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Frank Kohlhaas kann endlich in Frieden leben. Der Bürgerkrieg zwischen Rus und Kollektivisten ist vorüber. Artur Tschistokjow hat Russland befreit und versucht, das kriegsgebeutelte Land wieder aufzubauen. Völlig unerwartet bieten ihm seine Todfeinde, die Logenbrüder, Friedensgespräche an. Während Frank Kohlhaas und viele andere Revolutionäre skeptisch bleiben, geht Tschistokjow ohne zu zögern auf die Versprechungen der Weltregierung ein. Ist der Revolutionsführer zum Verräter geworden?
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Seitenzahl: 355
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Alexander Merow
BEUTEWELT VI
Friedensdämmerung
Roman
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Russischer Morgen
Friedensgespräche
Erholsame Tage
Tschistokjows neue Freunde
Ludwig Orthmann
Der gekaufte Anführer?
Krieg ist Frieden
Gegen uns!
Ende der Vorstellung
Gesegnetes Armageddon
Hacker und Hetzfilme
Noch eine halbe Stunde…
Auf deutschem Boden
Berliner Luft
Eskalation
Tabubruch
Glossar
Weitere Romane von Alexander Merow
Mit einem verhaltenen Gähnen ließ sich Frank auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder. Müde sah er aus dem Fenster, dann lehnte er den Kopf zurück und schloss für einen Moment die Augen. Kohlhaas fühlte sich vollkommen ausgelaugt und erschöpft, seine Glieder waren schwer wie Betonpfeiler und er sehnte sich schon wieder nach Schlaf, obwohl er bereits den halben Tag im Bett verbracht hatte.
„Ich trinke ein Bier und schaue ein wenig fern. Dann lege ich mich wieder auf’s Ohr“, dachte sich der General. Frank griff nach der Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch.
Seine Frau Julia kam kurz ins Zimmer; sie lächelte. „Aber bei dem einen Bier sollte es heute auch bleiben, Schatz“, sagte sie.
„Bier beruhigt“, brummte Frank.
„Schon gut, aber bitte achte darauf, nicht zu viel zu trinken, ja?“, gab Julia zurück.
„Mein Arzt sagt, dass ich Ruhe brauche. Der hat mir deshalb ‘ne Menge Bier verschrieben“, meinte Kohlhaas mit einem müden Grinsen.
„Was für ein Arzt?“ Sie verdrehte die Augen.
„Wenn ich einen hätte, dann würde er mir wohl Bier verschreiben“, merkte Frank an.
„Klar, Herr General!“ Julia drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging wieder aus dem Raum heraus.
„Ich bin mal kurz im Dorf unterwegs“, rief sie, um dann das Haus zu verlassen.
„Ja, bis gleich…“, murmelte Frank kaum hörbar vor sich hin, während er den Fernseher einschaltete und apathisch ins Leere glotzte.
„Russland wäre zum Ausgangspunkt einer weltweiten Kollektivierung geworden, ein Alptraum, den man kaum in Worte fassen kann. Es ist allein der Freiheitsbewegung zu verdanken, dass dieser letzte, tödliche Schlag gegen unser Volk verhindert worden ist. Die beiden Mordinstrumente, Kapitalismus und Kollektivismus, mit denen die Logenbrüder Russland und Europa angegriffen haben, haben wir ihnen aus den Klauen gerissen. Die internationalen Völkervergifter sind an Artur Tschistokjow und am Widerstandsgeist des russischen Volkes gescheitert.
Was noch an kollektivistischer Organisation übrig ist, das werden wir in naher Zukunft restlos zerschlagen haben. Der Nationenbund der Rus wird zum gesunden Herzen eines neu belebten Europas werden. Dieses Herz hat jetzt zu schlagen begonnen…“
Frank schaltete um und stieß ein genervtes Stöhnen aus, die schmetternde Stimme eines Funktionärs der Freiheitsbewegung verstummte. Inzwischen gab es nur noch fünf Fernsehprogramme, die zusammen das von den Rus kontrollierte Staatsfernsehen bildeten.
„…die größte Arbeitsoffensive in der Geschichte der Menschheit! So nannte Regionalleiter Karow die Aufbaumaßnahmen der revolutionären Regierung unseres Volksführers Artur Tschistokjow. Rund um Smolensk wurden in den letzten zwei Wochen gleich vier neue Maschinenwerke eröffnet. Regionalleiter Karow beurteilt die Situation…“
Ungehalten trommelte Kohlhaas mit den Fingerspitzen auf der Platte des Wohnzimmertisches herum, während er erneut umschaltete. Das blasse Gesicht eines jungen Mannes mit rotblondem Haar erfüllte den Bildschirm.
„Ich war drogenabhängig, hatte keine Ausbildung, keine Arbeit, überhaupt nichts. Ich war verloren, wie so viele junge Russen und Ukrainer. Zuerst hatte ich in meiner Verzweiflung bei den Kollektivisten Halt gesucht, doch da hatte ich schnell gemerkt, dass Uljanin ein Lügner war. Die schwarz-roten Verbrecher versuchten, uns zum Hass auf unser eigenes Volk anzustacheln. Das konnte nicht der richtige Weg sein, das ist mir dann irgendwann klar geworden.
Und eines Tages, ja, da sah ich ein Video über Artur Tschistokjow im Internet. Es war wie ein Geistesblitz, ich kann es nur schwer beschreiben. Als hätte mir eine höhere Macht die Augen geöffnet. Alles wurde mir auf einmal klar, meine Bestimmung…“
Der Bildschirm wurde wieder schwarz, die Fernbedienung landete mit einem leisen Klackern auf dem Wohnzimmertisch.
„Ich will nichts mehr davon hören!“, brummelte der General in sich hinein.
Frank öffnete die Bierflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Er genoss das kühle Nass, das seine Kehle hinunterlief. Die Flasche leer saufen und dann einfach weiter pennen, dachte er sich. Den Fernseher ausgeschaltet lassen, all den Mist verbannen. Endlich Frieden– das wäre wundervoll.
Der Bürgerkrieg tobte noch bis Mitte des Jahres 2042. Dann hatte die Volksarmee der Rus auch die letzten Widerstandsnester der Kollektivisten im Osten Russlands und in der Ukraine eingenommen. Am Ende dieses gewaltigen Ringens war die KVSG endgültig zerschlagen worden. Inzwischen hatte Artur Tschistokjow seinen Regierungssitz nach St. Petersburg, der neuen Hauptstadt des Nationenbundes der Rus, verlegt und Tausende von Arbeitern waren mit dem Bau eines gewaltigen und prunkvollen Präsidentenpalastes beschäftigt. Der ehemalige Gassenrevolutionär aus Weißrussland herrschte nun über ein riesiges Gebiet mit etwa 150 Millionen Einwohnern, das sich vom Baltikum bis zum Ural und der Küste des Schwarzen Meeres ausdehnte. Tschistokjow war in den letzten Jahren von einem einst verlachten Dissidenten und Rebellenführer zu einem unabhängigen Herrscher aufgestiegen.
Jetzt setzte er alles daran, seine Versprechen vom Wiederaufbau Russlands wahr werden zu lassen. Der neue Machthaber des Nationenbundes hatte bereits gewaltige Bauprojekte beginnen lassen, als der Bürgerkrieg noch an den Grenzen Russlands tobte. Zahlreiche Industrieanlagen wurden nun nach und nach wiedereröffnet, Dörfer und Gehöfte neu gegründet und die Jugend in seinem Sinne erzogen.
Mittlerweile verfügte Artur Tschistokjow über enorme Ressourcen an Bodenschätzen und Rohstoffen, die er für den Wiederaufbau seines Landes verwendete. Die vom Bürgerkrieg verursachten Schäden wurden behoben und das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Freiheitsbewegung verschaffte Millionen Russen bereits nach wenigen Monaten wieder Lohn und Auskommen, was Tschistokjows Beliebtheit beim Volk nicht nur steigerte, sondern eine regelrechte Euphorie auslöste.
Innerhalb der Grenzen des Nationenbundes lebten inzwischen nur noch Russen und andere Europäer. Alle sonstigen Fremden hatte Tschistokjow ausweisen und umsiedeln lassen, so wie er es schon vor Jahren angekündigt hatte.
Weiterhin war der Scanchip abgeschafft und das Bargeld wieder eingeführt worden. Im Grunde tat der Anführer der Rus das, was er im Kleinen auch nach der Revolution in Weißrussland unternommen hatte, um das Land wieder auf die Füße zu stellen. Nur dass er jetzt über kein unwichtiges Fleckchen Erde, sondern über eines der größten Länder der Welt herrschte und endlich seine visionären Ideen verwirklichen konnte.
Tschistokjow sprach von einer ganz neuen Hauptstadt des Nationenbundes, die er eines Tages gründen wollte. Er dachte über die Wiederbelebung der Raumfahrt nach, redete vom Aufbau neuer Dörfer, die nur zur Ansiedlung junger russischer Familien gedacht waren, und von der Förderung der besten und begabtesten Teile seines Volkes durch eine neue Bevölkerungspolitik.
Doch immer wieder wurde er von der harten und nüchternen Realität aus seinen Träumen gerissen, denn von solchen Dingen war das gebeutelte Land, welches nach Bürgerkrieg und Kollektivismus in weiten Teilen einer trostlosen Einöde glich, noch meilenweit entfernt.
Die Weltregierung und die internationalen Medien standen dem neuen Russland erwartungsgemäß mit unversöhnlichem Hass gegenüber und verteufelten es tagtäglich. Artur Tschistokjow war in ihren Augen mittlerweile ein noch gefährlicherer Gegner als der japanische Präsident Matsumoto geworden. Doch die Mächtigen mischten sich zunächst nicht in die innerrussischen Angelegenheiten ein und beäugten den neuen Staat, der sich feierlich aus dem Weltverbund verabschiedet hatte, lediglich mit Zorn und Argwohn.
Der Grund dafür war leicht zu erkennen, denn in Indien und Westchina war die schreckliche ODV-Seuche noch immer auf dem Vormarsch. Sie zog die Aufmerksamkeit der Logenbrüder auf Asien, wo die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Erde inzwischen von einem Massensterben apokalyptischen Ausmaßes ergriffen worden waren und es täglich zu neuen Unruhen und Hungerrevolten kam.
Frank Kohlhaas hatte in den letzten sechs Monaten die schönste Zeit seines Lebens verbracht, wie er immer wieder betonte. Seine Freundin Julia Wilden, sein kleiner Sohn Friedrich und er verbrachten wundervolle, sorglose Wochen und pendelten des Öfteren zwischen ihrem Heimatdorf Ivas in Litauen und ihrer Zweitwohnung in Minsk. Julia unterrichtete mittlerweile wieder in der kleinen Dorfschule von Ivas und setzte ihr bereits vor dem Bürgerkrieg begonnenes Pädagogikstudium an der Universität von Minsk fort. Frank, als führender General der Warägergarde, hatte in diesen Tagen indes nicht viel zu tun und er hoffte, dass es auch so bleiben würde.
Im April 2042 hatten sie Artur Tschistokjow in St. Petersburg besucht und die riesige, schöne Stadt mehrfach besichtigt. Franks Sohn hatte sich inzwischen zu einem kleinen Wonneproppen entwickelt und es beeindruckte seinen Vater immer wieder, wie wissbegierig der blonde Junge durch die Welt ging.
Friedrich lernte immer schneller sprechen und auf ihrer Reise nach St. Petersburg hatte er seine glücklichen Eltern stets mit zahllosen, kindlichen Späßen zum Lachen gebracht. Ansonsten unternahm Familie Kohlhaas kleinere Ausflüge mit ihrem Freund Alfred Bäumer und seiner Lebensgefährtin Svetlana, denen man die Freude über den endlich eingekehrten Frieden ebenfalls deutlich anmerkte.
Und auch Thorsten Wilden, Julias Vater und der Außenminister des Nationenbundes der Rus, war in den letzten Wochen häufiger bei seiner Familie in Litauen gewesen. Er brach regelmäßig in Begeisterungsstürme aus, wenn sein kleiner Enkel wieder ein neues Wort gelernt hatte.
Es gab in diesen Tagen kaum einen Zweifel daran, dass Russland eine Periode des Aufbruchs erlebte, wie es sie seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Abgesehen von der bösartigen Hetze gegen den neuen Staat in den internationalen Medien, die Artur Tschistokjow immer wieder kränkte, machte es den Anschein, als ob das Glück diesmal von Dauer sein würde.
Die Erinnerungen an den verheerenden Krieg zwischen den Rus und den Kollektivisten, der die Heimat jahrelang gepeinigt und verwüstet hatte, blendeten die meisten Russen so gut es ging aus und labten sich an der wesentlich erfreulicheren Gegenwart und dem lange herbeigesehnten Frieden.
Es wirkte in diesen Tagen tatsächlich so, als ob das neue Russland auch in Zukunft ein Ort der Freiheit bliebe, denn trotz der ewigen Verleumdungen durch die von den Logenbrüdern gesteuerten Medien, hatten diese wenig Möglichkeiten sich einzumischen. Einen Angriff auf Tschistokjows Reich schien die Weltregierung nicht mehr zu planen. Der Global Bank Trust, ihre höchste finanzielle Instanz, bekam indes keinen einzigen Globe mehr aus Weißrussland, Russland, der Ukraine und dem Baltikum. Tschistokjow pumpte die Einnahmen des Nationenbundes stattdessen zu einem beträchtlichen Teil als Subventionen für die Industrie oder für öffentliche Aufbaumaßnahmen zurück in sein Volk.
Der wirtschaftliche Aufstieg gab ihm Recht und durch die fast vollständige Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Einführung eines komplexen Sozialversicherungssystems, schenkte er Millionen seiner Landsleute einen Lebensstandard, den sie sich niemals erträumt hätten.
„Russland hat genügend Mittel, um sich eines Tages vollständig selbst versorgen zu können. Dem entsprechend müssen wir Industrie und Gewerbe in diesem Sinne so früh es geht umstellen. Außerdem werden wir vom Weltverbund ohnehin wirtschaftlich isoliert. Es bleibt uns demnach auch nichts anderes übrig, als das zu tun. Zumindest aber haben wir Japan als Handelspartner“, erklärte der Politiker seinen Beratern und setzte seine erfolgreiche Politik fort.
Die warmen Strahlen der Julisonne kitzelten Franks Nase und dieser räkelte sich zufrieden auf seiner bequemen Gartenliege. Er schob seinen Strohhut noch ein wenig weiter ins Gesicht, um dann leise zu gähnen. Ganz Ivas war in einen sonnigen Schein gehüllt und heute galt es, wieder einmal nach Strich und Faden im blühenden Vorgarten der Familie Wilden zu faulenzen.
„Hach!“, stieß Bäumer zufrieden aus. Er holte sich noch ein kaltes Bier aus der Kühlbox neben seiner breiten Liege, während sich Svetlana an ihn schmiegte.
„Ich könnte hier den ganzen Tag rumhängen“, bemerkte Frank, wobei er sich am Bauch kratzte.
„Dein Freund ist eine faule Sack“, scherzte Svetlana, sich an der deutschen Sprache versuchend.
„Ja, faul sein ist unser neues Lebensziel. Wusstest du das etwa nicht, Schatz?“, brummte Alf und nahm einen kräftigen Schluck Bier zu sich.
„In einer Woche muss ich für ein paar Tage nach St. Petersburg zu einer Unterredung mit Artur, ansonsten will ich nur noch schlafen und rumdösen“, sagte Kohlhaas mit einem zufriedenen Lächeln.
„Wir kommen aber mit, nicht wahr, Friedrich?“, sagte Julia. Der Kleine nickte.
„Dann schauen wir uns noch einmal Russlands schöne, neue Hauptstadt an, oder?“, kam von Frank.
„Hi, hi, hi!“, lachte Friedrich nur und rannte über die Wiese.
„Wer hätte je gedacht, dass wir einmal als freie Männer in unserem eigenen Land leben dürfen“, fügte Bäumer hinzu.
„Keine Geschichten vom Krieg heute. Den will ich vergessen“, murmelte Frank und schnappte sich auch eine Bierflasche.
„Nein, keine Sorge. Ich meinte ja auch nur“, erwiderte Alf. „Und? Wann seid ihr soweit?“, fragte Kohlhaas plötzlich. Er wandte sich Svetlana zu.
„Was du meinst, Frank?“, gab sie zurück und wirkte verdutzt.
„Wann kommen eure „Djeti“, Svetlana?“
„Diese Frage musste ja kommen!“, stöhnte Alf.
„Unser Kinder? Ich weiß nicht, aber ich hoffen bald“, antwortete die junge Russin lächelnd.
„Sie sind in Arbeit!“, meinte Bäumer.
„Das gehört auch zu Arturs großem Aufbauprogramm. Wir sollen uns vermehren“, blödelte Kohlhaas.
„Frank, du spinnst…“, sagte Julia erheitert. Alf verdrehte die Augen.
„Vielleicht habt ihr zwei ja auch bald so einen kleinen, süßen Fratz“, bemerkte sie und knuddelte ihren Sohn.
Alfred Bäumer zuckte mit den Achseln und erwiderte: „Es kommt, wie es kommt.“
Dann ließ sich der Hüne in seinen Liegestuhl zurücksinken und stieß ein lautes Schnaufen aus. Frank tat es ihm gleich. Sie genossen diesen herrlichen Nachmittag.
Artur Tschistokjow band nach und nach die gesamte Bevölkerung des Nationenbundes in sein politisches System ein und die von der Freiheitsbewegung beherrschten Medien Russlands erzogen das Volk ganz im Geiste des neuen Souveräns. Mit dem geplanten „Tag der russischen Einheit“, einer gigantischen, jährlichen Massenveranstaltung mit Paraden und Kundgebungen, sollten sich die Russen verschiedener Schichten und Berufe symbolisch verbrüdern und ihre Einigkeit unter dem Banner des Drachenkopfes demonstrieren.
Für dieses Spektakel hatte Tschistokjow extra ein eigenes Versammlungsgelände einige Kilometer östlich von Tula aus dem Boden stampfen lassen. Der für Paraden und Massenzusammenkünfte errichtete Platz und die dazugehörigen Straßen waren von Säulen aus Kalkstein im antiken Stil und diversen anderen Monumenten umgeben, was der Szenerie einen pompösen Eindruck verleihen sollte. Für den ersten „Tag der russischen Einheit“, der für Anfang September 2043 geplant war, rechneten die Veranstalter mit etwa einer Million Menschen.
St. Petersburg, die Hauptstadt des neuen Russland, sollte hingegen noch in diesem Jahr zum Schauplatz des „Tages der russischen Familie“ werden, womit Artur Tschistokjow den Lebenswillen seines Volkes neu zu erwecken gedachte. „Zuerst muss der Geist Russlands geheilt werden, erst dann wird alles andere möglich sein“, erklärte der Anführer der Rus und er ließ seinen Worten Taten folgen.
Von einer Umstellung der Lerninhalte in den Schulen und der Einweihung moderner Bildungsstätten für hochbegabte russische Kinder bis hin zur Errichtung neuer Minen und Bergwerke, widmeten sich Tschistokjow und sein Kabinett den vielfältigen Aufgaben des Wiederaufbaus ihrer gebeutelten Heimat.
Schließlich begannen einige Regionen Russlands und der Ukraine gewaltigen Baustellen zu gleichen, denn unermüdlich wurden Industriekomplexe, Agrarsektoren, Straßen und Gebäude errichtet. Riesige Schwärme aus Hunderttausenden von Arbeitern waren überall rund um die Uhr im Einsatz und bauten mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Das neue Staatsoberhaupt des Nationenbundes verrannte sich geradezu fieberhaft in diese neuen Projekte und das Volk liebte ihn dafür. Artur Tschistokjow sah sich selbst gerne als den „großen Erbauer“. Immer wieder betonte er, wie sehr er hoffte, dass die Zukunft friedlich bleiben würde. Doch es war unwahrscheinlich, dass die Weltregierung auf Dauer tatenlos zusah, wie ein abtrünniger Machthaber sein Volk langsam immer mehr innerlich einte, es aufrichtete und wieder vermehrte.
Wenn der russische Staatschef auch nur einen Bruchteil seiner Pläne in die Tat umsetzen konnte und zusammen mit Japan weiterhin in fester Allianz gegen die Logenbrüder stand, dann war deren Weltherrschaft auf lange Sicht durchaus gefährdet. Zudem hatte Tschistokjow die Strukturen des weltweiten Geheimbundes in dem von ihm kontrollierten Gebiet gnadenlos zertrümmert. Sein Geheimdienst führte noch immer einen versteckten Feldzug gegen alle, die im Verborgenen gegen das russische Volk arbeiteten.
Inzwischen war es bereits August geworden und Frank kehrte mit Julia und Friedrich wieder aus St. Petersburg zurück. Artur Tschistokjow hatte ihm noch drei weitere Monate Auszeit gewährt und die Führung der Warägergarde seinem Stellvertreter übertragen.
Sie waren erstaunt gewesen, wie viel in Russlands neuer Hauptstadt inzwischen gebaut wurde. Ehrfürchtig hatten sie vor dem noch von zahllosen Gerüsten umgebenen, neuen Präsidentenpalast Tschistokjows gestanden. Ansonsten hatten sie ein paar entspannende Tage verbracht, sich an St. Petersburgs Sehenswürdigkeiten erfreut und das Leben genossen. Schließlich waren sie nach Ivas zurückgekehrt und Frank hatte mit Alf einige Renovierungsarbeiten in ihrem alten Wohnhaus durchgeführt.
Gestern war er von Wilden angerufen worden, dass heute Abend eine Reportage über ihn im westeuropäischen Fernsehen ausgestrahlt werden würde. Kohlhaas konnte sich denken, dass er mit keiner Lobeshymne zu rechnen hatte. Nachdenklich hatte er sich im Wohnzimmer seines alten Hauses niedergelassen und wartete auf den Beginn der Sendung…
„Frank Kohlhaas, auch genannt der „Schlächter von Nowgorod“, ist einer der berüchtigsten Schergen des russischen Diktators Artur Tschistokjow. Die Liste seiner Mordtaten ist lang und die Propaganda der Rus hat ihn immer wieder zum Helden stilisiert. In Wahrheit ist Kohlhaas jedoch nicht viel mehr als ein blutrünstiger Psychopath, der in unzählige Kriegsverbrechen und Massenmorde während des russischen Bürgerkrieges verwickelt gewesen ist. Schon vor Jahren wurde der General der gefürchteten Warägergarde, der Eliteeinheit Tschistokjows, vom internationalen Gerichtshof des Weltverbundes wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Tode verurteilt und vorgestern hat die Weltregierung erstmals einen Auslieferungsantrag an Russland gestellt.
Seit Kohlhaas im Jahre 2028 aus einer Nervenheilanstalt nahe Berlin ausgebrochen und in Osteuropa untergetaucht ist, ziehen sich seine Gewalt- und Mordtaten wie ein roter Faden durch seine Biographie.
Laut aktuellen GSA-Berichten stand der heutige General in engem Zusammenhang mit dem Bombenanschlag auf den ehemaligen Gouverneur des Verwaltungssektors Europa-Mitte, Leon-Jack Wechsler, im März 2029. Auch im japanischen Krieg hat er sich als Söldner Matsumotos einen traurigen Ruf erworben. Schließlich schloss sich Kohlhaas 2033 der sogenannten Freiheitsbewegung der Rus an, wo er sich seitdem als besonders skrupelloser Killer im Auftrag Tschistokjows einen Namen gemacht hat.
Heute ist Russland den Wahnvorstellungen seines neuen Machthabers schutzlos ausgeliefert und Leute wie General Kohlhaas sind mehr denn je federführend, wenn es darum geht, das verarmte Land mit Völkermord und Terror zu überziehen.
Die folgende Sendung versucht, den bedrückenden Werdegang der menschlichen Bestie Frank Kohlhaas zu rekonstruieren. Wir wünschen Ihnen nun gute Unterhaltung mit der folgenden Sendung aus der Reihe „Artur Tschistokjow und sein Schreckensregime“.
Verpassen Sie auch die nachfolgende Reportage „Thorsten Wilden– Der Vordenker der Finsternis“ nicht, in der EB-Network einen verstörenden Blick auf den russischen Außenminister werfen wird…“, sagte eine junge Nachrichtensprecherin.
Franks Konterfei erfüllte den Bildschirm. Düstere Musik ertönte und grauenhafte Bilder aus dem russischen Bürgerkrieg erfüllten den Fernsehbildschirm. Anschließend wurde ein altes Foto von Franks Scanchip gezeigt und eine Stimme sagte: „Dies ist einer der brutalsten Kriegsverbrecher des 21. Jahrhunderts. Seine Gesichtszüge wirken auf diesem Foto aus dem Jahre 2026 jugendlich und harmlos, doch was sie nicht zeigen, ist die Tatsache, dass Frank Kohlhaas schon damals unter massiver, psychischer Instabilität litt. Seit seiner Jugend war er immer wieder auffällig geworden und wurde schließlich 2028 in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, nachdem er einen Arbeitskollegen ohne Grund totgeprügelt hatte.“
Kurz darauf wurde eine Frau namens Hannelore Reichert interviewt. Frank hatte sie im Leben noch nicht gesehen, aber sie wurde den Zuschauern als seine ehemalige Grundschullehrerin vorgestellt.
„Schon in der ersten Klasse hatte ich Frank mehrfach dabei erwischt, wie er nach der Schule Hunde und Katzen quälte. Mit seinen Mitschülern ging er nicht anders um, sie hatten ständig unter seinen Wutanfällen und Drohungen zu leiden. Heute sehe ich ein, dass wir bei Kindern mit derartigen Tendenzen wachsam sein müssen. Dass aus dem verwirrten Jungen am Ende eine derartige Bestie werden würde, hätte ich allerdings auch nicht gedacht“, erläuterte die grauhaarige Frau, um dann betroffen in die Kamera zu schauen.
Frank schaltete den Fernseher ab und schüttelte den Kopf. „Hannelore Reichert!“, zischte er, ein verächtliches Lächeln aufsetzend. „Sie sind wirklich die Meister der Lüge. Es ist schon eine Leistung, jedes Jahr Abermillionen Menschen abzuschlachten, überall Kriege anzufangen, die ganze Welt brutal zu versklaven und das dann auch noch als „Humanität“ zu verkaufen“, brummte er angewidert, während er Bäumer anblickte. Dieser verzog ebenfalls wütend sein Gesicht und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Sie werden uns nicht in Ruhe lassen. Diese Medienratten werden weiter hetzen und hetzen, bis es eines Tages wieder zu einem Krieg kommt. Man könnte wirklich verzweifeln. Ich bin gespannt, was dieser lügenden Brut als nächstes einfällt!“
„Was soll’s! Mögen sie an ihrem eigenen Gift ersticken. Hier in Arturs Reich können sie uns so schnell nichts und da es den gewöhnlichen Bürgern des Nationenbundes verboten ist, sich diese Feindsender anzusehen, brauchen wir uns auch nicht allzu sehr zu sorgen, dass diese Lügen ihre zersetzende Wirkung bei uns in größerem Stil entfalten können“, erklärte Kohlhaas.
Alf grinste gequält. „Wir als führende Kämpfer der Freiheitsbewegung haben also die Sondergenehmigung, uns diesen Dreck anzuschauen und uns aufzuregen…“
„So könnte man es sagen, mein Lieber!“, entgegnete Frank und musste ebenso schmunzeln.
Bäumer ging in die Küche. Kurz darauf kam er mit einigen Bratwürsten und ein paar Brötchen wieder. Die beiden Freunde aßen zu Abend und vergaßen die unschöne Fernsehsendung bald wieder.
„Matsumotos Japan ist der Stachel in unserem Fleisch, aber Tschistokjows Russland ist weit mehr. Wir können seine Macht noch immer nicht richtig einschätzen, aber was er tut, ist zutiefst beunruhigend“, murmelte der Vorsitzende des Rates der Weisen, der obersten Instanz der internationalen Logenorganisation, die die Menschheit nach wie vor in ihren Klauen hielt.
Die anderen Ratsmitglieder nickten oder musterten den Obersten der Weisen mit fragenden Blicken. Dann fuhr der Vorsitzende fort: „Ich glaube, dass Artur Tschistokjow den großen Plan ernsthaft gefährden könnte. Ja, ich traue ihm diese Kraft zu…“
„Diese Ansicht vertrete ich nicht!“, warf der Weltpräsident in die Runde, „Ich traue Tschistokjow auch viel zu, aber er ist nicht der wiedergekehrte Messias oder so etwas. Nein, die Kraft den großen Plan zu zerstören, hat er nicht. Das ist schier unmöglich.“
„Das sehe ich auch so. Dieser Mann ist ohne Zweifel gefährlich, aber in den letzten Jahrhunderten hatte niemand das Potential, uns auf Dauer aufzuhalten. Denken Sie an jene, die es versucht haben. Sie sind alle gescheitert, meine Brüder!“, bemerkte ein ergrauter Herr am Ende des großen Konferenztisches.
„Trotzdem ermahne ich den Rat und alle untergeordneten Logen zu noch größerer Wachsamkeit, was Artur Tschistokjow betrifft. Wenn wir ihn nicht vernichten, dann ist unsere Weltmacht in Gefahr“, sagte der Vorsitzende mit ernster Miene.
„Vielleicht sollten wir Russland endlich angreifen und den rebellischen Staat vernichten, denn wenn es Tschistokjow wirklich gelingen sollte, Russland und Europa wieder stark zu machen, dann könnten sich die Machverhältnisse zu unseren Ungunsten verändern“, warnte ein weiterer hoher Bruder.
Der Weltpräsident erbat das Wort und bemerkte: „Wir müssen uns an die Vorgaben des großen Plans halten und zuerst die anderen Aufgaben, die er an uns stellt, erfüllen. Zudem kann die GCF aus finanziellen Gründen derzeit nicht mit noch mehr Soldaten aufgestockt werden.
Unsere Streitkräfte sind entweder auf Indien und China konzentriert, wo die ODV-Seuche weiter wütet, oder müssen unsere Ordnung in Hunderten anderer Länder aufrechterhalten. Ein Angriff auf Russland würde es erfordern, einige Millionen GCF-Soldaten zusätzlich auszuheben und ich schlage vor, dass wir erst einmal abwarten und in Ruhe aufrüsten, um Tschistokjows Reich in den nächsten Jahren zu zerschlagen. Doch wir benötigen noch mehr Zeit, um alles gut vorbereiten zu können.“
„Was sollen wir dann tun?“, wollte einer der Weisen wissen.
„Wie wäre es, wenn wir dem russischen Souverän Frieden anbieten?“, antwortete ihm der Vorsitzende des Weltverbundes.
„Frieden?“, stieß ein Mann mit weißem Bart entgeistert aus.
„Ja, Frieden! Wir versuchen uns gut mit ihm zu stellen und machen ihm Zugeständnisse, zumindest so lange, bis wir bereit sind, den Nationenbund der Rus in einen vernichtenden Krieg zu drängen“, erklärte der Weltpräsident mit wissendem Blick.
„Aber das wird Tschistokjow doch schnell durchschauen. Er kennt unsere Pläne und weiß, wie wir denken!“, meinte ein Ratsmitglied.
Daraufhin mischte sich der Vorsitzende in die Debatte ein; er stimmte dem Vorschlag des Weltpräsidenten zu. „Natürlich ist Tschistokjow nicht naiv, aber er wird sich freuen, wenn er erst einmal in Ruhe sein Land aufbauen kann. Vielleicht wird er auch mit der Zeit nachlässiger und zögernder, was seine Rüstungsvorhaben betrifft. Ich halte es nicht für unrealistisch, dass wir ihn dazu bringen können, uns gegenüber gutmütiger und weniger wachsam zu sein. So wie die GSA sein Persönlichkeitsprofil einschätzt, will dieser Mann das Gute und träumt keineswegs vom ewigen Krieg. Geben wir ihm doch seinen ersehnten Frieden, auf dass er faul und träge wird.“
„Ja, wir töten ihn langsam– mit der Illusion des Friedens!“, zischte der Weltpräsident leise in die Runde und lächelte kalt.
Einige der anderen Ratsmitglieder ließen sich im weiteren Verlauf der Diskussion von den Plänen der beiden obersten Männer des Rates der 13 überzeugen, andere hingegen blieben nach wie vor skeptisch. Doch letztendlich hatte wie immer der Vorsitzende die Entscheidungsgewalt und dieser ordnete schließlich an, was den Logenbrüdern so fremd war, wie einem Vogel der Meeresgrund: Frieden.
So ließ die permanente Hetze der internationalen Medien gegen den Nationenbund der Rus in den folgenden drei Monaten spürbar nach, was zugleich die erste Maßnahme der neuen Friedenpolitik des Weltverbundes darstellte.
Die weltweit vernetzte Logenorganisation tat nun alles dafür, das Klima zwischen der Weltregierung und dem neuen Russland Schritt für Schritt zu entspannen. Für Mitte November des Jahres 2042 kündigte sich schließlich hoher diplomatischer Besuch im neuen Präsidentenpalast von St. Petersburg an. Kein geringerer als der Weltpräsident selbst bat Artur Tschistokjow um Friedensgespräche und dieser willigte offensichtlich dankbar ein.
Tief im Inneren wusste das Oberhaupt des Nationenbundes zwar, dass man eher einer Giftschlange als seinem baldigen Gast trauen konnte, doch Tschistokjow interpretierte dieses unerwartete Angebot trotz allem als Erfolg seiner Politik; er redete zunehmend häufiger davon, die Konflikte mit der Weltregierung in Zukunft ohne Blutvergießen klären zu können.
Thorsten Wilden, als Kenner der weltpolitischen Hintergründe, wie auch viele weitere Kabinettsmitglieder und Freunde Tschistokjows, betrachteten die neue Vorgehensweise der Weltregierung hingegen weit weniger euphorisch. Sie warnten den russischen Souverän eindringlich davor, sich von den gespaltenen Zungen seiner Feinde einwickeln zu lassen. Artur Tschistokjow betonte jedoch, dass ihm die Vorgehensweisen und Taktiken der Logenbrüder bestens bekannt wären und bat seine Mitstreiter, sich keine Sorgen zu machen. Doch wer ihn in dieser Zeit sah und reden hörte, der merkte ihm seine unübersehbare Freude darüber an, dass der übermächtige Gegner offenbar endlich bereit zu sein schien, den ewigen Kreislauf aus Hass und Krieg zu unterbrechen.
„Natürlich werden wir oder unsere Nachfahren uns eines Tages wieder mit den Logenbrüdern auf dem Schlachtfeld auseinandersetzen müssen, aber wir sollten jede friedliche Minute nutzen, um aufbauend und konstruktiv unserem Land zu helfen“, verkündete Artur Tschistokjow immer wieder.
Schließlich gab er sogar zu, dass er des ständigen Kämpfens gründlich müde geworden war und manchmal schien er fast selbst daran zu glauben, dass es einst so etwas wie eine friedliche Koexistenz des Weltverbundes und der freien, unabhängigen Staaten auf Erden geben könne.
Thorsten Wilden warf seinem Freund und Weggefährten hingegen Kurzsichtigkeit vor; er forderte ihn auf, sein Augenmerk auch weiterhin auf die militärische Aufrüstung Russlands zu legen und das Treffen abzusagen. Doch Tschistokjow war fest entschlossen, den Weltpräsidenten am 16.11.2042 in St. Petersburg zu empfangen.
„Als oberster Mann des Nationenbundes der Rus trage ich die volle Verantwortung für mein Volk und ich bin verpflichtet, keine Möglichkeit auf Frieden auszuschlagen“, verteidigte Tschistokjow seine Position.
Bald waren es kaum noch zwei Wochen, bis das Oberhaupt des Weltverbundes Russland zu besuchen gedachte, und die Vorbereitungen für das Treffen der beiden Staatsmänner liefen bereits auf Hochtouren.
„Der Weltpräsident kommt zu uns?“, rief Frank völlig verblüfft, sein Sessel kippte fast nach hinten weg.
Auch Julia stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Fernsehkasten und verfolgte die Nachrichtensendung auf dem ausländischen Kanal. Friedrich hingegen spielte am anderen Ende des Wohnzimmers mit einigen Bauklötzen, lachte ab und zu laut auf und schien die weltpolitische Brisanz des angekündigten Staatsbesuches ziemlich zu ignorieren.
„Der Weltverbund hat sich entschlossen, dem russischen Diktator Artur Tschistokjow eine Chance zu geben und wird in Zukunft versuchen, auf diplomatischem Wege eine Einigung mit dem neu entstandenen Nationenbund der Rus zu erzielen.
Bei diesem ersten Friedengespräch mit Russland wird es unter anderem um eine zukünftige Neuausrichtung der außenpolitischen Verhältnisse gehen, allerdings werde der Weltpräsident auch die Problematik der Aufrüstung und der Menschenrechtsverletzungen in Russland ansprechen“, verkündete die Nachrichtensprecherin.
„Dieser Hund kommt tatsächlich zu uns! Ich dachte, dein Vater hätte einen Scherz gemacht, als er mir erzählt hat, dass Artur den Kerl empfangen will“, murmelte Kohlhaas in Julias Richtung. Er konnte es einfach nicht fassen.
„Humanität und Pazifismus sind die Grundpfeiler der neuen Weltordnung und es ist wichtig, auch Staaten wie Japan und Russland zurück in den Kreis der friedliebenden Nationen zurückzuführen und Kriege in Zukunft zu verhindern“, erklärte der Weltpräsident bei einer Pressekonferenz in New York.
Frank und Julia rümpften die Nasen; sie betrachten die neue Taktik des Weltverbundes mit berechtigter Skepsis.
„Die planen doch wieder etwas“, flüsterte die Tochter des Außenministers, gebannt auf den Fernsehbildschirm starrend.
„Humanität und Pazifismus! Wie lächerlich!“, zischte Frank und schaltete das Gerät ab.
Die nächsten Stunden dieses aufregenden Tages waren von langen Gesprächen zwischen Julia und ihm geprägt. Auch Alfred kam mit Svetlana zum Abendessen vorbei, um sich ausführlich über die neue Situation auszulassen. Franks bester Freund wirkte ebenfalls verstört und stellte wilde Spekulationen bezüglich des baldigen Besuches des Weltpräsidenten an.
Sie hatten mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Dass die Logenbrüder auf einmal vorgaben, den Frieden zu wollen, verwirrte sie zutiefst. Zwei Tage später wurden Frank und Alfred von einem aufgeregten Artur Tschistokjow nach St. Petersburg gerufen, um an den Vorbereitungen für den historischen Staatsbesuch mitzuwirken.
„Die Waräger sollen als meine Ehrengarde Spalier stehen, wenn der Weltpräsident kommt“, ordnete das Oberhaupt des Nationenbundes an. Er machte den Anschein, als würde zumindest ein Teil von ihm doch an ein friedliches Auskommen mit dem Weltverbund glauben.
Frank sagte Tschistokjow hingegen gehörig die Meinung. Er war außer sich, ermahnte ihn, den bisher beschrittenen Weg nicht zu verlassen und keine Zugeständnisse zu machen. Ähnlich verhielt sich auch der japanische Präsident Matsumoto, der seinen russischen Bündnispartner mehrfach zu überzeugen versuchte, das Treffen wieder abzusagen.
„Diese Verbrecher können nur mit dem Schwert niedergerungen werden. Ihre süßen Worte sind nichts als Dolche, die sie uns in den Rücken stoßen wollen!“, erklärte der Japaner, doch der Anführer der Freiheitsbewegung ließ sich nicht beirren. Er war fest entschlossen, den Weltverbund diesmal nicht vor den Kopf zu stoßen.
„Ich lasse mich schon nicht einwickeln“, versuchte Tschistokjow seine Getreuen zu beruhigen, aber Frank, Wilden und viele andere blieben dennoch skeptisch.
„Ich würde den Weltpräsidenten viel lieber über den Haufen schießen, wenn ich ihn schon einmal so nahe vor der Mündung habe!“, entgegnete Kohlhaas Tschistokjow daraufhin.
Doch es half alles nichts. Es dauerte nicht mehr lange, da zeigte das Kalenderblatt den 16. November des Jahres 2042 und der von den Medien weltweit bejubelte Staatsbesuch fand tatsächlich statt.
St. Petersburg war von Menschenmassen überlaufen und Hunderte von Polizisten und Volksarmisten sicherten die Zufahrtsrouten zum Präsidentenpalast ab, um dem prominenten Gast die ausreichende Sicherheit zu gewährleisten. Tausende von kleinen Russland- und Drachenkopffähnchen wurden geschwenkt, während sich die Masse am Straßenrand sammelte und in der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in Jubel ausbrach.
General Kohlhaas hätte hingegen würgen können und wurde nicht müde, diese Tatsache jedem seiner Warägergardisten unter die Nase zu reiben. Alf und er standen nun schon eine Stunde lang starr in der ersten Reihe eines Blocks grau uniformierter Elitesoldaten und warteten auf die Ankunft des Besuchers.
Heute hatten sie sich herausgeputzt wie seit Jahren nicht mehr und ihre glatt gebügelten und geschniegelten Uniformen ließen sie adrett und edel erschienen. Sogar die Knöpfe an den extra für Staatsempfänge angefertigten, neuen Soldatenkleidern blitzten und blinkten wie kleine Diamanten.
Gegen 15.00 Uhr näherte sich eine schwarze Limousine dem mit roten Samtteppichen belegten und von Warägertrupps bewachten Platz vor dem St. Petersburger Präsidentenpalast. Schließlich hielt die noble Karosse an und der Weltpräsident entstieg ihr mit galanten Bewegungen. Er strich sich durch seine geglätteten, dunklen Haare, während er den Ehrengardisten zu seiner Rechten ein selbstgerechtes Lächeln schenkte.
„Jetzt einfach die Knarre nehmen und Paff!“, fauchte Kohlhaas still auf Deutsch in sich hinein und versuchte, weiterhin geradeaus zu schauen.
„Wie bitte, Herr General?“, flüsterte sein Nebenmann.
Frank drehte ihm kurz den Kopf zu. „Ich habe nur laut gedacht.“
Seine grünen Augen pulsierten vor Hass und am liebsten wäre er losgesprungen, um den „Menschenfreund“ an Ort und Stelle in Stücke zu hacken. Doch seine Aufgabe war es heute lediglich, gut auszusehen, zu schweigen und zackig zu wirken.
Nachdem der Weltpräsident aus seiner Limousine gestiegen war, begann er sich vor den zahlreichen Kameras und Journalisten zu postieren, um einige kurze Statements abzugeben. Er bekundete seinen Willen zum Weltfrieden erneut und lächelte dabei zufrieden.
Nach einer Weile kam auch Artur Tschistokjow in einer Limousine herangefahren und das schwarze, glänzende Gefährt wurde sofort von einem gewaltigen Pulk von Berichterstattern und Journalisten belagert, so dass eine Weiterfahrt kaum noch möglich war. Heute hatten sich alle versammelt, sowohl die Vertreter der Medien des Nationenbundes, als auch Hunderte von Journalisten aus aller Herren Länder, die pausenlos knipsten, tippten und fragten.
Unter dem ohrenbetäubenden Jubel der Menschenmasse hinter den Absperrungen, die den Platz umgaben, stieg der russische Souverän aus seinem Wagen und schritt langsam auf seinen Gast zu.
„Stillgestanden!“, donnerte eine Stimme hinter dem Trupp Waräger gen Himmel und die edel uniformierten Soldaten standen stramm.
Auch Frank fügte sich murrend dem Befehl, ließ das befremdliche Szenario an sich vorbeiziehen. Jetzt standen Artur Tschistokjow und das Oberhaupt des Weltverbundes voreinander und schenkten sich gegenseitig ein skeptisches Lächeln.
„Willkommen in St. Petersburg!“, sagte Tschistokjow schließlich. Er schüttelte seinem Gast die Hand und verneigte sich höflich.
„Vielen Dank, Herr Tschistokjow! Es ist mir eine Ehre, Sie endlich einmal persönlich kennenlernen zu dürfen!“, erwiderte der Weltpräsident und die beiden Politiker drehten sich leicht zur Seite, um in zahllose Kameras zu grinsen.
Der Weltpräsident und Artur Tschistokjow unterhielten sich nun schon seit über einer Stunde, nachdem sie zuvor den üblichen Smalltalk ausgetauscht hatten. Der Vorsitzende des Weltverbundes bemühte sich, überaus freundlich und zuvorkommend zu erscheinen, um seinen Verhandlungspartner nicht zu beunruhigen. Sein russischer Gastgeber hingegen wirkte heute keineswegs so, als sei er in Höchstform, und überließ ihm zunächst das Reden.
„Wie haben Sie es geschafft, Ihre Freiheitsbewegung der Rus buchstäblich aus dem Nichts aufzubauen, Herr Tschistokjow? Bei all dem Widerstand, dem Sie sich entgegenstellen mussten?“, fragte der Logenbruder.
„Nun, ich war der festen Überzeugung, dass man sich gegen Leute wie Sie wehren muss!“, gab Artur Tschistokjow mit einem breiten Lächeln zurück.
„Ach, Herr Tschistokjow, ich hoffe, dass es in Zukunft weniger Reibereien zwischen der Weltregierung und dem Nationenbund geben wird. Wir werden sicherlich keine Freunde werden, aber wir müssen uns auch nicht mehr mit Hass und Feindschaft gegenüberstehen…“, erwiderte der Weltpräsident.
„Dann sorgen Sie doch bitte dafür, dass die ständige Hetze und Verleumdung gegen mein Land und meine Person in den internationalen Medien eingestellt wird“, sagte der abtrünnige Staatschef ernst.
„Darüber können wir sicherlich sprechen, Herr Tschistokjow.“
„Das wäre jedenfalls eine Grundlage für weitere Gespräche, Herr Weltpräsident.“
Artur Tschistokjows Gegenüber musterte diesen mit einem aufgesetzten Lächeln. Er faltete langsam die Hände.
„Gut, darauf kann sich der Weltverbund einlassen…“
„Ich werde ja sehen, ob Sie Wort halten.“
„Ja, natürlich werden Sie das, Herr Tschistokjow. Und ich will ehrlich zu Ihnen sein: Die Weltregierung möchte keinen Krieg mit Russland, da wir andere Probleme haben. Daher wollen wir mit dem Nationenbund verhandeln.“
„Die ODV-Seuche und die Zwangsregistrierungen binden Ihre Kräfte zurzeit sehr, nicht wahr?“, stichelte Tschistokjow nun.
„Die ODV-Epidemie ist nun leider einmal ausgebrochen, was uns alle sehr schockiert, und größere GCF-Kontingente sind notwendig, um für über zwei Milliarden Menschen die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.“
„Naja, aber die Dezimierung der Erdbevölkerung hat ja auch etwas Gutes, oder nicht?“, bemerkte der russische Souverän.
Kopfschüttelnd winkte der Weltpräsident ab. Dann lächelte er kalt. „Vermeiden Sie doch bitte diese versteckten Anschuldigungen uns gegenüber. Das sind alberne Verschwörungstheorien, Herr Tschistokjow. Gut, ich weiß, Sie glauben, dass wir diese Seuche künstlich erschaffen haben, aber über derart absurde Dinge möchte ich heute nicht mit Ihnen sprechen, denn das gehört nicht zum Thema. Zudem bitte ich Sie, wenn wir schon einmal bei dieser Sache angelangt sind, solche Vorwürfe gegen den Weltverbund auch nicht mehr in den russischen Medien zu verbreiten.“
Artur Tschistokjow nickte. „Wie Sie meinen, dann schrauben wir die gegenseitige Diffamierung zurück. Das wäre mir auch sehr recht.“
Das zweithöchste Mitglied des Rates der Weisen und das offizielle Oberhaupt der Weltregierung schenkte seinem Verhandlungspartner einen Blick von mephistophelischer Fröhlichkeit, um dann zu bemerken: „Ich bewundere Sie, Herr Tschistokjow. Ihre Hartnäckigkeit und Ihre Entschlossenheit stehen der unseren in nichts nach. Wenn ich nicht auf der anderen Seite kämpfen würde, wäre ich vielleicht ihr treuester Anhänger…“
Der russische Staatschef räusperte sich und sagte für einige Sekunden nichts, aber man merkte ihm an, dass er sich geschmeichelt fühlte.
„Ich denke, dass ich auch ohne Sie auskomme!“, erwiderte er dann mit freundlicher Miene.
„Wie wollen wir denn nun weiter vorgehen? Was soll ich dem Weltverbund sagen? Will der Nationenbund der Rus den Frieden oder nicht?“, wollte der Weltpräsident wissen.
„Ja, definitiv. Ich lege keinen Wert mehr auf Krieg, wenn Sie uns nur endlich in Ruhe so leben lassen, wie wir es wünschen“, gab Artur Tschistokjow zurück.
„Wie Sie und Ihre Mitstreiter es wünschen!“, berichtigte ihn sein Gegenüber mit ironischem Unterton. „Ich glaube kaum, dass alle Russen, Ukrainer und Balten mit ihrer Diktatur einverstanden sind.“
„Und ich glaube, dass der Anteil der Russen, die mir freundlich gegenüber stehen, um einiges größer ist, als der Anteil derer, die in den von Ihnen…“
„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Tschistokjow!“, unterbrach ihn sein Gast dezent.
„Schon gut, Herr Weltpräsident!“
Jetzt lehnte sich der Logenbruder ein wenig über den Konferenztisch und sah Artur Tschistokjow tief in die Augen. „Wird das neue Russland offen sein für Handelsbeziehungen mit dem Weltverbund?“
Der russische Souverän überlegte kurz. Dann zuckte er mit den Achseln. „Das kann ich an dieser Stelle noch nicht sagen. Wie sollen diese Handelsbeziehungen denn aussehen, Herr Weltpräsident? Bisher haben Sie uns immerhin mit allen Mitteln boykottiert und isoliert.“
„Das könnte sich ändern“, säuselte dieser.
„Und was erwarten Sie von mir? Soll ich Ihre Banken wieder in mein Land lassen? Wollen Sie mir Kredite anbieten? Das können Sie vergessen!“, stellte Artur Tschistokjow klar.
„Nein, aber eine wirtschaftliche Öffnung könnte der gebeutelten Ökonomie Russlands einige Vorteile bringen.“
„Unserer Wirtschaft geht es gut und wir werden, von Japan abgesehen, von keinen anderen Handelspartnern abhängig sein. Aber es bewegt mich, dass Sie sich solche Sorgen um unser Wohlergehen machen, Herr Weltpräsident.“
„Überlegen Sie es sich einfach in Ruhe. Unser Angebot steht. Die Weltregierung will Frieden und offene Handelsbeziehungen, das kann ich Ihnen jedenfalls versichern.“
„Gut, ich werde darüber nachdenken“, versicherte der russische Staatschef.
Sein Gesprächspartner nickte zufrieden und erklärte diese erste Verhandlung für abgeschlossen. Die beiden Politiker beendeten ihre interne Sitzung, verließen den kleinen Konferenzraum im Präsidentenpalast, um sich anschließend den vor der Tür lauernden Schwärmen von Journalisten und Kamerateams zu widmen. Das erste Friedengespräch zwischen Artur Tschistokjow und dem Weltpräsidenten war vorbei. Nun wartete noch eine lange Pressekonferenz auf die beiden Politiker.
„Meilenstein auf dem Weg zum Weltfrieden!“, titelte am nächsten Tag die größte Zeitung Nordamerikas, während die Volkszeitung der Rus das hochbrisante Gespräch in St. Petersburg mit der Schlagzeile „Artur Tschistokjow kämpft für den Frieden!“ kommentierte.
Es folgten unzählige Fernsehberichte und Reportagen auf sämtlichen Kanälen quer durch alle Länder des Erdballs und beide Seiten waren bemüht, sich als die jeweils größten Friedensapostel zu präsentieren.
Es war jedenfalls eine Tatsache, dass Artur Tschistokjow das unerwartete Angebot des Weltverbundes in erster Linie mit seiner eigenen politischen Macht erklärte und verkündete, dass die Logenbrüder Russland inzwischen offenbar fürchteten.
Viele seiner Kabinettsmitglieder sahen das hingegen anders, sprachen von einer „neuen Form der Zersetzungsarbeit“ des Feindes und wurden nicht müde, ihren Anführer vor weiteren Verhandlungen mit der Weltregierung zu warnen. Doch der russische Souverän winkte ab und ließ die Kritik seiner Berater ins Leere laufen. Tschistokjow betonte ihnen gegenüber, dass man keine Chance auf Frieden vertun sollte.
Außenminister Wilden und die anderen Kabinettsmitglieder waren mit ihrem politischen Latein am Ende. Die zum ersten Mal verhältnismäßig positiven Berichte in der internationalen Presse schienen regelrechter Balsam für die Seele des russischen Staatsoberhauptes zu sein. Dieser genoss es offenbar, dass er endlich einmal nicht als „wahnsinniger Diktator“ oder „gefährlicher Kriegshetzer“ beschimpft wurde.
So hielt Artur Tschistokjow nun auch im ganzen Land flammende Reden, in denen er seinen festen Willen zum Frieden beteuerte. Er sprach vom „Ende der Eiszeit“ und spielte damit auf den historischen Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA an.
„Einen solchen Zustand wollen wir nicht noch einmal haben. Jahrzehnte voller Misstrauen und Hass sind das, was unser kriegsbeuteltes Land zurzeit am wenigsten gebrauchen kann“, sagte Tschistokjow vor Tausenden seiner Rus bei einer Rede in Smolensk.
Trotzdem schlug dem einst so revolutionären und radikalen Rebellenführer von Seiten seiner alten Kämpfer nach wie vor großes Unverständnis entgegen. Dass gerade er, der ansonsten immer seine unüberwindliche Feindschaft gegenüber den Logenbrüdern unterstrichen hatte, jetzt auf einmal vom Frieden mit dem Todfeind sprach, wirkte auf viele Rus nicht ganz zu Unrecht befremdlich.
Frank und Alfred waren inzwischen wieder nach Minsk zurückgekehrt. Auch sie waren keineswegs von Artur Tschistokjows neuem Weg angetan und wandten ihre Aufmerksamkeit Wichtigerem zu. Frank verbrachte seine Zeit mit Julia und Friedrich, die sich schon riesig auf das Weihnachtsfest freuten. Für Anfang Dezember planten sie noch eine kleine Rundreise durch Weißrussland und wollten sich ein paar ruhige Tage in Brest gönnen.
„Soll doch Artur erst mal machen, was er will“, meinte Bäumer zum Abschied zu den beiden. Und sicherlich war ein dauerhafter Frieden für sie alle auch nicht die schlechteste Option, wie sich Frank selbst eingestehen musste.
Julia atmete die kühle, frische Luft tief ein, während sie von den Zinnen einer alten Burg auf die Stadt Brest hinabblickte. Heute schien die Sonne noch einmal mit aller Kraft durch den ansonsten wolkenverhangenen Dezemberhimmel.
„Papa, was ist das für ein Ding?“, wollte Friedrich wissen. Er zupfte Frank an der Hose.
„Meinst du dieses Gebäude?“
„Ja! Wie heißt das?“
„Das ist eine Burg, Friedrich! Dieses ganze Ding nennt man eine Burg!“
„Burg?“
„Ja, da haben früher Ritter gelebt…“
Der Kleine runzelte die Stirn: „Ritter? Was sind denn das?“ „Das sind in der alten Zeit Soldaten gewesen“, erläuterte Frank, seinem Sohn zulächelnd.
„So wie du, Papa?“
Julia grinste und wandte ihren Kopf Kohlhaas zu. „Papa, der edle Ritter…“
„Ja, so ähnlich. Aber die Ritter hatten Rüstungen und Schwerter– keine Sturmgewehre.“
„Sturmgewehre?“, Friedrich kratzte sich am Kopf.
„Nun erzähle dem Jungen doch nicht dieses militärhistorische Zeug, Frank!“, stöhnte Julia und ging zu einem kleinen Würstchenstand am Ende des Platzes.
„Das ist jetzt etwas schwierig zu erklären, Friedrich…“
„Sind das so Soldaten, wie du sie hast, Papa?“
„Meinst du meine Orks aus Zinn?“, fragte Frank.
„Ja, solche Monster. Die haben auch Schwerter und so.“