Ahoi Polaroid - Sobo Swobodnik - E-Book

Ahoi Polaroid E-Book

Sobo Swobodnik

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Beschreibung

Klar Schiff – Land unter!

Urlaub machen, Seele baumeln lassen. So haben sich Plotek und Vinzi das vorgestellt, als sie zu ihrer Reise mit dem Hurtigruten-Schiff in Richtung Nordkap aufbrechen. Aber nichts da. Schon bei der Anreise im Nachtzug werden beide mit einer Leiche im Zugabteil konfrontiert, und kaum haben sie den Hafen verlassen, verschwinden auf mysteriöse Art und Weise mehrere Mitreisende. Der Urlaub scheint dahin, die beiden fortan mit Nachforschungen beschäftigt. Und dann tauchen auch noch diese Polaroidfotos auf...

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Zum Buch

Plotek und Vinzi haben ein Ziel: den hohen Norden, genauer gesagt das Nordkap. Dorthin soll es mit einem Hurtigruten-Schiff gehen. Mit dem Erlös eines mehr oder weniger legal in seinen Besitz gelangten Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner will Plotek seinem Kumpel einen lang ersehnten Traum erfüllen. Urlaub machen, Seele baumeln lassen. Aber nichts da. Schon bei der Anreise im Nachtzug von Berlin nach Oslo werden beide mit einer Leiche im Zugabteil konfrontiert. Und kaum haben sie mit der MS Finnmarken den Hafen verlassen, verschwinden auf mysteriöse Art und Weise weitere Mitreisende: ein evangelischer Pastor aus Nordhessen, ein ehemaliger Fußballprofi aus Ostdeutschland und ein schwäbischer Bundestagsabgeordneter. Als Plotek und Vinzi kurz darauf heimlich Polaroids untergeschoben werden, auf denen die Leichen der drei Vermissten in unappetitlichem Zustand zu sehen sind, scheint der Urlaub dahin. Was hat es mit den Polaroids auf sich, und was verbindet die drei Männer?

Zum Autor

Sobo Swobodnik, aufgewachsen auf der Schwäbischen Alb, studierte Schauspielerei, arbeitete als Rundfunkredakteur und Theaterregisseur. Er hat mehrere Romane veröffentlicht und ist auch als Filmemacher tätig. Sein Roman Kuhdoo war ein großer Erfolg, der es bis auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte. Ahoi Polaroid ist der sechste Kriminalfall um und mit Paul Plotek. Der Autor lebt heute in Berlin.

Inhaltsverzeichnis

Zum BuchZum AutorInschriftKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15DanksagungCopyright

»So fuhren wir dann, meist bei schönem Wetter, seltener in Regen und Nebel, zwischen Sunden und Inseln hindurch längs der norwegischen Küste nach Norden. Welch herrliches Land! Ich möchte wissen, ob es in der ganzen Welt ein Fahrwasser gibt wie hier.«

Fridtjof Nansen

»Wer in Zukunft leben will, muss in der Vergangenheit blättern.«

André Malraux

»Ich ist ein anderer.«

Arthur Rimbaud

1

Eigentlich hätte Plotek gar nicht mehr am Tresen sitzen wollen, hier im Froh und Munter, in seiner Lieblingsgaststätte in München, Stadtteil Neuhausen. Eigentlich hätte er nirgends mehr sitzen wollen. Stehen auch nicht, liegen – vergiss es. Plotek war an einem Punkt angekommen, wo es gleichgültig ist, ob man sitzt, liegt oder steht. Wo man selbst der Punkt ist. Ein Mückenschiss, ein Nichts. Weißbier trinkend. Jenseits von Gut und Böse. In den Abgründen seiner selbst verfangen wie eine Spinne, die sich selbst einwebt.

Aber was hätte er machen sollen? Oder besser: Wo hätte er hinsollen? Da gab es keine Wahl, keine Alternative. Höchstens: Du hast keine Chance – also ersauf sie; und zwar im Unertl Weißbier.

»Prost«, sagte Susi und stellte ein neues Bier auf den Tresen. Die Schaumkrone lachte schadenfroh, als wollte sie sagen: Selber schuld, Plotek! Womit sie auch ein wenig Recht hatte. Plotek nahm einen Schluck vom Weißbier, saugte dem Schaum das Grinsen weg und sinnierte vor sich hin. Natürlich hätte er auch woanders sitzen können. Egal wo. An einem See, in der Natur, im Englischen Garten, an der Isar, im Schatten auf dem Viktualienmarkt. Oder liegen. In seinem Zustand wäre liegen allemal angebrachter gewesen. Auf der Couch, im Gras, im Krankenhaus. Es würde ihm dadurch aber sicher nicht bessergehen. Das Problem war nicht der Ort, die Lokalität. Auch nicht die Horizontale oder Vertikale. Das Problem war einerseits viel einfacher. Andererseits auch wieder erheblich komplizierter. Das Problem war die Person. Plotek selbst. Plotek wurde zum Problem. Sich selbst und anderen gegenüber. Wie zuletzt Agnes, seiner Freundin. Oder besser: Nicht-mehr-Freundin.

Früher waren sie ein Herz und eine Seele. Unzertrennlich auf immer und ewig. Bis dass der Tod … – ohne verheiratet zu sein. Heute war nichts mehr davon übrig. Eher im Gegenteil. Öl und Wasser. Pest und Cholera. Die anfängliche Liebe von vor über einem Jahr wurde mit der Zeit immer mehr zur Gewohnheit. Jetzt muss man wissen, dass es von der Gewohnheit zur Gleichgültigkeit so weit ist wie vom Tresen bis zum nächsten Zigarettenautomaten. Und wenn man wie Plotek ein starker Raucher ist, dann löst die Gleichgültigkeit dieses Wort, Liebe, bald in seine fünf Buchstaben und schließlich in Rauch auf, ob man will oder nicht. Was bedeutet: Die emotionale Schnittmenge zwischen Plotek und Agnes wurde immer kleiner. Auch die intellektuelle. Die inhaltliche, die formale, alles. Die Gemeinsamkeiten, die anfänglich noch ihre Freundschaft bestimmten. Die unwichtigen, aber liebgewonnenen Banalitäten, die ihr Glück prägten. Das Lachen nach einer schmeichelhaften Anzüglichkeit des einen über den anderen. Das genüssliche Schmatzen nach dem Kuss des anderen. Und, und, und. Alles eben, was Liebende von Nichtliebenden unterscheidet. Alles, was Liebende in den Augen der Nichtliebenden zu Hornochsen macht, reduzierte sich schließlich nur noch auf den Schaum des gemeinsamen Weißbiers im Froh und Munter. Das war schließlich, bei aller Liebe oder Nichtliebe, dann doch zu wenig. Zu wenig für mehr. Mehr als sich anschweigen und trinken. Für eine Beziehung. An diese seit geraumer Zeit im Raum stehende Nichtbeziehung schmiegte sich die Katastrophe wie ein kastrierter Kater an nackte, warme Waden.

»Das ist doch keine Beziehung, das ist doch, ist doch …« Agnes suchte nach Worten und fand welche: » … ein Scheißdreck !«, schrie sie in Ploteks Küche, während der gerade in den Kühlschrank guckte und darin, ob er wollte oder nicht, die in ihm seit Tagen schlummernde Leere eins zu eins gespiegelt sah. Da war nichts, im Kühlschrank und in ihm. Nichts von Zuneigung. Hingabe. Zärtlichkeit. Mitgefühl. Nichts von Hungerstiller oder Appetitanreger. Gar nichts. Weniger als ein Scheißdreck, sozusagen.

»Stimmt«, sagte Plotek mehr in den Kühlschrank hinein als an Agnes gerichtet, so wie man »Ich geh dann mal« sagt.

»Was?«

»Nichts« – wieder in den Kühlschrank hinein und noch abwesender, so ähnlich wie: »Bin schon weg.«

»Nichts, nichts, immer nichts!«, schrie Agnes, so dass Ploteks Abwesenheit sogleich dahin war. Er bekam es auch ein wenig mit der Angst zu tun, weshalb er den Kühlschrank jetzt unauffällig, beinahe lautlos schloss.

»Das ist es ja«, brüllte Agnes. »Mit dir ist nichts, nichts, gar nichts anzufangen, niemals, nirgends etwas. Du bist nichts. Ein Niemand. Nicht greifbar, nicht fassbar, nicht händelbar, nicht diskutierbar, nicht streitbar. Einfach nicht. Nichts. Nicht einmal mehr vögelbar.«

»Von Hanne schon«, sagte Plotek, leise, kaum zu verstehen. Er hätte es lieber nicht gesagt. So wie er meistens lieber nichts sagte. Aber irgendwie war es ihm herausgerutscht. Achtlos, unbeabsichtigt, wie ein hinterhältiger Rülpser. Der trotz Entschuldigungen und Schamesröte nicht mehr rückgängig zu machen war. Normalerweise sagte Plotek nie etwas. Schon gar nicht in so einem Streit. Überhaupt nie in einem Streit. Agnes sagte dagegen umso mehr, so dass es Plotek vorkam, als hätte er ein Verhältnis mit seinem Fernseher. Agnes zerlegte Plotek regelmäßig mit Worten, mit einer Zunge wie ein Fleischermesser, ein Hackebeil. Dann faschiert, paniert und zu mundgerechten Häppchen gebraten. Um diese dann genüsslich zu verspeisen.

Wie jetzt. Dieselbe alte Leier. Vorwürfe, Anschuldigungen, soll heißen: Eifersucht. Ein Wort ergab das nächste, und alle zusammen drängten Plotek in die Ecke. Als wäre er nicht vierzig, sondern vier und hätte die Hosen gestrichen voll.

»Was, was hast du da gesagt?!« Mehr Vorwurf als Frage. »Willst du mich verarschen oder was?!« Mehr Drohung als Feststellung. »Sag endlich was, verdammt nochmal!«, brüllte Agnes. Das hörte sich jetzt ein bisschen an wie in den nachmittäglichen Talkshows, wo die Alte mit Speichel vor dem Mund dem Alten den Marsch bläst. »Mach endlich dein Maul auf!«

Machte Plotek dann auch. Nicht weit, aber immerhin, und er sagte »Ja«. Was eher wie »Nein« klang. Was auch Agnes zu irritieren schien.

»Was, ja?«

»Ich habe dich betrogen«, sagte Plotek, wie wenn man sagt: »Ich hab Schweißfüße.«

Obwohl er es selbst gar nicht als Betrug hätte bezeichnen wollen. Denn was ist schon Betrug? Beschiss mit Absicht! Also: Abwrackprämie, Agenda 2010, Wirtschaftsstandort, Bad Banks, Tour de France, FDP, EU, Politik, Globalisierung, Kapitalismus und alles.

Aber ein kleines erotisches Abenteuer mit seiner ehemaligen Schulkameradin Hanne Engel auf der Schwäbischen Alb nach der Beerdigung seines Vater doch nicht! Oder? Sex in freier Natur hätte man auch dazu sagen können. Das ist vielleicht Beschiss, aber ohne Absicht. Nicht gewollt, einfach passiert. Und höchstens in der unbedeutenden Kategorie Kleiner Seitensprung zu verbuchen; natürlich ohne Wissen und Erlaubnis von Agnes. Das schon. Mittlerweile auch mit ihrem Wissen. Aber rückwirkend noch immer keine Erlaubnis.

»Was?« Jetzt stand Agnes plötzlich mit dem Rücken zur Wand. Als wäre sie vier und ohne Hose, nackt und unter sich einen dampfenden Kackhaufen. Nicht nur unter sich, auch einen ihr gegenüber. Zumindest kam er Agnes jetzt so vor. Das Nichts vis-à-vis von ihr wurde zu einem stinkenden Fäkaliensprinkler. Folge: Zorn. Immer stärker anschwellend. Am Ende war Agnes so zornig, dass sie sich völlig vergaß. Alles vergaß. Abendland, Aufklärung, Kant, These, Antithese, Sprache, Konventionen, Moral, Disziplin. Sie warf alles über den Haufen, und dann knallten ihr, von einem auf den anderen Moment, dermaßen die Sicherungen durch, dass Plotek glaubte, ein kleines Rauchwölkchen über ihrem wutschnaubenden Schädel zu erkennen. Soll heißen: Die 55-jährige Hörfunkredakteurin des Bayerischen Rundfunks, Dr. Agnes Behrendt, wurde zum Tier. Der Mensch zur Bestie. Als solche sprang sie Plotek jetzt an den Hals. Sie schlug mit ihren Handflächen wie mit Topflappen auf Ploteks Wangen ein, dass es klatschte wie beim Schlussapplaus im Theater. Dann wurden die Handflächen zu Fäusten und die Wangen zum Bauch. Agnes prügelte auf Plotek ein, als stünde da nicht ihr Freund, sondern ein pädophiler Mehrfachvergewaltiger, gerade inflagranti im Englischen Garten bei Regen erwischt.

Natürlich hätte er zurückschlagen können. Körperlich. Mit Muskeln, Kraft und allem hätte er Agnes zweifellos Paroli bitten können. Aber keine Chance. Kaum eine Schlacht wird mit den Fäusten geschlagen, geschweige denn gewonnen, sondern mit dem Kopf. Plotek war noch nie ein großer Schläger. Plotek war schon als Kind ein Hosenscheißer. Ein Feigling. Einer, der lieber weglief, als sich der Konfrontation zu stellen. Nicht dass er Gewalt grundsätzlich ablehnte. Das nicht. Wäre Agnes vielleicht nicht Agnes, sondern ein Mann, dazu noch ein großes Arschloch  – etwa der Chefredakteur einer der größten deutschen Boulevardzeitungen –, dann hätte er vielleicht schon mal, aus einer sicheren Deckung heraus, zugelangt. Aber Agnes war eine Frau. Wenn auch momentan eine durchgeknallte, ziemlich aggressive Frau. Da verbat sich jegliche Art von Gewalt. Für Plotek. Das war dann wieder Sozialisation, Erziehung, Kindheit. Obwohl bei Plotek zu Hause auf der Schwäbischen Alb viel geschlagen wurde. Im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule. Da gab es mehr Hirnschnalzer und Backpfeifen als Vaterunser. Bis in die sechziger, siebziger Jahre wurde im Schwäbischen ordentlich hingelangt. Zuerst gab es die Ohrfeige, dann erst wurde einem gesagt, warum. Manchmal wurde auch gar nichts gesagt. Dafür gab es noch mehr Ohrfeigen. Heute würde man dazu »Kindesmissbrauch« sagen. Früher firmierte das unter »Erziehung«. Kein Wunder eigentlich, dass die Kinder dann irgendwann auch mal zurückschlugen. Trotz Religion, Katholizismus, und Wenn dich einer auf die rechte Wange … dem halte die linke und alles. Da hat die Linke gedacht: Leck mich. Und Molotowcocktails gebastelt. Vielleicht war die Jugend deshalb damals so für den Terrorismus empfänglich. Vielleicht konnte deswegen erst die südwestdeutsche Terrorszene entstehen, die dann in den siebziger und achtziger Jahren die Republik mit Hirnschnalzern und Backpfeifen malträtierte. Im übertragenen Sinne jetzt. Ensslin, Mohnhaupt, Klar: Da wurde eine ganze Generation herangeprügelt, nach der Maxime: Wenn die Argumente ausgehen, kommen die Watschen zum Einsatz.

Was aber wie gesagt noch nie Ploteks Disziplin war. Schon gar nicht in der weiblichen Gewichtsklasse. Frauen konnte er nicht schlagen, auch wenn sie selbst hinlangten. Wie Agnes jetzt. Es war das erste Mal, dass sie zuschlug. So richtig. Hin und wieder hat sie Plotek beim Liebesspiel den Hintern versohlt, in die Brustwarzen gebissen oder den Rücken zerkratzt. Das war ihm, Hand aufs Herz, nicht unangenehm. Im Gegenteil. Aber das jetzt schon. Immer brutaler, immer heftiger schlug Agnes auf ihn ein. Als wäre er ein Strohsack und sie der Dreschflegel. Er hielt die Hände schützend über den Kopf, schloss die Augen und stellte sich tot. Er gab keinen Ton mehr von sich. Irgendwann würde sie schon aufhören, dachte er und gab sich den Schlägen hin, so wie man sich Physiotherapeuten hingibt. Oder Zahnärzten. Fatalistisch, emotionslos, desinteressiert. Mit nichts als der Hoffnung auf das Ende. Das kommen musste. Und dann auch kam.

Völlig außer Atem, schnaufend, als hätte sie fünfzig Meter Festholz in Rekordzeit gehackt, ließ Agnes irgendwann die Fäuste sinken. Sie machte sich, selbst wie ein angeschlagener Boxer wankend, weinend davon. Zurück blieb Plotek. Noch immer auf dem Boden zusammengesunken. Ein Häufchen Elend. Windelweich geprügelt, mit blutender Nase, aufgeplatzter Lippe und Augenbraue, Schrammen im Gesicht und Schmerzen am ganzen Körper. Plotek kam sich vor wie ein alter ausrangierter Fernseher am Straßenrand. Der Bildschirm rissig, die Innereien heraushängend, auf dem Kopf stehend und ohne Fernbedienung. Bei Regen. In der Nacht.

Eine ganze Nacht lang saß er auf dem Boden in der Küche und konnte sich nicht bewegen. Erst am Morgen schleppte er sich ins Wohnzimmer auf die Couch und blieb dort bewegungslos den ganzen Tag lang liegen. Schließlich ging es besser. Er rappelte sich wieder auf, ging ins Bad, betrachtete sich im Spiegel und erschrak.

»Nicht kratzen, sonst wird es nur noch schlimmer!« Es war Susi hinter dem Tresen, die nach Ploteks Hand griff. Mir egal, dachte Plotek, soll es doch, und strich über die juckende, mittlerweile verschorfte Schramme im Gesicht. Soll es doch so schlimm werden, dass es schlimmer gar nicht mehr geht. Geht das überhaupt? Und was dann? Was, wenn die Steigerung an ein Ende gelangt? Wenn der Superlativ nicht mehr getoppt werden kann? Das Ende der Fahnenstange erreicht ist? Kommt dann der unwiderrufliche Absturz? Oder ein Zustand jenseits von oben und unten? Gut und böse? Und wie fühlt der sich dann an? So ähnlich wie jetzt vielleicht? Wahrscheinlich. Eine gefährliche Mischung aus Schmerz, Wut und Trauer. Eingebettet in Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Bis hin zur völligen Gleichgültigkeit. Folge: Depression, Agonie, Stillstand. Katastrophe.

Apropos: Katastrophen kündigen sich in der Regel an. Die tauchen nicht einfach so unvermittelt mit einem lauten »Hallo!« auf und hinterlassen Fernseher an Straßenrändern. Ein historisches Stadtarchivgebäude stürzt nicht einfach so ein, wenn nicht wochenlang vorher wie blöd darunter herumgebuddelt wird. Auch nicht das Stadttheater auf dem Fernsehbildschirm über der Tür im Froh und Munter, das gestern im Badischen in die Knie gegangen war. In diversen Sondersendungen wurde seit Stunden über die Gründe spekuliert, warum dieser Betonprachtbau aus den Siebzigern um 23 Uhr 35 plötzlich wie ein Kartenhaus zusammengefallen war. Natürlich kommt es hin und wieder vor, dass ein Gebäude kapituliert und sich wider Erwarten vorzeitig zur Ruhe legt. Aber in der Regel helfen da zum Beispiel Flugzeuge nach, wie bei den Twin Towers in New York. Oder Bauarbeiter, die im Dreck wühlen, um eine U-Bahn zu bauen. Wie beim Stadtarchiv in Köln.

Was in der badischen Theaterstadt nachgeholfen hat, war völlig unklar. Alles Mögliche wurde in den Sondersendungen vermutet, von Baumängeln bei der Installation einer neuen Lüftungsanlage über Spätfolgen des Pfuschbaus in den siebziger Jahren bis zu einem Erdbeben, wegen der Plattentektonik direkt unter dem Theater. Und nicht zuletzt ein terroristischer Anschlag, was von den mediokren Analysten und selbst ernannten Fachleuten am Bildschirm ebenso in Betracht gezogen wurde. Tatsächlich hat es erst kürzlich eine Bombendrohung im Stadttheater vor der Premiere eines Stücks von einem jungen schwulen Dramatiker aus Berlin gegeben. Der nicht nur im Rollstuhl saß, sondern auch noch Jude war und offenbar ganz besonders originell sein wollte. Porno Purka hieß das Stück. Es schien nicht nur Tabus brechen, sondern auch noch Zeichen setzen zu wollen. Plotek vermutete allerdings, dass es dem jungen Mann, trotz Homosexualität und Rollstuhl, einfach etwas zu langweilig in der Birne geworden war. Es ging um nackte Muslime, um einen Ziegenbock, der sich in eine Burka verliebte, und einen obdachlosen orthodoxen Juden, der unter falschem Namen in einer Travestiebar als Tänzer anschaffte. Das Stück war ein kruder, manche würden sagen: kranker Mix, dem schon von weitem der Hang zur Grenzüberschreitung anzusehen war. Provokation mit Ansage. Mehr war es leider nicht. In Berlin, Hamburg, London oder Paris hätte sich niemand darüber aufgeregt. Die durchschaubare Brüskierung höchstens mit einem müden Achselzucken quittiert. Im Badisch-Schwäbischen, wo die Kehrwoche Kulturgut ist und Tannenzapfen nicht im Wald hängen, sondern verniedlicht als Tannenzäpfle im Kühlschrank liegen, war allerdings der Teufel los. Nicht nur die dortigen bürgerlichen Parteien brachten ihre Bedenken wortgewaltig zum Ausdruck. Auch der einfache Mann von der Straße protestierte gegen die Verschwendung von Steuergeldern für so einen »Humbug!«, »Scheißdreck!« , »Scheißabebele!« Nicht zuletzt legten diverse religiöse Vertreter und Interessenverwalter, vom Zentralrat bis zu den muslimischen Verbänden, ihr Veto ein. Nur der Intendant des Stadttheaters war mit dem Auftrieb ganz zufrieden. Endlich mal wieder so etwas wie ein Skandal. Oder besser: Skandälchen. Für den sich auch die überregionale Presse, das Fernsehen und alles interessierte. Sogar das Heute Journal hatte in seinem hypermodernen Studio von Mainz kurz herübergeschaut und seinen Beitrag mit »Was darf Kunst?« aufgemacht. Nun, Kunst darf alles, hätte man denken können, wenn es denn Kunst ist. Was bei diesem Stück erst noch entschieden werden musste. Sicher nicht vom Mann auf der Straße, vom Zentralrat oder den Steuergeldern … Für den Intendanten war es im Prinzip völlig zweitrangig, ob das Theaterstück Kunst, gut und notwendig oder was auch immer war. Hauptsache, er bekam genügend Aufmerksamkeit. Immerhin war er dafür bekannt, gern im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen.

Die Bombendrohung verpuffte schließlich nach Räumung und Durchsuchung mit Hunden – keine Bombe nirgends  –, und dann verpuffte das ganze Gebäude. Dass zwischen Einsturz und Drohung ein Zusammenhang bestehen könnte, lag zwar auf der Hand. Dass das Haus aber erst fünf Wochen nach der Premiere und auch noch in den Theaterferien, in denen das Gebäude praktisch verwaist war, einstürzte, schien zum einen eine glückliche Fügung. Zum anderen unerklärlich. Sonderkommissionen wurden gebildet. Talkshowrunden und Brennpunkte gaben sich die Klinke in die Hand. Selbst ernannte Fachleute und fremdbestimmte Experten hatten Hochkonjunktur. Vielleicht hat der Intendant die Bude selbst hochgehen lassen, hätte Plotek beim Blick hinauf zum Fernseher über der Tür im Froh und Munter denken können. Wenn er gedacht hätte. Er hat gedacht, aber nicht daran. Nicht so kleinteilig, sondern allgemeiner, nämlich: Wenn man genau hinschaut, hinhört und sensibel ist oder glaubt, es zu sein, kann man lange vorher das Brodeln der Katastrophe hören. Dann sind die Ursachen erkennbar, die dazu führen, dass die Welt, die kleine im Badischen wie die große in Übersee und darüber hinaus, aus den Fugen gerät. Aber wer will sich schon mit der Katastrophe herumschlagen, wenn sie noch gar nicht da ist? Nach mir die Sintflut, und davor: kein Gedanke daran. Verhindern lässt es sich meistens ohnehin nicht. Das ist im Großen und Ganzen nicht anders als im persönlichen und privaten Bereich.

Lange hat es in der Beziehung zwischen Agnes und Plotek gebrodelt, geköchelt, gezischt und gedampft. Bis dann schließlich die Fetzen geflogen sind. Irgendwie war da schon lange ein Sprung in der Tektonik. Wen wundert’s? Es gibt weltweit sicher mehr Todesfälle auf dem Schlachtfeld der Ehe, an der Beziehungsfront, als bei kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten. Gegen den prügelnden Ehemann im Wohnzimmer sind die Taliban am Hindukusch Betschwestern. Der eigentliche Terror findet nicht zwischen den Kulturen, sondern in der Familie statt. Der Terrorist sitzt mit am Tisch. Bagdad ist in Bielefeld. Gaza neben Gütersloh. Die Mudschaheddin heißen Maier und Müller. Bin Laden, Ahmadinedschad sind in Böblingen geboren, haben eine Hollywoodschaukel im Garten und arbeiten bei Daimler. Am Wochenende wird gegrillt und der Ehefrau nach fünf Bier der Arsch versohlt. Vielleicht sollte die schnelle Eingreiftruppe mal in den idyllischen Einfamilienhäusern mit Jägerzaun anklopfen. Oder gucken der Verteidigungsminister und das Parlament vielleicht deshalb so weit über den Tellerrand hinaus, um von den eigenen Haaren in der Suppe abzulenken? Von der Suppe selbst? Das dachte Plotek jetzt. Während über der Tür die Welt der Badenser in weiteren Sondersendungen mit hysterischem Eifer auseinandergenommen wurde, als wäre die Welt zwischen Mannheim und Baden-Baden eine Hüpfburg.

»Wie war’s beim Arzt?«, fragte Susi, wie wenn man fragt: »Lebst du noch oder stirbst du schon?«

Natürlich verheimlichte Plotek Agnes’ Gewaltexzess. Sowohl Susi als auch allen anderen gegenüber. »Treppe«, sagte er kleinlaut, »Weißbiere, Tequilas« und: »Dunkel, sehr dunkel«. Susi und die anderen reimten sich den Rest zusammen. Ein wissendes Lächeln dokumentierte den Übergang vom Mitleid zur Schadenfreude.

»Was hat der Doktor denn gesagt?« Susi ließ nicht locker.

Der Doktor war eine Ärztin, hätte Plotek jetzt sagen können. Sagte es aber nicht, sondern dachte an die charmante Frau Doktor Hering. Urlaubsvertretung von Doktor Hohenthaler. Ihr hatte er natürlich auch nichts von Agnes’ schlagkräftigen Konfliktbewältigungsmaßnahmen erzählt. Obgleich Frau Dr. Hering ihn, wie es schien, auch ohne Worte und Erklärungen durchschaute.

»Ziehen Sie sich aus«, sagte sie. »Und legen Sie sich hin.« Nackt bis auf die Unterhose lag Plotek auf der Pritsche und erinnerte mit seinen Wunden und blauen Flecken an Kinderzeichnungen. Oder an das Gemälde eines unbegabten, expressionistischen Malers. Frau Dr. Hering betrachtete jedes Hämatom und jeden Bluterguss ganz genau.

»Das waren harte Stufen, eine hohe Treppe«, sagte sie und strich mit einer Salbe über die zum Teil faustgroßen und angeschwollenen Stellen. Plotek biss auf die Zähne und fing langsam an, sich in die Ärztin zu verlieben. Sie erinnerte ihn immer mehr an die Moderatorin vom Heute Journal, die mit den kühlen stahlblauen Augen.

Als sie nach der Untersuchung die Diagnose mit »Das sieht gar nicht gut aus!« abschloss, war Plotek ihr mit Haut und Haaren verfallen. Schlechte Voraussetzungen für einen Hypochonder wie ihn.

»Aber Sie werden es überleben!«

Plotek zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal.

»Ich fürchte, wir werden uns in nächster Zeit öfter sehen.« Hoffentlich, dachte Plotek, dem dies wiederum nicht egal war. Er merkte auch, trotz Schmerzen, eine kleine Erektion in der Unterhose. Als wäre das auch der Frau Doktor Hering nicht verborgen geblieben, fügte sie hinzu: »Sie können sich wieder anziehen.«

Beim nächsten Mal schien die Frau Doktor weniger wegen Ploteks derangiertem Körper beunruhigt zu sein, der mittlerweile farblich an ein actionpainting-Gemälde erinnerte, sonst aber erstaunlich gut heilte, sondern vielmehr wegen seiner Laborwerte.

»Cholesterinspiegel«, sagte sie, wie wenn man »Motorschaden!« sagt. Und dann zur näheren Erklärung: »Ihrer ist viel zu hoch!«

Plotek, gefangen in den blauen Augen der Ärztin, nickte.

»Ich fürchte, das liegt an Ihrer Ernährung.« Frau Hering ließ ihren Blick nur ganz kurz, aber dennoch vielsagend über Ploteks Bauch schweifen.

»Essen Sie gerne Schweinsbraten?« Das war natürlich eine rhetorische Frage. Um das zu sehen, brauchte es keine Ärztin. Friseuse hätte auch gereicht. Finanzbuchhalterin, Feinmechanikerin. Alles. »Ich schlage vor, Sie stellen Ihren Speiseplan ein wenig um.«

Sie kramte in einer ihrer Schubladen. Was Plotek einen kurzen Blick in ihr Dekolleté ermöglichte und ihm hernach einen mittelprächtigen Schweißausbruch bescherte.

»Ich gebe Ihnen da mal was mit.« Sie zog ein Merkblatt mit Ernährungstipps aus der Lade und reichte es Plotek. Von wegen »ein wenig«. Das war ziemlich viel. Zu viel. Das war kein Merkblatt. Das war eine Kampfansage an kulinarische Errungenschaften der Zivilisation. Eine Kriegserklärung an die mitteleuropäische Gourmetküche. An Schweinsbraten, Bratwurst, Bratkartoffeln, luftgetrocknete Salami, Serranoschinken, Schinken generell, Schokolade. Quasi: An alles, was schmeckte! Das Merkblatt der Frau Doktor beunruhigte Plotek mehr als seine gestauchten Rippen, die hässlichen Blutergüsse und die Platzwunden. Hier wurden nicht nur seine Essgewohnheiten, sondern sein bisheriges Leben, sein Lebenswandel generell in Frage gestellt. Und damit auch er selbst. Das würde nicht nur einen veränderten Speiseplan zur Folge haben, sondern auch eine handfeste Depression. Cholesterin okay, Psyche am Arsch. Das kann es ja wohl auch nicht sein, dachte Plotek. Und bestellte sich erst mal einen Schweinsbraten mit Biersauce und Semmelknödel.

»Lass es dir schmecken«, sagte Susi und stellte das, was unter der Kategorie Bitte meiden auf dem Merkblatt stand, vor Plotek auf den Tresen. Es dampfte verführerisch und umschwänzelte seine Nase wie das Dekolleté der Ärztin seine Augen. Aber denkste. Der Appetit war Plotek auf einmal vergangen.

»Mensch, lass dich doch nicht so hängen!« Susi schenkte einen Tequila ein und stellte ihn vor Plotek auf den Tresen. »Wird schon wieder!«

Und tatsächlich: Kurzeitiges Flackern im Dunkeln. Ein Licht, klein, spärlich. Mehr Kerze als Lampe. Aber ein Ende des Tunnels. Die Tür ging mit einem Rumms auf, und mitten in der Gaststätte erschien ein Rollstuhl, zitternd, wie vom badischen Beben herbeigebombt. Im Rollstuhl saß, als wären es die Heiligen Drei Könige, nur allein, ein Mann ohne Beine, dick, mit ballonähnlichem Bauch, bekleidet mit schwarzer Hose, schwarzer Jacke und weißem Hemd. In dem Gesicht strahlte durch den verwilderten Bart ein Lachen, das das des Dalai-Lama zu einer grimmigen Fratze degradierte. Am Rollstuhlgriff hing ein etwas größerer Sportbeutel aus Polyester.

»Plotek!«

Plotek drehte sich auf dem Barhocker um. Das Froh und Munter schien plötzlich wie die Wüste Sinai, und das Licht im Tunnel verstärkte sich zum brennenden Dornbusch: »Bist du’s?«

Als Antwort erhielt er ein noch strahlenderes Lachen, das dabei schadhafte Zähne herzeigte wie kostbares Familienbesteck. »Ich bin, der Ich sein werde!«, sprach der Mann und bewies damit sein Gespür für außerordentliche Situationen und biblische Zusammenhänge.

»Vinzi?«

»Plotek!«

»Das darf doch nicht wahr sein!« War es aber. Das war tatsächlich Vinzi, der Vinzi.

Plotek sprang auf und Vinzi um den Hals. Ganz spontan. Was ihm kurze Zeit später ein wenig peinlich war. Plotek war keiner, der Küsschen verteilte. Keiner, der gern umarmte. Körperlicher Kontakt war ihm meist zuwider. Nur jetzt gerade nicht. Jetzt drückte er Vinzi, als ob sie sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen und durch Zufall in der besagten Wüste getroffen hätten. Natürlich hätte Plotek fragen können, ja müssen, was den von der Schwäbischen Alb stammenden Vinzi nach München verschlagen hatte. Aber vergiss es. Musste er gar nicht. Wusste er ohnehin. Jetzt muss man wissen, dass Plotek und Vinzi sich erst vor ein paar Monaten auf der Beerdigung von Ploteks Vater im ostalbschwäbischen Lauterbach getroffen und angefreundet hatten. Und auch, dass im Zuge der Beerdigung und Ploteks Aufenthalt in Lauterbach ein paar unschöne bis ziemlich hässliche Dinge an die Oberfläche gespült worden waren. Aber viel wichtiger war, dass die beiden über Umwege und Unwägbarkeiten an ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner geraten waren. Marcella hieß das Werk. Expressionismus im Original: sauteuer. Die mehr oder weniger legale Hinterlassenschaft von Ploteks Vater. Also eher weniger legal, soll heißen: gestohlen. Vom Vater. Ohne dass es irgendjemand gewusst hatte. Außer Vinzi und Plotek. Beste Voraussetzungen für ein gutes Geschäft, davon war Vinzi überzeugt. Plotek auch ein bisschen. Sie hatten den Plan gefasst, dass Vinzi Marcella heimlich verkaufen sollte, nachdem die Zeit ein paar Wunden geheilt hatte und Gras über die Sache gewachsen war. Und dann würden sie sich mit dem Erlös einen lang ersehnten Traum von Vinzi erfüllen. Nämlich mit einem Hurtigruten-Postschiff um Norwegen herum bis zum Nordkap fahren.

»Fahren wir?«, fragte Vinzi.

»Fahren wir!«, sagte Plotek.

»Um halb elf morgen früh vom Hauptbahnhof im Zug nach Berlin«, sagte Vinzi und strahlte dabei. »Von da dann im Nachtzug nach Malmö. Dann weiter nach Göteborg und Oslo. Von Oslo per Bus nach Bergen, wo das Hurtigruten-Schiff auf uns wartet.«

»Na, da habt ihr ja noch ein bisschen Zeit«, mischte sich Susi ein. Sie stellte zwei Tequila und zwei Weißbiere auf den Tresen.

»Prost.«

»Prost.«

Das Wiedersehen wurde ausgiebig und gebührend gefeiert. Was zur Folge hatte, dass Plotek und Vinzi immer betrunkener wurden und Susi ihnen immer missmutiger dabei zusah. Während im Fernseher über der Tür eine Sondersendung die nächste jagte.

»Vermutlich rührt es von der Kanalisation her«, machte sich einer der selbst ernannten Experten, den vorher keine Sau gekannt hatte, im Fernsehen wichtig und meinte die Ursache für den Theatereinsturz. »Es ist zu vermuten, dass es in der Kanalisation Bewegungen gegeben hat, die eine Kettenreaktion auszulösen imstande waren und dann das Gebäude, von unten her sozusagen, langsam, womöglich über Wochen hinweg, zum Einsturz brachten.«

Vinzi tippte sich an den Kopf. »Wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, dann ist eben Scheiße schuld.«

Während Susi und Vinzi über Wahrscheinlichkeit und Vorsehung diskutierten, ging Plotek zwischenzeitlich nach Hause. Er stopfte ein paar Klamotten und das Nötigste für so eine Reise in seine Sporttasche, auf der immer noch Tip&Tap als Aufdruck zu erkennen waren, die Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft von 1974. Anschließend kehrte er ins Froh und Munter zurück und setzte sich wieder neben Vinzi an den Tresen.

»Prost!«

»Prost!«

Bis zum Morgengrauen, saßen sie dort und tranken. Irgendwann hatte Susi die Schnauze voll. Sie wollte den Laden schließen und nach Hause ins Bett. Aber denkste. Vinzi schob ihr drei Fuffziger zu und sagte: »Privatfeier!«

Plotek schaute sich um. Die Feier schien jetzt tatsächlich ganz privat zu sein. Soll heißen: Das Froh und Munter war bis auf die drei vollkommen leer. Kein Gast nirgends. Auch die Stühle waren schon hochgestellt. Das Licht zurückgedimmt. Susi war normalerweise nicht bestechlich, aber jetzt steckte sie die Scheine ein und legte den Schlüssel auf den Tresen. Sie löschte das Licht in der Gaststätte, ließ nur mehr eine Lampe über dem Tresen brennen und sagte: »Wenn ihr voll seid, schließt ab und schmeißt den Schlüssel in den Briefkasten. Gute Nacht!«

»Nacht!«

An der Tür blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu Plotek um. »Ach so, Plotek, schreib mir ’ne Karte, klar?«

»Klar.«

Sie ließ die beiden wie zwei schattige Felsen in karger Landschaft im schummrigen Licht zurück. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, fingen die beiden an, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Dabei gelangten sie immer weiter zurück, so dass sie am Ende in der gemeinsamen Jugend feststeckten. Was Plotek eigentlich gar nicht so recht war. Plotek war kein Mann der Erinnerungen. Kein Mann für die Vergangenheit. Plotek hatte sich ganz und gar der Jetztzeit verschrieben. Lebte im Hier und Heute. Oder besser: trank im Jetzt und Augenblick. »Prost!«

»Prost!«

Auch die Zukunft war für Plotek irrelevant. Das sagte sich jetzt so einfach. Stimmte aber wirklich. Plotek scherte sich nicht um das Morgen. Manchmal auch nicht ums Heute. Und ab und zu auch nicht um sich selbst. Ganz anders dagegen Vinzi. Der war jetzt nicht mehr zu bremsen. Er spielte mittlerweile auf dem Barhocker sitzend und mit seinen kleinen Stummelbeinen wackelnd so manch kuriose Dorfanekdote nach.

Irgendwann am Morgen, als vereinzelte Strahlen der aufgehenden Sonne vorwitzig zu den Fenstern hereinblinzelten, mussten Plotek und Vinzi dann, nebeneinander mit dem Kopf auf dem Tresen liegend, eingeschlafen sein.

2

Die Glocke ertönt scheppernd. Ring frei zur achten Runde. Alle sitzen wie Hühner auf Stangen um den Boxring herum und klatschen. Jubeln, kreischen, pfeifen. Vinzi, Susi, das ganze Froh und Munter und die gesamte badische Kleinstadt nach dem Theatereinsturz. Sogar Frau Doktor Hering ist da und schreit und klatscht. Es geht zu wie im Bierzelt auf dem Oktoberfest. Das ist hier aber nicht irgendein Kampf. Es ist exakt der Weltmeisterschaftskampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman am 30. Oktober 1974 in Kinshasa. Der sogenannte Rumble in the Jungle. Mit einem Unterschied: Wo im historischen Kampf Ali in bewährter Rope-a-dope-Manier in den Seilen hing und damit sein Gegenüber zur Verzweiflung trieb, lehnt jetzt Agnes in den schlaffen rot-weißen Seilen zurück, wippend und lächelnd. Zumindest ist es ihr Gesicht, alles andere ist Ali, wie er leibt und lebt. Also schwarz, ohne Brüste und alles. Der völlig verzweifelte Foreman vor ihm sieht ebenfalls nur bis zum Hals wie George Foreman, der amtierende Schwergewichtsboxweltmeister, aus. Der Kopf ist eindeutig der von Plotek. Und auf den redet Agnes unentwegt ein, als seien die Worte ihre Fäuste. Sie flüstert ihm »Is that all you can, Plotek?« ins Ohr. Immer wieder, immer lauter. Was Plotek noch mehr demoralisiert. Er wird immer schwächer. Er muss schmerzliche Konterschläge von Agnes einstecken. Harte Punchs gegen Kopf, Leber und Nieren. Er baut konditionell immer mehr ab. Er hechelt und schwitzt, während die Zuschauer jetzt »Agnes, töte ihn!« brüllen. Und Frau Doktor Hering, die er doch so sehr in sein Boxerherz geschlossen hat, brüllt am lautesten. Was Plotek-Foreman noch mehr entmutigt. Dann knallen kurz vor Ende der Runde zwei schnelle Links-rechts-Kombinationen von Agnes-Ali gegen seinen Kopf, gefolgt von neun weiteren Treffern an den Schädel, die dort bimmeln wie ein Zeichen zur Mariä Himmelfahrt. Er taumelt. Hat Pudding in den Knien. Er sinkt nieder, wie in Zeitlupe, schlägt schließlich auf dem Boden auf, schreckt hoch und fragt: »Wo bin ich?« Wie man fragt: »Ist das Licht im Kühlschrank aus?«

»Paradies«, sagte eine Stimme. Es war aber nicht die des Ringrichters. Auch nicht die von Ali. Oder Agnes.

»Nein!« Plotek riss die Augen auf. Es war Vinzi.

»Jena Paradies, um genau zu sein.« Vinzi lachte. »Im ICE nach Berlin.«

Plotek rieb sich die Augen, gähnte. Sein Genick war gestaucht. So versteift, als zöge alles Schlechte der Welt daran.

»Schlecht geträumt, was?«

»Ganz schlecht.«

»Siehst auch so aus.«

Ploteks Kopf schmerzte, auch die Rippen, das blaue Auge, die Schrammen im Gesicht. Dazu kam der Kater von den unzähligen Weißbieren und Tequilas am Vorabend. Zusammengenommen fühlte es sich an, als hätte Agnes die Blessuren noch einmal ordentlich aufgefrischt. Zu allem Übel war ihm ein bisschen schlecht. Sein Magen rumorte, und in seinen Beinen grabbelte eine Armee von Mistkäfern auf dem Weg zur Schlacht.

»Das war knapp«, sagte Vinzi. »Verdammt knapp. Aber wir haben es geschafft.« Er lächelte erneut. Er lächelte Plotek die Erinnerung wieder ins Gedächtnis zurück.

Sie hatten bis zum Morgengrauen im Froh und Munter gesoffen und waren anschließend am Tresen eingeschlafen. Um Punkt zehn Uhr war Vinzi plötzlich durch das Glockengebimmel des St.-Theresia-Karmeliterklosters ein paar Straßen weiter wach geworden. Kein normales, entspanntes Wachwerden, sondern ein aus allen Wolken fallendes, mit Donner. Nicht schön. Gar nicht schön. Aber als er auf die Uhr über dem Tresen geschaut hatte, wusste er, dass ihr Zug in einer halben Stunde abfahren würde. Also: Plotek wach kriegen, Taxi bestellen und dann mit Karacho zum Bahnhof. Das war trotz Restalkohol, oder gerade deswegen, wie am Schnürchen gelaufen. Und Glück war auch noch hinzugekommen. Mit dem Pfiff des Zugbegleiters hatte Plotek Vinzi samt Rollstuhl in den Zug gewuchtet. Sich selbst hinterher. Tür zu. Abfahrt.

Es klingelte schon wieder ein Handy. Als hätte sich die Pfeife des Zugbegleiters zusammen mit den Glocken vom Karmeliterkloster in den Ohren der beiden heimisch eingerichtet.

»Ja. Hallo, ja, ich fahr jetzt von Paradies los. Ja, nur fünf Minuten Verspätung. Nein, er hat mich überwiesen. Was? Nein, zum Proktologen«, krakeelte eine Frau schamlos in ihr Telefon. »Das erkläre ich dir später. Ja, ich habe die Spaghettisauce für dich in den Kühlschrank gestellt. Der Gemüseauflauf ist im Backofen, musst du nur einschalten, nein, auf 220 Grad und dann …« Da kann das Paradies der einen schnell zur Hölle für die anderen werden.

»Proktologe?« Plotek fragte es ähnlich laut wie die Frau am Telefon.

»Analfi ssur, Stuhlinkontinenz, Hämorrhoiden«, kam es von Vinzi genauso laut zurück. Die Frau erschrak, und sprach dann etwas gedämpfter weiter.

Schräg ihnen gegenüber wurde ebenfalls ein Mobiltelefon besprochen wie eine Warze. Oder Gürtelrose. Und zwei Sitze weiter versuchte ein Investmentmanager per Handy seiner Sekretärin, die offenbar stark schwerhörig war, Termine zu diktieren. Vielleicht war es aber auch sein Wunsch, das ganze Zugabteil mit zum Termin einzuladen. Als Zeugen, Verhandlungspartner, oder einfach als moralische Stütze. Neben ihm wiederum saß eine junge Frau in einem beigen Kostüm und mit modischer Brille, die einer Freundin bis in die kleinsten Details ihr komplettes Wochenende erzählte. Die Größe der geilen Sommerbluse zum Beispiel, die sie bei H&M dann doch nicht gekauft hatte. Es musste wirklich wahnsinnig lustig gewesen sein, beim Shoppen und Bummeln am Wochenende in der Münchner Fußgängerzone.

»Was hast du gesagt?«, fragte Plotek, dessen Schädelbrummen von dieser wabernden Kakophonie noch heftiger wurde. Auch Vinzi fühlte sich wie auf einem ostanatolischen Jahrmarkt unter grobschlächtigen Marktschreiern, die ihr verhunztes Leben wie Fallobst für fast umsonst anboten. Wie zur Bestätigung klingelte das nächste Telefon. Die Melodie, irgendein technogeschredderter Defiliermarsch, beschallte immer lauter werdend das Abteil. Da der Handybesitzer, ein ostdeutscher Bundeswehrsoldat mit Dosenbier, sich gerade in maximaler Lautstärke den Böhsen Onkelz auf seinem Billigkopfhörer hingab, dauerte es einige Strophen, bis er endlich das Gespräch annahm und das komplette Abteil von seinem »geilen dreitägigen Übungsmanöver in Mittenwald« unterrichten konnte. Dabei behielt er in einem Ohr die Böhsen Onkelz, während er den anderen Hörerknopf bereitwillig allen anderen Mitreisenden zur Verfügung stellte.

»Einer von vielen mit rasiertem Kopf / Du steckst nicht zurück, denn Du hast keine Angst / Shermans, Braces, Jeans und Boots / die Deutschlandfahne, denn darauf bist Du stolz / Man lacht über Dich, weil Du Arbeiter bist/Doch darauf bin ich stolz, ich hör’ nicht auf den Mist…«, gröhlte der Sänger, während der picklige sächselnde Soldat die Schießübungen seines Manövers mit lauten Knallgeräuschen veranschaulichte. Damit es sich »Mensch Alder« in der Leitung auch besonders gut vorstellen konnte.

»Du bist Skinhead / Du bist stolz / Du bist Skinhead / schrei’s heraus« – man hörte es –, »Du hörst Onkelz, wenn Du zu Hause bist / Du bist einer von ihnen, denn Du bist nicht allein / Du bist tätowiert auf Deiner Brust,/denn Du weißt, welcher Kult für Dich am besten ist …« Er war tatsächlich nicht allein. Der Infanteriebeschuss aus dem Rachen des Sachsen wurde nun von einem Kollegen drei Sitze weiter eskortiert. Quasi militärischer Begleitschutz von einem rosagesichtigen Wehrpfl ichtigen, der, ebenfalls Dosenbier trinkend, beim Counter-Strike-Spiel auf seinem Computer herumballerte, als wäre Mittenwald überall. Vinzi und Plotek wünschten sich beide ostdeutschen Kämpfer fürs Vaterland auf direktem Wege nach Afghanistan. Auf Streife mit geilem Taliban-Beschuss. Oder in den Irak. In einen ganz fiesen Al-Qaida-Hinterhalt.

Der Zug war schon fast in Naumburg, und die Krieger der Bundeswehr trugen noch immer ihre Kämpfe aus. Auch der Investmentmanager und die junge Frau gaben nicht auf. Handys über alles. Waffen am Ohr. Bis Vinzi irgendwann die Schnauze voll hatte. Er erhob sich ganz langsam und stellte sich mit seinen Stummelbeinen auf den Sitz, so dass er gerade über die Lehne hinwegschauen konnte. Er holte aus seiner Jackentasche ein kleines Büchlein heraus, schlug es auf und begann zu lesen. Aber nicht wie gewöhnlich, also leise und für sich. Sondern im Gegenteil. Für alle und ziemlich laut. Es hörte sich an wie eine proktologische Proklamation. Ein Sportplatzgebrüll während eines Gurkenkicks. Das alles andere im Abteil übertönte.

»Mein armes Herz speit Galle auf den Dreck, / mein Herz von Tabak bitterschwarz gebeizt. / Die Schiffer tanzen um den Mast am Heck, / als hätte Rum die Schädel überbeizt. / Mein armes Herz speit Galle auf den Dreck, / mein Herz von Tabak bitterschwarz gebeizt / es schmeißt dem Kapitän ins Maul den Dreck / und wird noch mehr gereizt.«

Game Over beim Counter-Strike-Spiel. Abgeblasenes Manöver in Mittenwald. Die Böhsen Onkelz waren nicht mehr stolz, Skinheads zu sein.

Dann die zweite Strophe. Noch lauter, noch eifernder.

»Unzüchtig und barbarenhaft grölt die Musik; / die Witze machen mich zum Schwein / in dieser freien Wasserrepublik: / mein armes Herz kann nur ›Herr Jesus‹ schrei’n. / Unzüchtig und barbarenhaft grölt die Musik, und unten starrt das Meer wie schwarzer Stein, / der schwarze von Mosambik / und wäscht mich Schwein nicht rein.«

Offene Münder, staunende Gesichter, eingerissene Ärsche. Stumme Telefone. Der Manager würgte seine Sekretärin ab. Die junge Frau ihr Wochenende. Während dem Gemüseauflauf das Gas abgedreht wurde und die Hämorrhoiden im Stillen weiterbluteten. Vinzi schickte Plotek einen fragenden Blick zu. Der nickte kurz, aber entschieden. Dritte und letzte Strophe.

»Wenn ihre Mäuler endlich stillestehn, / mein armes Herz, was tust du dann? / Es sind nur Leichen auf dem Deck zu sehen, / und der verdammte Kapitän liegt obenan. / Wenn ihre Mäuler endlich stillestehn / und die Musik nicht mehr verludert grölen kann, / ist weit und breit kein Land zu sehn. / Mein armes Herz, was tust du dann?« Gar nichts, hätte Plotek sagen können. Er sagte aber nichts. Alle anderen auch nicht. Eine unbeschreibliche Stille hatte sich über das Zugabteil gelegt. Man hörte nichts mehr. Was sich wiederum anfühlte, als wäre es die unheimliche Ruhe vor dem katastrophalen Sturm. Als hielte die Welt für einen Moment den Atem an. Kein Telefon, nirgends. Kein Muh, kein Mäh. Nichts. Auch kein Protest. Hier und da lautloses Kopfschütteln. Sonst nichts. Gar nichts. Eine etwas beklemmende Ungewissheit legte sich über die Stille, Ratlosigkeit über das Großraumabteil.

Ist das ein Spinner oder ein Fundamentalist?, schienen die meisten Mitreisenden angesichts des deklamierenden Vinzi zu grübeln. Die fehlenden Beine sprachen für Fundamentalismus. Für Terror und alles. Hat der in seinem Beutel in der Gepäckablage statt Socken vielleicht Handgranaten und Splitterbomben? Mit Zeitschaltung, programmiert auf gleich? Counter-Strike in real. Mittenwald ohne Platzpatronen. Theatereinsturz im ICE. Soll heißen: Die Katastrophe. Die Tragödie. Die Angst. Würde der Zug zu einer Meldung in den Zwanzig-Uhr-Nachrichten? Sondersendungen? Brennpunkt? Würde Jena Paradies zum letzten Halt vor dem Ende?

Ein Getuschel hob an. Verstohlene Blicke suchten ein Ziel. Einige Personen standen tatsächlich auf und wechselten klammheimlich das Abteil. Stahlen sich schleichend davon, um nicht vom Attentäter erwischt zu werden. Dann war es wieder so ruhig wie in einem zenbuddhistischen Meditationsraum. Om. Plotek musste gähnen.

»Angenehm«, sagte Vinzi.

»Stimmt«, sagte Plotek.

Ein älterer Mann mit Konrad-Lorenz-Bart und einer Zeitung in der Hand nickte ihnen zu. Ein anderer, viel jünger, mit einem zerknitterten Leinenanzug und blasser Haut, der mit einem Buch danebensaß, lächelte. Im Zugabteil herrschte nun wieder ein gepflegtes Gesprächsklima. Dafür stank es. Der Grund: Eier, hartgekochte Eier. Wurst und Käse obendrauf. Das Abteil stank, als wären alle Passagiere zwangsverpflichtet worden, im Darm der Picknickgesellschaft zu campieren. Plotek und Vinzi ergriffen die Flucht. Nachdem der Zug Leipzig hinter sich gelassen hatte, beschlossen sie, dem Speiseabteil einen Besuch abzustatten.

Ihr Ruf schien ihnen vorausgeeilt zu sein. Die Kellner waren so freundlich, als kämen da nicht ein Krüppel und sein derangierter und schmuddeliger Begleiter in das Bordrestaurant, sondern Scheich Ahmad Yasin, der querschnittgelähmte Gründer der Hamas, aus dem Jenseits und Bin Laden aus seinem Erdloch. Alles lächelte, was den beiden schon wieder ein wenig unangenehm wurde. Angenehm dagegen war, dass im Bahnrestaurant gerade Gourmetwochen auf dem Speiseplan standen.

»Trifft sich gut!« Vinzi bestellte ein Spreewaldgericht, von einem Sterne-Koch kreiert. In Gedenken an die sächsischen Krieger. Plotek bestellte das Gleiche.

»Und jeweils ein großes Bier, bitte!«

»Danke.«

Ein Tisch weiter saß eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einer Oberweite, die die Bluse vor eine Zerreißprobe stellte. Sie blätterte in einer Modezeitschrift. Immer wieder hob sie den Kopf, trank einen Schluck von ihrem Weißwein und lächelte anschließend zu Vinzi herüber, als wäre sie eine der sieben Jungfrauen aus dem himmlischen Paradies. Was von einer anderen Frau am Tisch schräg gegenüber mit einem abschätzigen Blick kommentiert wurde. Sie sah wie Uma Thurman in Pulp Fiction aus, nur in Blond, und führte einen kleinen, zu ihrer Frisur passenden Hund mit sich, der aus einer Tasche guckte. Vinzi lächelte zurück. Zuerst zu der einen, dann zu der anderen Frau. In die Freundlichkeit des Fahrkartenkontrolleurs, der jetzt an ihren Tisch kam, mischte sich allerdings ein wenig Nervosität. Auf seiner Oberlippe hatten sich massenhaft Schweißperlen gebildet. Es ist ja bekannt, dass Zugbegleiter Minderjährige, die ihre Fahrkarte auf dem Weg zur Schule zu Hause vergessen haben, gerne aus dem Zug schmeißen. Dass sie genüsslich bei jeder Fahrkartenkontrolle den Passagier taxieren, als sei er der meistgesuchte Kreditkartenbetrüger in der BRD, ach was, weltweit. Dass sie die Bahncard inspizieren, als führten sie eine Autopsie durch. Wenn einem aber der Ruf eines Fundamentalisten voraus eilt, dann werden die Herren und Damen Zugbegleiter richtig menschlich. Bahncard interessiert nicht. Fahrkarten werden irrelevant. Folge: Der Blick auf die Tickets wird nachlässig. Mit Extremlächeln. Dann kommt der gut gemeinte Vorschlag, dass es zwei Abteile weiter auch ein Behindertenabteil gäbe. Und wieder Lächeln, in seiner artifiziellsten Form. »Sogar mit Bedienung am Platz!« Als kämen Champagner und Nutten gleich mit, ein Service Ihrer Bahn AG. »Gute Reise.«

»Ihnen auch!«, antworteten Plotek und Vinzi unisono. Folge: Erschrecken beim Zugbegleiter – bedeutet: bleich, blass, eingeschüchtert. Als sähe er sich selbst gleich in die Luft fliegen.

Natürlich hätten Plotek und Vinzi wissen müssen, dass ein derart freundlicher Zugbegleiter etwas Hinterhältiges im Schilde führte. Freundlichkeit und Zugbegleiter schließen sich aus. Wie picklige, sächselnde Soldaten und Arthur Rimbaud. Nur waren beide eben keine geübten Bahnfahrer und deshalb völlig ahnungslos. Geradezu gutgläubig. Was sich spätestens eineinhalb Stunden später am Zielbahnhof rächen sollte.

Bis dahin wurden aber noch einige Biere vertilgt und das Spreewälder Gericht verspeist. Köstlich. Zwischendurch saute Plotek die Toilettenkabine ein wie ein Gartensprinkler. Ob der Alkoholgehalt in seinem Körper verantwortlich war oder die ruckelnde Fahrweise des Zuges, konnte er nicht sagen. Vermutlich beides zusammen. Der Kellner hatte jedenfalls auch seine Schwierigkeiten beim Servieren der Kaltgetränke. Ob es bei ihm der ruckelnde Zug war oder die Nervosität, schien ihm unklar. Vermutlich ebenfalls beides zusammen. Er brachte auf jeden Fall erneut zwei Biere und verteilte einen Teil gleich auf der Tischdecke.

»Entschuldigen Sie vielmals.« Brummen von Plotek. Noch verstimmteres Brummen von Vinzi. »Das geht aufs Haus …« Womit sich Vinzis und Ploteks Groll erledigt hatte – beziehungsweise auf die Frau mit den schwarzen Haaren übersprang. Den von ihr bestellten Weißwein kippte der Kellner nämlich vollständig über ihre Bluse. Die Frau schrie. Die Bluse wurde transparent. Die Brustwarzen ihrer Oberweite stachen ins Restaurantabteil wie die Finger Gottes. Vinzi musste die Augen zukneifen, um nicht blind zu werden. Der kleine Hund bellte, und Uma Thurman in Blond lächelte schadenfroh. Noch ehe sich Vinzi erkenntlich zeigen und seine Hilfe anbieten konnte, war die Schwarzhaarige aufgestanden und gegangen.

»Was war das denn?«, wollte Plotek wissen, der nichts gesehen hatte, weil sich das Geschehen in seinem Rücken abgespielt hatte.

Vinzi strich sich über den verwilderten Bart. »Weiß nicht. Aber auf jeden Fall ein guter Auftakt!«

Dem sollte eine weniger gute Fortsetzung folgen.

Am Berliner Hauptbahnhof gab es die Quittung für die Freundlichkeit der Zugbegleiter. Was gleichzeitig die für die Leichtgläubigkeit von Plotek und Vinzi war. Denn kaum hatten sie einen der modernsten Bahnhöfe Europas betreten, lagen sie auch schon auf dem Boden. Mit dem Gesicht auf den Kacheln. Genauer: Plotek lag, und auf Vinzi im Rollstuhl hatte sich jemand draufgesetzt. Beides waren Männer und gehörten offenbar zu einer Spezialeinheit der Berliner Polizei. Also keine Uniformen, dafür ein Körper wie ein Panzer. Mit Knarren in der Hand. Und Handschellen, die sich jetzt um die Gelenke von Plotek und Vinzi krallten. Unter den hämischen Blicken der Zugbegleiter und der Mitreisenden, wobei sich vor allem die sächsische Soldateska hervortat, wurden die beiden abgeführt. Trotz Beteuerung, dass da ein Irrtum vorläge. Dass dem eine Verwechslung zugrunde liegen müsste. Aber so was konnte ganz schnell gehen: Eben noch arbeitsloser Schauspieler und früh pensionierter Krüppel, jetzt Hauptverdächtiger im Kampf gegen den Terror. Und alles wegen Arthur Rimbaud! Wenn die Handschellen nicht so stark in die Gelenke schneiden würden, hätten Plotek und Vinzi darüber nur gelacht.

Es ist nicht einmal etwas Schwerwiegendes passiert, dachte Plotek. Kein Mord, Totschlag oder Überfall, und trotzdem stecke ich schon wieder in den Fängen der Staatsmacht. Die Hurtigruten-Reise schien in weite Ferne gerückt.

»Scheiße«, sagte Plotek.

»Scheiße«, sagte Vinzi. Während die Polizeibeamten lachten. Polizisten, die aussahen wie asoziale Sozialhilfeempfänger. Oder wie die sächselnden Pickelbuben ohne Uniform, die nicht zwei und zwei zusammenzählen konnten. Wenn doch, dann immer auf fünf kamen.

Als hätte man die Schuldigen für den badischen Theatereinsturz nun leibhaftig vor sich, wurden die beiden ins Kommissariat geführt. In einen kleinen stickigen Raum. Karg, unappetitlich, mit olivgrünem Wandverputz. Mit einem Tisch, der anklagend in der Mitte des Zimmers stand, wie ein Marterpfahl der Comanchen. Davor ein Stuhl, auf den Plotek gedrückt wurde.

»Nehmen Sie Platz.«

Vinzi parkte seinen Rollstuhl daneben.

»Na, was haben wir denn hier?« Ein Beamter, klein, hässlich und dick, hob den etwas größeren Turnbeutel von Vinzi hoch.

»Was ist das?« Er guckte, als wäre der Beutel mit Scheiße gefüllt. Oder mit Leichenteilen.

»Was könnte das denn sein?«, fragte Vinzi, wie man fragt: »Welches Schweindl hätten Sie denn gern?« Der Kommissar schien nachzudenken. Zumindest hatten sich Zeichen auf seiner Stirn niedergelassen, die daran erinnerten. Im Hintergrund an der Wand stand eine Beamtin, groß, schlank, schön, und beobachtete das Ganze aus sicherer Distanz. Die Arme hatte sie unter ihren Brüsten verschränkt.

»Ein Dudelsack?«, versuchte es Vinzi, abwägend wie ein Ratespielkandidat auf der Suche nach der korrekten Bezeichnung. Die Miene des Kommissars verfinsterte sich. »Oder doch eher ein Sprengstoffbeutel?!«

Der Kommissar ließ intuitiv den Sack fallen. Die Beamtin grinste.

»Schon wäre er hochgegangen!« Vinzi grinste auch. Plotek hingegen sah die Hurtigruten in immer weiterer Ferne – ohne sie.

»Da glaubt einer ganz besonders witzig sein zu müssen, was?« Der Beamtin im Hintergrund verging das Lachen. Vinzi nicht. Was den Kommissar noch wütender machte.

»Ich kann Sie, wenn es Ihnen beliebt, sofort hinter Schloss und Riegel bringen.«

»Stimmt. Aber nur für 24 Stunden. Anschließend haben Sie den Zentralrat der Juden in Deutschland, den Allgemeinen Behindertenverband e.V. und den LSVD, den Lesben-und Schwulenverband Deutschlands, auf dem Hals.«

»Hä?« Der Kriminaler stand auf dem Schlauch.

»Unschuldig, Jude, schwul und behindert.« Die Finger schossen aus Vinzis Faust und zeigten als Fingerpistole auf den Polizisten. »Da lechzt die Pressemeute nur so nach. Wie Raubtiere. Und Sie sind das arme Würstchen, das sie vertilgen.« Natürlich stimmte nur unschuldig und behindert . Alles andere war gelogen. Was auf die Schnelle aber nur schwerlich nachzuprüfen war. Die Beamtin lächelte wieder. Der Kommissar dagegen war eingeschüchtert. Was er aber sofort schreiend zu kompensieren versuchte.

»Soll das eine Drohung sein?!« Sein Gesicht sah dabei nicht gerade vorteilhaft aus.

»Ach wissen Sie, man droht nur Gegnern und keinen Türwürsten.« Vinzi gab sich abgeklärt.

»Was soll das heißen?«

Die Beamtin im Hintergrund hustete. Vermutlich, um das Lachen zu kaschieren.

»Nichts. Oder: Der Dumme spricht, der Weise schweigt«, sagte Vinzi mit einem Blick zu Plotek. Und mit einen weiteren, einem verdeckten, auf die Beamtin an der Wand. Die wurde dabei ein wenig verlegen. Das stand ihr hervorragend. »Also tun Sie doch einfach, was Sie nicht lassen können.«

Taten die Beamten dann auch. Das Buch Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud wurde inspiziert, als wäre es eine Bauanleitung für Kofferbomben. Hinter Arthur Rimbaud vermuteten die Ermittler zunächst den heimlichen geistigen Führer einer noch nicht bekannten Terroreinheit. Natürlich mussten sie diese Gedanken, trotz genetischer Fingerabdrücke, biometrischer Fahndungsmethoden, Überwachungskameras, Gesetzesverschärfungen und all das ganz schnell wieder aufgeben. Worüber sie gar nicht erfreut zu sein schienen. Dann wurden Beutel und Sporttasche akribisch durchsucht. Hosentaschen und Jackentaschen.