Alarvail - Alexander Merow - E-Book

Alarvail E-Book

Alexander Merow

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Beschreibung

Ein tragisches Ereignis sorgt dafür, dass der junge Elb Alarvail seine Heimat verlassen muss. Es verschlägt ihn auf die Insel Galathol. Von seinen Verwandten verstoßen, findet sich Alarvail bald im elbischen Heer wieder, wo er zum Krieger ausgebildet wird. Als Soldat des mächtigsten Volkes von Antariksa wird er in ferne Länder geschickt, um den Frieden mit dem Schwert zu erzwingen. Alarvail kämpft mit allem Eifer, denn er träumt davon, eines Tages ein mächtiger Heerführer zu werden. Doch dann beginnt er, die falschen Fragen zu stellen ...

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Inhalt

Vorwort

Alarvail

Böses Erwachen

Brennender Ehrgeiz

Alarvails Feuerprobe

Erstes Blut

Der einsame Krieger

Feldzug in Manchin

Sterben für Galathol

Zurück in der Heimat

Die Orkgefahr

Der Kampf gegen Bolrugs Horde

König Snorri

Wachsende Zweifel

Bolrugs Rückkehr

Die Schlacht von Enrasse

In den Wäldern von Ursien

Der quälende Marsch

Das letzte Gefecht

Vorwort

Dieser Roman spielt etwa 4200 Jahre vor der Zeit, in der Grimzhag der Ork vom einfachen Häuptling zum Welteroberer aufgestiegen ist. In „Alarvail - Der Elbenkrieger“ steht allerdings kein Ork im Mittelpunkt, sondern eines jener spitzohrigen Wesen, die aus der Fantasy nicht mehr wegzudenken sind.

Früher mochte ich eigentlich keine Elben oder Elfen. Sie gingen mir in sämtlichen Büchern, Rollenspielen und Tabletops regelmäßig auf die Nerven. Als Gegner bei „Warhammer“ habe ich sie – und mehr noch meine Orks – manchmal wirklich gehasst. Andererseits sind Spiele gegen ein Volk, das man überhaupt nicht ausstehen kann, oft die spektakulärsten.

Inzwischen ist meine Abneigung gegen die besserwisserischen Spitzohren aber nicht mehr so groß wie noch vor einigen Jahren. Man wird eben älter und versöhnlicher. Das gilt zumindest für mich. Meine Orks sind da leider deutlich nachtragender und grummeln noch immer im Regal vor sich hin.

Wer bereits ein wenig Geschmack an meiner Fantasywelt „Antariksa“ gefunden hat, der darf mir nun in die „alte Zeit“ folgen. Eine Zeit, in der die Völker Antariksas ganz im Schatten der elbischen Zivilisation standen.

Ich wünsche euch viel Spaß mit „Alarvail - Der Elbenkrieger“, dem ersten Band meiner neuen Fantasyreihe. Antariksa ist groß. Es gibt noch jede Menge zu erzählen.

Euer Alexander Merow

Alarvail

Ein milder Windhauch schlich durch den blühenden Garten, liebkoste Alarvails Wangen und ließ die Blätter des Baumes, unter dem der junge Elb saß, leise rascheln. Nur selten drang die Hitze der Wüste mit ihrer ganzen Kraft bis nach Caralith vor. Im Herzen der Oase Muina, wo sich die Elbenstadt befand, war man vor ihr geschützt. Hohe Palmen und dichte Rankengewächse schirmten die Behausungen vor den heißen Stürmen der Sandödnis ab wie ein Schutzwall. Seen aus kristallklarem Wasser, gespeist von unterirdischen Strömen, sorgten dafür, dass Muina ein Ort des immerwährenden Blühens blieb. Es war schön und besinnlich in Caralith, einem Ort, dessen zurückhaltende Abgeschiedenheit und Stille ganz dem elbischen Wesen entsprach.

Alarvail öffnete die Augen. Er unterbrach das Sinnieren, als er die Stimme seines Vaters hörte.

„Ich muss noch einmal zu Hiran Cleandil. Bitte hilf gleich deiner Mutter, die Yaven in die Vorratskammer zu bringen“, sagte die weißblonde Gestalt und war im nächsten Moment schon wieder im Haus verschwunden.

Alarvail hatte nichts darauf erwidert. Er würde tun, was ihm sein Vater aufgetragen hatte. Das wäre Antwort genug.

Für einen kurzen Augenblick gab sich der junge Elb noch einmal der gedanklichen Leichtigkeit hin. Mit geschlossenen Augen und langsam atmend konzentrierte er sich auf das Summen einiger Insekten und das Gezwitscher eines buntgefiederten Vogels im Geäst über ihm.

Dann erhob sich der sechzehn Jahre alte Elbenknabe von seinem Platz und ging ins Haus, um seiner Mutter zu helfen.

„Ich warte bereits!“, bemerkte Valima, Alarvails Mutter, mit tonloser Stimme, während sie ihren Sohn zu sich winkte.

Dieser gehorchte und kam augenblicklich näher. Die schlanke Elbenfrau von hohem Wuchs bewegte sich mit beinahe tänzelnden Bewegungen durch den Raum, ihr langes Haar wogte dabei hin und her. Alarvail folgte seiner Mutter zu einem Holzkarren, der vor der Eingangstür des Hauses stand. Auf der Ladefläche türmten sich lilafarbene Früchte auf. Sie mussten in den Vorratsraum im Keller.

„Hier!“, sagte Valima, Alarvail einen Weidenkorb in die Hand drückend.

Wortlos machte sich der junge Elb an die Arbeit. Er füllte den Korb mit einem Dutzend kegelförmiger Yaven und schleppte sie in die Vorratskammer, wo zahlreiche Fässer und mehrere Holzkisten standen. Hier unten war es kühl, es roch nach feuchtem Lehm und altem Holz.

Den Elben in Caralith mangelte es nicht an Lebensmitteln. Die Oase Muina spendete nicht nur hervorragendes Wasser, sondern bot auch eine Vielzahl von Anbaumöglichkeiten. Das ganze Jahr hindurch wuchsen die Früchte – und das mit atemberaubender Geschwindigkeit. Muina war ein Ort, an dem es sich zu leben lohnte. Nicht umsonst hatten Alarvails Vorfahren gerade hier vor Jahrhunderten eine Stadt errichtet.

Als der letzte Korb voller Yaven in den Vorratsraum gebracht worden war, schloss Valima die Tür der Kammer zu und ging mit ihrem Sohn zurück ins Haus.

„Vater ist in den letzten Tagen sehr oft bei Herrn Cleandil gewesen“, bemerkte Alarvail, nachdem er sich auf einem Stuhl niedergelassen hatte. Er sah seine Mutter neugierig an, doch diese verhielt sich betont distanziert.

„Was hat er denn ständig zu bereden?“, hakte der Jungelb nach.

„Das kannst du Dearveo nachher selbst fragen. Vielleicht wird er es dir sagen“, antwortete Valima, wobei sie den Eindruck machte, als ob ihr Alarvails Nachfrage unangenehm wäre.

„Er wirkt irgendwie besorgt auf mich. Etwas bedrückt ihn, das sehe ich in seinen Augen.“

„Dein Vater ist der Erste Berater des Hirans, Alarvail. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er auch einmal Sorgen hat. Immerhin trägt er einen Teil der Verantwortung für Caralith und hat immer sehr viel zu tun“, erwiderte Valima.

„Aber seine schlechte Stimmung hat nichts mit dem Vorfall neulich zu tun, oder?“

Valimas blaue Augen blitzten missmutig auf, dabei erhellte sich ihre Iris. Alarvail spürte die Verärgerung seiner Mutter. Ein derart penetrantes Nachfragen mochte die schöne Elbin überhaupt nicht.

„Ich werde nicht mehr darüber reden!“, zischte sie. Anschließend drehte sie sich um und ließ ihren Sohn allein. Valima schwieg beharrlich, bis Vater wieder zu Hause war. Was Dearveo mit dem obersten Verwalter der Stadt, dessen rechte Hand er war, besprochen hatte, erfuhr Alarvail nicht. Die Elben waren kein geschwätziges Volk. Wenn sie von Sorgen geplagt wurden, dann hatten sie die Angewohnheit, nicht darüber zu sprechen.

Cleandil `dey Taure, der Hiran der Stadt Caralith, hatte die gesamte Nacht denkend verbracht. Bei den Menschen hätte man ihn als Bürgermeister oder auch Statthalter bezeichnet; er war das Oberhaupt der elbischen Siedler, die im Herzen Muinas lebten. Viele Jahre lang regierte Cleandil schon über die nicht besonders große Elbenkolonie an der Westküste des Kontinents Shaamay, der bei den Menschen Suzlan genannt wurde. Elben lebten seit mehreren Jahrhunderten in der Oase Muina, weitgehend für sich, abgeschieden von den menschlichen Wüstenstämmen im Osten und den mysteriösen Creex in den Dschungeln des Südens.

Einst hatte es rege Handelsbeziehungen zwischen den Elben von Caralith und den Menschenstädten an der Nordküste Shaamays gegeben, doch diese waren schon seit einiger Zeit eingeschlafen. Inzwischen blieben die Kolonisten, deren Ahnen von der Insel Galathol stammten, unter sich. Muina bot alles, was sie zum Leben benötigten. Allein die fruchtbare Oase war den Bewohnern von Caralith wichtig, die sie umgebenden Völker waren ihnen hingegen gleichgültig.

„Viele Dinge sind mir bewusst geworden, mein treuer Dearveo. Der Zustand des Denkdämmerns hat mir eine Reihe von Fragen beantwortet, die mir schwer auf der Seele gelegen haben“, sagte Cleandil zu seinem Ersten Berater.

Dieser strich sich mit den Fingerkuppen über sein spitzes Kinn. Dearveo überlegte, welche Antwort er seinem Herrn geben sollte.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein größerer Streit aus der Sache entwickelt, ist meiner Ansicht nach nicht sehr hoch. Es waren Banditen, stinkende Menschenräuber, aber keine Soldaten Halmaths“, bemerkte er dann.

Das schmale Gesicht des Hirans verzog sich, Cleandil setzte ein starres Harlekinlächeln auf. „Mehr als dreißig dieser Kerle sind tot, mein Freund.“

„Es waren Räuber und sie sind in unser Gebiet eingedrungen. Muina gehört den Bewohnern von Caralith, das ist seit langer Zeit so und bisher haben es die Menschen akzeptiert.“

„Bisher!“ Cleandil ging zu einem der Fenster seines Arbeitszimmers und sah auf die Straßen von Caralith herab. Zwischen den Dächern, die mit kaminroten Ziegeln bedeckt waren, konnte man Gruppen von Elben in weißen Gewändern erkennen. Gemächlich schlenderten sie durch die Gassen. Ein strahlend blauer Himmel breitete sich über der Stadt aus, die so wunderbar friedlich wirkte. Der Hiran seufzte leise in sich hinein.

„Hat Euch das Denkdämmern dazu gebracht, zu glauben, dass wir wirklich in Gefahr sind?“, wunderte sich Dearveo.

„Ich habe alle Gedankenfragmente zusammengefügt, Erster Berater. Im Grunde ergibt sich dieses Bild“, antwortete der Hiran. Dann drehte er sich wieder um.

Dearveo betrachtete den Herrn von Caralith, jene schlanke, hohe Gestalt, deren weißgraues Haar von mehreren kleinen Zöpfen durchzogen war. Das schmale Gesicht des Ersten Beraters zeigte keine Emotionen, lediglich die sich verdunkelnde Iris seiner Augen deutete auf die unschönen Gefühle hin, die Cleandils Worte in seinem Inneren entfacht hatten.

„Es hat lange keinen Menschenherrscher wie Halmath

III. mehr gegeben. Er ist streitbar und aufbrausend. Ein primitiver Barbar, der durch seine brutale Dummheit und unersättliche Gier nur noch gefährlicher wird. Er will Munia besitzen, da bin ich mir sicher“, sagte der Hiran.

Dearveo schloss die Augen, um seine Gedanken zu ordnen, während ihn der Herr von Caralith still musterte.

„Die Trallaith der Wüsten waren schon immer wild, das ist eben so“, gab er nach einem Moment des Zögerns zurück.

Ein kurzes Aufflackern in den blauen Mandelaugen des Hirans verriet seinem Ersten Berater, dass ihn das abschätzige Wort „Trallaith“ emotional berührte. Diese Bezeichnung zeigte die tiefe Verachtung, die Dearveo gegenüber den menschlichen Wüstenbewohnern hegte. Das elbische Schimpfwort ließ sich am besten mit „Hässliche Gesichter“ übersetzen.

„Unsere Vorfahren haben diesen Nomadenabkömmlingen einst gezeigt, wie man Häuser baut. Ohne uns hätten sie nicht einmal Brunnen und würden nicht anders leben wie ihre Ziegen“, ereiferte sich der Elb.

Cleandil unterbrach seinen Gehilfen mit einem Zischlaut, der für menschliche Ohren kaum hörbar gewesen wäre. Sein Einwand kam einer Verneinung gleich.

„Es macht wenig Sinn, sich über die Menschen im Osten zu ärgern. Sollen sie tun, was sie wollen, wenn sie uns nur in Ruhe lassen. Das Problem ist jedoch, dass sie zunehmend frecher werden und offenbar glauben, die Oase Muina stände ihnen offen.“

„Demnach war es richtig, dass unsere Stadtwächter diese Banditen mit Pfeilen gespickt haben“, antwortete Dearveo, während sein schmales Gesicht zu einer versteinerten Maske wurde und sich seine Augen vor Wut erhellten. Cleandil erhob sich von seinem Platz, dann breitete er die Arme aus. Er kam ein paar Schritte auf seinen Helfer und Gefährten zu, um daraufhin zu sagen: „Unsere Soldaten waren zwar im Recht, aber es ist die Frage, ob wir durch das Töten dieser Wüstenräuber nicht noch mehr Ärger provoziert haben.“

„Diese stinkenden Trallaith haben versucht, unsere Vorräte zu stehlen. Hätten wir sie einfach gewähren lassen sollen, Herr?“

„Halmath III. steckt dahinter!“, meinte Cleandil.

„Nein, das glaube ich nicht, ehrwürdiger Hiran.“ Dearveo unterstrich seine Aussage ebenfalls mit einem dezenten Zischlaut. Abweisend hob er die Hände.

„Und wenn doch?“, gab das Oberhaupt von Caralith zu bedenken.

„Die Hauptstadt dieses Räuberhäuptlings liegt an der Nordküste von Shaamay, also weit weg von Muina. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Halmath III. uns angreifen will. Herr, bei allem Respekt, das Denkdämmern muss Euch auf einen falschen Pfad der Erkenntnis geführt haben.“

„Wenn sich die Nebel des Geistes in der Nachtstille lichten, dann zeigen sie selten die Unwahrheit, alter Freund“, erwiderte der Hiran.

Der Erste Berater riss die Augen auf, während ihn eine gewaltige Welle des Zorns durchfuhr.

„Auch wenn dieser Menschenkalif die Wüstenstämme an der Nordküste vereinigt hat und es ihn nach noch mehr Land dürstet, so wird er es niemals wagen, Caralith anzugreifen. Wir sind Elben, Kinder der Sterne. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass dieser Primitive die Macht Galathols herausfordern würde. Oder etwa doch?“

Cleandils Mundwinkel schoben sich langsam nach unten. Die dünnen, rosafarbenen Lippen des Hirans verwandelten sich in einen blutleeren Strich.

„Galathol hat Caralith längst vergessen. Hier sind wir auf uns allein gestellt, also rechnet nicht mit Hilfe, die niemals kommt. Aber vielleicht denke ich auch zu weit und mache mir Sorgen, wo es keine geben sollte. Wenn es nur gewöhnliche Banditen der Wüste waren und keine Gefolgsleute Halmaths III., können wir den Vorfall wieder vergessen und uns mit wichtigeren Dingen beschäftigen“, sprach Cleandil. Dann verließ er den Raum.

Valimas sanfte Stimme erzeugte wundervolle Bilder in Alarvails Geist. Die langhaarige Elbin sang ein altes Lied vom Sonnenaufgang am Anfang der Zeit. Dazu spielte sie auf einer kleinen Harfe. Ihr Sohn lauschte den schönen Tönen mit geschlossenen Augen, während er sich ganz in einer Traumwelt aus unendlichem Farbenreichtum und mystischen Visionen verlor. Alarvails Geist flog wie ein Vogel über eisige, von blauen Nebelschwaden umhüllte Berggipfel, tauchte dann wieder hinab, schwebte über Meere aus wogenden Gräsern und über orangefarbene Wälder, die sich in alle Himmelsrichtungen erstreckten. Die langen Finger seiner Mutter tanzten schon seit Stunden über die Saiten der Harfe, wobei sie nicht müde wurden, magische Klanggewebe zu erzeugen.

Seit jeher liebten die Elben die Musik, die Kunst und die Poesie. Manche von ihnen verbrachten den größten Teil ihrer meist sehr langen Lebensspanne damit, den Geist zu schulen und zu erweitern. Das Leben wäre eine Kunst, Ästhetik die Essenz desselben, hieß es bei den weisen Elben, die schon lange in dieser Welt verweilten.

Was den Menschen nach und nach langweilig wurde, wenn sie überhaupt in der Lage waren, derartige Höhen der Geistigkeit zu erklimmen, genossen viele der Elben erst, wenn dabei viel Zeit verstrich. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass ein Elb tagelang ein schönes Gemälde betrachtete, ein Gedicht interpretierte oder ein Wunderwerk der Architektur bestaunte. Viele Dinge zeigten sich erst auf den zweiten Blick, manche mussten sogar sehr lange angesehen werden, damit sie ihre Geheimnisse offenbarten.

Doch diese Zeit nahmen sich die anderen Völker Antariksas nicht, sagten die Elben stets mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton. Die Rastlosigkeit der Menschen, das zweckmäßige Denken der Orks, die raffende Gier der Zwerge oder der Stumpfsinn der Creex; für alle diese Dinge hatte ein Elb wenig übrig.

„Vater kommt!“

Alarvail öffnete die Augen, sprang mit der Flinkheit einer Raubkatze auf und drehte den Kopf zur Tür, die sich in der gleichen Sekunde öffnete. Valima stellte die Harfe zur Seite, ihr Blick verriet Freude.

„Für heute ist es gut“, sagte Dearveo, sich ein müdes Lächeln abringend. Der hochgewachsene Elb gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange, seinem Sohn strich er mit der Hand über die Schulter. Dann setzte er sich an den Tisch.

Draußen war der Tag dabei, der Nacht zu weichen. Ein orangeroter Sonnenuntergang erleuchtete die Häuserdächer von Caralith und versenkte die Welt in seinem wundersamen Schein. Dearveo machte einen erschöpften Eindruck, er war wieder einmal für viele Stunden an der Seite des Hirans gewesen und hatte ihn beraten.

„Gibt es Anlass zur Sorge?“, fragte Valima.

Dearveo antwortete ihr mit einem leisen Zischen, wobei sich seine Gesichtszüge nicht veränderten. Müde starrte er ins Leere. Alarvail brachte ihm einen Tee an den Tisch. „Wirklich keinen?“, schob er nach.

Sein Vater strich sich eine weißblonde Strähne aus dem Gesicht, sein Blick traf den des einzigen Sohnes, dessen erneute Nachfrage ihn nur noch mehr zu ermüden schien.

„Nein! Der Hiran macht sich zwar noch immer Sorgen, doch ich sehe die Dinge nicht so wie er. Uns droht meiner Meinung nach keine Gefahr von den Trallaith im Osten“, sagte Dearveo.

Wortlos stand er auf, ging in eines der Nebenzimmer und kam kurz darauf in ein bequemes Hausgewand aus weichem Stoff gekleidet zurück, um sich noch einmal an den Tisch zu setzen. Valima und Alarvail sahen sich an, Dearveo wich ihren Blicken indes aus. Er trank schweigend den Tee, welchen ihm sein Sohn zubereitet hatte, und erhob sich dann erneut von seinem Platz.

„Ich muss ruhen. Die langen Gespräche und Beratungen haben mich an den Rand meiner geistigen Kräfte geführt. Cleandil kann ein sehr fordernder Elb sein, das könnt ihr mir glauben“, merkte Dearveo noch an, bevor er Frau und Sohn im Wohnzimmer zurückließ und in die obere Etage des Hauses ging.

Alarvail trommelte mit den Fingerkuppen auf der Tischplatte herum. Seine Mutter bat ihn jedoch, damit aufzuhören.

„Ich bin ebenfalls sehr müde“, sagte sie. „Vaters geistige Verausgabung der letzten Tage hat auch an meinen Kräften gezehrt. Ich spüre die Unausgeglichenheit und die zahlreichen Zweifel, die ihn plagen. Es macht dir nichts aus, wenn ich zu ihm nach oben gehe, nicht wahr?“

„Nein!“, gab Alarvail zurück.

„Wir sehen uns morgen. Ich wünsche dir eine geruhsame Nacht, mein Schatz.“ Valima gab ihrem Sohn einen liebevollen Kuss auf die Stirn; sie verschwand, Alarvail blieb allein auf seinem Stuhl sitzen.

Er verweilte noch etwas im Schein der kleinen Kerze, die in der Mitte des Tisches stand, und beobachtete nachdenklich das aufgeregte Tanzen ihrer Flamme. Über die Sorgen sinnierend, die den Hiran und damit auch seinen Vater heimsuchten, vergingen noch zwei Stunden, in denen Alarvail jedoch zu keinem Ergebnis kam. Immerhin hatte sich Dearveo beharrlich ausgeschwiegen. Mehr als ein paar bruchstückhafte Andeutungen hatte Vater nicht gemacht, und das war definitiv zu wenig, um sich darunter etwas vorstellen zu können.

„Es reicht jetzt. Du solltest ebenfalls zu Bett gehen. Morgen ist auch noch ein Tag“, flüsterte sich Alarvail wie zur Versöhnung selbst zu. Daraufhin stand er auf und ging in sein Zimmer, um zu schlafen. Auf ihn wartete eine Nacht, die er niemals wieder vergessen sollte.

Böses Erwachen

Mit einem lauten Schrei schreckte Alarvail aus dem Schlaf und stieß etwas mit der Hand weg. Er hörte ein hämisches Lachen, während sich ein schmales Elbengesicht mit zwei spitzen Ohren über ihn beugte.

„Guten Morgen! Heute kommst du von hier weg, Wüstensproß!“

„Verschwinde!“, fauchte Alarvail den schrill kichernden Jungelben mit dem rotblonden Haar an.

„Uhu!“, rief dieser und hob die Hände, als ob ihm alles furchtbar leid täte. „Wollte dich doch nur wecken, Stinkeelb, denn heute ist der große Tag. Heute werden wir dich endlich los.“

Noch im gleichen Augenblick flog die Bettdecke zur Seite und Alarvail sprang mit einem beeindruckenden Satz auf den unliebsamen Besucher zu. Wut flackerte in seinen großen Mandelaugen auf und färbte sie weißblau. Caimon, der junge Elb, der Alarvails Schlaf so unsanft beendet hatte, wich erschrocken zurück.

„Du hast eine wunderschöne Langnase. Soll ich sie genauso zerschlagen wie die deines Bruders?“, knurrte Alarvail in seine Richtung.

„Vater wird dich dann endgültig…“, versuchte dieser halbherzig zu drohen, doch das beeindruckte den Elb aus der Wüste nicht.

„Was will er denn noch tun? Mich aus eurem Haus hinauswerfen? Das hat er doch bereits getan, Caimon. Also spricht nichts dagegen, auch dir noch zum Abschied die Nase zu brechen“, sagte Alarvail mit der Ruhe eines erfahrenen Raubtiers.

„Du bist vollkommen unerzogen! Wahnsinnig bist du!“, stieß sein Gegenüber aus, während er sich hilfesuchend die Hände vor das Gesicht hielt.

Erschrocken taumelte der weiß gewandete Elb zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Dabei fegte er mit der rechten Hand eine teure Porzellanvase von einem Nachtschränkchen. Es ertönte ein lautes Klirren.

In diesem Moment riss Caimons in die Jahre gekommener Vater die Tür des Schlafraumes auf und stellte sich zwischen die beiden Streithähne. Die in einem langen Gewand aus teurem Stoff steckende Gestalt wandte ihren ernsten Blick zuerst Alarvail zu.

„Genug! Ich werde unter dem Dach meiner Familie nicht noch einen deiner Gewaltausbrüche dulden! Pack sofort deine Sachen, damit ich dich von hier fortbringen kann!“, herrschte der weißhaarige Elb Alarvail an.

Dieser drehte sich trotzig um, schnappte sich eine Ledertasche, die neben dem Bett auf dem Boden lag, und stopfte einige Kleidungsstücke hinein. Alarvail schlüpfte in seine kniehohen Stiefel aus hellbraunem Leder – die einzigen, die er besaß – und zog sich Hemd und Hose an, um sich schließlich wieder umzudrehen.

„Ich bin bereit!“, sagte er ungerührt. „Bringt mich weg von hier, Herr Emlail.“

„Endlich…“, hörte Alarvail Caimon hinter dem sicheren Rücken seines Vaters zischeln. Dann tauchte auch der ältere Bruder des Jungelben, Gelaimon, im Türspalt auf. Leise stahl er sich in den Raum.

Alarvail schenkte ihm einen höhnischen Blick. Gelaimons schiefe Nase war blutverkrustet und jeder Ästhetik verlustig gegangen. Ein wohlgezielter Faustschlag hatte sie verunstaltet.

„Auch schon wach, mein Freund?“, säuselte ihm Alarvail zu.

„Hoffentlich schicken sie dich eines Tages zu den Orks“, entgegnete Gelaimon bösartig.

„Es reicht jetzt!“, ermahnte Emlail die drei jungen Elben.

An Alarvail gerichtet sagte er: „Man erwartet dich schon vor dem Haus. Tymail der Hausdiener wird dich zur Festung Chrice nach Falasse bringen.“

Alarvail antwortete ihm nicht, der finstere Blick aus seinen wuthellen Augen war Erwiderung genug. Emlail und seine beiden Söhne gingen wieder aus dem Schlafraum heraus, während ihnen der ungeliebte Gast zornig nachsah. Heute endeten für ihn vier Jahre voller Demütigungen, wurde es Alarvail in diesem Augenblick bewusst. Viel schlimmer als bei diesen entfernten Verwandten, die ihn einst aus reinem Pflichtgefühl gegenüber seinen toten Eltern aufgenommen hatten, konnte es beim elbischen Heer auch nicht sein.

Als Alarvail schließlich vor dem Eingang des großen Herrenhauses aus weißem Stein stand, kam Tymail schon auf ihn zu. Mit dem alten Hausdiener hatte sich Alarvail immer recht gut verstanden. Doch heute war auch dieser äußerst wortkarg und sprach nur noch das Nötigste mit dem Jungelben, den es loszuwerden galt.

Oben am Fenster standen Emlail, seine Frau und die beiden Söhne. Sie hatten sich nicht einmal von Alarvail verabschiedet – und dieser hatte auch keinen Wert darauf gelegt. Seine Verwandten und er hatten sich vom ersten Tag an nicht verstanden. Somit war diese Trennung zumindest ehrlich. Und es gab weitaus unangenehmere Dinge, sagte sich Alarvail immer wieder. Er hatte in seinen wenigen Lebensjahren schon Schlimmeres erlitten als diese Zurückweisung.

So schwang sich Alarvail auf das Ross des Hausdieners und hielt sich an dessen Rücken fest, während er sich zugleich bemühte, seine Tasche nicht fallen zu lassen. Er wollte Emlails Familie niemals mehr wiedersehen. Und zweifellos war sein Wunsch auch im Sinne derselben. Dann raste das Elbenross los. Auf Alarvail wartete ein Leben als Soldat Galathols.

Ein Teil der Festung Chrice ragte über die Steilküste hinaus. Begabte Baumeister hatten die Burg aus weißem Sandstein einst zu einem Kunstwerk der Architektur gemacht. Schlanke Türme, um deren Spitzen Schwärme von Seevögeln kreisten, wuchsen zwischen den erhabenen Mauern Chrices in die Höhe. Ein jedes Gebäude strahlte Perfektion und künstlerischen Ehrgeiz aus; Wandgemälde von bedeutenden Meistern, die niemals zu verblassen schienen; blühende Rankengewächse, die aussahen, als wollten sie mit dem Gestein verschmelzen; kunstvoll verzierte Balken und Säulen. Was andere Völker zweckmäßig hochzogen und aus dem Boden stampften, vollendeten die Elben stets so, dass es ihren hohen Ansprüchen genügte.

Jetzt war Alarvail hier, in jenem stolzen Bollwerk elbischer Macht, das schon seit Jahrhunderten an der Küste thronte und bereits ungezählte Soldaten in seinem Inneren beherbergt hatte. Der junge Elb aus Caralith war seit genau einem Tag ein Teil des Heeres. Alles um ihn herum war neu, ungewohnt und zugleich auch absolut beeindruckend. Eine Festung von solch unglaublicher Größe und Schönheit hatte Alarvail noch niemals zuvor gesehen.

„Die niederen Arten, die jenseits des Meeres in hässlichen Städten, dunklen Wäldern und trostlosen Ödländern hausen, verstehen den Kampf lediglich als einen Ausbruch brutaler Gewalt. Dies entspricht ihren einfachen Geistern, die nur wenig Wissen einfangen können. An der Spitze einer barbarischen Menschen- oder Orkhorde steht meistens ein besonders großer Schreihals mit einer dicken Keule. Dem rennt der Rest der Hohlköpfe dann einfach nach“, sprach ein elbischer Kriegsmeister, dessen Gesicht von zahlreichen Schmissen und Narben verunstaltet war.

Alarvail, der zusammen mit knapp dreißig Neuankömmlingen nach Chrice gekommen war, musterte die für elbische Schönheitsvorstellungen grauenhaft hässliche Gestalt. Vor vielen Jahren musste das Antlitz des Kriegers einmal schön und würdevoll gewesen sein, doch inzwischen war jede Anmut herausgeschnitten worden. Quer über das rechte Auge des Elbs zog sich eine riesige, verwachsene Narbe, welche bis zum Kinn hinunter reichte. Das einzig Schöne an dem Kriegsmeister, der ruhig, sachlich, aber dennoch äußerst bestimmt sprach, war die Rüstung, in der er steckte.

Angefangen von den Beinschienen, die wie blank poliertes Silber in der Sonne aufleuchteten, bis zu dem spitz zulaufenden Helm, den ein hellblauer Haarbusch zierte, glich der Krieger ganz den vielen Marmorstatuen, die man überall im Hof der Küstenfeste bewundern konnte.

„Ich weiß nicht, warum ihr hier seid, meine jungen Freunde. Vermutlich hat jeder von euch einen anderen Grund, aus dem er Soldat werden möchte. Manche von euch entstammen angesehenen Familien, bei denen es als besondere Ehre erachtet wird, wenn einer ihrer Söhne den Pfad des Kriegers beschreitet. Andere hingegen wissen nicht, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollen und wählen die Kunstform, die die meisten Leben fordert. Wir werden sehen, ob vor allem Letztere einen Wert für das Heer Galathols haben“, drang die Stimme des gerüsteten Elben zu Alarvail herüber.

„Mein Name ist Aenon und ich werde euch zu Kriegern machen. Es ist aber nicht meine Aufgabe, euch zu quälen oder euch Gehorsam einzuprügeln. Das tun die primitiven Völker Antariksas mit ihren wertlosen Kämpfern, aber nicht wir. Als elbische Soldaten sind wir hier in Chrice an einer Akademie der hohen Künste, wie es sich für Angehörige eines edlen Volkes gehört. Hier wird euch beigebracht, wie man mit dem Schwert tanzt, den Speer zum Singen bringt und die Essenz des Kampfes ganz in sich aufnimmt.

Wer allerdings doch lieber Bildhauer, Architekt, Maler oder sonst etwas werden will, der möge sich jetzt entscheiden und Chrice den Rücken kehren. Die Kunst des Lebens hat viele Facetten, nicht jeder möchte mit Stahl und Blut arbeiten, das verstehe ich.“

Drei junge Elben verließen die Gruppe und gingen davon, der Rest der angehenden Soldaten blieb. Für Alarvail stellte sich die Frage, ob er lieber gehen oder bleiben sollte, hingegen nicht. Die Familie, von der er aufgenommen worden war, hatte ihn für immer fortgeschickt. Für den verstoßenen Waisen gab es nur noch die Festung Chrice.

„Ich respektiere die Entscheidung jener, die uns verlassen haben. Mögen sie die Vollendung der Kunst in anderen Bereichen finden“, rief Aenon, nachdem die drei Jungelben außer Sichtweite waren.

Alarvail ließ seinen forschenden Blick derweil über den großen, runden Platz schweifen, auf dem sich die Neuankömmlinge versammelt hatten. Weiße Gebäude mit aufwendig verzierten und bemalten Fassaden umgaben ihn. Hinter der Gruppe befand sich ein großer Brunnen, der selbst ein einziges Kunstwerk war. Kristallklares Wasser sprudelte aus dem aufgerissenen Maul eines steinernen Drachen in ein Becken, das mit himmelblauen Kacheln ausgekleidet war.

Schließlich richtete er seinen Blick wieder auf Aenon, um daraufhin die anderen Elben zu betrachten. Fast alle hatten sie lange, weißblonde Haare, die entweder zu kleinen Zöpfen zusammengebunden waren oder wallend die Schultern herabfielen. Die meisten der angehenden Elbenkrieger trugen schlichte Gewänder aus weißem Stoff. Einer von ihnen drehte Alarvail den Kopf zu. Er nickte wortlos.

„Ihr werdet hier die Kampfkunst erlernen, um eines Tages Galathols Macht mit Schwert und Speer vertreten zu können“, erklärte der elbische Ausbilder weiter. „Wir Artisten der Klinge sind allerdings nicht allzu zahlreich. Viele unserer Mitelben achten unser ehrwürdiges Handwerk nicht so, wie wir es eigentlich verdient hätten. Doch ein Sänger mit schöner Stimme oder ein Maler mit einem Verständnis für seine Farben kann nur wirken, wenn ihm kein Ork den Schädel einschlägt. Leider wird das oft vergessen.“

Alarvails Augen erhellten sich, als er diese Worte vernahm; Zorn berührte seine Seele. Seine geliebte Mutter würde niemals wieder die Saiten einer Harfe zupfen und sein Vater niemals mehr ein Gedicht verfassen. Sie waren von der Gewalt hinweggespült worden.

„Da hat er Recht…“, sagte Alarvail leise zu sich selbst, wobei auch die ihn umgebenden Elben seine Worte hörten. Ein paar der Neuankömmlinge sahen ihn fragend an.

„Ich freue mich, dass ihr euch für die Kunst des Kampfes entschieden habt. Es gibt viel zu lernen, meine jungen Freunde, und ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit“, beendete Aenon seine Ansprache. Im nächsten Augenblick drehte sich der Kriegsmeister um und ließ die jungen Elben im Hof der Seefestung zurück.

Alarvail stieß die Tür zu seiner Stube auf. Hier sollte er von nun an wohnen und leben. Die Küstenfestung Chrice war jetzt seine Heimat, genauer gesagt diese enge Kammer, in der sich lediglich zwei hölzerne Betten, ein Tisch und zwei Stühle befanden. Die Wände des Raumes waren cremefarben, glatt verputzt und mit einigen Schnörkeln verziert. Ein kleines, rundes Fenster unmittelbar unter der Decke spendete etwas Tageslicht. Mehrere Bilder hingen an den Wänden, der Boden war ein kunstvolles Mosaik aus hellblauen und grauen Steinchen. Vor den zwei Betten lagen jeweils Vorleger aus weichem Bergschleicherfell.

Alarvail sah sich um. Auf einem der Betten hockte ein junger Elb mit schulterlangem Haar von goldener Farbe. Zwei azurblaue Mandelaugen richteten ihren kritischen Blick auf den Neuankömmling, der die Stube soeben betreten hatte. Stumm starrte Alarvail zurück. Er musterte den fremden Zimmergenossen seinerseits. Der unbekannte Elb hatte auffällig hohe Wangenknochen, seine Miene strahlte eine gewisse Überheblichkeit aus.

„Ah, der Mitbewohner. Da ist er ja endlich“, sagte der auf der Bettkante sitzende Jungkrieger.

„Alarvail `dey Veryor“, stellte sich selbiger mit vollem Namen vor.

„Taerail `dey Calchath avis Landir“, sagte der fremde Elb im Gegenzug; sein Name wies auf eine adelige Herkunft hin.

„Freut mich!“ Alarvail rang sich ein flüchtiges Lächeln ab. Taerail schwieg für die Zeit mehrerer Herzschläge, er lächelte nicht zurück. Dann erwiderte er jedoch: „Ich hoffe, dass du mir nicht auf die Nerven gehst, Alarvail.“

„Das wird schon“, sagte der Waise. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Taerail erhob sich. Er war hochgewachsen, schlank und drahtig. Zwar gab es so gut wie keine Elben, die dies nicht waren, doch entsprach dieser Adelsspross geradezu dem Schönheitsideal eines jungen Kriegers. Alarvail konnte sich seinen Gegenüber schon sehr gut in einer blank polierten Rüstung vorstellen.

„Du hast einen seltsamen Akzent. Offenbar bist du kein Enlaytheth“, sagte Taerail, wobei er seine schmale Elbennase rümpfte.

„Ich komme aus Caralith, bin also kein Galatholelb“, erklärte Alarvail.

„Enlaytheth klingt besser als Galatholelb. Wir inselgeborenen Elben nennen uns Enlaytheth, verstehst du?“ Taerail zog die Augenbrauen nach oben.

„Das ist mir bekannt“, murmelte Alarvail.

„Caralith? Von einer solchen Stadt habe ich noch nie etwas gehört. Würde sie auf Galathol liegen, dann würde ich sie kennen. Hab`s mir gedacht, du bist tatsächlich einer von diesen Kolonieelben. Ich fasse es nicht!“, kam zurück.

„Ja, Caralith ist...war eine kleine Stadt an der Westküste von Shaamay. Aber sie wurde von menschlichen Barbaren überfallen und geplündert. Damals musste ich flüchten, mitten in der Nacht, ich war noch sehr jung...“, sagte der Waise, aus dessen Mund die Worte plötzlich nur so heraussprudeln wollten. Taerail aber winkte gelangweilt ab.

„Schon gut, ich habe verstanden. Ein Elb aus der Wüste also. Wenn ich meinem Vater erzähle, dass ich mit so jemandem die Stube teilen muss, dann wird ihn das nicht begeistern. Er wird mich bedauern, um genau zu sein.“

„Verstehe!“, sagte Alarvail wenig erfreut.

„Ich komme übrigens aus Inthaleeth. Der Name meiner Heimatstadt dürfte dir wohl bekannt sein, wenn du schon etwas länger auf Galathol lebst. Inthaleeth befindet sich an der Ostküste. Aus meiner Heimatstadt kommen viele berühmte Dichter und Baumeister, aber auch Seefahrer und Kriegshelden. Du kennst Inthaleeth sicherlich, wie? Oder bist du gerade erst an den Strand gekrochen?“, sprach der Adelsspross.

„Bin ich weniger wert als ein Elb aus Galathol?“, zischte Alarvail, den die Arroganz dieses Taerail allmählich verärgerte.

„Vergiss es!“, murrte dieser. „Geh nicht an meine Sachen, störe mich nicht in der Nacht. Ich wasche mich jeden Morgen ausgiebig, was bedeutet, dass du stets zu warten hast, bis du in den Waschraum gehen kannst. Und benutze keinesfalls mein Puder oder meine Duftcreme. Wenn du dich an diese Anweisungen hältst, dann könnte unsere glücklicherweise zeitlich begrenzte Gemeinschaft unter Umständen funktionieren.“

Taerail ging an Alarvail vorbei, ohne ihm noch einen Blick zu schenken. Hinter dem Waisen öffnete sich die Tür, um sich dann wieder mit einem leisen Klicken zu verschließen.

„Was für ein Widerling!“, fauchte Alarvail.

Gelaimon und Caimon, die Söhne des Herrn Emlail, der ihn damals als entfernter Verwandter seiner Mutter aus reinem Pflichtgefühl aufgenommen hatte, hatten ihn vom ersten Tag an gedemütigt. Sie waren ihm zunächst ähnlich hochnäsig begegnet wie dieser adelige Elb, mit dem er von nun an zusammenwohnen sollte.

Alarvail erinnerte sich; sein Gesicht wurde zu einer Maske aus Stein. Die ersten Jahre auf Galathol waren eine einzige Qual gewesen. Lange hatte sich Alarvail immer wieder einschüchtern lassen. Das Gemetzel in den Straßen von Caralith, die Flucht mit dem Schiff über das Meer, die Todesangst, die Einsamkeit, der Untergang jeder Geborgenheit – damals war er als gebrochener und zutiefst traumatisierter Jungelb nach Galathol gekommen. Er hatte sich nie gewehrt, als Gelaimon und sein Bruder damit begonnen hatten, ihn mit ihren Gemeinheiten zu überschütten. Jedenfalls eine Zeit lang.

Doch das hatte sich längst geärgert. Alarvail war inzwischen voller Trotz und Hass. Dieser Taerail würde ihn weder herumscheuchen noch bevormunden. Sollte er es ruhig versuchen; Alarvail war entschlossen, ihm sofort die richtige Antwort zu geben, wenn es sein musste.

„Notfalls schlage ich dir die Nase ein, genau wie diesem verfluchten Gelaimon!“, murmelte Alarvail leise vor sich hin und seine Augen erhellten sich vor Wut.

Zwei Monate war Alarvail nun schon in Chrice. Mit seinem Mitbewohner Taerail verstand er sich einigermaßen, auch wenn ihm dessen überhebliche Art auf die Nerven ging. Dennoch fühlte sich Alarvail mittlerweile noch einsamer als in den nicht sehr freudvollen Jahren im Kreise von Emlails Familie. Jahrelang hatten ihn Gelaimon und Caimon gequält und erniedrigt, während ihr Vater in ihm eine Art Haussklaven gesehen hatte. Aber die Illusion, trotzdem noch eine Familie zu haben, war dennoch vorhanden gewesen. Zumindest zeitweise.

Inzwischen war sich Alarvail jedoch längst im Klaren darüber, dass er ganz auf sich allein gestellt war. Vater und Mutter waren tot, die alte Heimat jenseits des großen Meeres existierte nicht mehr. Sie gehörte nun den Menschen der Wüste, die Caralith erobert und geplündert hatten. Die Tatsache, dass er niemanden mehr hatte, erfüllte den Waisen abwechselnd mit finsterer Wut und tiefer Trauer.

In letzter Zeit hatte der Jungelb viel darüber nachgedacht, welcher der zahlreichen Künste, die das Elbenvolk zu beherrschen gelernt hatte, er sich widmen sollte. Dem Handwerk, der Baukunst, dem Heilen oder gar der Magie?

Herr Emlail jedenfalls hatte veranlasst, dass er nach Chrice gekommen war. Wer sonst zu nichts zu gebrauchen war, den konnte man immer noch ins Heer stecken, hatte der alte Elb gesagt. Somit war Alarvail die Entscheidung schon im Vorfeld abgenommen worden.

Andererseits war die Kampfkunst genau das Richtige für ihn, dachte Alarvail. Bei dem, was er erlebt hatte, mangelte es ihm nicht an Zorn. Er wollte seit Jahren schon ein Ventil dafür finden. Für all den Schmerz, der am Ende zu so viel innerer Wut geführt hatte. Auch wenn der Zorn bei den Elben als eine Untugend angesehen wurde, so wollte sich Alarvail seiner nicht länger schämen. Er würde ihn zu einem guten Kämpfer machen; daran glaubte er inzwischen felsenfest.

Doch mit dieser Sicht der Dinge, die sich längst in den Tiefen von Alarvails Geist festgesetzt hatte, stand der Waise der elbischen Philosophie und Religionslehre fundamental entgegen.

Selbst ein so erfahrener Veteran wie Aenon, der schon gegen Orks und Menschenbarbaren im Feld gestanden hatte, betonte immer wieder, dass es nicht der Zorn, sondern die liebevolle Hingabe an die Kampfkunst war, die einen guten Krieger aus ihm gemacht hatte.

Bisher jedoch hatte die Ausbildung zum Soldaten Galathols nur aus langen Vorträgen über Geschichte oder Konzentrationsübungen bestanden. Alarvail war noch nicht einmal in die Nähe von Schwert und Bogen gelangt. Nach wie vor trug er seine inzwischen arg in Mitleidenschaft gezogenen Kleider und Lederstiefel, die zugleich seinen einzigen Besitz darstellten.

Die Zeit des Wartens auf die ersten Kampfübungen war nach vier Monaten endlich vorüber. Alarvail, sein Mitbewohner Taerail und die übrigen Jungelben, welche sich für den Weg des Kriegers entschieden hatten, brannten bereits seit Wochen darauf, endlich eine Waffe in die Hand nehmen zu dürfen.

Mit dem Bogen fing die Ausbildung eines Elbenkämpfers traditionell an. Auf diese Weise wurden auch die Bürgersoldaten, die in Kriegszeiten zu den Waffen gerufen wurden, an die Kunst des Kampfes herangeführt. Nach dem Bogen folgten der Speer und schließlich das Schwert. Allerdings waren die Elben von Galathol kein kriegerisches Volk. Nur ein kleiner Teil von ihnen gehörte zum stehenden Heer des Inselreiches. Kaum 20000 Berufssoldaten wachten über Galathol. Sie lebten nur für die Kampfkunst und strebten danach, sie zu perfektionieren. Ihre Mitelben standen ihnen mit einer Mischung aus Respekt und Bewunderung, teilweise aber auch unterschwelliger Furcht, gegenüber.

Einst, in den Hochzeiten des elbischen Expansionsdranges, war das stehende Heer bedeutend größer gewesen, doch inzwischen war die Kraft des edlen Volkes erlahmt. Zumindest was weitere Koloniegründungen in Übersee oder gar Eroberungen betraf.

„Ich hoffe, der zweite Schuss wird besser als der erste“, neckte Alarvail seinen Mitbewohner, der ihm lediglich hochmütig zunickte.

„Davon bin ich überzeugt“, kam von Taerail zurück.

Der edelgeborene Elb drückte den Rücken durch, spannte den Bogen und visierte einen Leinensack an, der mit Heu gefüllt war. Darauf war eine kleine, rote Zielscheibe gemalt worden.

Einen Augenblick später surrte der Pfeil los und ging rechts an dem Sack vorbei. Alarvails Augen verrieten eine freudvolle Häme, Taerail stieß ein leises Zischen aus.

„Sag jetzt nichts, Wüstenelb!“, fauchte er in Richtung seines Zimmergenossen.

Alarvail verneigte sich wie ein Lyriker vor seinem Publikum. „Ich schweige, Edelblütiger. Ganz wie Ihr es wünscht“, säuselte er.

Dann war Alarvail selbst an der Reihe. Er ging in Position, zielte lässig und durchbohrte den Heusack mit dem Pfeil - genau in der Mitte der Zielscheibe.

„Glück gehabt!“, kommentierte Taerail den Schuss.

„Sehr gut!“, rief dagegen Ausbilder Aenon von der Seite. Der Veteran, der heute nur eine leichte Lederrüstung trug, kam angerannt und lobte Alarvail vor den anderen Rekruten.

„Schieß noch einmal!“, sagte er.

Alarvail ging erneut in Stellung, visierte das Ziel mit seinen scharfen Augen an, schoss und setzte den zweiten Pfeil exakt neben den ersten.

„Alle Achtung! Du bist offenbar der geborene Schütze!“ Aenon war begeistert. Er verzog sein vernarbtes Gesicht, um anerkennend zu lächeln. Taerails Blick verriet indes einen Hauch von Neid.

Schließlich gingen die Schießübungen bis zur Abenddämmerung weiter. Alarvail traf das Ziel noch oft, während die anderen Jungelben nicht einmal ansatzweise mit seiner Treffsicherheit mithalten konnten. Ständig kam der Ausbilder, um seine Zielgenauigkeit lobend hervorzuheben. Dem begabten Schützen wurde dies nach einer Weile allerdings unangenehm. Elben konnten schnell eifersüchtig werden, nicht selten missgönnten sie anderen ihren Erfolg oder ihre Kunstfertigkeit.

„Ich muss ja zugeben, dass du mit dem Bogen halbwegs umgehen kannst. Das hätte ich einem dahergelaufenen Elb aus der Wüste nicht zugetraut“, bemerkte Taerail ein wenig verärgert, als die Übungen endlich zu Ende waren.

„Dann töte ich den Feind schneller, der dich erschlagen will“, antwortete Alarvail und versuchte, bescheiden zu bleiben.

„Ich werde auch ohne deine Hilfe einen Primitiven in der Schlacht besiegen können.“ Der Adelsspross aus Inthaleeth machte eine abweisende Handbewegung, seine Mundwinkel schoben sich nach unten.

Alarvail überlegte kurz, was er dem hochnäsigen Jungelb antworten sollte. Es war offensichtlich, dass seine Fertigkeit mit dem Bogen Taerails Missgunst geweckt hatte. Dieser spielte nachdenklich an einem seiner kleinen Zöpfe, die ihm über die hohe Stirn hingen. Mit leicht erhellten Augen sah er Alarvail an.

„Da wir eines Tages zusammen auf dem Schlachtfeld stehen werden, ist es ja nicht dein Schaden, wenn ich gut mit dem Bogen schießen kann“, meinte der Waise mit versöhnlichem Unterton.

„Bin gespannt, wie du mit Speer und Schwert umgehen wirst. Mein Vater hat mir schon früh das Fechten beigebracht. Es interessiert mich brennend, wie du dich schlagen wirst, wenn wir erst zu den echten Waffen kommen“, fauchte Taerail.

Ohne noch ein weiteres Wort von sich zu geben, drehte sich der Elb um und ging schnellen Schrittes in Richtung des Gebäudes, in dem sich die Schlafräume der Neuankömmlinge befanden.

Für einen kurzen Augenblick bedrückte Alarvail die Vorstellung, dass er seinen Mitbewohner durch die Zurschaustellung seiner Schützenfähigkeiten verärgert hatte, doch dann begann sein Blick, eine trotzige Freude zu offenbaren. Die Kunst des Kampfes; er hatte gewusst, dass er sie meistern konnte.

Taerails leises Atmen war das einzige Geräusch, vom allgegenwärtigen Rauschen des Meeres abgesehen, das Alarvail in der finsteren Stube hören konnte. Es war mitten in der Nacht; der Waise saß aufrecht in seinem Bett und starrte in die Dunkelheit. Wie schon so oft hatten ihn soeben unschöne Bilder aus dem Schlaf gerissen. Jetzt war er hellwach und ärgerte sich, dass es ihm einfach nicht gelang, noch ein wenig Ruhe zu finden. „Ihr Götter, warum habt ihr mir ein solch trostloses Leben gegeben?“, murmelte er kaum hörbar in sich hinein.

Der Zustand des Denkdämmerns, das tiefe Grübeln und Sinnieren, welches den Geist auf Dauer sehr belasten und verwirren konnte, peinigte Alarvail seit dem Tage, an dem seine Eltern getötet und Caralith von den Menschen der Wüste erobert worden war. Der Jungelb schloss die Augen und sah sogleich wieder die grauenhaften Erinnerungen lebendig werden. In dieser schwarzen Nacht hatte er sich im Gebüsch hinter dem Haus versteckt. Hunderte von Wüstenräubern waren wie eine Welle des Todes über die Elbenstadt hergefallen.

„Lauf! Verberge dich im Yavenfeld, dort werden sie dich nicht finden!“

Diese Worte waren die letzten gewesen, die seine Mutter Valima zu ihm gesagt hatte. Noch immer klangen sie in Alarvails Geist nach, als würde er sie in diesem Moment hören.

Während die Wüstenräuber die überraschten Elben von Caralith niedergemetzelt hatten, laut brüllend und johlend durch die Gassen der Stadt gelaufen waren und alles geraubt hatten, was ihre gierigen Finger zu fassen bekamen, hatte Alarvail bis zum Morgengrauen auf dem Bauch gelegen und gebetet. Der Feuerschein brennender Häuser, die schrillen Schreie elbischer Frauen und Kinder, alle diese Dinge hatten sich für immer in Alarvails Gedächtnis eingebrannt.

Als es wieder hell geworden war, nachdem er stundenlang zwischen einigen Yavenstauden im Dreck verharrt hatte, war Alarvail zu seinem Elternhaus zurückgekehrt. Seinen enthaupteten Vater hatte er im Speisezimmer gefunden, während die geliebte Mutter oben im Schlafraum auf dem Bett gelegen hatte. Nur noch halb bekleidet, von oben bis unten aufgeschlitzt mit einem Krummsäbel, der Lieblingswaffe der Wüstenräuber.

Für einen Moment hatte der junge Elb das Gefühl, noch einmal den Brandgeruch verkohlter Häuser und den unverkennbaren Todesduft von vergossenem Blut in seiner Nase zu spüren. Angewidert verzog er das Gesicht. Dann sah er zu Taerail herüber, der friedlich ruhte und recht entspannt aussah. Alpträume, Schlafstörungen und ein Denkdämmern, das einen über Wochen und Monate bis an den Rand des Wahnsinns treiben konnte, schien der adelige Elbensohn aus Inthaleeth nicht zu kennen.

„Wage es nicht, mir Vorschriften zu machen, du selbstverliebter Angeber“, wisperte Alarvail durch die Dunkelheit.

Er stieg aus dem Bett, ohne auch nur das kleinste Geräusch von sich zu geben, und schlich auf leisen Sohlen zu seinem Mitbewohner, um ihn zu betrachten. Alarvails finsteres Gesicht, das keine Gefühle erkennen ließ, starrte drohend auf den schlafenden Jungelb herab.

„Die Adern am Hals durchschneiden, das Messer von unten in den Kopf schieben. Dann ist er hin. Würde nur einen Wimpernschlag lang dauern, dann wärst du schon hin, Adelsspross“, zischelte Alarvail leise in sich hinein.

„Hör auf mit diesem Unsinn“, rügte er sich im nächsten Augenblick selbst. Verstört aufgrund seines seltsamen Verhaltens schlich er wieder zurück zu seinem Bett und setzte sich auf die Kante.

Er durfte sich dem Zorn in seinem Inneren nicht hingeben. Taerail, so arrogant und unangenehm er auch manchmal sein konnte, hatte ihm nichts getan. Trauer ergriff Alarvail erneut, er hielt sich den Kopf und stieß einen Laut aus, der einem Wimmern ähnlich war. Wäre er ein Mensch gewesen, so hätte er geweint. Doch Elben weinten nicht wie Menschen, sie äußerten ihre Trauer auf andere Weise.

Es dauerte eine Weile, bis sich der Waise wieder einigermaßen gefangen hatte. Taerail durfte keinesfalls aufwachen, seine Gefühle gingen ihn nichts an.

Schließlich schlich Alarvail zu dem kleinen Rundfenster, durch welches fahles Mondlicht in das nächtliche Zimmer eindrang. Der junge Elb sah zum Himmel hinauf. So gut wie alle Völker Antariksas glaubten, dass die Seelen der Verstorbenen dort oben bei den funkelnden Sternen wohnten. Waren seine Eltern nun auch dort? Alarvail glaubte, dass ihm sowohl Daerveo als auch Valima im Zustand des Denkdämmerns schon Botschaften übermittelt hatten. Er hatte sie klar und deutlich vor sich stehen sehen, sie hatten ihn umarmt und sich lange mit ihm unterhalten.

„Es geht uns gut. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, hatte ihm Valima mit einem milden Lächeln versichert.

Oder hatte er sich alles nur eingebildet? Beruhten diese Bilder lediglich auf seinem Wunsch, nicht ganz allein in dieser Welt zu sein? Alarvail wusste es nicht und die Ungewissheit quälte ihn. Er war kein besonders religiöser Elb und was er erlebte hatte, ließ ihn an der Gutherzigkeit der Götter zweifeln. Dennoch hätte er gerne an etwas geglaubt, denn der Glaube erleichterte das Leben.

Trübsinnig betrachtete Alarvail den Nachthimmel, der ihm so unendlich weit entfernt erschien. Dann sprach er ein Gebet für seine toten Eltern.

Brennender Ehrgeiz

Es dauerte drei weitere Monate, bis die jungen Elben endlich mit dem Speer üben durften. Taerails Neid auf Alarvail war indes stetig angewachsen, denn dieser war noch treffsicherer geworden und beherrschte den Bogen wie kein anderer der Neuankömmlinge.

Seit dem ersten Tag in Chrice hatte Alarvail die Festung kaum verlassen. Bis auf ein paar Abendspaziergänge, die er stets allein gemacht hatte, war ihm die Welt außerhalb der Burg fremd geblieben. Die angrenzende Stadt Falasse hatte er nur ein einziges Mal besucht, war aber nach einem kurzen Rundgang durch die Gassen schnell wieder zur Festung an der Küste zurückgekehrt.

Außerhalb der Mauern der gewaltigen, weißen Burg kannte er niemanden, denn er war ein Niemand. Und auch Taerail blieb nach wie vor auf Distanz; manchmal ignorierte er Alarvail geradezu demonstrativ und sprach tagelang kein einziges Wort mit ihm. Immer schlimmer quälte der Neid den Enlaytheth, denn er konnte nicht glauben, dass ein nichtadeliger Elb ein besserer Schütze als er war.

Abgesehen davon gab es keine Eltern oder Geschwister, die außerhalb von Chrice auf Alarvail warteten. Auf ihn wartete höchstens ein langes Leben in Einsamkeit, kam es dem verwaisten Elb oft in den Sinn. Im Gegensatz zu den übrigen Rekruten hatte er keine Wurzeln mehr. Im Grunde waren die gelegentlichen Lobreden von Aenon das Einzige, was sein von Gram erfülltes Herz noch erhellen konnte.

Wenn Taerail von seinen Eltern, seiner Schwester und seinem älteren Bruder, einem bedeutenden Architekten, erzählte, dann litt Alarvail unter seinen Worten wie unter tausend kleinen Nadelstichen. Stets überfielen ihn Trauer und Wut, während die Erinnerungen an die Todesschreie seiner Eltern, ihre blutverschmierten Gesichter und verstümmelten Leiber wieder an die Oberfläche seines Verstandes gespült wurden, um seinen Geist zu verheeren, wie es die Menschen der Wüste mit Caralith getan hatten. Mit der Zeit begann Alarvail auch in alten Büchern und Schriften, die er in der großen Bibliothek der Küstenfestung fand, Trost zu suchen. Manche Geschichten berichteten von den edlen Helden vergangener Tage, die erst durch die Finsternis wandeln mussten, um am Ende das Licht zu finden. Diese epischen Erzählungen, die von Ruhm und Ehre, Leid und Freude, Liebe und Hass berichteten, fingen Alarvails Geist immer wieder ein. Lesend verbrachte er die freie Zeit in der Festung Chrice, wobei er stets allein mit sich selbst und seinen Gedanken blieb.

Ab und zu setzte er sich auch auf eine der hohen Mauern und beobachtete die Berufssoldaten, die in der Festung stationiert waren und fernab der jungen Rekruten ihre Übungen machten. Alarvail liebte die kunstvollen Rüstungen der Krieger, die im Sonnenlicht aufleuchteten, genau wie ihre blauen und roten Umhänge, die der Wind aufblähte.

Noch war es den Neuankömmlingen nicht gestattet, die älteren Elbensoldaten auch nur anzusprechen. Jene Meister der Kriegskunst, welche die Speere und Schwerter mit unglaublicher Geschwindigkeit und Anmut wirbeln lassen konnten, erschienen Alarvail wie überlegene Wesen aus einer anderen Welt. Nur hundert dieser edlen Kämpfer hätten Caralith einst retten können, dessen war sich der junge Elb sicher. Diese Kämpfer waren vollkommen anders als die bewaffneten Bürger, die in den Straßen seiner Heimatstadt Wache geschoben hatten. Kein gewöhnlicher Elb konnte sich mit den Kampfkünstlern von Chrice messen.

„Den Schild ruhig halten, den Speer stoßbereit lassen! Das kann doch nicht so schwer sein!“, schimpfte Aenon, der soeben einen der Rekruten von den Beinen geholt hatte.