich aufs Sofa und schlief vor dem Fernseher ein.

Wenn die Jungen während einer der Krimiserien aus den Augenwinkeln zu ihrer Mutter hinüberschielten, fanden sie die isländische Kripo alles andere als spannend.

Elínborgs Tochter war aus ganz anderem Holz geschnitzt als ihre Brüder. Es hatte sich früh herausgestellt, dass Theodóra hochbegabt war, was in der Schule durchaus problematisch werden konnte. Elínborg hatte Bedenken, das Mädchen eine Klasse überspringen zu lassen, denn sie wollte, dass sie mit Gleichaltrigen aufwuchs. Der Lernstoff forderte sie jedoch nicht ausreichend. Das Mädchen war ständig unterwegs, sie spielte Handball, hatte Klavierunterricht, war bei den Pfadfindern. Sie sah nicht viel fern, und im Gegensatz zu ihren Brüdern interessierte sie sich kaum für Kinofilme oder Computerspiele. Sie war dagegen ein echter Bücherwurm und las von früh bis spät. Solange sie klein war, konnten Elínborg und Teddi ihr gar nicht genug Bücher aus der Bibliothek besorgen, doch sobald sie alt genug war, beschaffte sie sich ihren Lesestoff selbst. Sie war nun elf Jahre alt und hatte vor ein paar Tagen versucht, ihrer Mutter den Inhalt von »Eine kurze Geschichte der Zeit« zu erklären.

Manchmal, wenn sie glaubte, dass die Kinder nicht zuhörten, sprach Elínborg mit Teddi über ihre Arbeitskollegen. Natürlich spitzten die Kinder gerade dann ganz besonders ihre Ohren und wussten daher, dass einer von ihnen Erlendur hieß. Der Mann war ihnen ein Rätsel. Manchmal hatte es den Anschein, als sei ihre Mutter nicht sonderlich glücklich darüber, mit ihm zusammenzuarbeiten, manchmal schien sie nicht ohne ihn auskommen zu können. Die Kinder hatten mehr als einmal gehört, wie Elínborg sich verwundert darüber geäußert hatte, dass ein so schlechter Familienvater und starrsinniger Einzelgänger ein so feinfühliger Kriminalbeamter sein konnte. Sie bewunderte seine Arbeit, obwohl er ihr als Mensch nicht immer sympathisch war. Ein anderer Kollege, über den sie manchmal leise mit Teddi sprach, hieß Sigurður Óli, und die Kinder hatten den Eindruck, dass auch er irgendwie ein ziemlich schräger Vogel war. Es konnte vorkommen, dass ihre Mutter regelrecht aufstöhnte, wenn von ihm die Rede war.

Elínborg war kurz vor dem Einschlafen, als sie ein Geräusch auf dem Flur hörte. Mit Ausnahme ihres Ältesten, der immer noch vor seinem Computer saß, lagen alle bereits im Bett. Sie wusste nicht, ob er an irgendeiner Aufgabe für die Schule arbeitete oder nur in den Chatrooms unterwegs war. Der Junge würde erst gegen Mitternacht ins Bett gehen. Valþór lebte nach seiner eigenen inneren Uhr, ging erst spät zu Bett und schlief dann oft bis in den Nachmittag hinein, wenn es möglich war. Elínborg machte sich seinetwegen Sorgen, wusste aber, dass es wenig Sinn hatte, mit ihm darüber zu reden. Sie hatte es oft genug versucht, aber er war stur und nicht zu Kompromissen bereit, wenn es um seine Eigenständigkeit ging.

Den ganzen Abend war ihr der Tote aus dem Þingholt-Viertel nicht aus dem Kopf gegangen. Den Anblick, der sich ihr geboten hatte, hätte sie den Jungen beim besten Willen nicht schildern können. Dem Mann war die Kehle durchgeschnitten worden, Sessel und Tische im Wohnzimmer waren mit Blut bespritzt gewesen. Der genaue Bericht des obduzierenden Arztes stand noch aus. Nach Ansicht der Spurensicherung hatte derjenige, der ihm die tödliche Wunde zugefügt hatte, die Tat gut vorbereitet. Er musste mit dem Vorsatz gekommen sein, ihn anzugreifen. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf. Der Schnitt selbst war anscheinend sehr gekonnt ausgeführt worden, quer über den Hals und genau dort, wo er den größten Schaden anrichtete. Am Hals befanden sich weitere kleine Schnittwunden, was darauf hindeutete, dass der Mörder dem Opfer die Tatwaffe eine ganze Weile an die Kehle gehalten haben musste. Sehr wahrscheinlich war der Angriff sehr plötzlich erfolgt und hatte das Opfer überrascht. Die Tür zur Wohnung war nicht aufgebrochen worden, was bedeuten konnte, dass das Opfer sie dem Mörder selbst geöffnet hatte. Es war aber auch denkbar, dass jemand, der mit dem Opfer in die Wohnung gekommen oder sein Gast gewesen war, plötzlich brutal über ihn hergefallen war. Nichts schien gestohlen, nichts war angefasst worden. Deswegen war es unwahrscheinlich, dass man es mit einem Einbrecher zu tun hatte. Die Möglichkeit, dass der Ermordete einen Eindringling überrascht hatte, war jedoch nicht völlig auszuschließen.

Der Körper des Mannes war fast vollständig ausgeblutet, das Blut auf dem Boden war geronnen. Das hieß, dass er womöglich noch eine Weile gelebt hatte und dass das Herz weiter geschlagen hatte.

Nach diesem Anblick hatte sich Elínborg kein blutiges Fleisch zum Abendessen vorstellen können, obwohl sie wusste, dass ihr älterer Sohn maulen würde.

Drei

Der Tote aus dem Þingholt-Viertel hieß Runólfur und war Anfang dreißig gewesen. Er war nie mit der Polizei in Berührung gekommen und nicht im Strafregister zu finden. Er arbeitete bei einem Telefonanbieter, war vor mehr als zehn Jahren nach Reykjavík gezogen und lebte allein. Seine Mutter war noch am Leben, hatte aber erklärt, dass sie kaum noch Kontakt zu ihm gehabt hatte. Sie lebte auf dem Land. Der Pfarrer und ein Polizist überbrachten ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohns. Runólfurs Vater war vor einigen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er auf dem Holtavörðuheiði-Pass mit einem Lastwagen zusammengeprallt war. Runólfur war ein Einzelkind gewesen.

Der Vermieter hatte nur Gutes über ihn zu berichten. Er hatte die Miete immer pünktlich gezahlt, war ein ordnungsliebender Mensch, niemals hörte man Lärm aus seiner Wohnung, und er ging jeden Morgen zur Arbeit. Der Vermieter konnte gar nicht genug lobende Worte für seinen Mieter finden.

»All dieses Blut«, sagte er und sah Elínborg schockiert an. »Ich muss wohl eine Reinigungsfirma bestellen. Das Parkett ist wahrscheinlich hin. Wer macht so etwas? Es wird nicht einfach sein, die Wohnung wieder zu vermieten.«

»Du hast keine Geräusche in der Wohnung gehört?«, fragte Elínborg.

»Ich hab nie etwas gehört«, antwortete der Vermieter, ein dickbäuchiger Glatzkopf mit einwöchigen weißen Bartstoppeln, hängenden Schultern und kurzen Armen. Er lebte allein in der Wohnung über Runólfur und erklärte, dass er die Wohnung unter ihm schon seit Jahren vermietete. Runólfur war vor etwa zwei Jahren eingezogen.

Der Vermieter hatte die Leiche gefunden und die Polizei benachrichtigt. Er hatte ihm Briefe vorbeibringen wollen, die versehentlich in seinem Briefkasten gelandet waren, und hatte die Umschläge in den Briefschlitz an der Tür gesteckt. Als er am Wohnzimmerfenster vorbeigegangen war, hatte er die nackten Beine eines Mannes gesehen, der in einer Blutlache auf dem Fußboden lag. Er hatte es für ratsam gehalten, sofort die Polizei zu rufen.

»Warst du am Samstagabend zu Hause?«, fragte Elínborg und sah den neugierigen Vermieter vor sich, wie er durch das Wohnzimmerfenster in die Wohnung spähte. Das musste ziemlich schwierig gewesen sein. Die Vorhänge waren nämlich zugezogen gewesen, und man hatte nur durch einen kleinen Spalt hineinsehen können.

Laut den vorläufigen Untersuchungsergebnissen war der Mord in der Nacht zum Sonntag begangen worden. Sie ließen außerdem eher den Schluss zu, dass sich vor dem Überfall noch eine andere Person in Runólfurs Wohnung befunden hatte, als dass jemand dort eingedrungen war. Vieles sprach dafür, dass es eine Frau gewesen war, denn Runólfur hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt. In seinem Schlafzimmer hatte man ein Kondom auf dem Boden gefunden. Man ging außerdem davon aus, dass das T-Shirt, in dem man ihn gefunden hatte, nicht ihm, sondern einer Frau gehört hatte. Darauf deutete die Größe hin, es war viel zu klein für ihn, und außerdem hatten sie einige dunkle Frauenhaare daran gefunden, die mit denen auf dem Sofa übereinstimmten. An seiner Jacke waren ebenfalls Haare gewesen, vermutlich von derselben Frau. Offensichtlich hatte Runólfur einen nächtlichen Gast gehabt. In seinem Bett hatte man Schamhaare gefunden.

Es war ohne Probleme möglich, durch den Garten des Hauses in den Nachbargarten zu gelangen, der zu einem dreistöckigen Haus in der nächsten Straße gehörte. Aber niemand hatte bemerkt, dass dort in der Mordnacht Menschen unterwegs gewesen waren.

»Ich bin fast immer zu Hause«, erklärte der Vermieter.

»Du hast ausgesagt, dass Runólfur am Samstagabend ausgegangen ist?«

»Ja, ich habe beobachtet, wie er die Straße entlangging. Das war so gegen elf. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Du weißt nicht, wann er zurückgekommen ist?«

»Nein. Da war ich wahrscheinlich schon eingeschlafen.«

»Du weißt also nicht, ob jemand bei ihm war?«

»Nein.«

»Runólfur hat nicht mit einer Frau zusammengelebt?«

»Nein, und auch nicht mit einem Mann«, erklärte der Vermieter und lächelte seltsam.

»In der ganzen Zeit nicht, seit er hier zur Miete wohnt?«

»Nein.«

»Vielleicht weißt du von irgendwelchen Freundinnen, die bei ihm übernachtet haben?«

Der Vermieter kratzte sich am Kopf. Es war kurz nach Mittag, er hatte sich gerade eine Pferdemettwurst einverleibt, und jetzt saß er satt und zufrieden gegenüber von Elínborg auf dem Sofa. Elínborg hatte die Essensreste auf dem Teller in der Küche gesehen. Der übel riechende Kochdunst hing immer noch in der Wohnung, und Elínborg befürchtete, dass er sich in ihrem Mantel festsetzen würde, den sie gerade erst im Ausverkauf erstanden hatte. Sie wollte sich auf keinen Fall lange in der Wohnung des Vermieters aufhalten.

»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte der Vermieter schließlich. »Ich glaube nicht, dass ich ihn jemals mit einer Frau gesehen habe.«

»Du hast ihn wohl nicht besonders gut gekannt?«

»Nein«, sagte der Vermieter. »Ich habe ziemlich bald gemerkt, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Er wollte für sich sein. Deswegen … Nein, ich habe kaum Kontakt zu ihm gehabt.«

Elínborg stand auf. Sie sah, dass Sigurður Óli an der Tür des gegenüberliegenden Hauses mit den Nachbarn sprach. Andere Angehörige der Kriminalpolizei vernahmen die übrige Nachbarschaft.

»Und wann kann ich in der Wohnung Klarschiff machen?«, fragte der Vermieter.

»Bald«, entgegnete Elínborg. »Wir geben dir Bescheid.«

Runólfurs Leiche war bereits am Abend vorher abtransportiert worden, doch die Leute von der Spurensicherung waren noch bei der Arbeit, als Elínborg und Sigurður Óli am Morgen nach dem Leichenfund in die Wohnung kamen. Alles deutete darauf hin, dass dort ein ordentlicher junger Mann gewohnt hatte, der Wert auf ein schönes und wohnliches Zuhause gelegt hatte. Elínborg spürte, dass er sich Mühe mit der Einrichtung gegeben hatte, davon zeugten die Porzellanteller an der Wand, die ein wenig seltsam in der Wohnung eines jungen Mannes wirkten, und der schöne Teppich auf dem Parkettboden. Sofa und Sessel passten zueinander. Das Badezimmer war zwar klein, aber geschmackvoll eingerichtet, im Schlafzimmer stand ein Doppelbett, und in der Küche, die direkt neben dem Wohnzimmer lag, war alles makellos sauber. Es gab keine Bücher oder Familienfotos in der Wohnung, dafür fielen ein großer Flachbildschirm und drei gerahmte Plakate mit den Superhelden Spiderman, Superman und Batman ins Auge. Außerdem standen auf einem Tisch Plastikfiguren von verschiedenen berühmten Superhelden.

»Und wo wart ihr, als das passiert ist?«, fragte Elínborg, während sie sich die Plakate ansah.

»Ganz nett«, sagte Sigurður Óli, der ebenfalls die Superhelden betrachtete und Elinborgs Frage ignorierte.

»Ich finde das ziemlich albern«, sagte Elínborg.

Sigurður Óli beugte sich zu einer ziemlich neu wirkenden Stereoanlage hinunter, neben der ein iPod lag.

»Nano«, erklärte Sigurður Óli, »alles vom Feinsten.«

»Diese ganz dünnen?«, fragte Elínborg. »Mein jüngerer Sohn behauptet, die seien viel zu winzig. Keine Ahnung, ob das stimmt, ich hab noch nie so ein Ding angerührt.«

»Das sieht dir ähnlich«, erklärte Sigurður Óli und putzte sich die Nase. Er war nicht in Bestform, denn er schlug sich schon seit einiger Zeit mit einer Grippe herum, die er einfach nicht wieder loswurde.

»Na und?«, fragte Elínborg, während sie in der Küche den Kühlschrank öffnete. Der Inhalt war ziemlich armselig und legte Zeugnis davon ab, dass der Besitzer keinen besonderen Wert auf gutes Essen gelegt hatte. Eine Banane, eine Paprika, Käse, Marmelade und amerikanische Erdnussbutter, Eier und ein angebrochener Liter Magermilch.

»Hat der Mann keinen Computer besessen?«, fragte Sigurður Óli einen der beiden Männer von der Spurensicherung, die noch in der Wohnung arbeiteten.

»Den haben wir mitgenommen«, antwortete der Mann. »Aber wir haben noch nichts gefunden, was dieses Blutbad erklären könnte. Habt ihr schon von dem Rohypnol gehört?«

Der Mann von der Spurensicherung sah die beiden fragend an. Er war um die dreißig und hatte sich weder rasiert noch gekämmt. »Ungepflegt« war das Wort, nach dem Elínborg suchte. Sigurður Óli, der immer tipptopp gekleidet war, hatte einmal missbilligend erklärt, dass es heutzutage offenbar angesagt sei, so schlampig herumzulaufen.

»Rohypnol?«, wiederholte Elínborg und schüttelte den Kopf.

»Er hatte etwas in der Jackentasche, und außerdem liegen noch einige Tabletten auf dem Wohnzimmertisch«, sagte der Mann von der Spurensicherung, der einen weißen Schutzanzug und Latexhandschuhe trug.

»Du meinst die Vergewaltigungsdroge?«

»Ja«, antwortete der Mann. »Sie haben uns gerade telefonisch die Ergebnisse durchgegeben, wir sollen uns hier bei den Untersuchungen darauf konzentrieren. Er hatte es wie gesagt in der Jackentasche, was bedeuten könnte, dass …«

»… er es am Samstagabend verwendet hat«, ergänzte Elínborg. »Der Vermieter hat gesehen, wie er abends in die Stadt gegangen ist. Er hat es also in der Tasche gehabt, als er ausging?«

»Wenn er dieses Jackett angehabt hat, und danach sieht es aus. Alle anderen Sachen sind an Ort und Stelle im Schrank. Das Jackett und das Hemd liegen hier auf dem Stuhl, Unterhose und Socken im Schlafzimmer. Er lag mit heruntergelassener Hose im Wohnzimmer und hatte keine Unterhose an. Möglich, dass er sich ein Glas Wasser holen wollte. Es steht da am Waschbecken.«

»Hat er sich mit Rohypnol in der Tasche ins Nachtleben gestürzt?«, fragte Elínborg nachdenklich.

»Nach allem, was wir bisher feststellen konnten, hatte er kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr«, erklärte der Mann von der Spurensicherung. »Das Kondom stammt wahrscheinlich von ihm. Und er sah ja auch ganz danach aus. Das kann man natürlich bei der Autopsie feststellen.«

»Vergewaltigungsdroge«, wiederholte Elínborg, und ihr fiel ein Fall ein, der kürzlich passiert war. Da war ebenfalls Rohypnol im Spiel gewesen.

Ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer hatte bei einer spärlich bekleideten sechsundzwanzigjährigen Frau angehalten, die sich am Straßenrand übergab. Sie konnte nicht sagen, woher sie kam, und erinnerte sich nicht, wo sie die Nacht verbracht hatte. Sie bat den Mann, der sich ihrer angenommen hatte, sie nach Hause zu fahren. Am liebsten hätte er sie in die Ambulanz gebracht, aber sie hatte hartnäckig darauf bestanden, dass das nicht notwendig sei.

Die Frau hatte keine Ahnung, wie sie auf dem Nýbýlavegur in Kópavogur gelandet war. Zu Hause angekommen, legte sie sich sofort ins Bett und schlief zwölf Stunden. Als sie aufwachte, tat ihr alles weh. Ihre Genitalien brannten, die Haut an den Knien war gerötet und empfindlich, und sie erinnerte sich immer noch nicht, was in der Nacht passiert war. Dabei hatte sie noch nie irgendwelche Gedächtnislücken gehabt, nur weil sie zu tief ins Glas geschaut hatte. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte keine Erinnerung daran heraufbeschwören, wo sie gewesen war. Aber eines wusste sie ganz sicher, sie hatte an dem Abend nur wenig Alkohol getrunken. Sie duschte ausgiebig und wusch sich gründlich. Am Abend rief ihre Freundin an und fragte, wo sie am Abend vorher geblieben war. Sie waren zu dritt ausgegangen, und sie hatte die beiden anderen aus den Augen verloren. Die Freundin hatte sie mit einem Mann hinausgehen sehen, den sie nicht kannte.

»Wow«, sagte die Frau, »ich kann mich an nichts erinnern. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.«

»Wer war das denn?«, fragte die Freundin.

»Keine Ahnung.«

Nachdem sie eine Weile miteinander gesprochen hatten, dämmerte es der jungen Frau, dass sie in dem Lokal von einem Mann zu einem Drink eingeladen worden war. Sie kannte ihn nicht und konnte sich nur ganz undeutlich daran erinnern, wie er ausgesehen hatte. Aber er hatte einen netten Eindruck auf sie gemacht. Kaum hatte sie das Glas ausgetrunken, stand schon das nächste auf dem Tisch. Dann war sie zur Toilette gegangen, und als sie zurückkam, hatte der Mann vorgeschlagen, das Lokal zu verlassen. Das war das Letzte, an das sie sich erinnerte.

»Wohin bist du mit ihm gegangen?«, fragte die Freundin am Telefon.

»Ich weiß es nicht, ich bin einfach …«

»Kanntest du ihn nicht?«

»Nein.«

»Kann es sein, dass er dir etwas ins Glas getan hat?«

»Ins Glas?«

»Weil du dich überhaupt nicht erinnern kannst. Es gibt solche …«

Die Freundin zögerte.

»Solche was?«

»Solche Männer, die Frauen vergewaltigen.«

Kurze Zeit später war sie mit ihrer Freundin zur Anlaufstelle für Vergewaltigungsopfer im Fossvogur-Krankenhaus gefahren. Als der Fall auf Elínborgs Schreibtisch landete, war die junge Frau überzeugt, dass sie von dem unbekannten Mann vergewaltigt worden war. Bei der ärztlichen Untersuchung stellte sich zwar heraus, dass sie in der Nacht Geschlechtsverkehr gehabt hatte, aber es fanden sich keine Spuren der Droge in ihrem Blut. Das war durchaus normal, denn die Vergewaltigungsdroge Rohypnol war schon nach wenigen Stunden nicht mehr im Körper nachzuweisen.

Elínborg zeigte ihr Fotos von verurteilten Vergewaltigern, aber diese Fotos sagten ihr gar nichts. Sie ging mit ihr zu dem Lokal, in dem sie den Mann getroffen hatte, doch die Angestellten dort konnten sich weder an sie noch an den Mann erinnern, den sie dort kennengelernt hatte. Elínborg wusste, dass Vergewaltigungen, bei denen Drogen im Spiel waren, nicht leicht nachzuweisen waren. Im Blut oder im Urin waren keine Spuren zu finden, denn in der Regel war das Gift nicht mehr im Körper, wenn das Opfer zur Untersuchung kam, aber verschiedenes andere deutete darauf hin, dass eine Vergewaltigung stattgefunden hatte. Amnesie, Sperma in der Gebärmutter, Verletzungen. Elínborg sagte der Frau, dass jemand ihr vermutlich eine Vergewaltigungsdroge in den Drink gemixt hatte. Es war nicht auszuschließen, dass es sich um Buttersäure gehandelt hatte, die dieselbe Wirkung wie Rohypnol hervorrief, farb- und geschmacklos und sowohl in flüssiger als auch in fester Form erhältlich war. Das Zentralnervensystem wurde beeinflusst. Die Opfer waren nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, sie litten unter Amnesieerscheinungen oder sogar völligem Gedächtnisverlust.

»All das erschwert es uns, diese Verbrecher vor Gericht zu stellen«, sagte sie zu der jungen Frau. »Die Wirkung von Rohypnol oder Buttersäure hält etwa drei bis sechs Stunden an, ohne Spuren im Körper zu hinterlassen. Schon wenige Milligramm reichen, um einen schlafähnlichen Zustand herbeizuführen, wobei die Wirkung durch Alkohol noch verstärkt wird. Nebenerscheinungen sind Halluzinationen, Depressionen und Schwindelgefühl, unter Umständen sogar epileptische Anfälle.«

Elínborg ließ ihre Blicke durch die Wohnung im Þingholt-Viertel schweifen und dachte an den Überfall auf Runólfur und an den Hass, der dabei die treibende Kraft gewesen sein musste.

»Hat dieser Runólfur ein Auto besessen?«, fragte sie die Leute von der Spurensicherung.

»Ja, das stand hier vor dem Haus«, entgegnete einer von ihnen. »Es wird gerade von den Labortechnikern untersucht.«

»Ich muss euch die DNA-Daten von einer Frau zukommen lassen, die kürzlich vergewaltigt wurde. Ich muss wissen, ob sie ein Opfer von Runólfur gewesen sein kann. Vielleicht hat er sie in seinem Auto nach Kópavogur gebracht und sie dort abgesetzt.«

»Selbstverständlich«, sagte der Mann. »Da ist aber noch etwas.«

»Was?«

»Alles hier in der Wohnung gehört einem Mann, die Garderobe, die Schuhe, die Oberbekleidung …«

»Ja.«

»Nur das da nicht«, sagte der Mann von der Spurensicherung und deutete auf eine Plastiktüte, in die etwas hineingestopft worden war.

»Was ist das?«

»Soweit ich sehen kann, ist das ein Schultertuch«, antwortete der Mann und hob die Plastiktüte hoch. »Es lag unter dem Bett im Schlafzimmer. Das ist wohl ein weiteres Indiz dafür, dass eine Frau bei ihm war.«

Er öffnete die Tüte und hielt sie Elínborg unter die Nase.

»Es riecht eigenartig«, sagte er. »Es stinkt nach Zigaretten, aber auch nach dem Parfüm der Frau, und dann ist da so etwas wie der Geruch von … irgendeinem Gewürz.«

Elínborg steckte ihre Nase in die Tüte.

»Wir werden das noch analysieren«, sagte der Mann von der Spurensicherung.

Elínborg atmete tief ein. Das violettblaue Tuch war aus Wolle. Sie konnte den Zigarettenrauch und das Parfüm riechen. Außerdem stimmte auch das, was der Mann noch gesagt hatte: Da war der Duft von einem Gewürz, das sie gut kannte.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Sigurður Óli, der Elínborg interessiert beobachtete.

Sie nickte.

»Mein Lieblingsgewürz«, sagte sie.

»Lieblingsgewürz?«, fragte der Mann von der Spurensicherung.

»Dein Lieblingsgewürz?«, fragte Sigurður Óli.

»Ja«, erklärte Elínborg. »Es handelt sich aber nicht um ein Gewürz, sondern um eine Mischung. Es riecht wie … Es erinnert mich an Tandoori. Ich glaube, dieses Tuch riecht nach Tandoori.«

Vier

Die meisten Nachbarn waren sehr kooperativ. Sämtliche Leute, die in einem bestimmten Umkreis des Hauses wohnten, wurden systematisch befragt, auch wenn sie selbst nicht der Meinung waren, dass sie etwas zu der Ermittlung beitragen konnten. Ob Aussagen brauchbar waren oder nicht, war Ermessenssache der Kriminalpolizei. Die meisten Nachbarn sagten aus, dass sie in der bewussten Nacht geschlafen und nichts Außergewöhnliches bemerkt hatten. Keiner kannte den Untermieter. Niemand hatte in dieser Nacht irgendwelche Menschen in der Nähe des Hauses gesehen oder in den vorangegangenen Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt. Zuerst wandte man sich an die Leute in der unmittelbaren Nachbarschaft, und dann erweiterte man nach und nach den Kreis. Elínborg unterhielt sich mit den Polizisten, die die Befragungen durchführten, und bei der Durchsicht der Protokolle stieß sie auf die Aussage einer Frau, die eher am Rande des Wohngebiets lebte. Auch wenn ihre Aussage nicht sonderlich präzise gewesen war, beschloss Elínborg, dieser Frau einen Besuch abzustatten.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob sich das lohnt«, erklärte der Polizist, der die Aussage zu Protokoll genommen hatte.

»Wieso?«

»Die Frau ist irgendwie komisch«, sagte der Polizist.

»Inwiefern?«

»Sie faselte die ganze Zeit etwas von elektromagnetischer Strahlung und beklagte sich, dass sie deshalb ständig Kopfschmerzen habe.«

»Elektromagnetische Strahlung?«

»Sie behauptet, dass sie die selbst mit irgendwelchen Nadeln gemessen hat, die sie besitzt. Die Strahlung kommt angeblich zum größten Teil aus den Wänden bei ihr.«

»Ach?«

»Keine Ahnung, ob dir das irgendetwas bringt.«

Die Frau lebte im Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses in einer Parallelstraße, aber doch in einiger Entfernung von dem Haus, in dem Runólfur gewohnt hatte. Es war durchaus fraglich, ob sie etwas gesehen haben konnte. Elínborgs Interesse war trotzdem geweckt, und weil sie ohnehin nicht viel anderes in der Hand hatten, fand sie es vertretbar, sich noch einmal mit der Frau zu befassen und ihr dabei zu helfen, das, was sie gesehen hatte, in klarere Worte zu fassen.

Die Frau hieß Petrína und ging auf die siebzig zu. Sie empfing Elínborg im Hausmantel und mit verschlissenen Pantoffeln an den Füßen. Unfrisiert, wie sie war, standen ihre Haare wirr in alle Richtungen, das faltige Gesicht war blutleer, und ihre Augen waren gerötet. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette. Sie begrüßte Elínborg freundlich und war froh, dass ihr endlich jemand Aufmerksamkeit schenkte.

»Es wurde aber auch Zeit«, erklärte sie. »Ich werde es dir zeigen. Massive Strahlung, kann ich dir sagen.«

Petrína ging in die Wohnung, und Elínborg folgte ihr. Beißender Zigarettenqualm schlug ihr entgegen. Im Wohnzimmer war es dämmrig, denn die Frau hatte sämtliche Vorhänge zugezogen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sich Elínborg, dass man aus dem Wohnzimmerfenster tatsächlich auf die Straße vor dem Haus blicken konnte. Die Frau war bereits in ihrem Schlafzimmer verschwunden und rief nach ihr. Elínborg durchquerte das Wohnzimmer und gelangte an der Küche vorbei in das Zimmer, in dem Petrína unter einer einsamen, nackten Birne stand, die von der Decke herunterbaumelte. Bett und Nachttisch waren mitten ins Zimmer gerückt worden.

»Am liebsten würde ich die Wände einreißen lassen«, erklärte Petrína. »Ich habe bloß kein Geld, um sämtliche elektrischen Leitungen ummanteln zu lassen. Wahrscheinlich bin ich überempfindlich. Guck mal hier.«

Elínborg blickte erstaunt auf die beiden Längswände des Raums, die vom Boden bis zur Decke mit Alufolie verkleidet waren.

»Ich kriege fürchterliche Kopfschmerzen davon«, sagte die Frau.

»Hast du das selbst gemacht?«, fragte Elínborg.

»Ich? Selbst? Selbstverständlich. Die Alufolie hat ein wenig geholfen, aber meiner Meinung nach reicht das nicht aus. Du musst dir das genauer ansehen.«

Sie nahm zwei Eisenstäbe und legte sie auf die Handflächen. Die Enden dieser Wünschelrute wiesen in Elínborgs Richtung, die unbeweglich in der Tür stand. Dann drehten sie sich langsam zur Wand hin.

»Das kommt von den Leitungen«, erklärte Petrína.

»Wirklich?«, fragte Elínborg.

»Du siehst, dass die Alufolie ein wenig hilft. Komm mit.«

Petrína zwängte sich mit der Wünschelrute in der Hand an Elínborg vorbei durch die Tür. Mit den wirr vom Kopf abstehenden Haaren sah sie aus wie die Karikatur eines verrückten Wissenschaftlers. Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Das Testbild des isländischen Fernsehens erschien.

»Krempel die Ärmel hoch«, sagte sie zu Elínborg, die ihr wortlos gehorchte.

»Komm mit dem Arm hier dicht an den Schirm, aber berühr ihn nicht.«

Elínborg hielt ihren Arm an den Schirm und sah, wie sich die feinen Härchen unter der Wirkung des Elektromagnetfelds aufrichteten. Sie kannte das auch von ihrem eigenen Fernseher, wenn er eingeschaltet wurde und sie sich in der Nähe befand.

»So waren die Wände in meinem Zimmer«, sagte Petrína. »Genau so. Die Haare haben einem zu Berge gestanden. Es war, als würde man direkt vor dem laufenden Fernseher schlafen. Die Wohnung ist nämlich umgebaut worden, verstehst du. Man hat Holzwände eingezogen, lauter Pressspanplatten, und dahinter liegen die ganzen elektrischen Leitungen.«

»Was glaubst du eigentlich, wer ich bin?«, fragte Elínborg vorsichtig, während sie den Ärmel zurückstrich.

»Wer du bist?«, fragte Petrína zurück. »Bist du nicht von den Stadtwerken? Ihr wolltet doch jemanden schicken. Bist du das nicht?«

»Leider nein«, antwortete Elínborg. »Ich habe nichts mit den Stadtwerken zu tun.«

»Ihr wolltet doch die Strahlung hier in der Wohnung messen«, sagte Petrína. »Da sollte heute jemand kommen. So kann es einfach nicht weitergehen.«

»Ich bin von der Kriminalpolizei«, entgegnete Elínborg. »Eine Straße weiter ist ein schweres Verbrechen begangen worden, und soweit ich weiß, hast du hier draußen jemanden beobachtet. Hier vor diesem Haus.«

»Ich habe heute Morgen mit einem Polizisten gesprochen«, sagte Petrína. »Wieso seid ihr jetzt schon wieder da? Und wo ist der Mensch von den Stadtwerken?«

»Das weiß ich nicht, aber ich kann dort gerne für dich anrufen, wenn du möchtest.«

»Es hätte schon längst jemand hier vorbeikommen sollen.«

»Vielleicht kommt heute Nachmittag jemand. Hast du etwas dagegen, mir noch einmal zu erzählen, was du gesehen hast?«

»Was ich gesehen habe? Was habe ich gesehen?«

»Dem Polizisten heute Morgen hast du erzählt, dass du in der Nacht zum Sonntag hier einen Mann gesehen hast. Stimmt das nicht?«

»Ich habe versucht, jemanden hierherzubekommen, damit sie die Wände inspizieren, aber auf mich hört ja keiner.«

»Hast du deine Vorhänge immer zugezogen?«

»Natürlich«, sagte Petrína und kratzte sich am Kopf.

Elínborgs Augen hatten sich an die Dunkelheit in der Wohnung gewöhnt, und jetzt sah sie, was für ein Durcheinander dort herrschte: alte Möbel, gerahmte Bilder an den Wänden und Familienfotos in Standrahmen. Auf einem Tisch befanden sich nur Bilder mit jungen Leuten und Kindern, und Elínborg vermutete, dass es die jüngsten Nachkommen oder Verwandten von Petrína waren. Überall quollen Aschenbecher von Zigaretten über, und Elínborg bemerkte etliche Brandlöcher in dem hellen Teppichboden. Petrína nahm den letzten Zug an ihrer Zigarette und drückte sie dann im Aschenbecher aus. Elínborg blickte auf ein großes Brandloch im Teppich und tippte darauf, dass der alten Frau eine Zigarette aus der Hand gefallen war. Sie überlegte, ob sie sich mit dem Sozialamt in Verbindung setzen sollte. Petrína war vermutlich eine Gefahr für sich und andere.

»Wenn du immer die Vorhänge zugezogen hast, wie kannst du dann hinunter auf die Straße sehen?«, fragte Elínborg.

»Na, hör mal, ich zieh sie einfach auf«, erklärte Petrína und sah Elínborg an, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank. »Was hast du gesagt, was du hier willst?«

»Ich bin von der Kriminalpolizei«, wiederholte Elínborg. »Ich würde dich gern nach dem Mann fragen, den du in der Nacht zum Samstag hier vor dem Haus gesehen hast. Erinnerst du dich daran?«

»Wegen dieser Strahlung kann ich kaum schlafen, verstehst du. Deswegen geistere ich herum und warte auf die. Siehst du meine Augen? Siehst du die?«

Petrína streckte den Kopf vor, um Elínborg ihre geröteten Augen zu zeigen.

»Das kommt von diesen Strahlen, so wirken die sich auf die Augen aus. Verfluchte Strahlen. Und außerdem habe ich ständig Kopfschmerzen.«

»Liegt das nicht eher an den Zigaretten?«, entgegnete Elínborg höflich.

»Also, ich hab hier am Fenster gesessen und auf die gewartet«, sagte Petrína, ohne auf Elínborgs Bemerkung einzugehen. »Ich hab da gesessen und die ganze Nacht gewartet und den ganzen Sonntag, und ich warte immer noch.«

»Auf was?«

»Auf die Leute von den Stadtwerken natürlich. Ich dachte, du wärst von denen.«

»Also, du hast hier am Fenster gesessen und auf die Straße geblickt. Hast du wirklich gedacht, die kommen in der Nacht?«

»Ich habe keine Ahnung, wann die kommen. Und dann hab ich diesen Mann gesehen, von dem ich euch heute Morgen erzählt habe. Ich dachte, dass der vielleicht von den Stadtwerken wäre, aber er ging am Haus vorbei. Ich hatte schon überlegt, ihn zurückzurufen.«

»Hast du den Mann schon früher einmal hier in der Straße gesehen?«

»Nein, nie.«

»Könntest du ihn mir beschreiben?«

»Da gibt’s nichts zu beschreiben. Weshalb fragst du nach diesem Mann?«

»Hier in der Nähe ist ein Verbrechen verübt worden. Diesen Mann muss ich finden.«

»Das kannst du nicht«, erklärte Petrína mit Nachdruck.

»Wieso denn nicht?«

»Du weißt doch gar nicht, wer er ist«, sagte Petrína, schockiert über Elínborgs Dummheit.

»Nein, deswegen möchte ich dich ja auch bitten, mir zu helfen. Es war also ein Mann? Du hast heute Morgen gesagt, er hätte eine dunkle Jacke und eine Mütze getragen. War das eine Lederjacke?«

»Nein, das weiß ich nicht. Er hat eine Mütze auf dem Kopf gehabt. Die war wahrscheinlich aus Wolle.«

»Hast du bemerkt, was für eine Hose er trug?«

»Keine besondere. Irgend so eine schäbige Trainingshose, nichts Besonderes. Der Reißverschluss war an den Beinen bis zu den Knien offen.«

»Ist er mit dem Auto gekommen? Hast du das gesehen?«

»Nein, ich habe kein Auto gesehen.«

»War er allein unterwegs?«

»Ja, er war allein. Ich habe ihn auch nur kurz gesehen, denn er bewegte sich sehr schnell, obwohl er hinkte.«

»Hinkte?«, hakte Elínborg nach. Sie konnte sich nicht erinnern, das in dem Protokoll des Polizisten gelesen zu haben, der am Tag zuvor mit Petrína gesprochen hatte.

»Ja, er hinkte, der arme Mann. Er hatte da so eine Antenne am Bein.«

»Und du hattest den Eindruck, dass er in Eile war?«

»Ja, bestimmt. Aber an meinem Haus gehen alle schnell vorbei, wegen der Strahlung. Der wollte bestimmt nicht, dass sein Bein was von der Strahlung abbekommt.«

»Was war denn das für eine Antenne?«

»Ich weiß nicht mehr, wie die aussah.«

»War es sehr deutlich, dass er hinkte?«

»Ja.«

»Und er wollte nicht, dass sein Bein Strahlung abbekommt? Was meinst du damit?«

»Deswegen hinkte er. Die Strahlung war so massiv. Richtig massive Strahlung im Bein.«

»Du hast diese Strahlung ebenfalls gespürt?«

Petrína nickte. »Was hast du gesagt, wer du bist?«, fragte sie dann. »Du bist nicht von den Stadtwerken? Weißt du, was ich glaube, woher das kommt? Willst du es wissen? Es ist alles die Schuld von diesem Uran. Massives Uran, das mit dem Regen runterkommt.«