Kille Kille King - Sobo Swobodnik - E-Book

Kille Kille King E-Book

Sobo Swobodnik

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Beschreibung

Sobo in Bestform!

Plotek ist gestresst. Zu viel Lärm, Baustellen, Straßenbahngleisarbeiten, Haussanierung. Er muss raus aus seiner Wohnung. Auch Vinzi flüchtet von der Schwäbischen Alb wegen seiner rumänisch-deutschen Haushaltshilfe Hexe und dubioser Machenschaften. Die beiden verschlägt es auf einen Campingplatz an der Ostsee, dort steht ein Wohnwagen, in dem sie günstig hausen können. Doch nichts da mit Strandidylle. Kaum haben sie Quartier bezogen, ist der erste Dauercamper tot. Und die Küchenhilfe folgt sogleich.

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Seitenzahl: 480

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Das Buch

Plotek flüchtet aus München wegen zu viel Lärm, Baustellen, Straßenbahngleisarbeiten, Haussanierung und allem. Vinzi flüchtet von der Schwäbischen Alb wegen seiner rumänisch-deutschen Haushaltshilfe Hexe, dubiosen Machenschaften und dergleichen. Die beiden treffen sich zur Spargelzeit auf einem Campingplatz an der Ostsee, Lübecker Bucht, Grömitz  – Ostseeheilbad der Sonnenseite. Aber nichts da. Kaum haben die beiden den Tabbert Puccini bezogen, da ist auch schon der erste Dauercamper tot: vergiftet! Die Ostsee-Idylle aus Sonne, Strand und Sandburgen bekommt das erste Mal Risse. Dann Löcher. Kurz darauf verschwindet auch die polnische Küchenhilfe der Campingplatz-Bierstube und taucht daraufhin im historischen Brunnen der alten Klosteranlage wieder auf: mit eingeschlagenem Schädel! Da die völlig überforderte örtliche Polizei bald Plotek und Vinzi verdächtigt, bleibt den beiden nichts anderes übrig, als die Aufklärung der Straftaten selbst in die Hand zu nehmen.

Der Autor

Sobo Swobodnik, aufgewachsen auf der Schwäbischen Alb, studierte Schauspielerei, arbeitete als Rundfunkredakteur und Theaterregisseur. Er hat mehrere Romane veröffentlicht und ist auch als Filmemacher tätig. Sein Roman Kuhdoo war ein großer Erfolg, der es bis auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte. Der Autor lebt heute in Berlin. Besuchen Sie seine Website www.plotekromane.de

 

Lieferbare Titel: Oktoberfest – Kuhdoo – Ahoi Polaroid

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Sämtliche Figuren und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Originalausgabe 05/2012

Copyright © 2012 by Sobo Swobodnik Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Ulf Müller Umschlagillustration: © plainpicture/Readymade/Scarlett Coten, istockphoto/Annaju; Fotolia/askaja, by-studio, makuba, 3desk, Mo Umschlaggestaltung: yellowfarm GmbH, s. freischem Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten

ISBN 978-3-641-08533-9V002

www.heyne.de

Gott ist tot  – Elvis lebt!Gesprayter Schriftzug an einer Berliner Hauswand

 

 

 

 

Einmal am Tag freut man sich, dass man am Leben ist und noch nicht tot.

Das ist ein unwahrscheinliches Kapital.

Thomas Bernhard

 

 

 

 

Strobe lights pump and flickerDry lips crack out for more»Come bite on this rag doll, baby!That’s right, now hit the floor«They’re sneaking out the back doorShe gets up from all foursRhinestone fools and silver dollarsCurdle into bitter tearsPeek-a-boo Peek-a-booGolly jeepersWhere’d you get those peepers?Peepshow, creepshowWhere did you get those eyes?

 

Siouxsie and the Banshees, »Peek-a-Boo«

1

Jetzt saß Plotek wieder am Tresen vom Froh und Munter, seiner Lieblingsgaststätte in München, Stadtteil Neuhausen, vor einem fast vollen Weißbierglas mit eingefallener Schaumkrone, und war schon wieder eingeschlafen. Das sechste Mal an diesem Abend. »Mensch, geh doch nach Hause«, hätte man sagen wollen. Auch können. Genützt hätte es aber nichts. Plotek hatte nämlich kein Zuhause. Oder besser, er hatte kein Zuhause mehr. Theoretisch schon. Praktisch nicht. Natürlich hätte Plotek auch zu Agnes ziehen können, seiner Freundin. Aber auch wieder nur theoretisch. Praktisch war das völlig ausgeschlossen. Der Grund: Ihre Beziehung war am Arsch. Agnes hatte ihm die Freundschaft endgültig gekündigt. So wie man ein schon zu lange geführtes Sparkonto, das nur noch Bearbeitungsgebühren kostet und nichts bringt, nach vielen Jahren endlich abstößt.

Nachdem Plotek von seiner Hurtigruten-Reise mit seinem alten Freund Vinzi zurückgekommen war, gab es noch ein kurzes leidenschaftsloses Aufflackern der Beziehung. Danach war lange Sendepause. Bis schließlich ein Päckchen im Froh und Munter abgegeben wurde, in dem sich Ploteks Habseligkeiten aus Agnes’ Wohnung befanden. Eine Socke, ein Ober- und ein Unterhemd, zwei gebrauchte Unterhosen, ein Benzinfeuerzeug, eine defekte Armbanduhr, eine ungeöffnete Packung Präservative Superfeuchtund sonstiger Krimskrams. Das war’s dann. Einerseits war Plotek erleichtert. Nach dem Motto: Ein toter Hund ist besser als ein sterbender. Auf der anderen Seite war er auch ein wenig traurig. Irgendwie waren Agnes und die Beziehung zu ihr ein fester Bestandteil in seinem Leben geworden. Willkommene Zerstreuung in der Langeweile. Heiterkeit in der Betrübnis. Ein Fels in der Weißbierbrandung. Ansonsten gab es in Ploteks Leben mittlerweile nicht mehr viel, was für Halt und Geborgenheit stand. Das Froh und Munter vielleicht, sein alter Freund Vinzi, seine Wohnung, ein Stück weit auch München, das tröstende Unertl-Weißbier, ein paar Anekdoten und zwei, drei versteckte Wünsche. Aber sonst? Sonst hatte Plotek nichts und niemanden. Keine Freunde. Freundin auch nicht. Verwandte waren schon lange obsolet. Bekannte eben nur Bekannte. Und nicht zu gebrauchen. Zumindest nicht, um bei ihnen für ein paar Tage, vielleicht auch Wochen, Unterschlupf zu finden.

Jetzt könnte man sich fragen, warum Plotek einen Unterschlupf brauchte, wo er doch, wenn auch nur theoretisch, eine Wohnung hatte. Nun, seine Wohnung in München, Stadtteil Neuhausen, in der Nähe seiner Lieblingsgaststätte Froh und Munter, war seit geraumer Zeit eigentlich keine Wohnung mehr. Es war vielmehr ein Ort, der unbewohnbar war. Immer unbewohnbarer zu werden schien. Ein Ort, an dem er keine Ruhe mehr fand. Der Grund waren Baustellen. Oder besser, der Lärm der Baustellen vor, neben und in seinem Haus. Deshalb schlief er auch regelmäßig über seinem Weißbier am Tresen vom Froh und Munter ein.

Wie jetzt. Und schnarchte. Bis er eine Stimme hörte.

»He, Plotek, aufwachen!«

Zeitgleich spürte er ein fast zärtliches Rütteln am Arm. Die Stimme gehörte zu Susi, der Bedienung vom Froh und Munter. Das Rütteln kam von einem Mann neben ihm, der jetzt sein Glas hob.

»Prost!«

Plotek hob ebenfalls sein Glas und trank, ohne dem Mann, der schon öfter neben ihm am Tresen gesessen hatte und ihn an einen der schwitzenden Bauarbeiter erinnerte, seinerseits zuzuprosten.

»Müde, was?«

»Hm«, machte Plotek, während Susi die Augen verdrehte, was nur bedeuten konnte: »Trink aus und leg dich ins Bett!«

Schön wär’s, dachte Plotek und dann erneut an die Baustellen. Wobei er schon wieder mit den zufallenden Augen kämpfte.

Apropos Baustellen. Wie nässende, hässliche Geschwüre durchzogen sie die Stadt und lungerten seit geraumer Zeit gemütlich vor Ploteks Haus herum. Als hätte es sich herumgesprochen, dass da einer wohnte, den die Lärmbelästigung langsam zum Wahnsinn trieb. Seit zwei Wochen wurde der Asphalt auf dem Trottoir und der Straße vor seinem Haus aufgerissen. Mit Presslufthämmern, Schlagbohrern, Baggern und allem. Irgendwelche Rohre oder Kabel sollten mal wieder verlegt werden. Wofür die neuen Rohre gut sein sollten und warum die alten nicht mehr taugten, wusste keiner so genau. Auch die Bauarbeiter nicht. Wenn Plotek sie fragte, was sie denn da eigentlich genau machten, hoben sie die verschwitzten Schultern und glotzten vor sich hin, als wäre der aufgerissene Asphalt ein Schützengraben und der Krieg, in dem sie sich gerade befanden, für sie selbst nicht zu durchschauen. Das Afghanistan des Baugewerbes quasi. Dementsprechend fiel die Meute jeden Morgen um Punkt sieben Uhr mit schweren Maschinen über die Straße her und brüllte dabei, als ginge es nicht um Rohre oder Kabel, sondern eben um ethnische Territorialansprüche. Als wären die Männer im Blaumann Krieger im Kampf um den letzten Wurstzipfel. Mit einer Sprache ausgestattet, die keiner verstand. Dafür aber umso lauter war. Bauarbeiter reden nicht, Bauarbeiter schreien! Den ganzen Tag. Dabei versteht man kein Wort. Sonst könnte man ja auch zurückschreien. Aber keine Chance. Obgleich Plotek mit dem zunehmenden grobschlächtigen Geplärre merkte, dass auch er Lust gehabt hätte zu brüllen. Seine ganze Wut, seinen ganzen Hass auf die Baustellen, die Bauarbeiter und den Lärm einfach in die Luft hinauszuposaunen! – aber vergiss es. Hat er sich natürlich nicht getraut. Mussten eben kurzfristig die Sex Pistols ran. Für den Gegenangriff. Ab und zu hat Plotek eine Platte aufgelegt und die Stereoanlage bei offenem Fenster bis zum Anschlag aufgedreht.

»I eat your heart out on a plastic tray / You don’t do what you want then you’ll fade away / You won’t find me working nine to five / Too much fun being alive / Problem, problem / Problem, problem is you / Problem, problem, problem / Problem, problem / Problem, problem is you / What you gonna do? Problem …«

Geholfen hat es nichts. Danach brummten seine Ohren, und die Bauarbeiter schrien noch immer. Sogar noch lauter. Die Presslufthämmer perforierten nach wie vor sein Gemüt, so dass seine angeborene Gelassenheit langsam durch die hinterlassenen Löcher zu rutschen drohte. Soll heißen: Plotek merkte, wie seine Psyche langsam, aber stetig zu bröckeln begann, als wäre sie ein Marmorkuchen auf dem Fensterbrett bei Hochsommer. Sein Nervenkostüm war nur mehr ein ausgefranster lappiger Fetzen, in dessen losen Fäden er sich selbst verhedderte. Das Aggressionspotenzial in ihm stieg proportional zum Geräuschpegel um ihn herum. Der gutmütige Plotek verlor dabei langsam die Fasson. Näherte sich dem Nervenzusammenbruch. Die beste Verteidigung ist der Angriff, dachte er in dieser verzwickten Situation. Und die Rache. Rache schafft Genugtuung. Aug um Auge, Zahn um Zahn. Alttestamentarisches Kalkül. Bedeutet: In der Nacht hatte Plotek, angeschwippst vom Froh und Munter heimkehrend, einige Kabel an den Baugeräten durchgeschnitten, das Dixi-Klo umgeworfen und Wasser in den Sicherungskasten gekippt. Die Schlösser der Bauwägen ließ er alle drei Tage mit Sekundenkleber volllaufen. Die Folge war noch lauteres morgendliches Bauarbeitergebrüll. Worte wurden dabei zu Waffen. Und Plotek im dämmrigen Schlaf an die Wand gestellt und exekutiert. Natürlich schafften die Gemeinheiten auch ein wenig Befriedigung. Ein, zwei Schmunzler am Morgen waren der Lohn. Lösten das Problem aber nicht. Eher im Gegenteil. Durch Ploteks Sabotageakte verlängerten sich die Bauarbeiten umso mehr. Wurden sogar noch ausgeweitet. Es schien, als wollten die Bauarbeiter mit ihren eigenen Mitteln umso heftiger zurückschlagen. Neben den Baumaßnahmen vor dem Haus wurde jetzt auch noch im Haus gewerkelt. Mehr noch. Auch die Nachbarhäuser links und rechts von Plotek wurden plötzlich komplett saniert. Seine Befriedigung war endgültig dahin, die Genugtuung vorbei. Was blieb, waren Frust, Ärger und eine sich nun grenzenlos ausdehnende Lärmbelästigung. Soll heißen: neue Fassade, neues Dach, neues Treppenhaus, Aufzug und alles. Bedeutet: Gerüst, Sandstrahlgeräte, Schlagbohrer, Kräne, Betonmixer, Container und noch mehr Bauarbeiter. Es sah ganz so aus, als hätten sich die Hauseigentümer zusammengeschlossen und sich gegen ihn verschworen. Parole: Den Sack im dritten Stock machen wir fertig!

 

»Plotek!«

Wieder eine Stimme, wieder ein Rütteln. Jetzt weniger sanft. Plotek schreckte vom Tresen hoch.

»Prost!«

Als wären Susi hinterm Tresen und der Mann neben ihm der verlängerte Arm der Bauarbeiter.

»Mensch, Plotek, wie oft willst du hier denn noch einschlafen?!«

Susi wies zur Uhr über der Klotür, deren Zeiger gerade die halb zwölf hinter sich gelassen hatten. »Geh doch heim!«

Plotek grinste, wenig überzeugend, als wär’s ein Witz gewesen. Ein ziemlich schlechter Witz. Jeder andere hätte gedacht, recht hat sie und halb so schlimm. Soll Plotek doch einfach tagsüber ins Froh und Munter und dann nachts zum Ausschlafen nach Hause. Aber falsch gedacht. Zu Hause war nämlich auch in der Nacht keine Ruhe mehr. Der Grund: die Münchner Verkehrsbetriebe! Die hatten vor ein paar Tagen beschlossen, die Straßenbahnschienen vor Ploteks Haus neu zu verlegen. Die beste Zeit dafür war natürlich nachts. Für die Verkehrsbetriebe. Nicht für Plotek. Für Plotek wurde dadurch auch die Nacht zum Alptraum.

»Nimm halt Ohropax!«, hatte Susi gesagt und zwei gebrauchte über den Tresen geschoben. Aber vergiss es. Ploteks Ohren sind mit den kleinen gelben Schaumstoffwürstchen nicht kompatibel. Waren sie noch nie. Immer wenn er sie in seinen Ohrmuscheln versenkte, hörte er von außen zwar weniger. Dafür von innen umso mehr. Er hörte sein Herz wie wuchtige Hämmer klopfen und das Blut in den Adern rauschen, als wär’s der Niagarafall. Folge: Plotek verzichtete in der Nacht nicht nur auf Ohropax, sondern auch gleich noch auf seine Wohnung. Er saß, so lange es ging, im Froh und Munter. Oder besser, er schlief, solange ihn Susi ließ, immer wieder am Tresen ein. Irgendwann ging es dann nicht mehr, weil das Froh und Munter auch mal zumacht. München ist eben nicht Berlin und nie und nimmer eine Großstadt. Eine Weltstadt mit Herz schon gar nicht. Und wenn schon Weltstadt, dann ohne Herz. Der Weg nach Hause war auf jeden Fall verbaut. Sein Bett zum Schlafen ungeeignet. Die Wohnung für den nächtlichen Aufenthalt passé. Also blieb Plotek nichts anderes übrig, als sich nachts nach der Sperrstunde im Froh und Munter auf den zugigen Münchner Straßen herumzutreiben. Oder durch den Englischen Garten zu torkeln. Hundemüde und mit einem Rausch im Gesicht. Wie ein räudiger, herrenloser Hund. Als er dann vor ein paar Tagen völlig übermüdet auf einer Parkbank eingeschlafen war und irgendwann mit einem übermotivierten Homosexuellen an seiner Seite aufwachte, der sich gerade an Ploteks Hemd zu schaffen machte, war’s dann auch mit dem Englischen Garten endgültig vorbei. Soll heißen, ab jetzt also wieder nachts nach Hause und schlaflos leiden bis zum Morgen. Bis zur Katastrophe. Die kommen musste. Die auch kam.

Vorher aber schickte Susi Plotek noch mit den Worten »Das ist ja unerträglich, Mensch, lass dir doch helfen!« zum Doktor Hohenthaler.

Gemeint war nicht nur die Schlaflosigkeit, sondern auch sein Hautausschlag. Seit die Baustellen in sein Leben getreten waren, waren nämlich auch die Pusteln da. Kleine, rote Punkte verteilten sich vor allem dort, wo man sie sehen konnte, also auf Gesicht, Nacken, Hals und Händen. Natürlich gab es zwischen Lärm und Ausschlag einen Zusammenhang. Welchen, das erklärte Doktor Hohenthaler ihm mit nachdenklichem Blick.

»Alles psychisch!«, sagte er, als wären nicht die Baustellen und die Lärmverschmutzung Schuld, sondern Plotek selbst. Der Doktor hob die weiß bekittelten Schultern, lehnte sich in seinem Designer-Schreibtischstuhl zurück und rieb die Hände aneinander, als ginge von Plotek eine eisige Kälte aus.

»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Gut, ich könnte Ihnen natürlich eine Salbe verschreiben. Aber das wäre nur äußerlich. Innerlich wirkt die nicht. Innerlich, da sind Sie selbst zuständig.«

Er beugte sich wieder nach vorne und sah Plotek lange in die schläfrigen Augen, dass es dem ganz unheimlich wurde. Dann sagte er schließlich, als wäre das die Lösung des Problems: »Fahren Sie weg, Plotek! Nehmen Sie Abstand. Erholen Sie sich. Sie sehen ja furchtbar aus. Da hilft nur noch Entspannung, verstanden?«

Natürlich verstand Plotek, sagte aber trotzdem nichts. Was den Doktor sogar ein wenig ärgerlich werden ließ. »Sie wissen, was ich meine, oder?«

Nur zu gut wusste Plotek das, wollte aber noch immer nichts sagen. Er stand auf und ging zur Tür.

»Sonst endet es irgendwann tragisch!«, gab ihm der Doktor noch mit auf den Weg.

 

Das Irgendwann kam früher als gedacht und war dann keine vierundzwanzig Stunden später mit großem Hallo auch schon da. Völlig übermüdet war Plotek tatsächlich gegen zehn Uhr am Morgen, nachdem er stundenlang wie auf einem elektrischen Stuhl im Sessel gehockt war, trotz Presslufthammer und Bauarbeitergebrüll eingeschlafen. Der Schlaf war nicht tief, hielt auch nicht lange und endete abrupt. Denn plötzlich klingelte es an seiner Wohnungstür. Aber nicht nur ein- oder zweimal. Es wurde Sturm geläutet. Minutenlang. So lange, bis Plotek aus seinem Schlaf hochschreckte. Außer sich, wie von der Tarantel gestochen, stürmte er zur Wohnungstür, riss sie auf, um dann plötzlich zu verharren. Im Hausflur vor der Tür standen zwei junge Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Sie hatten beide identisch aussehende akkurate Mittelscheitel und glänzende, bartlose Gesichter. Der eine hob eine schwarz gebundene Bibel in die Höhe, während der andere mit balsamierter Stimme fragte: »Glauben Sie an Gott?«

Hätte jemand Plotek in normalem, ausgeschlafenem Zustand danach gefragt, hätte er vielleicht »Hm« gesagt. Oder »Na ja« und »Je nachdem«.

In dieser aufgebrachten Stimmung, mit einem von mehreren schlaflosen Nächten zerrütteten Nervenkostüm, sagte er nichts mehr. Nicht muh, nicht mäh. Stattdessen knallten seine Sicherungen durch. Im Bruchteil einer Sekunde verlor er die Contenance, wurde sich selbst völlig fremd und erkannte nichts mehr an sich wieder. Aus dem Menschen wurde ein Tier. Aus einer harmoniesüchtigen, harmlosen Person binnen eines Fingerschnipsens eine ferngesteuerte, cholerische Kampfmaschine. Plotek sah rot! Dunkelrot! Schwarz!

Er sprang dem einen Zeugen Jehovas an den Hals und trat dem anderen gleichzeitig in den Hintern. Folge: Beide wollten mit ihm von nun an nicht mehr über Gott reden. Auch nicht über irgendetwas anderes. Sie versuchten möglichst schnell Reißaus zu nehmen. Mit panischem Blick und ähnlich laut schreiend wie die Bauarbeiter flehten sie den Allmächtigen um Hilfe an und stürzten die Treppe hinunter, die Hosen gestrichen voll. Das sagt man jetzt so einfach. War aber tatsächlich so. Einer der Zeugen machte sich tatsächlich in die Hose. Zumindest waren eindeutige Spuren auf dem Hosenboden und im Treppenhaus zu sehen.

Für Plotek hatte die Vertreibung der Zeugen einerseits etwas Reinigendes, Erlösendes an sich. Er fühlte sich danach ein Stück weit erleichtert. Andererseits jagt man die Zeugen Jehovas selbstverständlich nicht einfach so mit Arschtritten die Treppe hinunter, ohne dass es Folgen hätte. Diese ließen nicht lange auf sich warten. Nachdem nämlich die Zeugen weg waren, kamen sogleich die Ordnungshüter in Gestalt zweier Polizeibeamter von der nur ein paar Straßen entfernt gelegenen Wache und begehrten Einlass. Sie klingelten und klopften an der Tür, während Plotek sich, wieder aus dem Bestienkostüm geschlüpft, als geläuterter Mensch hinter dem Sofa versteckte und sich tot stellte. Nachdem die Polizisten wieder weg waren, verließ auch Plotek klammheimlich die Wohnung und mied seitdem dieselbige genauso wie die Zeugen Jehovas. Er suchte bis auf weiteres im Froh und Munter Unterschlupf. Was Susi auch wieder ein Dorn im Auge war. Sie mochte Plotek zwar, aber dass er nun den ganzen Tag am Tresen saß und mehr schlief als trank, konnte ihr dann doch nicht recht sein.

 

»Plotek! Du musst dich mal richtig ausschlafen«, sagte der Mann neben ihm, während Plotek die Augen wieder aufriss und ihn ansah, als wäre sein Gesicht ein Bett.

»Ich hab da was für dich.«

Eine Wohnung, im Grünen, am Rand der Zivilisation, mit nichts außer Vogelgezwitscher, fantasierte Plotek.

»Tabbert 655 D«, sagte der Mann. Es klang, als wäre es ein Code, eine Chiffre. Die Plotek aber offenkundig nicht verstand. Konkretisierte der Mann es eben.

»Wohnwagen.«

Susi nickte zustimmend, während es bei Plotek anfing zu dämmern.

»Acht dreiundfünfzig lang, zwo fünfundsechzig hoch, zwo fuffzig breit. 45 Liter Frischwassertank, fest installiert. Warmluftanlage mit Drehzahlautomatik, 12 Volt. Erstklassiges Echtholzfurnier aus Piemonteser Kirsche an den Deckenschrankklappen, mit zwei eleganten Chromadern. Formschöne Chromgriffe und komfortable Snap-in-Verschlüsse. Belüftete Sitzstaukästen und Hinterlüftung der Deckenschränke. Domestic-Toilette mit Keramikbeschichtung.«

Will der den verkaufen?, dachte Plotek, während die Finger einer nach dem anderen aus den Fäusten des Mannes schnalzten wie Hosengummis. Zumindest klang er wie ein Händler. Die Finger seiner beiden Hände waren jetzt wie Antennen in die Luft gespreizt.

»Kostet neu ein Vermögen.« Wie viel wollte er nicht sagen.

»Der Spinflo-Kocher hat Haushaltsniveau und lässt sich wegen seiner Glasplatte ganz leicht reinigen. Heizung Truma SL5002, zwei Gebläsemotoren und Heizkreisläufe, 12-Volt-Heizungsgebläse mit Drehzahlautomatik. Extrahohe Rückenpolster für optimalen Sitzkomfort. Absolutes Wohlfühlambiente!«

Oder hat er vielleicht zu lange an der Gebrauchsanweisung seines Tabberts geschnüffelt? Jetzt schnalzte der Mann genüsslich mit der Zunge und machte eine kurze Pause. Offenbar in der Erwartung, dass Plotek, von einem derartigen Angebot begeistert, ein paar lobende Worte fand. Aber keine Chance. Plotek schaute noch immer, als wäre Tabbert 655 D eine Geschlechtskrankheit und in höchstem Maße ansteckend. Was er dadurch verdeutlichte, dass er ein paar Zentimeter von dem Mann wegrückte.

»Ich fahr erst wieder in den Sommerferien hin. Mit der Familie.«

Der Mann griff in seine hintere Hosentasche und holte seine Geldbörse heraus. Er klappte sie demonstrativ auf und hielt sie Plotek vor die Nase. Hinter dem Zellophansichtfenster war aber kein Wohnwagen zu sehen, sondern ein hässlicher pausbackiger Junge, ein ebenso hässliches, gut zwei Jahre jüngeres Mädchen mit Zöpfen und Zahnlücke und eine vielleicht vierzigjährige Frau, die aussah wie sechzig. Dahinter war der Mann selbst zu erkennen.

»René, Klara-Monique, Angela, Ulf«, sagte er, während sein Zeigefinger auf dem Foto nacheinander über den Sohn, die Tochter, seine Frau und schließlich sich selber strich. Dann klappte er die Geldbörse wieder zu und sagte: »Bis dahin kannst du den Puccini haben, wenn du willst.«

»Puccini?«, fragte Susi, die ebenfalls Mühe hatte, Ulf zu folgen.

»So heißt der Wohnwagen.«

Als es bei Susi immer noch nicht klingelte, fügte Ulf hinzu: »Das ist der Name des Modells.«

Er machte erneut eine Pause, als erwartete er jetzt tobenden Applaus. Aber denkste. Plotek reagierte noch immer nicht. Susi hingegen nickte anerkennend, als ob sie in Ploteks Namen schon einwilligte in das Geschäft, während Plotek sich noch fragte, wo denn dieser Tabbert Puccini überhaupt stand. Sicher nicht in München. Vermutlich nicht mal in Bayern. Höchstwahrscheinlich sogar am anderen Ende der Republik.

»Grömitz«, sagte Ulf, als hätte er Ploteks Gedanken erraten. »Auf einem schönen, kleinen Campingplatz mit allem Drum und Dran.«

Was das Drum und Dran denn war, sagte er nicht. »Ostseeheilbad der Sonnenseite, schon mal davon gehört?«

Keine Reaktion von Plotek. Auch von Susi nicht. Dafür von Ulf. »Herrlich!«

Als Plotek noch immer schwieg, legte Ulf mit »Ostseestrand« und »Lübecker Bucht!« nach. Wie man auf ein fast erloschenes Feuer Briketts nachlegt.

Lübeck, dachte Plotek. Dabei fiel ihm nicht viel ein. Höchstens Holstentor, Nobelpreisträger und Marzipan. Als Ulf wieder mit »Herrlich!« kommentierte, sagte Susi: »Ideal!«

Sie hob die linke Augenbraue, was sie eindrucksvoller konnte als jeder andere. Die erhobene Augenbraue unterstrich das Gesagte nicht nur nachdrücklich, sondern bedeutete in diesem Fall, dass sie in Gedanken bereits Ploteks Koffer packte, als könnte sie es nicht erwarten, ihn endlich loszuwerden.

»Exakt!«

Ulf nickte Susi zu, die nickte zurück, holte drei Gläser aus dem Kühlschrank und stellte sie vor die beiden auf den Tresen.

»Und vor allem ruhig und entspannt!«

Sie schenkte den Tequila ein und legte die Zitronenschnitze neben die Salzfässchen.

»Prost!«

Jetzt muss man wissen, dass Plotek kein Campingfreund ist. Noch nie einer war. Auch nicht vorhatte, einer zu werden. Er hat schon immer lieber im eigenen Bett als im fremden Schlafsack geschlafen. Ein Campingplatz war für ihn das Hoheitsgebiet von Spießern. Die sommerliche Außenstelle von Einfamilienhäusern mit Gartenzwergen, Jägerzäunen und Buchsbaumhecken. Das Reich für heimwerkende Ulf-Papas und Angela-Muttis, die Kinder mit Namen Klara-Monique hatten und Fußabstreifer, auf denen my home is my castle stand.

»Prost!« Salz, Zitrone, Tequila.

»Ah!«, von Ulf. Von Plotek nichts.

»Der Wohnwagen ist geräumig, da kann man zu viert übernachten«, versuchte es Ulf erneut, als wäre er von Susi beauftragt, Plotek den Wohnwagen schmackhaft zu machen. Vielleicht war er aber auch nur auf einen weiteren Tequila aus.

Wieder entstand eine kurze Pause. Noch ehe Ulf die Preisung des Wohnwagens fortsetzen konnte, klingelte plötzlich das Telefon an der Wand und schlug scheppernd eine Schneise in die Kneipenluft. Bis auf Plotek sahen alle auf den altmodischen Kasten der Telekom. Auch Susi. Wieder schnellte eine ihrer buschigen Augenbrauen nach oben. Diesmal war es die rechte, was Skepsis und Irritation in einem ausdrückte. Jetzt muss man wissen, dass das Telefon lange, sehr lange nicht geläutet hat. Und hätte man Susi gefragt, wann es denn zuletzt auf sich aufmerksam gemacht habe, hätte auch sie zunächst passen müssen. Erst nach längerer Überlegung wäre es ihr eingefallen. Jahre schon ist es her, als ein ehemaliger Kommilitone Ploteks von der Schauspielschule aus Altötting via Kneipenapparat nach Plotek verlangt hatte. Damals hatte der wuchtige Apparat das letzte Mal geschellt. Ab und zu rief mal jemand von diesem Telefon aus ein Taxi an. Oder ein stark alkoholisierter Kneipenhocker beendete eine marode Beziehung. Das war’s aber auch schon. Warum die Telekom den Apparat da an der Wand hängen ließ, wollte niemandem so recht einleuchten. Verdienen konnten sie damit jedenfalls nichts.

Nachdem sich niemand bequemte aufzustehen und den Hörer von der Gabel zu nehmen, der Apparat mit seinem Geschrei aber auch nicht lockerließ, kam Susi schließlich schlecht gelaunt hinter dem Tresen hervor, ging zum Telefon und nahm ab.

»Ja?!« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. In diesem »Ja« war nicht nur ein »Ja« enthalten, sondern auch alles andere. Ein »Nein«, ein »Was willst du?« und ein bisschen auch ein »Leck mich doch am Arsch!«. Dann drehte sich Susi um und blickte zu Plotek hinüber.

»Für dich!« In diesen beiden Wörtern steckte ebenfalls ein ganzer Roman. Mehr noch, der ganze Dante. Als wäre dies ein Anruf aus dem Jenseits. Der Hölle. War es natürlich nicht. Obwohl die Stimme am anderen Ende verdammt danach klang.

»Ich werde beschattet«, waren die ersten gehauchten Worte, die sich aus der perforierten Muschel an Ploteks Ohr schmiegten. Ähnlich gehaucht und nicht minder geheimnisvoll das Folgende. »Ich brauche deine Hilfe. Irgendwie lungern schon seit geraumer Zeit zwei Typen vor meinem Haus herum. Ich muss hier raus. Kann ich zu dir kommen?«

Das war eindeutig Vinzi. Sein alter Freund von der Schwäbischen Alb, mit dem er vor Monaten noch die Reise auf dem Hurtigruten-Postschiff bis zum Nordkap hinter sich gebracht hatte, nicht ohne dabei schmerzliche Blessuren davonzutragen. Und dieser Vinzi flüsterte besorgt, als ob die zwei besagten Typen nicht nur vor seinem Haus herumlungerten, sondern zugleich dabei wären, alles, was sie sagten, mitzuhören. Natürlich fragte sich Plotek, was für Typen. Aber noch ehe er seine Gedanken artikulieren konnte, flüsterte Vinzi schon wieder aus dem Hörer: »Du weißt schon, die Sache mit der Marcella!«

Und ob Plotek das wusste. Für alle, die’s nicht wissen: Marcella ist ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner, an das die beiden durch Zufall vor langer Zeit, noch vor der Hurtigruten-Reise geraten waren, und das sie nach aufregendem Hin und Her schließlich für ein hübsches Sümmchen an eine dubiose Adresse verkauft hatten. Dass dabei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, steht auf einem anderen Blatt. Oder besser in einer anderen Geschichte. Nur so viel: Dieser unleidliche Vorfall drohte die beiden nun abermals einzuholen.

»Scheiße!«, sagte Plotek und dachte: Jetzt geht das wieder los.

»Das kannst du wohl laut sagen«, kam es prompt von Vinzi retour, noch immer flüsternd. Und dann: »Also, was ist jetzt?« Schon kräftiger, auch insistierender.

Natürlich hätte Plotek Vinzi jetzt von den ihn umzingelnden Baustellen erzählen können, dem unbeschreiblichen Lärm, von seiner dadurch erzwungenen derzeitigen Obdachlosigkeit, dem Schlafentzug und dem Hautausschlag. Auch von seiner an die Wand gefahrenen Beziehung zu Agnes hätte er sprechen können, von seinem Ausraster den Zeugen Jehovas gegenüber und allem. Tat er aber nicht. Stattdessen sagte er nur: »Moment!«

Dann ließ er den Hörer am Apparat baumeln und ging zurück zum Tresen. Er schob dem Wohnwagenbesitzer Ulf kommentarlos einen Bierdeckel zu. Der blickte auf den Bierdeckel wie ein Mullah auf eine Hostie. Griff Plotek eben über den Tresen, fischte einen Kugelschreiber aus dem Glas neben dem Zapfhahn, legte ihn neben den Bierdeckel und sagte: »Adresse.« Wie man »Hose runter!« sagt.

Jetzt schien es auch Ulf zu dämmern. Er griff nach dem Kugelschreiber und kritzelte die Adresse des Campingplatzes auf den Deckel. Mit dem Bierdeckel ging Plotek zurück zum Telefon. Er griff wieder nach dem Hörer und las vor: »Campingplatz Inselstrand, 23743 Grömitz, Lensterstrand, Wohnwagen Tabbert 655 D Puccini, Standplatz Nr. 34.«

2

Plotek schlief auf der Fahrt von München nach Hamburg. Endlich schlief er mal wieder tief und fest. Am Münchner Hauptbahnhof war er in das Großraumabteil des ICE gestiegen, hatte sich, noch ehe der Zug losfuhr, auf einen der Sessel gesetzt und war, mehr aus Zufall, sechs Stunden später bei der Einfahrt in den Bahnhof der Hansestadt wieder aufgewacht. Von Hamburg nach Lübeck war es ähnlich. Nur auf der letzten Etappe im Regionalexpress nach Neustadt brachte er kein Auge zu. Der Grund war eine junge, sehr schwangere Frau, die sich neben ihn setzte und, noch ehe er die Augen schließen konnte, auf ihn einzureden begann, als müsste sie das Kind gleich jetzt und durch den Mund gebären. Womöglich war ihre Aufgeregtheit dem zarten Alter geschuldet. Vielleicht auch ihrem veränderten Hormonhaushalt. Auf jeden Fall quasselte sie unentwegt und offensiv an Plotek gerichtet vor sich hin, so dass der sich an die Baustellen erinnert fühlte, die Bauarbeiter, die Lärmbelästigung, und unmöglich einschlafen konnte.

»Fahren Sie auch nach Grömitz? An die Sonnenseite?« Sie lachte. »Es heißt doch Ostseeheilbad der Sonnenseite, nicht wahr?«

Wieder Lachen. Plotek nickte halbherzig und vor allem schläfrig.

»Sind Sie auch Stipendiat?«

Plotek schüttelte den Kopf.

»Ich komme aus der Schweiz und werde zwei Monate in einer alten Klosteranlage nahe Grömitz in einer Atelierwohnung an meinem ersten Lyrikband schreiben. Das wird bestimmt lustig.«

Was daran lustig sein würde, war Plotek nicht ganz klar.

»Und Sie?«

Die junge Frau mit dem Pferdeschwanz und dem dicken Bauch, den sie immerzu mit ihren Händen umfasste, fragte es weniger interessiert. Es klang vielmehr so, als wollte sie die Uhrzeit wissen, das Datum oder einen Straßennamen. So kam es zumindest Plotek vor. Seine Antwort fiel entsprechend aus: »Nichts.«

Ein wenig schien die schwangere Schweizerin irritiert zu sein. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann redete sie schon wieder munter weiter.

»Für mich ist das ganz besonders aufregend. Ich lebe ja normalerweise in den Bergen. Das einzige größere Gewässer, dem ich bisher nahe gekommen bin, ist der Vierwaldstädter See. Und jetzt das Meer! Es ist das erste Mal, dass ich ans Meer fahre. Das erste Mal so weit von zu Hause entfernt. Das erste Mal so richtig allein.«

Na ja, ganz so allein auch wieder nicht, dachte Plotek und blickte verstohlen aus dem Augenwinkel auf den großen Bauch. Es war ein schöner Bauch, der zum Bersten gespannt wie ein Medizinball unter dem T-Shirt lauerte. Der Nabel schimmerte kronkorkengroß unter dem Stoff hervor, als wollte er gleich hindurchstoßen und Plotek ins Auge springen. Bei dem Gedanken an den Bauch merkte Plotek, dass er plötzlich eine kleine, aber feine Erektion bekam. Unverständlicherweise. Für schwangere Frauen hatte er früher nie etwas empfunden. Geschweige denn, dass sie ihn erregt hätten. Schwangere Frauen waren ihm völlig gleichgültig. Mehr noch. Zeitweilig fand er Schwangere sogar abstoßend. Gleichzeitig auch alles, was mit ihnen zu tun hatte. Babys, Kinder, Kinderwägen, Väter, Mütter und alles. Die Ablehnung entstand aus purer Opposition zum weit verbreiteten Reproduktionswahn. Plotek war früher absolut gegen jegliche Art von Fortpflanzung gewesen. Mittlerweile war sie ihm egal. Die Schwangeren hingegen waren ihm offenbar nicht mehr gleichgültig. Sonst hätte er doch nicht so heftig darauf reagiert. Was ihm unangenehm, auch peinlich war. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Die Frau hingegen schien davon nichts zu bemerken. Sie fragte wieder: »Und Sie?«

Und wieder »Nichts!« von Plotek.

Jetzt schien die Schwangere schon weniger irritiert. Sie lächelte und zeigte ihre ebenmäßigen, großen Zähne, als wären sie das silberne Familienbesteck.

»Das ist wirklich spannend. Ich hätte ja nie gedacht, dass ich jemals so ein Stipendium kriegen würde. Und jetzt bin ich hier. Voilà!«

Sie breitete die Arme theatralisch aus und freute sich dabei. Plotek freute sich mit ihr. Aber nur, um sich selbst von seinem anschwellenden Hammer in der Hose abzulenken.

»Momentan soll ja auch Spargel- und Erdbeerzeit sein. Ich liebe Spargel. Umso mehr, seit ich schwanger bin.«

Sie streichelte selbstverliebt ihren Bauch. Dabei fiel Plotek auf, dass sie schöne Hände hatte mit langen, schmalen Fingern. Und Nägeln wie aus einer Spülmittelwerbung. Noch ehe sie wieder »Und Sie?« sagen konnte, kam ihr Plotek zuvor und fragte: »Und der Vater?«

Das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand. Die Hände vor dem Bauch ballten sich zu Fäusten. »Welcher Vater?«, kam es frostig von dem Mädchen zurück.

Spätestens jetzt hatte er die Erektion vergessen. Die Erektion sich selbst auch, so dass sie ebenso schnell wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war. Plotek zeigte auf ihren Bauch. Die gute Laune war dahin. Das fröhliche Mädchen war plötzlich gar nicht mehr fröhlich. Eher im Gegenteil.

»Dieser Drecksack, dieses Arschloch!«

Sie keifte vor sich hin und glitt dabei ins Schwyzerdütsch ab, so dass Plotek nur vermuten konnte, wie niederträchtig der Vater tatsächlich sein musste.

»Und ich Idiot lass mir von diesem Wichser auch noch ein Kind machen!«

Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, dass ein roter Abdruck zurückblieb. »Und dann haut dieser Scheißkerl einfach ab!«

Schon war die keifende Bösartigkeit wieder dahin, und Traurigkeit hielt Einzug. Sie fing tatsächlich an zu weinen. Und zwar so laut und heftig, dass es Plotek unangenehm wurde. Die anderen Mitreisenden im Zug blickten sich nach ihnen um und schauten Plotek dabei feindselig an, als ob nur er die Ursache dieses Leids sein konnte. Die Schwangere legte ihren Kopf an seine Schulter und schluchzte, wie nur Menschen aus naturverbundenen Bergregionen schluchzen können. Das war großes Naturdrama. Der Watzmann ruft! Heidi reloaded.

Plotek hatte keine Erfahrung mit weinenden Frauen. Er konnte mit ihnen nicht umgehen. Nichts anfangen. Er fühlte sich in Gegenwart von Tränen völlig hilflos. Von weiblichen Tränen umso mehr. Er wusste bei diesen Gelegenheiten nie, ob er trösten, mit der Hand über den erhitzten Kopf streicheln, ihnen vielleicht gut zureden sollte. Oder das Gegenteil, einfach nur zuhören. Bisweilen auch ignorieren. Er hatte keinen blassen Schimmer. Das, was er in solchen Fällen schließlich tat oder eben nicht tat, stellte sich im Nachhinein meist als falsch heraus.

Wie jetzt auch. Als das Gesicht der Frau völlig in Tränen aufgelöst war, rutschte ihm ein »Der kommt schon wieder« heraus. Wie man sagt: »Alles wird gut!«

»Quatsch!«

Der Kopf der Frau schnellte von Ploteks Schulter hoch. Sie richtete sich wieder auf. Die Tränen waren mit einem Schlag versiegt. Sie schnäuzte die Nase, wie nur naturverbundene Menschen aus den Bergen sich schnäuzen können, pfefferte dann das Papiertaschentuch in den aufklappbaren Mülleimer unter dem Fenster und ließ den Deckel zuknallen, dass es im ganzen Abteil nur so schepperte und nicht nur Plotek zusammenzuckte. Die Blicke der Mitreisenden wendeten sich sofort ab. Die Trauer wich der Sachlichkeit. Was Plotek nicht unrecht war.

»Wir sind da!«

 

Als der Zug in den kleinen Endbahnhof von Neustadt einfuhr, fing es nicht nur an zu regnen. Auch Musik war plötzlich zu hören. Blasmusik. Die Schwangere strahlte jetzt wieder über das ganze Gesicht. Sie hatte mit einem derartigen Empfang für eine Stipendiatin, die noch kein einziges Buch geschrieben hatte, wohl nicht gerechnet.

»Wahnsinn!«, sagte sie immer wieder, während sie ausstieg und Plotek ihr den Rollkoffer hinterhertrug.

Am Bahnhof war tatsächlich ein Empfangskomitee postiert. Drei ältliche Musiker in Matrosenuniformen und ein kleiner Chor aus fünf Sängern, ebenfalls im Rentenalter und der für Seemänner typischen Bekleidung, legten sich mächtig ins Zeug. Zwischen zwei der Männer war eine Banderole gespannt, auf der mit geschwungenen Buchstaben Herzlich willkommen, Mr. Tatort! stand. Nachdem die Schwangere den Schriftzug gelesen hatte, schien auch ihr zu dämmern, dass mit der Begrüßung unmöglich sie, die unbekannte junge Schweizer Schriftstellerin, gemeint sein konnte. Neben den Sängern und den Musikern hatte sich noch eine Handvoll anderer festlich gekleideter Menschen am Bahnsteig versammelt, die jetzt wie auf Kommando anfingen zu klatschen. Ihre Blicke waren aber nicht auf die Schweizer Schriftstellerin gerichtet, auch nicht auf Plotek, sondern fanden eine Zugtür hinter den beiden ihr Ziel. Plotek drehte sich um und sah einen kleinen, dicklichen Mann mit Trenchcoat aus dem Waggon klettern, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Hinter ihm hüpfte ein brauner Labrador auf den Bahnsteig.

Wenn man auf der Straße plötzlich wildfremde Menschen zu kennen glaubt, hat das immer mit dem Fernsehen zu tun. Da hält dann das Mediale sprichwörtlich Einzug in die Realität. Bei Plotek ging das manchmal sogar so weit, dass er, beispielsweise auf dem Weg zu Doktor Hohenthaler, völlig fremde Menschen so verbindlich grüßte, als hätte er zusammen mit ihnen die letzte Nacht im Froh und Munter verbracht. Bis er im Nachhinein merkte, dass es dieser berühmte Fernsehkoch gewesen war oder der Nachrichtensprecher mit dem Milchgesicht von der Tagesschau.

Den Mann, der jetzt auf dem Bahnsteig stand und mit einer Hand den Hund an der Leine hielt, wähend er die andere lässig zum Gruß erhob, hatte Plotek zuletzt auch im Fernsehen gesehen. Als Kommissar. Beim Tatort. Während die Schwangere enttäuscht schien und den Bahnhof zackig in Richtung Bushaltestelle verließ, ertappte sich Plotek dabei, wie er in Gedanken sein Sündenregister durchging, in der Erwartung, dass ihn der Kommissar womöglich gleich festnehmen würde. Noch ehe er die Arme zum Zeichen der Kapitulation in die Luft werfen konnte, war der Kommissar schon von den Honoratioren umringt, und Plotek stolperte der schwangeren Schweizerin mit ihrem Koffer in der Hand hinterher.

 

Von Neustadt ging es dann per Bus nach Grömitz. In die Nähe des Ostseestrands. In dem Bus saßen neben Plotek und der Schwangeren nur noch zwei weitere Fahrgäste: zum einen eine stämmige Frau mit frischer Dauerwelle und extremem Bluthochdruck. Ihre Gesichtsfarbe orientierte sich an den Hinterteilen von Pavianen. Sie machte einen mürrischen, auch bodenständigen Eindruck und blickte immer wieder mal über ihre Schulter hinweg zu den beiden nach hinten. Zum anderen saß ganz vorne beim Busfahrer ein Mann im Rentenalter, der buschige, bis zu den Wangenknochen reichende Koteletten trug und einen weißen Cowboyhut auf dem Kopf hatte. Er schien sich weder für die beiden noch für die Frau zu interessieren. Während der ganzen Fahrt über starrte er zum Seitenfenster in den Regen hinaus und bewegte dabei immer wieder lautlos die Lippen. Es sah aus, als singe er stumm vor sich hin.

Die Schwangere redete auch im Bus unentwegt. Zuerst über den Empfang des Tatort-Kommissars. Dann übers Fernsehen generell. Schließlich über das Fernsehen und die Schweiz. Dann wieder und nur noch über sich selbst.

Als Plotek mit dem Bus an der Haltestelle Lensterstrand unweit des Campingplatzes ankam, wusste er bereits über ihr halbes Leben Bescheid. Die andere Hälfte wollte sie ihm auch noch erzählen. Später.

»Kommen Sie doch mal vorbei. Besuchen Sie mich. Im Kloster Cismar.«

Sie griff nach seiner Hand und schien sie nicht mehr loslassen zu wollen.

»Agatha.«

Die Blicke des Busfahrers im Rückspiegel pendelten zwischen der noch immer geöffneten Tür und Plotek hin und her. Dabei wurde er immer ungeduldiger.

»Plotek«, sagte Plotek, wobei die Schwangere seine Hand noch immer nicht freigab.

»Versprochen?«

Plotek nickte und die Schwangere ließ ihn endlich los.

»Tschüssi!«

Plotek stieg aus. Der Bus rollte an. Die Schwangere fuhr winkend weiter, ihrem Ziel entgegen. Zusammen mit Plotek verließ nur noch die Frau mit Bluthochdruck, in der Hand zwei prall gefüllte Plastikeinkaufstüten, den Bus. An der Haltestelle wurde sie bereits von einem Mann auf einem fahrbaren Rasenmäher erwartet, an dem ein kleiner einachsiger Anhänger hing. Nicht viel größer als eine Schubkarre.

Jetzt muss man wissen, dass der Rasenmäher weniger ein Mäher als ein Miniaturtraktor der Marke John Deere war. Er erinnerte Plotek sofort an diesen David-Lynch-Film, indem ein alter Mann auf eben so einem Rasentraktor durch das ganze Land reist. Auffällig war aber nicht nur der Rasentraktor, sondern auch der Mann selbst. Schien der Traktor für einen Traktor viel zu klein geraten, so mutete der Mann für einen Menschen viel zu groß an. Er war ein Riese! Er erinnerte an den russischen Boxer und Schwergewichtsweltmeister Nikolai Valuev, der mit seinen über zwei Metern Körpergröße nicht nur im Boxring Angst und Schrecken verbreitete, sondern darüber hinaus wirkte wie aus einem Kuriositätenkabinett entflohen. Doch nicht nur in Körpergröße und Proportionen hatte der Mann auf dem John Deere eine Ähnlichkeit mit dem russischen Boxer. Auch seine Gesichtszüge, der kahl rasierte Kopf, die tief liegenden Augen, der wulstige Stirnknochen und das mächtige Kinn, eigentlich seine ganze Physiognomie, waren wie ein Abbild des boxenden, immer traurig wirkenden Riesenbabys.

Es regnete noch immer. Der Regen schien sogar noch zuzunehmen, und der Himmel verfinsterte sich. Der Mann schwang sich mit seinen langen Beinen vom Rasentraktor herunter, als wäre der ein Haflinger, der sich gerade eingeschissen hat. Er nahm der Frau die beiden Plastiktüten aus der Hand und wuchtete sie auf den Anhänger, während sie selbst eine weitere, leere Plastiktüte aus ihrer Umhängetasche zog und sie sich über die frische Dauerwelle stülpte, die bereits sichtlich unter dem Regen litt. Ihre ohnehin schon schlechte Laune schien kurz davor zu sein, ihr Endstadium zu erreichen. Ihre Mundwinkel berührten jetzt beinahe den Asphalt. Der Mann setzte sich wieder auf den Fahrersitz, während sich die Frau, die Plastiktüte wie eine Kochmütze auf ihrem Kopf tragend, neben ihn auf die angedeutete Seitenbank quetschte, die eigentlich nur aus einem Radschutzblech bestand. Der Mann gab Gas, und der Rasentraktor mit den beiden setzte sich langsam in Bewegung. Nach wenigen Metern jedoch hielt er schon wieder an. Zu schwer für das kleine Ding, dachte Plotek, der den beiden mit seiner Sporttasche in der Hand im Regen stehend interessiert, auch fasziniert hinterherblickte. Dabei wurde er zusehends nasser. Seine Haare hingen ihm bereits in tropfenden Strähnen ins Gesicht. Nachdem der John Deere gestoppt hatte und im Standgas vor sich hintuckerte, drehte sich der Mann auf seinem Sitz herum und rief Plotek »Inselstrand?« zu.

Die Stimme des Riesen war noch eindrücklicher als seine Erscheinung. Sie klang tief und rau und osteuropäisch balsamiert. Auch nach der Traurigkeit eines russischen Mütterchens, das ahnt, dass alle ihre Söhne im Krieg fallen werden. Wenn der Riese den Mund aufmachte, schien sich das ganze sowjetrussische Reich dahinter zu offenbaren. Und zwar in den Grenzen von vor 1939.

Plotek nickte. Der Riese winkte ihn zu sich, wies auf den Anhänger und spielte dabei nervös mit dem Gaspedal, so dass das Standgas immer wieder aufheulte wie ein hungriger Wolf. Die Mundwinkel der Frau hatten längst den Asphalt erreicht und schienen sich nun in Richtung Afrika hindurchbohren zu wollen. Plotek hievte sich umständlich auf den kleinen Anhänger, wobei er sich den Rücken verzog, und setzte sich dann neben die Plastiktüten. Die Ladefläche war jetzt komplett ausgefüllt. Der Mann gab Vollgas, und der Rasentraktor setzte sich, schwarze Abgaswolken wie Keuchhusten ausstoßend, langsam wieder in Bewegung. Ab und zu blickte der Riese während der Fahrt über die Schulter hinweg zu Plotek nach hinten. Offenbar wollte er sich vergewissern, dass sein Passagier noch da war. Einmal lächelte er sogar. Wobei sein Gesicht die Traurigkeit nicht verlor. Plotek lächelte zurück. Weniger traurig, dafür schmerzverzerrt. Sein Rücken stach, als hätten die spitzen Mundwinkel der Alten nicht nur den Asphalt, sondern auch Ploteks Hüfte durchbohrt. Die Frau starrte auf die Fahrbahn und presste sich dabei mit beiden Händen die flatternde Penny-Tüte an den Kopf.

 

Völlig durchnässt kam Plotek am Campingplatz Inselstrand an.

»Endstation!«

Der Riese blieb auf dem Rasenmäher sitzen, während Plotek sich aus dem Anhänger schälte. Sein Rücken buhlte noch immer um Aufmerksamkeit. Die Frau entfernte sich kommentarlos mit ihren drei Tüten, zwei in der Hand, eine auf dem Kopf, noch schlechter gelaunt als zuvor und ohne Plotek eines Blickes zu würdigen. Plotek stand an der geschlossenen, auch verrosteten Schranke, seine Sporttasche von 1974 in der Hand, auf der die beiden WM-Maskottchen Trip und Trap abgebildet waren, und wusste nicht so recht, wohin. Das schien auch der Riese zu bemerken, der Plotek noch immer unverholen vom Rasenmähersitz aus beobachtete, als wäre der ein Wachturm an der ehemaligen deutsch-deutschen Zonengrenze mit Schießbefehl.

»Zu wem?«

Es klang, als hätte sich das russische Reich in den Grenzen vor 1939 mittlerweile bis nach Grömitz ausgedehnt. Plotek holte ein wenig eingeschüchtert den Bierdeckel vom Froh und Munter aus der Innentasche seiner Cordjacke.

»Tabbert 655 D, Puccini.«

Seine Stimme klang im Vergleich zu der des Riesen wie von einem Erstklässler vor seinem herrischen, pädophilen Lehrer.

»Ulf«, kam es postwendend zurück.

»Plotek«, sagte Plotek daraufhin irritiert.

Der Riese schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nicht, nein, nicht, Ulf Zimmermann.«

Allein dem Riesen zuzuhören verursachte Plotek einen nicht unangenehmen Taumel. Als wäre die Stimme ein Musikinstrument, eine Posaune oder noch besser ein Russisches Horn. Was ihn seine Schmerzen im Rücken vergessen ließ.

»Was?«

»Der Tabbert gehört Ulf, Ulf aus Bayern. Ulf mit Nachname heißt Zimmermann.«

Plotek hob die Schultern. Dann nickte er.

»Stellplatz 34.«

Der Riese zeigte Richtung Wasser. »Aber zuerst zu Wittlich.«

»Wittlich?«

»Chef.«

»Ah.«

»Ja.«

»Geradeaus, links, Bierstube.«

»Danke.«

Der Mann blieb wie einer dieser übermächtig wirkenden Kolonialherren auf seinem John Deere mit laufendem Motor sitzen und sah Plotek hinterher, als wäre der sein Heer auf dem Weg in den unvermeidlichen Untergang. Der gleich hinter der nächsten Ecke lauerte.

 

Die Bierstube, ein einstöckiger Flachbau, war zugleich auch das Büro des Campingplatzes Inselstrand. Und Überraschung: Plotek wurde schon erwartet. Wittlich kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Na, endlich! Ulf hat dich schon angekündigt!«

Wittlich war genauso, wie man sich einen Campingplatzbesitzer vorstellt. Das fleischgewordene Klischee, eine personifizierte Parodie. Um die sechzig, rotes Gesicht, dicke, großporige Knollennase, Jürgen-von-der-Lippe-Bart, schütteres, gescheiteltes Resthaar. Dazu tropfenförmige Brille, Sportbadelatschen, kurze Trainingshose, dünne Beine, Schmerbauch, und ein T-Shirt mit der Aufschrift Camping-Gott.

»Uwe«, sagte der Camping-Gott und hielt ihm seine braungebrannte Pranke hin. Zwei goldene Ringe und eine goldene Kette mit geldstückgroßen Gliedern funkelten um Finger und Handgelenk.

»Plotek.«

»Weiß ich doch, weiß ich doch.«

Uwe Camping-Gott Wittlich legte den Arm um Plotek, als verbinde die beiden ein hässliches Geheimnis aus der Kindheit. Diese körperliche Nähe von wildfremden Menschen war Plotek zuwider. Schon die körperliche Nähe zu ihm bekannten Menschen bereitete ihm Probleme. Jegliche Nähe generell stieß bei Plotek auf Ablehnung. Es gab aber in seinem Leben auch Ausnahmen bezüglich der Nähe. Agnes, zum Beispiel. Und wer sonst? Egal, der nach Schweiß und billigem Rasierwasser riechende Camping-Gott würde jedenfalls nie dazugehören.

»Der Schlüssel ist hier, der Tabbert steht da vorne. Aber jetzt trink erst mal was zur Begrüßung.«

Schon stand ein Glas eisgekühlter Ouzo vor ihm auf dem Tresen. Plotek konnte jegliche Getränke, die nur im Entferntesten nach Anis schmeckten, nicht ausstehen. Pastis, Raki, Arak, Sambuca, Mastika, Absinth und alles andere.

»Prost!«

Am Tresen wurden mehrere Gläser freudig in die Luft gestreckt.

»Hartmut, Kurti, Brigitte, Christin«, stellte Uwe Wittlich die braun- und rotgebrannten Gesichter in der Bierstube vor.

»Alles Dauercamper, Freunde von Ulf!«

Aus Höflichkeit kippte Plotek den Ouzo mit geschlossenen Augen hinunter. Dabei verzog er sein Gesicht zu einer verkniffenen Miene.

»Ich bin keine Dauercamperin«, sagte die Frau, die Christin hieß. Was man ihr auch ansah. Sie unterschied sich schon äußerlich von den Dauercampern. War weniger Klischee, kaum Parodie. Auch weniger vom Alkohol gezeichnet als die anderen. Soll heißen: Sie sah eigentlich ganz normal aus. Vielleicht wie eine Steuerfachkraft, eine Anwaltsgehilfin, Zahnarzthelferin oder eine Vollzugsbeamtin im mittlerem Dienst, die höchstens eine Spur zu lange in der Sonne gelegen hatte. Ein leichter Sonnenbrand hatte sich ihr auf Arme, Gesicht und Beine gelegt. »Und Ulf kenne ich auch nicht.«

»Ist doch egal!«, ging Wittlich unwirsch dazwischen, woraufhin die Frau eingeschnappt verstummte. »Das hier ist Hans, mein Bruder, und das da Björn, mein Sohn.«

Beide Männer streckten Plotek die Hand entgegen. Beide Hände waren feucht.

»Ach so!« Uwe Wittlich schrie in Richtung Küche. »Ingaaaaa!« Es hörte sich nach »Alaaarm!« an.

Die Frau mit dem Bluthochdruck und der frischen Dauerwelle streckte ihren Kopf kurz aus der Küche hervor, winkte ab und verschwand wieder.

»Das ist Inga, die kocht hier.«

»Und zwar alles, was das Herz begehrt!«, mischte sich Hartmut, einer der Dauercamper ein und nahm hernach, als müsste er sich für diesen Einwurf belohnen, einen Schluck aus seinem Bierglas, dass sich der Schaum in seinem dichten Bart verfing, wo er sich eine Weile ausnahm wie Spermaspritzer.

»Und Achmad hast du vielleicht auch schon kennengelernt.«

»Das Riesenbaby!«, ergänzte Björn, der vielleicht fünfundzwanzigjährige Sohn des Camping-Gottes. »Auch Ach-Gott-o-Gott genannt!«

Jetzt lachten alle, dass die Gesichter noch röter anliefen. Außer Plotek. Und auch Christin verhielt sich neutral.

»Der ist für alles verantwortlich, was mit dem Campingplatz zu tun hat«, sagte Uwe Wittlich, als die Freude aus ihm heraus war. »Also, wenn du Probleme hast, Warmwasser, Duschen, was auch immer, wenn du was brauchst, Golfschläger, Strandkorb, weiß der Teufel  – einfach zu ihm gehen.«

»Er ist ja nicht zu übersehen!«

Björn schien in dieser Runde die Rolle des Bierstubenkaspers, der Stimmungskanone einzunehmen. Alle lachten wieder.

»Noch einen?«

Wittlich hielt die Ouzo-Flasche wie einen Flammenwerfer in der Hand.

Plotek schüttelte energisch den Kopf. »Ich bring jetzt erst mal das hier in den Wagen.« Er hob seine Sporttasche hoch.

»Ist recht.«

Während Wittlich die Gläser der anderen wieder füllte, drehte sich Plotek um und wollte gerade in Richtung Tür davonmarschieren.

»Warte mal!«

Der Chef des Campingplatzes stoppte ihn. Er griff nach einem alten Walkie-Talkie. Eines von den Dingern, mit denen Kinder früher ihre Umwelt nervten. Er drückte auf eine Taste, dass es knisterte, als wär’s ein Lagerfeuer. Oder besser, ein Waldbrand. Einige der Dauercamper hielten sich die Ohren zu.

»Achmad, Arbeit!«

Man merkte dem Gott an, dass er Erfahrung darin hatte, Welten nicht nur zu erschaffen, sondern sie auch zu regieren. Als hätte Achmad vor der Tür gewartet, ging diese sogleich auf.

»Er wird dir alles zeigen.«

Plotek bedankte sich mit einer Kopfbewegung.

»Und nachher kommst du wieder her, klar? Begrüßungsparty. Das ist hier so Ouzo.«

Wittlich schlug Plotek lachend auf die Schulter. Alle anderen lachten solidarisch mit.

»Und keine Angst, der tut nichts«, schrie Björn ihm hinterher und bezog sich damit auf den Riesen. Woraufhin alle in noch lauteres Gelächter ausbrachen.

Verflucht, dachte Plotek, mit diesen Dumpfbacken, diesen Camping-Göttern in Turnhosen muss ich jetzt die nächste Zeit verbringen. Na ja, zum Glück kommt Vinzi bald.

Bei diesem Gedanken hellte sich das prophetische Dunkel leicht auf. Und wenn es zu unerträglich wird, spekulierte Plotek weiter, kann ich ja immer noch abreisen. Eine weitere Option wäre das Kloster Cismar und die Schwangere aus der Schweiz. Jetzt spürte er auf Bauchhöhe ein warmes Grummeln unter dem Hemd. Ob es am Grummeln lag oder an dem Regen, der soeben aufgehört hatte?  – keine Ahnung. Auf jeden Fall wurde es ihm nun, als er dem Riesen Achmad über den Campingplatz folgte, zum ersten Mal richtig bewusst: »Schön ruhig ist es hier.«

Achmad blieb stehen und sah ihn an, als könnte Plotek das gar nicht wissen. Mit abgrundtiefem Timbre in der Stimme sagte er: »Nicht immer.«

Dann zeigte er mit seinem riesigen Arm, als wäre der ein Schwert, hinüber zum anderen Ende des Campingplatzes.

»Die da drüben, manchmal machen Probleme.«

Das Drüben war durch einen niedrigen Zaun vom übrigen Campingplatz abgetrennt. Dort stand eine Reihe schäbiger Wohnwägen dicht an dicht nebeneinander. So nahe, dass sie sich gegenseitig fast berührten.

»Spargelstecher!« Es klang wie »Kinderschänder«. »Aus Polen, Lettland.« Wie besonders gefährliche Kinderschänder.

Achmad ging noch ein paar Schritte weiter und blieb dann vor einem Wohnwagen in der Nähe des Zauns stehen.

»Der!« Er zeigte auf den Caravan, der seinem Aussehen nach auch gut und gerne hinter der Abtrennung hätte stehen können.

»Der?« Plotek blieb neben Achmad stehen und blickte verwirrt auf den Wagen, den er sich ganz anders vorgestellt hatte. Kein Wunder, nach Ulfs Beschreibung hatte er ihn sich auch ganz anders vorstellen müssen. Achmad nickte, während Plotek dachte, das soll der Puccini sein, von dem Ulf so geschwärmt hat? Vergiss es. Nichts mit Tosca oder Turandot, eher schäbige Schmierenkomödie. Und allerhöchstens La Bohème. Für ganz Arme. Der Wohnwagen war ein Wrack. Achmad schien Plotek die Enttäuschung anzumerken.

»Letztes Jahr, es hat gebrannt in Wagen. Deswegen.« Er schloss die Tür auf.

»Gebrannt?«

»Heißes Fett, und dann puff!«

Und tatsächlich, im Wagen sah es nicht nur aus wie in Hiroshima nach der Bombe. Es roch auch immer noch angekokelt. Achmad griff neben das Spülbecken, nahm eine Spraydose und sprühte damit in der Luft herum.

»Das gut ist.«

Sofort roch es nach Fichtennadeln und nach deutschem Wald. Auch ein bisschen nach Klostein. Dennoch: Gut riecht eindeutig besser.

 

Als Plotek wieder zurück zur Bierstube kam, saßen eine Menge Camper auf weißen Plastikstühlen an weißen Plastiktischen auf der betonierten Terrasse. Die Sonnenschirme waren zugeklappt. Eine Lichterkette brannte. Am abendlichen Himmel hingen zwar noch immer dunkle Wolken, aber der Regen hatte endgültig aufgehört. Manche der Camper aßen Currywurst mit Pommes oder Matjes mit Zwiebeln. Alle tranken Alkohol. Auch die Dauercamper hatten sich jetzt an einem der Tische auf der Terrasse niedergelassen und stürzten nach wie vor Ouzo aus vereisten Gläsern hinunter. Und dazu Bier.

»Und, alles paletti?« Hartmut schob Plotek einen freien Plastikstuhl hin.

»Hm.«

»Du musst ja nur drin schlafen. Sonst spielt sich eh alles hier draußen ab.«

»Oder ganz woanders.« Es war Hans Wittlich, der jüngere Bruder des Campingplatzbesitzers, der sich jetzt neben Plotek setzte und großspurig in Andeutungen sprach. Um die Andeutung noch zu unterstreichen, zwinkerte er auffällig in die Runde, als wüssten alle Bescheid. Taten auch alle. Außer Plotek. Nachdem der aber keine Anstalten machte nachzufragen, platzte es aus Hartmut heraus, als könnte er es nicht erwarten, sein Wissen endlich loszuwerden.

»Hans hat ein Fitnessstudio, einen Videoladen und zwei Kneipen. Eine in Grömitz, eine in Neustadt.« Was Plotek aber gar nicht zu beeindrucken schien.

»Mit Weibern!«, legte Björn, der Sohn vom älteren Wittlich, nach. Das schon eher.

»Björn!« Christin versuchte, das Milchgesicht zu maßregeln. Was aber kaum gelang. Björn grinste bis zu beiden Ohren, als gehörten die Puffs ihm selbst. Hans Wittlich beugte sich ein wenig näher zu Plotek herüber und sagte leise, als sollte es nur Plotek hören, aber doch so laut, dass alle am Tisch es mitbekamen: »Also, wenn sich die Hormone hier mal stauen sollten …«

Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Faust. »Ich mach dir ’nen Spezialpreis!«

»Dauercamper-Flat!« Björn buhlte wieder um Heiterkeit.

Alle lachten. Manche verschämt, andere schlüpfrig. Nur Christin nicht. »Jetzt hört doch auf!«, protestierte sie.

Der Camping-Gott kam mit einer neuen Batterie Biergläser an den Tisch. Nachdem er sie verteilt hatte, fragte er: »Und was machst du so beruflich?«

Was hätte Plotek sagen sollen? Die Wahrheit? Oder das, was Camping-Götter am liebsten hören?

»Geschäfte.«

Es klang ähnlich geheimnisvoll wie bei Hans Wittlich, war aber nicht ganz so einfach zu entschlüsseln. Plotek erwartete, dass man ihn nach der Art seiner Geschäfte fragte. Aber, nichts da. Das schien die Götter nicht zu interessieren.

»Klingt gut«, sagte Hartmut, und die anderen nickten.

Nur Christin sah ein wenig zweifelnd drein. Noch bevor sie ihrer Skepsis Ausdruck verleihen konnte, fragte Plotek an Hartmut gewandt: »Und was machst du?«

Hartmut schien froh zu sein, endlich Auskunft geben zu dürfen.

»Ich war vierzig Jahre bei Quelle in Fürth, kennste, oder? Im Versand. Hab mir für die den Arsch aufgerissen! Hat alles nichts geholfen. Mussten trotzdem dichtmachen. Und wir alle wurden arbeitslos. Da hatte ich die Schnauze voll. Ich hab meine Eigentumswohnung verkauft, bin vorzeitig in Rente und dann … arrivederci! Ich bin ganz hierhergezogen. Was Besseres hätte mir nicht passieren können.«

Und dann folgte eine Tirade über unfähige Manager, Großkonzerne, Heuschrecken, über die Regierung und vor allem die Ostblockstaaten und die Niedriglohnländer, die die Unternehmen hinterlistig anlocken und aus ihrem Heimatland abziehen würden, »um dadurch alles kaputt zu machen!«

»Polen, Letten«, sagte Plotek, wie man »Bleib mal locker!« sagt.

Hartmut guckte ähnlich wie Achmad und so, als könnte Plotek das gar nicht wissen. Während Plotek über die Reaktion einmal mehr erstaunt war und dachte, was haben die bloß mit ihren Polen und Letten?

»Frag doch sie hier mal!«

Hartmut sagte es, als wüsste er genau, was Plotek durch den Kopf ging, und zeigte dabei auf Christin. Noch ehe Plotek fragen konnte, was er meinte, legte Christin schon los.

»Mein Mann ist Russe. Deutschrusse. Russlanddeutscher. Schon seit dreißig Jahren hier und immer noch ein Arschloch!«

Hartmut grinste. Christin schien die gute Laune vergangen zu sein. »Aber jetzt ist Schluss. Ich lass mich nicht mehr benutzen von dem. Ich lass mich nicht mehr herumkommandieren. Auch nicht mehr schlagen. Der hat gedacht, ich bring das Geld nach Hause, und er kann den ganzen Tag auf der Couch abhängen und den Pascha spielen.«

Hartmut grinste wieder, bis Christin ihn anpflaumte. »Was ist denn daran so lustig?«

Jetzt war die Laune auch bei Hartmut dahin.

»Ich lebe in Trennung. Und solange die Scheidung läuft, bleibe ich hier.«

Sie hob das Glas und leerte es in einem Zug.

Hartmut legte seine Hand auf ihren Unterarm, womöglich aus Solidarität oder zum Trost oder dergleichen. Aber vergiss es. Christin griff nach seiner Pranke und schleuderte sie entschlossen zurück. »Lass das!«

Der Quelle-Rentner zuckte zusammen und sagte schließlich: »War doch nur Spaß!«

Und als niemand reagierte, direkt an Plotek gewandt: »Spaß muss sein, gell?«

»Prost!«, mischte sich Hans Wittlich wieder ein und hob jetzt auch sein Glas.

Alle stießen an. Außer Christin.

Kaum hatte Wittlich ausgetrunken, verabschiedete er sich. »Die Geschäfte!«

Er zwinkerte Plotek auffällig zu, wünschte allen noch einen schönen Abend und ging. Auf dem Parkplatz vor dem Campingplatz stieg er in einen großen Mercedes mit ausländischem Kennzeichen, der kurz vorher vorgefahren war und zweimal gehupt hatte.

 

Schon das dritte Mal hintereinander lief an diesem Abend dieselbe CD. Irgendeine Zusammenstellung von alten Hits, die nach ausreichendem Alkoholkonsum ihre Wirkung nicht verfehlten. Viele der Camper summten mit, manche sangen sogar. Kurti, der so eindeutig an die Ruhrpott-Legende Adolf Tegtmeier erinnerte, dass Plotek geschworen hätte, er wäre es höchstpersönlich, wenn sein Erfinder nicht Mitte der Neunziger ins Gras gebissen hätte, tanzte mit seiner Frau Brigitte auf der Terrasse zu Marmor, Stein und Eisen bricht irgendetwas zwischen Walzer, Cha-Cha-Cha und Boogie-Woogie.

»Die Alte vom Chef!«, flüsterte Christin irgendwann Plotek zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Frau, die gerade auf dem Parkplatz vor der Schranke aus einem Cabriolet gestiegen war und nun mit strammem Schritt auf die Terrasse der Bierstube zumarschiert kam. »Schuh- und Modegeschäft in Grömitz!«

Das sieht man, dachte Plotek, elegante Frau, in dunklem Kostüm, weißer Bluse, hochhackigen Schuhen und mit was für einer Frisur: wasserstoffblond gefärbt wie frisch vom Friseur.

»Geborene Romberg.«

Damit konnte Plotek nichts anfangen. Machte aber nichts, erklärte Christin es ihm einfach.

»Romberg, der Spargelkönig. Dem gehören fast alle Spargelfelder hier.«

»Polen, Letten«, sagte Plotek wieder, so dass Christin kurz irritiert dreinschaute, als würde sie entweder an Ploteks Verstand zweifeln oder es als Wink mit dem Spargelmesser deuten. Doch dann nickte sie und lächelte.