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Frank Kohlhaas lebt ein trostloses Leben als Leiharbeiter im Berlin des Jahres 2028. Eine neu eingerichtete Weltregierung herrscht über die gesamte Erde und hat ein perfides System totaler Überwachung aufgebaut. Als Frank eines Tages durch einen Konflikt am Arbeitsplatz auffällig wird, gerät er unverhofft in die Fänge des globalen Regimes. Seine Existenz als unbedeutender Bürger endet, als er im Zuge eines automatisierten Gerichtsverfahrens verurteilt wird. Gefangen in einer Hölle aus Angst und Gehirnwäsche verliert Frank bald die Hoffnung, bis das Unerwartete tatsächlich geschieht...
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Bürger 1-564398B-278843
Automatisiertes Gerichtsverfahren
Big Eye
Die Veränderung
Ausgelagert
Weltfrieden in Ivas?
Rebellion und Neuschnee
Was du heute kannst besorgen
Aux Champs-Elysees
Vor dem Sturm
Bombenstimmung
Blutmond
Bei ihm
Glossar
„Wir sind die Finsternis der Welt, wer uns nachfolgt, wird nie mehr wandeln im Licht ...“
Frank Kohlhaas, der im alltäglichen Leben auf die Bezeichnung „Bürger 1-564398B-278843“ hören musste, weil das sein amtlicher Verwaltungscode war, träumte in den letzten Tagen sogar schon von dem unangenehmen, irgendwie an faule Eier erinnernden Geruch im Hausflur seiner Etage. Zwar befand er sich im Geiste um kurz vor 5.00 Uhr morgens – gleich sollte der Wecker seinen Traum beenden – auf einem Spaziergang durch ein sonniges Tal, doch war auch an diesem Ort jener modrige Duft, so dass sich Frank selbst im Traum darüber wunderte, wie ein so schönes Tal so wenig einladend riechen konnte.
Als der Wecker klingelte, wurde ihm klar, dass das sonnige Tal Fiktion und der Geruch real war. Das Geräusch war schrill und Frank erwachte mit einem Fluch. Jetzt hieß es aufstehen, anziehen, hastig frühstücken und den Weg zum Produktionskomplex 42-B antreten.
„Ach, verdammt!“, zischte der unrasierte Mann, als er seinen nicht übermäßig hochgewachsenen, aber dafür erstaunlich kraftvollen Körper aus dem Bett wuchtete.
„Hmmm!“, stieß Frank aus und trottete durch seine noch dunkle Wohnung ins Nachbarzimmer, wo eine dreckige Küche auf ihn wartete. Er riss die Kühlschranktür auf und würgte schmatzend ein Käsebrot hinunter, das er am Abend zuvor noch geschmiert hatte. Morgens hatte er dafür meist keine Zeit mehr.
Der Wasserkocher wurde unter lautem Brausen angeworfen und lieferte nach nur wenigen Minuten das nötige heiße Wasser für einen auflösbaren Kaffee.
„Nhhaa!“, sagte der junge Mann, was zu dieser frühen Stunde eine recht frei zu interpretierende Aussage war und sich auf seine Lebenssituation, sozusagen im Allgemeinen, bezog.
Um 5.27 Uhr zog Frank die ramponierte Wohnungstür hinter sich zu und schlurfte lustlos durch den dunklen Flur, um anschließend in das noch dunklere Treppenhaus hinabzusteigen. Irgendwo hier war die Quelle des eierfauligen Gestanks, der Frank seit Tagen quälte. Offenbar hatte irgendein anderer Mieter seinen Müll einfach im Flur abgestellt.
„Ach, was weiß ich?“, brummelte er.
Es war jeden Morgen die gleiche Leier. „Aufstehen, fressen, laufen, schuften“, wie es Kohlhaas stets formulierte.
In den letzten Jahren hatte er sein Leben ganz schön hassen gelernt. Frank war 25 Jahre alt, wohnte in einem mehr als schäbigen Wohnblock am Rande der ehemaligen BRD-Hauptstadt Berlin und arbeitete für einen bescheidenen Lohn als Aushilfe in einem Stahlwerk. Früher hatte er studieren wollen, doch das hatte sich irgendwann erledigt; aus Gründen, die Frank für sich behielt. Dumm war er eigentlich nicht, aber so richtig hatte er, nach eigener Einschätzung, die Kurve noch nicht gekriegt. Allerdings war der Arbeitsplatz im Stahlwerk besser als nichts – war er doch zumindest geeignet, um das Überleben zu sichern. Eine Tatsache, die für Millionen Menschen im Jahre 2027 nicht selbstverständlich war.
Jedenfalls tastete sich Frank an diesem Morgen wieder einmal Schritt für Schritt in Richtung seiner Arbeitsstelle vor; vorbei an verfallenen Häusern im Halbdunkel und meist noch dösenden Obdachlosen, die in wachsender Zahl überall herumlagen.
„Was wäre, wenn ich einfach auf die Konsequenzen pfeife und wieder nach Hause gehe, mich in mein Bett lege und bis morgen durchschlafe?“, dachte er manchmal. „Was wäre, wenn ich einfach meine Sachen packe und aus dieser verrotteten Stadt, diesem verfaulten Land, verschwinde?“, sagte er gelegentlich zu sich selbst.
Doch wo war es schon anders? Er sollte sich besser an dem erfreuen, was er hatte – er besaß einen Job und verhungerte nicht. Das war nicht nichts, gab sich Kohlhaas dann zu bedenken.
Nachdem Frank eine dunkle Unterführung durchquert und einem angetrunkenen Obdachlosen keinen Globe gegeben hatte, war der Produktionskomplex um 5.53 Uhr in Sichtweite gelangt. Hier standen die Arbeiter der Frühschicht; rauchend, schwatzend, wartend.
Als sich die Werkstore schließlich um 6.00 Uhr öffneten, drängten sich etwa 200 Leiharbeiter und Aushilfen wie ein zäher Brei durch sie hindurch. Die meisten hatten es nicht sonderlich eilig, mit ihrer Arbeit zu beginnen; doch es musste ja sein, es ging nicht anders. So sagte es sich auch Frank jeden verdammten Morgen.
Nach zehn Stunden ging es wieder zurück nach Hause. Frank war dreckig und müde, aber glücklich, dass wenigstens die Arbeit vorbei war. Er schlich durch den Hausflur seiner Etage, der selbst am Tage noch halbdunkel war, und schloss die Wohnungstür auf.
Auf dem Scanchip waren keine neuen Nachrichten und das war gut so, denn es waren meistens ohnehin bloß Rechnungen: Strom, Wasser und das ganze andere Zeug. Den Fernseher hatte Frank vor ein paar Tagen ins Schlafzimmer gestellt. Wenn er nicht einschlafen konnte, schaltete er ihn ein. Nicht, dass das Programm ihn allzu sehr fesselte, aber wenn irgendjemand redete, fühlte er sich zumindest nicht so allein in diesem finsteren Wohnblock. Seine Nachbarn kannte Kohlhaas nur flüchtig. Viele verließen ihre Wohnungen nur zum Arbeiten, andere waren in den letzten Jahren üble Säufer geworden. Manchmal grölte einer auf seinem Balkon herum oder pöbelte Leute an, die an „seinem“ Block vorbeigingen.
Frank sah bis um 22.37 Uhr fern; Nachrichten („Krieg der globalen Streitkräfte gegen die Terroristen im Iran“), Talkshows, leichte Unterhaltung an allen Fronten; Warnungen vor der zweiten Hundegrippe und die Notwendigkeit einer baldigen Zwangsimpfung.
Erschöpft schaltete Frank den Fernseher aus und starrte für einen Moment in die Dunkelheit. Kurz darauf schlief er ein, obwohl sich der faulige Geruch von draußen bereits in seinem Kissen eingenistet hatte.
„Guten Morgen, Frank!“, brummelte Dirk Weber, einer der Vorarbeiter.
„Guten Morgen, Dirk!“, murmelte Kohlhaas zurück. Es war 6.03 Uhr, die Frühschicht konnte beginnen.
A-341, so lautete Franks Bezeichnung als Arbeitskraft und Aushilfe hier im Betrieb, lieh seine helfenden Hände den anderen Kollegen bis die Uhr 10.30 anzeigte. Nun war es Zeit für eine kurze Mittagspause. Und als Frank sein in Folie eingewickeltes Salamibrötchen auspackte, ahnte er noch nicht, dass heute ein Tag war, den er niemals wieder vergessen sollte.
Vor einem halben Jahr hatte die Werksverwaltung aufgrund einer neuen Vorgabe das Singen des „One-World-Songs“ vor jeder Mittagspause in einem vorschriftsmäßigen Produktionskomplex angeordnet – zur Steigerung der Arbeitsmoral und zur Festigung der internationalen Doktrin von „Frieden, Freiheit, Wohlstand und Einheit“, die seit 2018 von der Weltregierung propagiert wurde.
Der in diesem Betrieb stationierte Beamte des „Ministeriums für Produktionsüberwachung“, Gert Sasse, der sich meistens in den Büroräumen oberhalb der Fabrikhalle aufhielt, war in dieser Mittagspause erneut pflichtbewusst zu den Arbeitern hinabgestiegen, um mit ihnen den „One-World-Song“ anzustimmen.
„Leute, jetzt ist Mittagspause! Aber zuerst wird gesungen!“, rief er durch den Raum und alle formierten sich zu einer lustlos wirkenden Reihe, um nach dem Singen des Liedes ein wenig verschnaufen zu können.
Sasses Blick wurde ernst. Vorschriftsmäßig stieß er den ersten Ton aus, während die übrigen Angestellten ihre Stimmen nach und nach erklingen ließen. Dabei ruderte der Verwaltungsbeamte mit den Armen als wäre er ein angehender Dirigent. Kohlhaas musste grinsen.
„Wir sind die Kinder einer Welt und alle sind wir gleich!
Wir lieben diese eine Welt, das große Friedensreich!
Wir kennen keine Rassen, wir kennen keine Klassen...“
Frank hörte in den letzten Wochen immer seltener auf den Text; er bewegte die Lippen nicht und schaute stattdessen an die Decke der Produktionshalle.
„Macht fertig!“, dachte er und scharrte gelangweilt mit dem Fuß über den staubigen Boden. Kurz darauf war der Gesang verstummt.
„Endlich! Diesen Schwachsinn können sie sich langsam mal sparen!“, sagte der Produktionshelfer sehr leise zu sich selbst.
„Gut! Das ging ja halbwegs! Jetzt ist Pause!“, rief der Beamte des „Ministeriums für Produktionsüberwachung“ und A-341 freute sich auf einen Biss in sein aufgeweichtes Brötchen.
Doch während seine Zähne eifrig ein Salamistück zermalmten, flog ihm plötzlich Sasses giftiger Blick entgegen. Der Überwacher kniff die Augen zusammen und wirkte dabei wie eine böse gewordene Bulldogge.
„A-341! Ja, Sie! Kommen Sie mal zu mir! Beeilung!“, brüllte er aus voller Kehle.
Kohlhaas schoss das Adrenalin in die Venen. Ärger auf der Arbeit konnte er nicht gebrauchen.
„Kommen Sie her, A-341!“, schmetterte Sasse, den Helfer erregt zu sich winkend. Kohlhaas folgte der Aufforderung sofort.
„Bin ich der letzte Depp für Sie, A-341?“, zischte der Mann.
„Äh? Nein! Natürlich nicht, Herr Sasse!“, stotterte Frank. „Wie meinen Sie denn das jetzt?“
„Wie ich das meine, du Schwachkopf?“, grollte der Beamte mit einem Blick, der seinem jungen Gegenüber das größtmögliche Unbehagen schenkte.
Mehrere Sekunden lang herrschte ein bösartiges Schweigen, während sich die Augen des Vorgesetzten bedrohlich verkleinerten und sich buschige Augenbrauen darüber schoben.
Als nächstes sah Frank eine mit breiten, speckigen Fingern versehene Faust auf sein Gesicht zufliegen. Es schmerzte und mit einem leisen Knacken reagierte sein Nasenbein auf den heftigen Schlag ins Gesicht. Während einige Blutfäden aus seiner Nase flossen, vernahm Frank ein Knurren: „Wie ich das meine, du Spinner?“
„Wenn ich sage, dass der „One-World-Song“ gesungen wird, dann hast auch du mit zu singen und nicht blöd in der Gegend herum zu glotzen und mich nachzuäffen, klar?“, ergänzte Sasse sein schlagkräftiges Argument.
Sein Tonfall schwankte zwischen Genugtuung und wuchernder Gemeinheit. Kohlhaas war indes in die Knie gegangen, der Schlag hatte wirklich gesessen; Sasse versetzte ihm noch einen Tritt in den Unterleib. „Ob du das verstanden hast, du Idiot? Du denkst wohl, dass du hier einen Sonderstatus hast, was?“, brüllte er.
Die anderen Arbeiter schauten verdutzt und vergruben ihre Gesichter hinter den Pausenbroten, die sie mitgebracht hatten. Frank fühlt sich derweil wie ein getretener Hund, den man vor aller Augen davonscheuchte.
Ohne seine Handlung zu überdenken, sprang er auf und richtete sich vor dem Beamten des „Ministeriums für Produktionsüberwachung“ auf.
„Sei froh, dass du mein Vorgesetzter bist, sonst würde ich dir die Fresse polieren!“, schrie er mit auflodernder Wut. Gert Sasse war verdutzt. A-341 wischte sich das Blut trotzig von der Oberlippe.
Eine Stunde später wartete Frank noch immer vor der Tür des Produktionskomplexleiters. Sasse war in dessen Büro und Kohlhaas hörte ihn fluchen und wettern. Das verhieß nichts Gutes.
„A-341, reinkommen!“, hallte die Stimme des obersten Chefs der Arbeitsanlage durch den hell erleuchteten Gang.
Frank setzte sich in Bewegung und ließ sich auf einem Stuhl in der Mitte des Büroraums nieder. Es folgte eine kurze Stille, dann begann der Vorgesetzte mit seinen Ausführungen.
„Ich habe mir mal Ihren Scanchip angesehen, A-341!“, berichtete Herr Reimers, der Produktionskomplexleiter. „Sie sind in der Zeit ihrer Tätigkeit hier mehrfach zu spät gekommen. Außerdem fallen Sie uns hier ehrlich gesagt auch nicht zum ersten Mal negativ auf. Sie sind bereits wegen subversiver Aussagen am Arbeitsplatz vorgemerkt, was auch einige Ihrer Kollegen bestätigen können. Sogar mit einem Blaucode 67-Beta, falls Sie es noch nicht wussten, A-341.
Wir werden in den nächsten Tagen die Videobänder Ihrer Arbeitstage durch den Computer jagen und dann per „Voice-Analysis-System“ sicherlich noch das eine oder andere finden.
Was Sie heute getan haben, gab es hier bisher noch nie. Bedrohung eines Mitarbeiters der obersten Behörde für Produktionsüberwachung! Haben Sie denn nur Luft im Kopf? Wenn ich in einem solchen Fall nicht durchgreife, dann droht mir der größte Ärger und darauf habe ich keine Lust. Ich muss Sie entlassen, A-341. Weiterhin bin ich dazu verpflichtet, auf einen solch unglaublichen Vorfall mit einer Meldung an die zuständige Bezirksverwaltung zu reagieren. Verschwinden Sie jetzt aus diesem Produktionskomplex und packen Sie Ihre Sachen, A-341!“
Frank Kohlhaas, der soeben entlassene Arbeiter, wusste sich vor Entsetzen kaum mehr zu halten. Seine Stimmbänder schienen eingerostet, seine Kehle war verschnürt, sein irgendwo auf Eis gelegter Mut hatte sich verflüchtigt. Er ging, ging einfach hinaus, leichenblass und mit dröhnendem Schädel, ohne zu antworten. Gerade hatte er die Quelle für seinen Lebensunterhalt verloren und das war in dieser Zeit kein Spaß.
Wie in Trance ging Frank in den Umkleideraum des Produktionskomplexes und öffnete geistesabwesend die verbeulte Tür seines Spinds. „Entlassen“ – dieses Wort klang in jener Zeit wie der Schnitt eines Rasiermessers in das Bewusstsein eines jeden Hörers.
Es war mit dem Wort „Liquidierung“ verwandt, denn es kam einer Vernichtung im sozialen Bereich gleich. Entlassen zu werden bedeutete, keinen Globe, so nannte man die internationale Währung seit dem Jahr 2018, mehr in der Tasche zu haben. Wenn man nicht schnellstens eine neue Anstellung fand, konnte man Wohnung, Nahrung und letztendlich auch sein Leben verlieren.
Jegliche soziale Absicherung durch den Staat war seit dem kompletten Zusammenbruch der Weltwirtschaft im Winter 2012/13 abgeschafft worden. Und Arbeit zu finden, war in einer Zeit, in der die industrielle Produktion zum größten Teil in die Dritte Welt ausgelagert worden war, äußerst schwierig. Millionen Deutsche kämpften sich in Franks dunkler Gegenwart mit schlecht bezahlten Jobs durch, hangelten sich von einem Hungerlohn zum nächsten oder fielen einfach durch das soziale Netz, um als Obdachlose vor sich hin zu siechen.
Am nächsten Tag wachte Frank nach einer sorgenvollen Nacht nicht vom schrillen Geheul seines Weckers auf, sondern durch den fauligen Geruch aus dem Treppenhaus, der entgegen des Zeitgeistes noch von keinem liquidiert worden war.
Erst in den frühen Morgenstunden hatte es Kohlhaas geschafft, ein wenig zu dösen, wobei er jedoch immer wieder aufgeschreckt war, da ihm das Grübeln den Schlaf verwehrt hatte.
Als erster Gedanke des neuen Tages schoss ihm Sasse in den Kopf und Franks Gesicht verzog sich zu einer hasserfüllten Fratze, als er sich vorstellte, wie er den Beamten gleich einem räudigen Köter mit einer Eisenstange erschlug.
„Dieser Bastard! Wenn ich jetzt wegen dem vor die Hunde gehe, dann mache ich ihn vorher kalt!“, fauchte Frank zornig.
Sasse war bei den Arbeitern aufgrund seiner ständigen Unbeherrschtheit bekannt und gefürchtet. Er neigte zu Wutausbrüchen und war ebenso primitiv wie obrigkeitshörig. Nicht ein Wort der Kritik hatte der Chef für diesen Psychopathen übrig gehabt, während er Frank direkt entlassen hatte. Sasse, dieser elende Mistkerl, hatte ihm einfach die Faust ins Gesicht gedonnert und nichts war passiert. Stattdessen war er selbst aus dem Betrieb entfernt worden. Frank biss vor Wut die Zähne zusammen, er konnte es einfach nicht begreifen. Wer dem Ministerium unterstellt war, konnte sich offenbar alles erlauben, während die einfachen Leiharbeiter wie die Köter getreten wurden.
Früher wäre es anders gewesen, hatte Frank einmal ein in die Jahre gekommener Kollege erzählt. Die meisten hätten von ihrem Gehalt leben und sogar eine Familie versorgen können. Das waren zumindest die Worte des Alten gewesen. Doch in der düsteren Gegenwart, in der Frank leben musste, waren jene, die überhaupt noch eine Arbeit hatten, jederzeit ersetzbar.
Schließlich erhob sich Kohlhaas aus dem Bett und starrte aus dem schmutzigen Fenster seiner Wohnung im 23. Stock.
„Verdammt, was mache ich denn jetzt? Ich muss irgendwie Geld verdienen, sonst sperren sie mir noch diesen Monat das Konto auf meinem Scanchip, weil ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen kann.“
Nach einer Stunde nutzlosen Brütens verließ Frank seine Wohnung, atmete im Hausflur nicht allzu tief ein und stieg die dunklen Treppen ins Erdgeschoss hinab. Der Aufzug war seit Monaten defekt und niemand schien auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ihn zu reparieren.
Der einzige, der Kohlhaas als potentieller Arbeitgeber in der Not einfiel, war Stefan Meise, der Schrotthändler; ein alter Schulfreund. Sein Schrottplatz war etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von Franks Wohnblock entfernt.
So machte sich Kohlhaas auf den Weg durch die mit Müll übersäten Straßen seines Viertels und erreichte einige Zeit später müde und frustriert sein mit rostigen Autos und allerlei Eisenschutt bedecktes Ziel. Stefan Meise war in diesem Meer von Rostteilen allerdings nicht schwer zu finden. Er war dick, vollbärtig und sehr groß geraten. Optisch unterschied er sich kaum von dem, was er sammelte und verkaufte.
„Hallo Stefan! Ich dachte, ich schaue mal vorbei!“, begrüßte ihn Frank etwas halbherzig.
„Ach, der Kohlhaas! Wie ist die Lage?“, antwortete der dicke Schrotthändler. „Von dir habe ich ja ewig nichts mehr gehört.“
„Ja, ich dachte, ich besuche dich mal. Läuft der Schrotthandel noch?“, fragte Frank. „Du hast hier ja einiges an Zeug rumliegen. Wo bekommst du das denn immer her?“ „Naja, ich sammele ein, was ich finden kann. Wie man das als Schrotthändler eben so macht. Was soll die komische Frage? Gibt es irgendwas?“, erwiderte Meise.
„Ich habe gestern meine Arbeit verloren“, sagte Frank. Sein rundlicher Gesprächspartner schaute verwundert und rieb sich die öligen Finger an seinem schwarzblauen Overall ab.
„Das ist ja ein Mist! Und nun?“, fragte Stefan leicht ratlos.
„Nun suche ich etwas Neues. Notfalls auch nur als Aushilfe. Vielleicht kannst du ja noch eine helfende Hand gebrauchen“, murmelte Frank.
Für eine halbe Minute glotzte Meise seinen arbeitslosen Besucher mit großen Glupschaugen an. Dann blickte er zu Boden und versuchte, seine unangenehme Antwort möglichst schonend zu verpacken.
„Also bei mir arbeiten, oder was?“, wiederholte er. „Also, Frank, es ist zur Zeit bei mir so, dass ich gerade mal selbst über die Runden komme. Es sind schlechte Zeiten, das brauche ich dir ja nicht zu sagen. Ich mache hier fast alles alleine und nur der Dustin hilft mir ab und zu. Das reicht eigentlich auch. Eine Aushilfe brauche ich an sich nicht.“
Frank war nie ein Meister im Verbergen seiner Gefühle gewesen und wer ihn jetzt sah, merkte ihm die Verzweiflung deutlich an.
„Und nur für zwei Monate?“, presste er aus sich heraus.
„Ich brauche hier niemanden und kann mir auch keinen zweiten Mann leisten!“, entgegnete der dicke, ölverschmierte Schrotthändler und wandte sich ab. „Tut mir leid, doch ich habe jetzt noch zu tun. Sei nicht böse, es geht einfach nicht.“
Wieder zu Hause angelangt, stieß Frank einen seiner schlimmsten Flüche aus und trat gegen den Küchentisch. Er durchsuchte sein Hirn verzweifelt nach anderen Möglichkeiten einer Anstellung und hakte im Geiste sämtliche Produktionskomplexe ab, die es noch im Großraum von Berlin gab. Allerdings bestand hier das Problem, dass er durch den Zusammenstoß mit Sasse einen negativen Eintrag in sein Scanchip-Register erhalten hatte, was eine zukünftige Einstellung in einem anderen Industriebetrieb so gut wie unmöglich machte.
Für diesen Monat hatte Frank noch 246 Globes auf seinem elektronischen Konto. Über 400 Globes kostete allein die Miete für seine schäbige Wohnung in diesem verrotteten Block. Die Zeit drängte mit jedem Tag mehr und der dunkle Schatten der Verzweiflung wuchs mit den verstreichenden Stunden. Er überwucherte Franks Geist wie ein bösartiges Geschwür.
Nachdem sich Kohlhaas eine billig produzierte Sitcom angesehen hatte, schaltete er den Fernseher aus und versuchte zu schlafen. Doch war es erst 23.00 Uhr und die Erschöpfung hatte noch nicht den nötigen Grad erreicht, um Franks sorgenvolles Gehirn abzuschalten und ihm die wohlverdiente Ruhe zu schenken.
So vergingen mehrere Stunden, in denen Frank die dunkle Decke anstarrte und den Produktionskomplex 42b mit all seinen Vorgesetzten, Überwachern und Arbeitern in Gedanken verfluchte. Dann fiel ihm wieder der Gestank aus dem Hausflur auf und kurzzeitig schwoll der Nebel der Verzweiflung in seinem Kopf so stark an, dass er überlegte, sich eine Kugel durch denselben zu jagen. Die bohrenden Sorgen hätte Frank am liebsten mit einer großkalibrigen Schrotflinte, die sein Hirn sauber über die vergilbte Tapete hinter seinem Bettgestell verteilte, wegoperiert.
Kohlhaas dachte im Verlauf dieser Nacht noch über viele Dinge nach. Über sein bisher so freudloses Leben, die Einsamkeit, die Eintönigkeit und den klaffenden Abgrund, der jetzt auf ihn wartete. Er kam zu keiner Lösung und nicht das kleinste Fünkchen Hoffnung blieb ihm.
Draußen war es dunkel. Vor dem Haus konnte Frank ein paar zerfetzte Müllsäcke erkennen, die schon seit mehreren Wochen dort herumlagen. Irgendwann war er endlich so müde, dass er mit dem Kopf auf der Fensterbank einschlief.
Bis zum Ende der Woche blieb die Suche nach einem neuen Broterwerb erwartungsgemäß erfolglos. Es schien im Umkreis von mehreren Kilometern überhaupt keine Arbeit mehr zu geben. Eine Nachfrage bei der örtlichen Verwaltung hatte zudem bestätigt, dass Frank inzwischen tatsächlich einen Negativeintrag wegen „Störung des Betriebsfriedens“ in seinem Scanchip-Register hatte.
„Die Idee mit der Schrotflinte ist vielleicht gar nicht so schlecht. Aber vorher besuche ich noch diesen Sasse“, zischte Frank am Freitag in sich hinein, als für seine ehemaligen Kollegen das kurze Wochenende begann.
Samstag und Sonntag investierte er seine letzten Globes in den billigen Schnaps vom Kiosk an der Ecke. Allein in seiner lieblos eingerichteten Wohnung, in einem dunklen Wohnblock, in einer dunkler werdenden Zeit. Franks Schicksal und seinen Schmerz nahm niemand wahr. Genau wie Kohlhaas niemals den Schmerz der anderen, die sich in ihren Wohnwaben hinter der verwitterten Fassade dieses Hochhauses verkrochen, wahrgenommen hatte.
Wenn er sich jetzt den Schädel wegschießen oder sich tot saufen würde, dann würde er bald ebenso riechen wie der Flur auf seiner Etage - und es würde wohl noch nicht einmal jemandem auffallen. Irgendwie war der Gedanke so krank, dass er Frank ein gequältes Lächeln entlockte.
Gierig trank Kohlhaas einen weiteren Schluck Schnaps. Er musste dem Alkohol trotz dessen schlechten Rufes eines lassen: Er hatte bereits Millionen besorgte Menschen wegdämmern lassen. Keine Sorge konnte so groß sein, dass sie nicht mit einer Woge des guten und vor allem billigen Fusels vom nahegelegenen Kiosk hinweggespült werden konnte. Das hatte Frank in den letzten zwei Tagen eindrucksvoll bewiesen, sozusagen im Selbstversuch.
„Biep! Biep! Biep!“, dröhnte es am Montag um 6.30 Uhr morgens aus der Küche, wo Frank sein Scanchip hatte liegen lassen.
„Guten Morgen, Bürger 1-564398B-278843! Sie haben eine Message der Prioritätsstufe Alpha auf Ihrem Scanchip!“ „Guten Morgen, Bürger 1-564398B-278843! Sie haben eine Message der Prioritätsstufe Alpha auf Ihrem Scanchip!“ „Guten Morgen, Bürger 1-564398B-278843! Sie haben eine Message der Prioritätsstufe Alpha auf Ihrem Scanchip!“, sagte eine elektronische Frauenstimme immer wieder.
„Hmmm?“, brummte Frank, dem man den Alkoholrausch noch ansehen konnte; er rollte sich aus seiner nach Schnaps riechenden Bettwäsche.
„Was soll der Scheiß? Verdammt! Halt die Schnauze, du Drecksteil!“, knurrte er und schlurfte mit einem üblen Brummschädel zum Küchentisch.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Frank der Pincode eingefallen war und er sich zum Abrufen seiner Nachrichten ins Scanchip-Menü vorgekämpft hatte. Dann traf ihn fast der Schlag.
„Wie? Vorladung? Was? Hä?“, stotterte Bürger 1- 564398B-278843 verstört.
Kohlhaas musste es erst zweimal lesen, um es zu begreifen. Das musste ein schlechter Scherz sein.
„Was zum Teufel soll das?“, brachte er nur heraus und kratzte sich mit fragender Miene am Hinterkopf. Die Stirn in Falten legend starrte er für eine Weile schweigend auf das Display.
Offizielle Vorladung:
Bürger 1-564398B-278843,
Sie werden im Zuge eines automatisierten Gerichtsverfahrens offiziell am 14.08.2027 um 8.00 Uhr morgens vorgeladen. Bitte erscheinen Sie pünktlich.
Tatvorwürfe:
Massive Störung des Betriebsfriedens
Theoretische schwere Körperverletzung
Finden Sie sich zum besagten Zeitpunkt in Gerichtszelle 4/211 bei Ihrem örtlichen Justizkomplex ein.
Bei Nichterscheinen droht Ihnen unter anderem die Löschung Ihres Scanchips und die Inhaftierung!*
(*vgl. §127b, „Bürgerpflichten und theoretische Sanktionen“) Amtlicher Aktencode: 257789000-0100567-2345441113-EGN-59900-4/211
Angeklagtennummer: 319444-556.77
Wir danken für Ihre Kooperation!
Franks alkoholvernebeltes Katergehirn begann zu schmerzen und zu rotieren. „Vorladung? Wie bitte?“
Er war vollkommen verwirrt; immerhin hatte er in seinem Leben noch nie eine Straftat begangen.
„Weil ich diesen verfluchten Sasse mal kurz angeschnauzt habe?“, dachte er. „Das kann doch nicht sein. Ich habe ihm schließlich kein Haar gekrümmt. Bin doch bloß kurzzeitig wütend gewesen, ein vorübergehender Ausraster. Ich verstehe das nicht. Und was zur Hölle meinen die mit „Theoretischer schwerer Körperverletzung“?“
Frank Kohlhaas, der Weltbürger mit dem amtlichen Kennzeichen 1-564398B-278843, hatte noch niemals jemandem etwas zu Leide getan. Außer vor vielen Jahren im Kindergarten, als er diesem nervigen Ahmed eine Ohrfeige gegeben hatte und seine Eltern zur Hortleitung zitiert worden waren. Die örtliche Erziehungsbehörde hatte sich damals besorgt gezeigt und davon gesprochen, dass Frank „unterschwellige Aggressionen“ habe und ein „bedenklich frühmaskulines Verhalten“ zeige, weshalb eine Therapie mit Beruhigungsmitteln sinnvoll wäre.
Doch das war lange her. Die Therapie war letztendlich abgewendet worden, da das Kind seinen Fehler vor einem Gremium aus Psychologen und Sozialpädagogen ehrlich bereut hatte. Zudem hatten Franks Eltern versichert, dass sie ihren Sohn sofort den Behörden melden würden, wenn er noch einmal diesbezüglich auffiele.
Doch Frank war niemals wieder aufgefallen. Nicht einmal eine Ohrfeige oder einen kleinen Schubser hatte er irgendeinem anderen Menschen mehr seit seinem fünften Lebensjahr verpasst. Und auch heute fiel er nicht mehr auf. Und schon gar nicht als Mensch mit „unterschwelligen Aggressionen“.
In Gedanken oder im Traum schlug er manchmal den einen oder anderen Vorgesetzten oder Verwaltungsmitarbeiter zusammen, aber das war geheim und brauchte daher auch nicht therapiert zu werden.
Weiterhin war es auch das erste Mal, dass der sonst unbescholtene Wohnblockbewohner Frank Kohlhaas mit einem „automatisierten Gerichtsverfahren“ in Berührung kam. Zwar hatte er davon schon einmal in den Abendnachrichten gehört, da es vor etwa drei Jahren neu von der Weltregierung eingeführt worden war, doch konnte er sich nichts darunter vorstellen. Aber warum sollte er das auch? Frank lebte gesetzeskonform und hatte mit so etwas nichts zu tun.
So hatte er weder einen blassen Schimmer, was jetzt auf ihn wartete, noch machte er sich allzu große Sorgen bezüglich der Vorladung. Vermutlich war es eine reine Formalität; ein Sachverhalt, der sich klären ließ. Kohlhaas hatte niemanden verletzt und war somit auch nicht zu verurteilen. Und seine Arbeitsstelle hatte er ja bereits wegen der „Störung des Betriebsfriedens“ verloren. Was konnte also sonst noch geschehen?
Geistesabwesend drückte Frank auf „Voice Presentation“, so dass die Nachricht noch einmal langsam von der computeranimierten Frauenstimme vorgelesen wurde. Dies war ebenfalls eine Neuheit. Die Verwaltung hatte die „Voice Presentation“ vor einigen Jahren eingeführt, da viele Bürger mittlerweile Analphabeten waren und wichtige amtliche Nachrichten daher auch in vorgelesener Form verfügbar sein mussten.
Der Rest des Tages verging ohne nennenswerte Vorkommnisse. Der 14.08.2027 war bereits morgen. „Dann habe ich wenigstens einen Grund aufzustehen“ sinnierte Frank mit leidender Miene.
Er versuchte noch, seinen Vater anzurufen, um ihn um etwas Geld zu bitten, doch dieser ging den gesamten Tag über nicht ans Telefon. Allerdings war noch etwas Schnaps im Kühlschrank. Frank betrank sich bis es dunkel wurde und nickte dann irgendwann ein. Fast hätte er vergessen, den Wecker zu stellen...
Obwohl es erst August war, kam dieser Morgen Frank ausgesprochen kalt und dunkel vor. Sein Hals schmerzte und er hatte Kopfschmerzen vom Schnaps des gestrigen Abends. Der örtliche Justizkomplex war über eine Stunde Fußmarsch von seinem Wohnblock entfernt, aber Kohlhaas dachte sich, dass es nicht verkehrt sein konnte, ein paar Meter an der mehr oder weniger frischen Luft zu gehen. So konnte er zumindest die Auswirkungen seines Katers bekämpfen.
Hastig verschlang Kohlhaas ein paar Scheiben Toastbrot, schluckte den auflösbaren Kaffee hinunter und betrachtete das Etikett auf dem Plastikbehälter des Kaffeepulvers. „Globe Food“ stand darauf und eine Weltkugel war zu sehen. Darüber war eine Pyramide abgebildet, in deren Mitte ein großes Auge prangte. Über allem stand die Losung: „Food for the people!“
„Komisches Symbol!“, murmelte Frank in seinen Stoppelbart.
Es war ihm bisher noch nie aufgefallen, obwohl er seit Jahren nur in den billigen „Globe Food“ Supermärkten einkaufte, die ganz Berlin dominierten. Dann flog der Gedanke wieder so schnell weg, wie er ihm in den Kopf gekommen war...
Die ungewöhnliche Kälte ließ Frank erschauern. Ein kühler Luftzug zog durch das noch dunkle Treppenhaus; kurzzeitig fegte er sogar den Geruch fauliger Eier hinweg. Vor Frank ging ein Nachbar. Kohlhaas glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Der Mann brabbelte irgendetwas, das sich wie „Morgen!“, anhörte, aber Frank war sich nicht sicher. Er lief langsam und schwankte leicht, als er seinen Wohnblock hinter sich ließ. Dann blickte er kurz zum Spielplatz im Hof und betrachtete einige Kinder, die in einer ihm unverständlichen Sprache mit schrillen Stimmen schrien. War es türkisch? Oder arabisch?