Schöne Bescherung - Sobo Swobodnik - E-Book

Schöne Bescherung E-Book

Sobo Swobodnik

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Beschreibung

Nie wieder Weihnachten!

Paul Plotek hockt mal wieder im Froh und Munter, seiner Lieblingskneipe. Es ist bald Weihnachten. Plotek hasst Weihnachten. Dazu kommt noch der Busunternehmer neben ihm am Tresen, der ihm auf die Nerven geht: Er will Plotek unbedingt als Reisebegleiter engagieren. Plotek nimmt an, schließlich ist er pleite. Kaum im Bus, geht’s aber schon los mit den Überraschungen, will meinen: mit den ersten Toten. Plotek schreitet zur Aufklärung ...

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Zum Buch

Paul Plotek hockt mal wieder im Froh und Munter, seiner Lieblingskneipe im Münchner Stadtteil Neuhausen. Es ist bald Weihnachten. Plotek hasst Weihnachten. Da hilft nur das eine oder andere Unertl-Weißbier. Dazu kommt noch Busunternehmer Ferdinand Schnabel neben ihm am Tresen, der nicht lockerlässt: Er will Plotek unbedingt als Reisebegleiter für eine Weihnachtstour nach Karlsbad engagieren. Plotek nimmt an, schließlich ist er wieder mal pleite. Kaum im Bus, geht‘s aber schon los mit den Überraschungen, will meinen: mit den ersten Toten. In Karlsbad angekommen überschlagen sich die Ereignisse: Der Bus fährt weg, obwohl der Fahrer im Hotel ist. Zwei verdächtige Männer in Pelzmänteln tauchen mehrmals auf. Und immer wieder gibt es unter den Teilnehmern der Reise Tote. Plotek schreitet zur Aufklärung …

Zum Autor

Sobo Swobodnik, aufgewachsen auf der Schwäbischen Alb, studierte Schauspielerei, arbeitete als Rundfunkredakteur und Theaterregisseur. Er hat mehrere Romane veröffentlicht und ist auch als Filmemacher tätig. Der Autor lebt heute in Berlin.

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Lieferbare Titel: Kuhdoo – Ahoi Polaroid – Oktoberfest

Sobo Swobodnik

SCHÖNE BESCHERUNG

Ploteks dritter Fall

KRIMINALROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Sämtliche Figuren und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.Vollständige vom Autor durchgesehene Neuausgabe 11/2012Copyright © 2005, 2012 by Sobo SwobodnikCopyright © 2012 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: yellowfarm GmbH S. Freischem Umschlagmotive: © Thomas Freischem (Bus); istockfoto © Maryna Pleshkun (Schneeschaufel) / © Martina Barbist (Schneelandschaft)Satz: Fotosatz Amann, AichstettenISBN: 978-3-641-08327-4www.heyne.de

»Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,Der ich noch erst den Göttern Liebling war;Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,So reich an Gütern, reicher an Gefahr;Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.«

Johann Wolfgang von Goethe›Marienbader Elegie‹, letzte Strophe

1

Jetzt war Plotek wieder ins Froh und Munter geflüchtet. Eine Flucht war das allemal, wie Plotek da Hals über Kopf vor Agnes davonlief und in seiner Lieblingsgaststätte Schutz suchte. Er war dieser Frau einfach nicht gewachsen. Für jedes Argument hatte sie drei dagegen. Mit in die Hüften gestemmten Armen ist sie in Ploteks Wohnzimmer gestanden und hat auf Plotek eingeredet, dass sogar Fritz, Ploteks adoptierte Katze, sich unter dem Schrank versteckte. Selbst wenn Plotek gewollt hätte, hätte er nichts sagen können. Agnes hat ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen. Sätze so lang wie ein Kälberstrick und so bunt wie Glasmurmeln hat sie aneinandergereiht, dass Plotek gar nicht hinterhergekommen ist mit dem Verstehen. Eine Eloquenz und eine Sprachverliebtheit hat Agnes an den Tag gelegt wie höchstens der alte Walter Jens aus Tübingen. Jetzt muss man wissen, dass der nicht nur fast doppelt so alt und erfahren wie Agnes ist, sondern auch noch Rhetorikprofessor, und demzufolge alle Tricks kennt, wie man mit Sprache, mit bloßem Sprechen den anderen über den Tisch ziehen konnte. Agnes war kein Rhetorikprofessor, kannte aber genauso viele Tricks. Plotek merkte, wie er trotz seines tief verwurzelten Unverständnisses ins Wanken geriet. Quasi schon Aug in Aug mit der Tischplatte. Obwohl es da gar nicht viel zu verstehen gab. Die Sache war eigentlich von Anfang an klar. Agnes wollte, Plotek wollte nicht. Dazwischen lagen tagelange Diskussionen, Schubkarren voller Worte und Plastiktüten angefüllt mit Gefühlen. Obwohl Plotek mit Gefühlen so seine Probleme hatte. Mit den eigenen und mit den anderen auch. Die eigenen konnte er nicht zeigen und die anderen wollte er nicht sehen. Ganz anders Agnes. Die konnte alles zeigen, auch wenn Plotek es nicht sehen wollte und schon gar nicht wusste, was er mit dem Strip der ganzen Emotionen anfangen sollte. Weinte sie, war es ihm unwohl, schrie sie, auch. Plotek weinte nie, schrie auch nicht und lachte nur, wenn’s sein muss. Aber, wann musste es schon sein? Jetzt, vielleicht.

»Lach nicht so blöd!«, hat Agnes gesagt. »Entweder du stehst zu mir oder du stehst nicht zu mir.«

Es geht doch nicht darum, wie der eine zum anderen steht, dachte Plotek, oder der andere zum einen nicht steht. Es geht nicht um die Oberfläche, es geht um die Tiefe. Um das, was drunter ist – wenn da was ist. Eine ganze Menge ist da, dachte Plotek, eine ganze Menge eigener Abgründe. Und in denen haben sich die Traumata eingenistet wie die Motten im Kragen seiner Cordjacke und feiern dort das ganze Jahr über fröhliche Urständ oder als wären Weihnachten, Ostern und Silvester an einem Tag. Die Cordjacke kann er noch so oft in die Reinigung bringen, ein paar Tage später sind sie schon wieder da. Hartnäckig, resistent und nicht totzukriegen. Die Motten nicht, die Traumata auch nicht. Und eins davon ganz besonders nicht. Um das dreht sich alles, nur darum geht es, hätte Plotek zu Agnes sagen wollen, wenn er es hätte sagen können: Das Trauma, mein Trauma: die Familie! Es geht um die Familie, um die eigene und alle anderen. Jetzt muss man wissen, dass Plotek so seine Probleme in Bezug auf die Familie hatte. Von Kindheit an hat Plotek schlechte Erfahrungen mit seiner Familie in Lauterbach gemacht. Mit der Muttermilch hat er die familiären Scherereien in sich eingesogen. Das hat sich dann gehalten bis heute. Das war auch der Grund, weshalb er seit Jahren seine Familie mied wie höchstens der Teufel das Weihwasser und auf jeglichen Besuch im Schwäbischen verzichtete. Die Einladungen für die ständig wiederkehrenden Feste und Feiern schlug er kommentarlos aus. Bei den Festen und Familienfeiern machte sich Ploteks Abneigung gegen alles Familiäre besonders bemerkbar. Hochzeit, Geburtstag, Kommunion, Weihnachten, Ostern, Erntedank, Allerheiligen, Tod. Wenn sich alle – die ganze Familie inklusive Verwandten und Bekannten – bei einem derartigen Anlass für kurze Zeit trafen, wurde es unerträglich. Von Anfang an war das desaströse Ende schon abzusehen. Wie eine mathematische Gleichung verhielt sich die Zusammenkunft. Eins und eins gibt zwei, zwei und zwei vier, und wenn mehr dazukommen, wird es kompliziert. Oder anders ausgedrückt: Zuerst waren alle froh, glücklich und zufrieden, dann weniger froh, dann betrunken und zuletzt flogen Stühle an die Wand. Und mit ihnen wurden Beleidigungen ausgekippt, Bosheiten und Vorwürfe wie beim Sommerschlussverkauf unter Preis verhökert und jahrzehntealte Rechnungen wieder aufgemacht. Das ganze Programm eben. Am Ende war nicht nur das Geschirr am Polterabend zerdeppert, sondern auch der Familienfrieden dahin. Bis zur nächsten Feier. Das letzte Mal war Plotek auf der Ostalb in Lauterbach zu Weihnachten. Und das ist auch schon fast ein Jahrzehnt her und hat katastrophal geendet. Zuerst noch nicht. Zuerst das übliche Geplänkel.

»Wie geht’s?«

»Gut.«

»Dir auch?«

»Geht schon.«

»Alles klar?«

»Ja.«

»Und sonst?«

»Auch.«

»Ha ha.«

Das Lachen verging dann aber ganz schnell. Zuerst Plotek, weil es Hasenbraten zu Mittag gab, wie immer bei den Ploteks an Weihnachten. Nicht schlimm, sollte man meinen. Doch schlimm! In Ploteks Kindheit sind die süßen, kleinen Häschen das ganze Jahr über im Garten herumgehüpft, um spätestens an Weihnachten als fette Hasen in der Pfanne zu landen. Das muss ein Kind erst mal verkraften, wenn seine Stupsi, sein Charly oder seine Vroni, die Tag für Tag geherzt und liebkost wurden, wie Brathähnchen aus dem Topf gucken. Plotek verkraftete es nicht. Er hasste Hasenbraten. Und alle Hasenbratenesser. Von da an und noch immer. Und die Hasenbratenesser hassten ihn. Und schon ging die Stichelei los und hörte nicht mehr auf. Den ganzen Tag nicht, und abends wurde es noch schlimmer. Wenn man hundertmal nach dem Hund tritt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Hund mal zurücktritt. Hört man oft, bei Hunden. In den Zeitungen steht dann: Hund fällt Herrchen an. Oder Hund beißt Mann, zerfleischt Familie, frisst Kind – Mahlzeit! Hat er eben zurückgebissen, der Plotek. Jetzt muss man wissen, dass Plotek im Prinzip ein gutmütiger Mensch ist. Viele sagen: zu gutmütig. Wenn das Fass aber voll ist, dann löst ein winziger Tropfen, ein Tröpfchen gar, gleich eine ganze Flutwelle aus. Die ersäuft dann alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist. In diesem Fall dem Weihnachtsbaum. Nach der Bescherung machte sich die Schwägerin mal wieder, wie so oft, über Ploteks Aussehen lustig. Zuerst hat sie an den Haaren herumgemäkelt, dann an der Kleidung, dem Fünftagebart. Natürlich war Plotek nicht gerade die gepflegteste Erscheinung. Das hat ihm aber weder die Schwägerin noch sonst irgendjemand auf dieser Welt sagen müssen. Das hat er schon selbst gewusst. Und selbst hat er auch nicht viel unternommen, um das zu ändern. Für Plotek war es im Prinzip nicht so wichtig, wie er aussah. Na ja, manchmal weniger wichtig, manchmal mehr. Tendenz eher weniger. Früher mehr. Dann immer weniger. Heute war es ihm völlig egal, wie er aussah. Meistens trug er immer dieselbe Breitcordhose, dazu ein Jackett und alte ausgelatschte Mokassins – sommers wie winters. Dass das der Schwägerin nicht gefallen konnte, war klar, und allen anderen auch nicht. Das, was die Schwägerin und alle anderen so mit sich herumtrugen, hat Plotek auch nicht gefallen. Und, hat er gemosert? Na, also! Die Schwägerin schon. Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein, hätte man jetzt neutestamentarisch mit dem Glauben argumentieren und die Schwägerin zurechtweisen können. Aber keine Chance. Der zur Schau getragene christliche Glaube der Älbler hat nur in der Kirche beim Hochamt seinen Platz und vielleicht noch als baumelndes Kreuz vor der Brust – ansonsten bestimmen die Gesetzmäßigkeiten der rauen Ostalb das Verhalten. Und das kann unerbittlich sein. Zumindest bei der Schwägerin. Ganze Wagenladungen voll Geröll hat sie auf Plotek abgekippt.

»Wirscht emmer fetter un aufgschwemmter. Guat sieht des net aus«, hat sie gesagt und angewidert geguckt. Und alle anderen haben auch angewidert geguckt.

Du auch nicht, hat Plotek gedacht, aber nichts gesagt, weil er wusste, der Schwägerin zu widersprechen ist wie einem toten Hasen ein abstraktes Bild erklären.

»Muasch a bissle Gymnaschtik macha, Liegestütza, Knieabeiga, jogga, woisch?«

Jetzt Grinsen von der Schwägerin und Grinsen der kompletten rotgesichtigen und pausbackigen Verwandtschaft.

»Wenn er a Weib hätt, säh des au andersch aus«, sagte der Bruder und tat so, als ob er nicht nur über Ploteks Privatleben, sondern auch über sein Liebesleben bestens Bescheid wüsste. Dabei hatte er keinen blassen Schimmer. Weder von Ploteks Privat- oder Liebesleben noch sonst vom Leben. Die Schwägerin auch nicht. Niemand von den grinsenden Familiengesichtern. Deren Leben spielte sich in Lauterbach, um Lauterbach und um Lauterbach herum ab. Das war nicht weit. Das war nicht viel – nur ein bisschen Leben quasi. Die Welt kannten die nur aus dem Fernsehen, und da auch nur erstes und zweites Programm.

»So kriagsch nie a Weib!«, hat die Schwägerin plötzlich gesagt und laut gelacht. Und alle anderen haben mitgelacht. Der Vater, die Mutter, Bruder, Cousine, Cousin, Oma, Opa, alle. Nur Plotek nicht. Plotek hat nicht gelacht, dafür hat er gesagt – ganz leise, dass die anderen schon gut zuhören mussten, um es überhaupt zu verstehen: »So eine blöde Fotze wie dich möchte ich nicht mal geschenkt!« Haben sie es dann doch verstanden. Und nicht mehr gelacht. Keiner, Vater nicht, Mutter nicht, Bruder, Cousine, Cousin, Oma, Opa – niemand. Der Schwägerin verging nicht nur das Lachen, auch die Sprache schien ihr abhanden gekommen zu sein. Zitternd am ganzen Körper und mit feuerrotem Kopf sprang sie vom Sofa auf und stotterte vor sich hin: »Du … du … du … du …«

Dann wollte sie sich auf Plotek stürzen, blieb aber mit der Strickweste an einem Ast vom Weihnachtsbaum hängen, kam ins Wanken, fiel und riss den Baum mit sich in die Tiefe. Unterm Baum und von Lametta und Kugeln begraben schrie sie endlich: »Du spensch doch, du bisch doch verrickt! Des isch a Verrickter, a Spenner, der gehört nach Wennada!«

Jetzt muss man wissen, dass sich in Winnenden (ostalbschwäbisch: Wennada) unweit der Landeshauptstadt die der Ostalb nächste Nervenheilanstalt befand und alle, die in Lauterbach und um Lauterbach und um Lauterbach herum den traditionellen dörflichen Kodex verließen, flugs gedanklich nach Wennada geschickt wurden.

»Lass di du di du du du di di di hier bloß nemme blicka!«, kreischte die Schwägerin, dass die Worte ganz gemein übereinander herfielen und die Stimme sich noch gemeiner überschlug. Hat er seitdem auch nicht mehr, und mehr noch, Plotek hat sich ein für alle Mal geschworen: Nie wieder Ostalb! Nie wieder Familie! Nie wieder Weihnachten! Nirgends.

Das wusste Agnes selbstverständlich alles nicht. Wie auch, Plotek hat es ihr ja nie erzählt.

Natürlich hätte er es ihr sagen wollen – jetzt. Hat es aber nicht sagen können. Weil da erstens kein Platz war zwischen ihren Worten. Und es zweitens bei Plotek vom Gedanken zum Wort so weit ist wie für andere zu Fuß nach Canossa, hin und zurück. Also hat er nichts gesagt, außer vielleicht »Hm!« oder »Na ja!« Und hin und wieder den Kopf geschüttelt, mit der Schulter gezuckt und gelacht.

»Lach nicht so. Für mich ist Weihnachten mit meiner Familie nun mal wichtig.

Und ich will, dass du verdammt noch mal mitkommst!«

Wieder Schulterzucken von Plotek und böser Blick von Agnes.

Irgendwie merkte Agnes dann mit der Zeit und den vielen Worten auch, dass bei Plotek damit nicht weiterzukommen war – ob mit oder ohne jenssche Rhetorik. Hat sie es dann zwischenzeitlich eben mit weniger Worten versucht – quasi nonverbal oder Rhetorik auf Abwegen. Immer wenn Plotek gar nichts mehr sagen konnte, also nicht einmal mehr »hm« oder »na ja«, auch kein Schulterzucken oder Kopfschütteln, ist Agnes dann ganz nahe an ihn herangerutscht. Sie hat von da an dann auch nichts mehr gesagt. Brauchte sie auch nicht. Weil, Gesten und Blicke sagen manchmal mehr als Worte – mit oder ohne Rhetorik jetzt. Agnes ist Plotek langsam mit der Hand über sein verschwitztes Gesicht gefahren, dann den Hals entlang zum Hemd, über die Knopfleiste hinunter bis zur Gürtelschnalle. Von da an ging es dann ganz schnell: Schon ist Plotek auf der Tischplatte gelegen und beide sind sie über den Tisch gerutscht – wer da nun wen gezogen hat, keine Ahnung. Was da der alte Rhetorik-Jens in seinem verschnarchten Tübingen dazu gesagt hätte – auch keine Ahnung. Vielleicht: einmal so, dann so, dann wieder ganz anders. Aber im Prinzip geht es immer um dasselbe: These, Antithese, Synthese – keine Synthese bei Agnes und Plotek jetzt. Dafür ein verzweifeltes »Du sturer Bock, du!« von Agnes.

Natürlich hatte sie mit dieser Einschätzung wieder mal recht – dann auch wieder nicht. In so einer Beziehung läuft eben nicht alles nach den Regeln eines Rhetorik-Seminars oder nach den newtonschen Fallgesetzen. Zwischen den Geschlechtern rinnt auch mal das Wasser bergauf. In einer Beziehung sogar wie ein Sturzbach nach oben. Na ja, Beziehung. Lange war Plotek ja mit Agnes noch nicht zusammen. Hätte man Agnes gefragt, ob sie überhaupt zusammen …, hätte sie gesagt: »Wir sind ein Paar.« Würde man Plotek fragen, müsste er lange nachdenken und würde dann höchstens nicken. Aber auch nur, wenn Agnes anwesend wäre. Wenn nicht, allerhöchstens wieder: »Na ja.«

Jetzt war Plotek also im Froh und Munter, seiner Lieblingsgaststätte in Neuhausen, einem Stadtviertel von München, und sinnierte in den Schaum von seinem Weißbier hinein. Oben über der Tür kämpften im Fernseher zweiundzwanzig Männer gegen einen Ball und den gefrorenen Rasen. Das war schon lange nicht mehr mit anzugucken.

Neben Plotek saß am Tresen ein Mann, der da schon öfters gesessen hatte. Susi, die Wirtin, hätte, wenn man sie gefragt hätte, gesagt: »Stammgast.« Aber Susi fragte niemand, also sagte sie auch nichts. Egal, Plotek wusste es trotzdem. Es war so einer, der immer da saß, wenn Plotek auch da saß. Ob er auch da saß, wenn Plotek nicht da saß, wusste Plotek jetzt nicht. Was er wusste, war, dass ihm der Tresenhocker nicht gerade sympathisch war. Umgekehrt offenbar schon.

»Susi, zwei Tequila«, sagte der jetzt. Und schon stand einer davon vor Plotek.

»Prost.«

Plotek nahm die Zitrone in die eine Hand und streute das Salz auf den angefeuchteten Handrücken derselben. Das Glas in die andere. Und dann ging es ganz schnell. Salz, Glas, Zitrone: »Ah!«

»Mensch, das tut gut«, sagte der Tresenhocker.

Plotek sagte nichts. Plotek konnte es noch nie ausstehen, wenn innere Vorgänge, zweifelhafte Zustände oder scheinbare Gefühle kommentiert wurden. Das tun viele. Ob man es hören möchte oder nicht. Viele sagen: »Ich freu mich so!«, wenn sie sich freuen. »Wir lieben uns!«, wenn sie sich lieben, »Ich bin so glücklich!«, wenn sie glücklich sind. Plotek sagt nichts und denkt, wer so etwas sagt, dem kriecht das Unglück schon wie Krampfadern die Waden hoch, die Trauer nistet sich in den Rocksaum ein und die Liebe macht es nicht mehr lange. Apropos Liebe: Bei der klingt so ein kommentierender Zusatz dann oft nicht nur ziemlich peinlich, sondern auch zerstörerisch. »Mmh, das war jetzt aber schön«, hat eine Frau einmal nach einer ausschweifenden Liebesnacht zu Plotek gesagt – und schon war das Schöne gar nicht mehr schön, schon war das Schöne dahin. Blöde Kuh, hat Plotek gedacht, muss alles kaputtreden, niedertrampeln. Plotek nicht.

Plotek schweigt lieber. Jetzt auch. Plotek schweigt überhaupt am liebsten. Es gibt für vieles einfach keine Worte, und wenn, dann ist ihre Aussagekraft nur unzureichend. Wenn schon, dann hätte er jetzt sagen müssen: »Mir geht’s schlecht. Hundsmiserabel schlecht.«

Davon wäre es ihm dann aber auch nicht besser gegangen. Also hat er es gelassen und weiter in sein Weißbierglas hineingeguckt, sodass er fast das Gefühl bekam, das Weißbierglas guckte schon aus ihm heraus. Der Tresenhocker hat sich über seinen Schnauzbart gestrichen, als ob er schon lange ein intimes Verhältnis zu ihm pflegen würde, dann hat er sich mehrmals geräuspert, eine HB angezündet und schließlich gesagt: »Sag mal, Plotek, du warst doch mal Schauspieler? Du bist doch belesen, gebildet, mit allen Wassern gewaschen, du bist doch einer, der sich auskennt, hast schon viel gesehen, dir macht doch keiner mehr ein A für ein O vor, oder?«

Achtung! Wer so anfängt, führt was im Schilde, hätte Plotek jetzt denken müssen, wenn er bloß an etwas anderes hätte denken können als an die Auseinandersetzung mit Agnes. Er konnte aber an nichts anderes mehr denken. Also kam auch keine Reaktion. Hat der Tresenhocker wieder seinen Bart gestreichelt und dann einfach weiter auf ihn eingeredet.

»Wie du vielleicht weißt, hab ich ein kleines Busunternehmen. Schnabel, Ferdinand Schnabel. Luxusreisen nach Karlsbad, schon mal was gehört davon?«

Wieder keine Reaktion. Dafür ein tiefer Zug von Schnabel an seiner HB – diesmal keine Streicheleinheiten für den Bart – und weiter.

»Egal. Also, es geht um Folgendes. In einer Woche hab ich die nächste Fuhre. Wellness-Reise, Fünf-Sterne-Grandhotel, mit allem Drum und Dran. Pipapo. Alles nur vom Feinsten.«

Pause. Und wieder ein Zug von der HB.

»Na ja, jetzt ist Folgendes. Ich fahr also den Bus und der Hans-Hermann – kennste vielleicht, ist auch öfters hier, auch Stammgast, so ein Großer mit Vollbart und einer Verbrennung auf Stirn und Backe, hat er sich irgendwann in der Kindheit eingefangen –, der Hans-Hermann also, der ist für die Reisebegleitung zuständig. Was halt so anliegt. Nicht viel, aber einer muss sich ja um die Fahrgäste kümmern, nicht wahr?«

Warum erzählt der Schnabel mir das alles, hätte Plotek denken müssen, wenn er gedacht hätte. Er hat aber nicht gedacht – nicht mal mehr an die Auseinandersetzung mit Agnes.

»Und der Hans-Hermann ist jetzt auf absehbare Zeit nicht mehr einsetzbar. Na ja, der ist, wie man so schön sagt, außer Gefecht gesetzt – blödes Missgeschick. Und jetzt dachte ich, such ich mir einen anderen, vorübergehend, bis der Hans-Hermann … du weißt schon.«

Nichts wusste Plotek und im Prinzip wollte er auch nichts wissen. Aber ob er wollte oder nicht, Ferdinand Schnabel sagte es ihm trotzdem. Davor streichelte er aber wieder liebevoll seinen Bart, zog kräftig an seiner Zigarette, blies den Rauch zur Froh-und-Munter-Decke und bestellte noch zwei Tequila.

»Prost.« Und wieder: »Ah, Mensch, das tut gut.«

»Also, ich hab gedacht, ich engagiere mir einen Reisebegleiter für die Fahrt nächste Woche, nach Karlsbad. Aber nicht irgendeinen. Irgendwelche gibt’s wie Sand am Meer. Ich brauche einen wie dich, weißt schon. Einen, der sich auskennt mit den Menschen, dem niemand ein A für ein O vormacht, verstehst?«

Langsam dämmerte es Plotek.

»Eine Woche fünfhundert Euro, bar auf die Hand, inklusive Übernachtung, Spesen und alles. Da gibt es nicht viel zu tun, ein bisschen die Fahrgäste unterhalten, da mal zuhören und dort mal was organisieren, sonst nichts. Easy, alles total easy, verstehst?«

Ganz fremdartige Gedanken machten es sich jetzt in Plotek bequem. Aber nicht wie Ferdinand Schnabel vielleicht dachte, sondern vielmehr in Bezug auf Weihnachten, Agnes und alles.

»Na ja, jetzt dachte ich, du suchst doch immer mal einen lockeren Job. Die Susi hat gesagt, wenn ich was wüsste … Jetzt weiß ich was. Fünfhundert für die Woche, bar auf die Kralle, schwarz – für fast nichts.«

»Wann?« Es hörte sich an wie Taubengurren.

Das erste Mal, dass Plotek seinen Blick aus dem Schaum vom Weißbierglas nahm.

»Über Weihnachten. Nächste Woche. Eine ganze Woche lang.«

»Susi, noch zwei Tequila«, sagte jetzt Plotek und dann hatte er eine Idee.

Aber ehe noch die Tequilas kamen, ging die Tür in einem Schwung auf, und Agnes stand wutschnaubend neben Plotek – die Idee war futsch.

»Das kannst du nicht machen! So kannst du mit mir nicht umspringen, so einfach kommst du mir nicht davon, mein lieber Paul Plotek!«

Das klang nicht gut. Das klang nach Vorwurf, nach größerem Streit, nach bevorstehender Beziehungsszene. Hat sich Plotek sofort wieder in den Weißbierschaum vergraben. Das half ihm aber dann auch nichts. Agnes ist gleich wieder ins Diskutieren verfallen. Na ja, diskutieren. Zum Diskutieren braucht man in der Regel immer zwei. Argument, Gegenargument – aber vergiss es. Plotek war die Ausnahme von der Regel, Plotek war der Tod jeder Diskussion. Das wusste auch Agnes und verbiss sich vorsorglich wieder in die jenssche Rhetorik. Einen Trumpf nach dem anderen warf sie auf den Tresen: »Nur drei Tage, Heiligabend, erster Weihnachtsfeiertag, zweiter, dann ein Jahr lang Ruhe, das ist doch nicht zu viel verlangt.«

Objektiv betrachtet sicherlich nicht, subjektiv vielleicht. Aus Ploteks subjektiver Sicht ganz bestimmt.

»Ich kann nicht«, sagte Plotek so kleinlaut, dass Agnes es kaum verstehen konnte.

Kurze Pause, als ob es Agnes die Sprache verschlagen hätte. Ob es jetzt der Inhalt von Ploteks Worten war oder doch eher die Form, soll heißen, dass Plotek überhaupt den Mund aufbrachte – keine Ahnung. Auf jeden Fall war Agnes zuerst so perplex, dass sie gar nichts mehr sagen konnte. Erst nach einer längeren Pause und zwei Schluck Weißbier aus Ploteks Glas war bei ihr die Sprache wieder zurück.

»Was? Warum?«, drang es jetzt lauter als zuvor aus Agnes’ Mund, in einer Mischung aus Verwunderung, Unverständnis und Ärger. Dann ein kleiner Rülpser, dann nichts mehr.

So lange, bis sich Ferdinand Schnabel zu Wort meldete. Er sagte, während er wieder seinen Schnauzbart liebevoll streichelte: »Weil er nach Karlsbad fährt.«

Wieder Pause. Agnes guckte Ferdinand Schnabel jetzt an, als ob nicht Plotek nach Karlsbad, sondern Schnabel gleich in die Hölle fahren würde, eigenhändig von ihr auf die Reise geschickt.

»Was will der Knilch denn hier?«, zischte sie Plotek an, ohne den Knilch aus den Augen zu lassen.

»Schnabel, Ferdinand, ich bin der neue Arbeitgeber von Plotek.«

»Was? Was ist der, dein …«

»Arbeitgeber«, ging Schnabel dazwischen. »Plotek und ich fahren über Weihnachten mit meinem Busunternehmen nach Karlsbad. Luxusreisen nach Karlsbad, schon mal was gehört davon?«

Davon hatte Agnes nichts gehört und wollte auch gar nichts davon hören.

»Halt dein Maul!«, brüllte sie und packte Ferdinand Schnabel am Kragen. Vermutlich hätte Agnes den Schnabel jetzt verprügelt, wenn nicht die Susi dazwischengegangen wäre. Hat Agnes eben wieder vom Schnabel abgelassen und sich dafür Plotek vorgeknöpft.

»Und warum erfahre ich das erst jetzt?«, zischte sie, dass es Plotek angst und bange wurde.

»Weil wir …«, wollte sich Schnabel wieder einmischen, diesmal ganz dezent – aber keine Chance.

»Halt’s Maul, hab ich gesagt!« Und: »Du fährst also lieber mit dieser Schnauzbartschwuchtel nach Karlsbad als mit mir ins Allgäu.«

Keine Reaktion von Plotek. Wie paralysiert saß er auf seinem Barhocker und stierte in den Weißbierschaum hinein. Typisch Plotek wieder. In solchen Situationen konnte er nicht mehr denken, schon gar nicht reagieren. Nur noch vor sich hinglotzen wie eine Kuh vor einem Elektrozaun. Wäre Plotek jetzt fähig gewesen zu denken, vielleicht sogar zu reagieren, hätte er spätestens jetzt Agnes eine Alternative zu ihrem Weihnachten im Allgäu auf den Tresen pfeffern müssen, einen Gegenvorschlag. Vielleicht: Er und Agnes nach Karlsbad, für eine Woche, Grandhotel, Wellness – er verdient und sie gibt aus. Alles paletti – aber vergiss es. Nichts Gegenvorschlag, nichts paletti. Eher das Gegenteil.

»Na warte!«, brüllte Agnes und verließ türeschlagend das Froh und Munter.

Das wäre überstanden, war das Erste, was Plotek wieder denken konnte. Aber Irrtum. Nichts war überstanden, gar nichts.

Keine halbe Stunde später war Agnes schon wieder da. Unterm Arm eine Bananenkiste. Darin drei kleine Kätzchen. Das waren die Katzenkinder vom Fritz und vorübergehend bei Agnes geparkt. Jetzt muss man wissen, dass der adoptierte Fritz gar kein Kater war, sondern eine Katze, und nur deswegen Fritz hieß, weil die Frau Wammerling, die vorhergehende Besitzerin von Fritz, sich auf ihre alten Tage nicht noch einen anderen Namen merken wollte und die Katze Fritz nach ihrem verstorbenen Ehemann nannte. Aber das steht in einer anderen Geschichte.

»Die kannst du gleich mitnehmen nach Karlsbad und viel Spaß noch«, sagte Agnes und knallte die Kiste auf den Tresen, dass die Kätzchen es mit der Angst bekamen.

Scheiße, dachte Plotek. Und die Kätzchen, wenn sie hätten denken können, auch. Schnabel grinste und streichelte wieder seinen Bart.

Agnes dagegen war auf und davon.

2

»Bist du der Weihnachtsmann?«

»Wer denn sonst?«

»Aber seit wann haben Weihnachtsmänner Kalaschnikows um den Hals?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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