Alle deine Wasserwogen - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Alle deine Wasserwogen E-Book

Elisabeth Dreisbach

0,0

Beschreibung

Familie Flemming durchlebt eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Fast die gesamte Last liegt auf den Schultern und dem Herzen der Mutter. Fünf Kinder hat sie zu betreuen - fünf ganz verschiedene Menschen mit all ihren Anliegen und Nöten - und dann noch einen kranken Mann! Was nutzt alle christliche Erziehung, wenn sie sich im Leben nicht mehr umsetzen lässt und außerdem die Vorstellungen der Kinder in ganz andere Richtungen gehen? Frau Flemming sieht es an ihrer ältesten Tochter, die nur noch die Ansprüche der eigenen Person kennt. Ganz anders ist Gerold, der sein Studium unterbricht, um seine todkranke Verlobte zu betreuen. Peter, der Älteste, kommt durch das Theologiestudium in Verwirrung und Ratlosigkeit hinein. Auch Michaela und Gabriele, die beiden Jüngsten, haben ihre Probleme. In dieser Familiengeschichte, in der viele Fragen und Nöte unserer Zeit behandelt werden, wird sichtbar, weiche Tragkraft der lebendige Glaube hat. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 309

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle deine Wasserwogen

Band 21

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-142-8

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Mein Gott, betrübt ist meine Seele…

Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere;

alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich … Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?

Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Psalm 42

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Alle deine Wasserwogen

Unsere Empfehlungen

Alle deine Wasserwogen

»Längst überholte Ansichten!«

Das junge Mädchen warf diese Worte lässig und doch herausfordernd in den Raum und drehte der Frau, die soeben mit ihr gesprochen hatte, in beleidigender Nichtachtung den Rücken zu.

Die Frau blickte traurig vor sich hin, dann sagte sie: »Friedegard, wie hast du dich verändert! Wenn ich daran denke –«

Heftig unterbrach sie das junge Mädchen.

»Willst du mir helfen oder nicht?«

»Nein, ich will nicht! Meine Gründe habe ich dir genannt. Außerdem wäre es für dich keine Hilfe, und für mich bedeutete es, dass ich schuldig würde. Du weißt, Friedegard, ich lebe nicht nur in der Achtung vor dem bestehenden bürgerlichen Gesetz, sondern auch in der Verantwortung vor Gott.«

Ein vor Zorn und Enttäuschung entstelltes Gesicht wandte sich ihr zu.

»Und ich wiederhole es noch einmal: Längst veraltete und überholte Ansichten!«

»So hättest du vor wenigen Jahren nicht gesprochen.«

»Weil ich unter Druck stand, deiner und Muttis Beeinflussung ausgeliefert war. Ich höre euch noch: ›Friedegard, es findet eine Bibelfreizeit da und dort statt. Das wäre doch etwas für dich!‹ – Oder: ›Während der Ferien ist eine Tagung für junge Leute in der Schweiz. Es wird der Römerbrief behandelt. Meinst du nicht, du solltest daran teilnehmen?‹ Und in der Art ging es am laufenden Band, bis es mir zum Halse heraushing und ich mich endlich frei machte von dieser Vergewaltigung meines Inneren.«

»Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, wo du deines Glaubens froh warst, Friedegard.«

»Auch das sehe ich anders. Was ihr als meine persönliche Entscheidung festzustellen glaubtet, war das, was ihr mir aufzwangt. Immer sollte ich den Weg gehen, den ihr mir gewiesen hattet. Das begann schon in frühester Kindheit und wurde nicht anders, als ich erwachsen war. Meint ihr, ich hätte nicht gemerkt, wie ihr darauf gewartet habt, dass ich mich mit Fred Ritter verlobte? Beinahe hättet ihr mich soweit gebracht. Gott sei Dank, bin ich noch früh genug wach geworden!«

Frau Steilknecht unterbrach die Erregte. »Du sagst: ›Gott sei Dank/ Hast du mir nicht vorhin erklärt, dass du nicht mehr an Gott glaubst? Wie kannst du ihm dann danken?«

»Leg doch nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage! Aber ich kann solche Redensarten auch unterlassen, wenn du willst. Ja, es ist wahr, ich glaube nicht mehr an Gott!«

»Du täuschst dich über dich selbst. Du willst nur nicht an Gott glauben; denn wenn du es tätest, könntest du dein Verhalten nicht mehr rechtfertigen. Du weißt, wie Gott über Ehebruch denkt.«

Friedegard fuhr auf. »Diese Ehe hat schon längst nicht mehr bestanden!«

»So sagen die meisten Männer, die ein Mädchen dahin bringen wollen, ihnen willfährig zu sein.«

»Meine Liebe zu Hans-Jürgen gibt mir jedes Recht. Aber was rede ich mit dir davon, du hast ja gar nicht gelebt! Was weißt du von Liebe?«

Frau Steilknecht verzichtete darauf, ihr zu antworten. Bekümmert blickte sie auf die Zwanzigjährige vor ihr, die so irregeleitet war, dass sie die einfachsten Regeln des Taktes und ihrer guten Erziehung übersah. Unfasslich, was aus Friedegard geworden war!

Diese griff nach ihrem Sommermantel und der Handtasche.

»Ich hätte es mir ja denken können, obgleich ich nicht glaube, dass du nicht schon anderen Mädchen in solcher Situation geholfen hast. Du könntest es doch, gib es wenigstens zu.«

»Ich könnte es wahrscheinlich, aber ich habe es nie getan und werde es nie tun. Wie stünde ich vor Gott und wie vor deiner Mutter da!«

»Du hast versprochen, ihr nichts davon zu sagen!«

»Aber ich habe dich, noch bevor du mir die Sache anvertraut hast, gebeten, es deiner Mutter selbst mitzuteilen, wenn es um etwas geht, was eine Mutter von ihrer Tochter wissen muss.«

»Glaubst du, ich will einen ihrer hysterischen frommen Anfälle heraufbeschwören? Aber Schluss damit! Wenn du es nicht tun willst, werde ich einen anderen Weg finden. Das kannst du mir glauben. Sollte es aber schiefgehen, dann wünsche ich dir keine ruhige Minute mehr! Du wirst dich selbst anklagen, mich fortgeschickt zu haben, ohne mir zu helfen.«

Heftig schloss Friedegard die Tür. Gleich darauf hörte Frau Steilknecht ihre eiligen Schritte auf den Steinplatten des Gartenweges und dann das Einklinken des schmiedeeisernen Tores.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, nach der Kranken oben zu sehen. Aber es war eine so tiefe Traurigkeit über sie gekommen, dass es ihr unmöglich schien, sie vor allem Matthias gegenüber zu verbergen. Seine Augen blickten immer in die Tiefe. Nein, sie durfte diese Not nicht gleich zu den Freunden hinauf tragen!

Marie-Ann Steilknecht saß am offenen Fenster ihres mit Geschmack eingerichteten Wohnzimmers und schaute hinaus in den Vorgarten, dessen sommerliche Blumenpracht in allen Farben zu ihr hinaufleuchtete. Aber sie bemerkte weder das samtene Rot noch das strahlende Gelb der Rosen und ebenso wenig das Blau der Klematis, deren Ranken sich fröhlich am Haus emporzogen. Marie-Ann sah andere Bilder vor sich. Unwillkürlich schlugen ihre Gedanken Wege der Vergangenheit ein.

War es wirklich dasselbe Mädchen, das vor etwa fünfzehn Jahren in kindlicher Unschuld und Anmut vor ihr gestanden und beteuert hatte: »Tante Marie-Ann, ich will Mama und dir immer nur Freude machen«, das vor einer Stunde fordernd vor sie hingetreten war: »Du musst mir helfen, ich erwarte ein Kind und will dieses Kind nicht haben! Dir als Hebamme mit einer langjährigen Erfahrung dürfte es nicht schwerfallen, einen Eingriff zu machen.«

Entsetzt hatte Marie-Ann Steilknecht ihre Patentochter angesehen. »Weißt du überhaupt, was du von mir forderst, Friedegard? Du traust mir zu, dass ich ein Verbrechen begehe!«

Das Mädchen hatte ihr ins Gesicht gelacht.

»Wie rückständig du bist! Gehst du eigentlich mit geschlossenen Augen und Ohren durch unsere Zeit? Liest du keine Zeitung, keine Illustrierte? Deine altmodischen Ansichten sind längst überholt! Hans-Jürgen und ich, wir könnten die Firma verklagen, die das Verhütungsmittel vertreibt und hundertprozentige Sicherheit zugesagt hat. Aber nun ist es einmal so, und alles Verklagen nützt nichts. Hans-Jürgen hat mir erklärt, dass das Kind unter keinen Umständen geboren werden dürfe. Sonst würde er todsicher schuldig geschieden.«

Sie, Frau Steilknecht, hatte diesen Wortschwall über sich ergehen lassen, dann aber möglichst ruhig, obgleich sie innerlich sehr erregt war, gefragt: »Sagt dir das nicht genug, Friedegard? Wird ein Mann, der vorgibt, eine Frau zu lieben, und das Letzte von ihr fordert, je ein guter Ehemann sein, wenn er von ihr verlangt, das kleine Wesen, das er mit ihr gezeugt hat, kaltblütig umzubringen? Ich verstehe dich nicht!«

»Das ist es ja eben!« hatte Friedegard aufs äußerste aufgebracht geschrien. »Du verstehst mich nicht. Aber immer hast du vorgegeben, für mich dazusein. Und jetzt, wo ich dich, meine Patentante, einmal um Hilfe bitte, um Hilfe, die du mir gewähren könntest, wenn du nur wolltest, lässt du mich im Stich!«

»Es wäre keine Hilfe, sondern nur ein weiterer Schritt auf dem Wege des Verderbens, auf den du dich begeben hast!«

»Amen«, hatte das Mädchen höhnisch und herausfordernd geantwortet.

Und nun war sie fort und hatte Marie-Ann Steilknecht mit der inneren Not, in die sie geraten war, allein gelassen. Sie befand sich nicht etwa in einem inneren Zwiespalt; denn nie und nimmer wäre ihr der Gedanke gekommen, Friedegards Forderung zu erfüllen. Nicht nur ihre Berufsauffassung hinderte sie daran, sondern vor allem ihre christliche Gesinnung. Aber was würde das irregeleitete Mädchen jetzt tun? Es ließen sich für verantwortungslose Menschen auch Ärzte finden, die bedenkenlos handelten. Und wenn nicht hier, im Ausland gab es genug Möglichkeiten. Irgend etwas würde Friedegard unternehmen, das war klar. Unter keinen Umständen wollte sie das Kind. Das arme kleine Geschöpf war bereits vor der Geburt von seinen Eltern zum Tode verurteilt worden.

Ganz besonders war Marie-Ann Steilknecht in die Enge getrieben durch ihr Versprechen, der Mutter des Mädchens nichts zu sagen. War es nicht doch ihre Pflicht, sie davon in Kenntnis zu setzen? Aber wenn Friedegard es erfuhr, würde der letzte Rest von Vertrauen, welches das Mädchen ihr vielleicht noch entgegenbrachte, völlig zunichte werden. Oh, was sollte sie nur hm?

War sie nun wirklich dazu verurteilt, tatenlos zuzusehen und Friedegard in ihr Unglück rennen zu lassen? Aber wie hatte kürzlich Matthias zu ihr gesagt: »Oft wird das, was wir für das Unglück eines Menschen an- sehen, eines Tages sein Glück. Wir dürfen uns nur nicht festgefahrenen Begriffen hingeben. Manchmal haben die Worte ›Glück‹ und ›Unglück', von Gott her gesehen, eine völlig andere Bedeutung.«

Es klopfte leise an die Tür, und gleich darauf stand derjenige vor ihr, an den Marie-Ann soeben gedacht hatte. Prüfend, aber auch zugleich verstehend blickte er sie an.

»Ich sah vorhin Friedegard aus dem Haus gehen. Sie schien mir ziemlich erregt.«

Als Frau Steilknecht nicht antwortete, fuhr er fort: »Du weißt, ich will mich nicht in dein Vertrauen drängen, aber ich spüre es, und deine Augen verraten es mir auch, dass du bekümmert bist.«

Sie streckte ihm die Hand hin, die er ergriff. »Dringe nicht in mich, Matthias, ich muss dieses Mal allein damit fertig werden. Doch ich danke dir, dass du da bist und mich auch ohne Worte verstehst.«

Sein Händedruck bestätigte es ihr. »Ich wollte dich bitten, mir zu helfen, Alwine umzubetten. Wir können heute nicht warten, bis die Schwester kommt. Alwine ist sehr müde und möchte schlafen.«

Marie-Ann erhob sich sofort. »Selbstverständlich! Mir scheint, es naht ein Gewitter. Das wird Alwine zusetzen.«

»Schnell, Mädchen, deckt den Tisch! Der Vater muss jeden Augenblick kommen.« Frau Flemming füllte die angewärmte Platte mit den duftenden Bratkartoffeln.

»Ha, Zwiebeln drin!« stellte Michaela fest und zog genießerisch den Duft ein.

»Hu, Zwiebeln!« gab Gabriele ihren Protest kund und zog als Zeichen ihres Missfallens die Nase kraus.

»Du weißt, Vater hat gerne Zwiebeln in den Bratkartoffeln.«

Gleich darauf schloss Studienrat Flemming die Wohnungstür auf. Noch bevor er seinen Hut an die Garderobe gehängt hatte, rief er: »Wo ist Mutter?«

»Hier bin ich.« Frau Flemming begrüßte ihren Mann wie immer in herzlicher Weise.

»Du wirst müde sein, wir können sofort essen.«

»Deine Bratkartoffeln riechen zwar verlockend. Schon als ich das Haus betrat, wusste ich sofort, was du mir vorsetzen würdest. Aber hast du nicht daran gedacht, dass der Arzt mir wegen meines Herzens verboten hat, am Abend schwere Kost zu mir zu nehmen? Eigentlich will er sogar, dass ich nach fünf Uhr überhaupt nichts mehr esse, damit mein Herz nicht belastet wird.«

»Ich weiß. Väterchen, ich weiß! Aber du hast heute noch keine warme Mahlzeit gehabt, und jetzt ist es fünf Uhr. Es liegt noch ein langer Abend vor dir. Du willst doch noch Hefte korrigieren, soviel ich weiß!«

»Ich habe vor, heute früh zu Bett zu gehen, ich fühle mich nicht so wohl.«

Sie hatten sich alle gesetzt, und die Mutter sprach das Tischgebet. Dann reichte sie ihrem Mann das Fleisch und den Salat. Sie schaute ihn prüfend an.

»Dir ist nicht gut, Herbert? Hat dein Herz dir wieder zugesetzt?«

»Seine Schüler, diese Bande, werden ihn wieder so aufgeregt haben«, antwortete statt seiner Gabriele. »Du machst dir keinen Begriff, Mutti, wie manche sich heute benehmen.« Sie wollte einige Erlebnisse auf tischen, aber ein Blick ihrer Mutter hieß sie schweigen.

Darauf verlief die Mahlzeit schweigsam. Jeder bemühte sich, nicht unnötig zu sprechen. Der Vater war sichtlich erschöpft.

»Wo ist eigentlich Gerold?« fragte er nach einer Weile. Er wünschte, wenn irgend möglich, seine Kinder wenigstens beim Abendessen um sich versammelt zu sehen. Mittags kam meist jeder zu einer anderen Zeit. Neuerdings schien es auch am Abend kaum noch möglich zu sein, alle zusammenzubringen.

»Er wollte heute Nachmittag ins Krankenhaus gehen«, antwortete Frau Flemming.

»Aber jetzt ist doch längst keine Besuchszeit mehr!«

Das Gesicht des Studienrats bewölkte sich. »Mir passt die Geschichte schon lange nicht mehr! So kann das doch nicht weitergehen!«

»Vielleicht können wir nach dem Essen miteinander darüber reden«, lenkte die Mutter ein, und zu den beiden Töchtern gewandt, sagte sie: »Ihr könnt sicher heute einmal allein die Küche fertig machen.«

»Wir haben unsere Schulaufgaben noch nicht beendet«, erwiderte Gabriele, der wenig daran gelegen war, jetzt noch den Küchendienst zu übernehmen.

»Den Aufsatz haben wir erst am Freitag abzuliefern, wir können gut noch das Geschirr ab waschen.« Michaela, die unkompliziertere der Zwillinge, stand auf, um den Tisch abzuräumen, und nahm gelassen den wütenden Blick ihrer Schwester hin, der dann schließlich nichts anderes übrigblieb, als mit anzufassen.

»Fühlst du dich wohl genug, Herbert, oder willst du erst noch etwas ruhen, die Zeitung lesen oder –«

»Du weißt, dass ich noch Hefte zu korrigieren habe«, antwortete ihr Mann gereizt. »Und außerdem habe ich dir vorhin schon erklärt, dass ich mich bald zu legen gedenke.«

Er griff nach seinem Herzen, sah dann aber doch ein, dass seine Frau schließlich Anspruch darauf hatte, Nötiges mit ihm zu besprechen. So lenkte er ein.

»Was ist es denn, worüber du mit mir zu reden hast?«

Am liebsten hätte Esther jetzt geantwortet, dass es schließlich auch seine und nicht nur ihre Angelegenheit sei, wenn es um die Kinder gehe. Aber sie beherrschte sich und forderte ihn freundlich auf: »Komm, leg dich in deinem Arbeitszimmer auf die Couch! Ich setze mich zu dir und sage, was nötig ist.«

»Nötig, nötig!« wiederholte er mit leisem Grimm. »Vieles davon wäre völlig unnötig. Wenn ich nur an Friedegard denke … Sollte das Gerücht wahr sein, dass sie mit dem Schnitter geht, dann braucht sie mir nicht mehr unter die Augen zu kommen. Das kann ich dir versichern. Wenn sie selbst schon keinen Charakter hat, so soll sie wenigstens Rücksicht auf meine Stellung nehmen!«

Sie hatten inzwischen das Arbeitszimmer des Studienrats, das am äußersten Ende des Ganges lag, betreten. Esther bettete ihren Mann sorgfältig auf die Couch und breitete eine Decke über ihn aus. Für sich zog sie einen Sessel herbei.

»Über Friedegard können wir vielleicht ein anderes Mal sprechen. Jetzt liegt mir Gerolds Angelegenheit am Herzen.«

»Wieso Gerolds Angelegenheit?« fuhr Herbert Flemming gereizt hoch. »Das ist es ja, was mich so auf regt. Gerold macht zu seiner Angelegenheit, was ihn im Grunde genommen überhaupt nichts angeht. Wir haben mit dieser Susanne Schneid ja gar nichts zu tun. Gerold steht mitten im Studium. Er hat sich um wichtigere Dinge zu kümmern.«

»Du weißt, Herbert, dass sie keinen Menschen außer ihm hat«, versuchte Frau Flemming einzulenken.

»Außer ihm«, wiederholte ihr Mann erregt. »Was heißt das? Er denkt nicht daran, dieses Mädchen je zu heiraten! Es wäre ja auch unsinnig bei dieser hoffnungslosen Krankheit. Außerdem würde ich ihm nie meine Erlaubnis dazu geben. Und was sein Mitleid anbelangt, so hat er, meine ich, bislang mehr als genug für sie getan. Mögen sich jetzt andere um sie kümmern. Ihre Nachbarn oder Arbeitskollegen – irgendwelche Angehörigen wird sie auch noch haben!«

Esther atmete tief. Wenn es ihr doch gelingen würde, ihren Mann zum ruhigen Zuhören zu bringen! Ohne seine Einwilligung konnte sie ja nicht handeln.

»Gerold liebt Susanne nicht, wie man ein Mädchen liebt, das man heiraten möchte. Er hat Mitleid mit ihr. Er sagt, es sei einfach unmöglich, sie jetzt im Stich zu lassen. Der Grund ist nicht einmal in erster Linie die körperliche Krankheit. Die Ärzte haben ihr Hoffnung gemacht, dass sie in kurzer Zeit aus dem Krankenhaus entlassen werden könne. Aber ihr Gemütszustand macht Gerold Sorgen.«

»Macht Gerold Sorgen«, wiederholte ihr Mann beinahe ironisch. »Mir kommt es vor, als spiele er sich auf in seiner merkwürdigen Beschützerrolle ihr gegenüber.«

»Er meint, ob wir sie nicht eine Weile zu uns ins Haus nehmen wollten, bis sie sich erholt hat und wieder ins Büro gehen und auch in die eigene Wohnung ziehen kann.«

Mit einem Satz richtete sich Herr Flemming auf. »Ist er denn ganz und gar verrückt? Sollen die Nachbarn noch mehr Gesprächsstoff haben? Genügt das Gerede über Friedegard nicht?«

»Reg dich doch nicht so auf, Herbert!«

»Doch, ich rege mich auf, und nicht am wenigsten über dich, Esther, dass du mir auch noch diese lächerliche Angelegenheit unterbreitest, anstatt dem Jungen mit einem Wort klarzumachen, dass dieses Ansinnen völlig unmöglich ist.«

Er stand auf. »Und nun Schluss damit! Ich will kein Wort mehr davon hören. Die Sache ist indiskutabel. So, und nun muss ich Hefte korrigieren!«

Frau Flemming wusste, dass er dabei allein zu sein wünschte, und verließ das Zimmer.

In der Küche waren die Mädchen beinahe fertig.

»Wir sehen noch eine Stunde fern«, sagte Gabriele.

»Du wolltest mich fragen, ob ihr dürft«, korrigierte die Mutter. »Bringt mir erst die Femsehzeitung, dass ich das Programm ansehe!«

»Aber Mutter, wie du bist! Wir sind schließlich schon beide fünfzehn Jahre alt, also keine kleinen Kinder mehr! Du solltest einmal unsere Klassenkameradinnen hören, die Abend für Abend –«

»Das ist für mich nicht ausschlaggebend«, erwiderte Frau Flemming ruhig und blätterte in der Femsehzeitung, die Michaela ihr gereicht hatte.

»Im zweiten Programm gibt es anscheinend einen guten Film, den dürft ihr sehen, aber danach geht ihr gleich zu Bett!«

»So früh schon?«

»Ja, Gabriele, so früh schon!«

»Und du, Mutti, was machst du?«

Michaela schmiegte sich an die Mutter. »Hast du Kummer, Mutti?«

Frau Flemming strich ihrer Tochter die Haare aus der Stirn.

»Nichts von Bedeutung, Liebling. Ich bin nur ein wenig erschöpft. Ich glaube, ein Weg durch die Abendluft wird mir gut tun.«

»Soll ich dich begleiten, Mutti? Aber eigentlich würde ich den Film auch gerne ansehen!«

»Bleib nur hier, mein Kind! Ich gehe noch auf einen Sprung zu Tante Marie-Ann hinüber und frage gleichzeitig nach dem Ergehen von Frau Gerbring. Es steht offenbar nicht gut um sie.«

Es war ein weicher Sommerabend. Überall waren die Leute in den Gärten noch tätig, aber, wie es schien, ohne Hast und Eile.

Frau Flemming hatte die Straße verlassen und war in den Stadtpark eingebogen. Auch hier genossen Spaziergänger noch den milden Abend. Fast wollte es Esther weh tun, als sie Eltempaare beobachtete, wie sie sich mit ihren Kindern freuten, die um sie herumsprangen und deren fröhliches Lachen wie Vogelgezwitscher klang.

Wehmut wollte sie erfüllen. Sie schlug einen Seitenpfad ein. Dort wusste sie eine verborgen stehende Bank, die von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet wurde. Hier setzte sie sich nieder. Ihre Gedanken suchten ihre Kinder. Was wusste sie im Grunde noch von ihnen?

Ohne dies vielleicht zu wollen und zu wissen, entfernten sie sich je länger, desto mehr von ihren Eltern. Ob Herbert es wohl auch so schmerzlich empfand wie sie? Er kam immer ganz erschöpft vom Gymnasium nach Hause, dass sie es kaum noch wagte, solche Gedankengänge vor ihm auszubreiten. Tat sie es doch einmal, dann machte er eine ablehnende Handbewegung.

»Was quälst du dich mit derartigen unnötigen Gedanken? Es ist nun einmal der Lauf der Welt. Die Vögel werden flügge und verlassen das Nest.« Damit war die Sache für ihn erledigt. Oder schien es nur so? Sie wusste, dass sich hinter seinem erregten Schimpfen und Poltern über seine älteste Tochter große Sorge und tiefer Schmerz verbargen. Immer hatte ihm Friedegard nahegestanden. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sie in völliger Selbstverständlichkeit alles miteinander besprochen. Aber nun verschloss er seit langem sein Innerstes vor ihr, die doch gerne innig teilgenommen hätte an all seinem Fühlen und Denken. Doch das gehörte wohl auch zu den Zeiten der Einsamkeit, die letztlich jedem Menschen beschieden waren. Einen gewissen Ausgleich schenkte ihr immerhin die Verbindung mit der mütterlichen Freundin Marie-Ann. Seit jenem Tag vor nun schon 24 Jahren, an dem diese großherzige Frau ihr in den schweren Stunden der Geburt ihres ersten Kindes beigestanden hatte, waren sie sich bis zum heutigen Tag zugetan gewesen, und die Freundschaft hatte sich je länger, desto mehr vertieft.

Es war ein Jahr vor Kriegsende gewesen. Die Flüchtlingswoge hatte sie von Pommern hierher in die süddeutsche Kleinstadt gespült. Esther war mit ihrer alten Mutter geflohen, die auf der Flucht starb, nachdem sie ihre Heimatstadt Kolberg an der Ostsee hatten verlassen müssen. Mutterseelenallein, ohne irgend etwas zu besitzen, mit Ausnahme des wenigen, was sie auf dem Körper trug, war Esther damals in dem kleinen Schwarzwaldort angekommen, von Angst und Verzweiflung fast aufgerieben und kurz vor der Entbindung stehend. Untergebracht worden war sie mit vielen anderen Flüchtlingen zusammen in einem Schulraum. Auf Stroh hatte sie gelegen und für das Kind, das sie unter dem Herzen trug, nicht einmal ein Hemdchen, keine Windeln und kein Bett gehabt. Als der ganze Jammer ihrer Armut und Heimatlosigkeit wieder einmal über sie hereingebrochen war und der Aufruhr in ihrem Herzen die Geburt ihres Kindes zu gefährden drohte, hatte Marie-Ann, diese prächtige Frau, die als Hebamme im Krankenhaus tätig war, sie in ihre Arme genommen und mit ihr geweint. So sehr war ihr dies Elend einer jungen Mutter nahegegangen. Ohne viele Worte zu verlieren, war sie ihr in jener Stunde Mutter, Schwester und Freundin zugleich geworden. Sie hatte sie dann nicht mehr auf ihr Strohlager in der Schule zurückkehren lassen, wo die Flüchtlinge darauf warteten, irgendwo eine Bleibe zu finden, sondern sie mitsamt ihrem neugeborenen Sohn Peter zu sich in ihre Wohnung genommen und alles mit ihr geteilt. Nie würde Esther ihr genug danken können für das, was sie an ihr getan hatte. Im Überschwang ihrer Glückseligkeit hatte sie damals vor Gott ein Gelübde getan und ihm versprochen, dass sie, soweit es in ihrer Kraft stehe, ihr erstes Kind zu einem Mann nach seinem Herzen erziehen wolle. Wenn Herbert aus dem Krieg zurückkehre, wollte sie mit ihm und den Kindern, die sie noch haben würden – immer hatte sie sich ein halbes Dutzend gewünscht –, ein Gott wohlgefälliges Leben führen. Ach, sie wäre in jener Zeit zu jedem Opfer und jedem Gelübde bereit gewesen.

Beinahe ein Vierteljahrhundert war seitdem vergangen. Was alles enthielt doch diese Zeit!

Herbert war schon bald nach Kriegsende aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Seine Sprachkenntnisse hatten ihm gute Dienste geleistet. Wie glücklich hatte sie sich damals geschätzt, dass sie nicht wie viele andere Frauen noch jahrelang auf ihren Mann warten musste! Natürlich war es ein recht kümmerlicher Anfang gewesen. Aber sie waren doch wieder zusammen. Allerdings hatte Herbert einen Herzschaden aus dem Krieg mitgebracht und blieb nervlich sehr labil. Sie war zehn Jahre jünger als er und ihrer ganzen Veranlagung nach frohgemuter. Der neue Anfang in einem ihm völlig fremden Landesteil hatte ihm sehr zu schaffen gemacht. Herbert war Pommer, Sohn eines Gutsbesitzers. Auf dem großen Hof seines Vaters hatte man nie Mangel gekannt. Nun musste er sich in enge Verhältnisse fügen. Marie-Ann hatte dem jungen Paar ein Zimmer in ihrer Wohnung zur Verfügung gestellt und das Bettchen des kleinen Peter zu sich ins Wohnzimmer genommen. Ohne es zuzugeben, musste Herbert Flemming damals eine gewisse Eifersucht unterdrücken, als er merkte, wie gut sich die beiden Frauen verstanden, Marie-Ann und die um dreizehn Jahre jüngere Esther. Wohl hatte er sich bemüht einzusehen, dass seine Frau Marie-Ann viel verdankte. Sie hatte ihr die Mutter nach deren Tod auf der Flucht ersetzt. Ohne die Freundschaft dieser Frau wäre Esther in ihrer trostlosen Situation wohl verzweifelt.

Es war besser geworden, als das junge Paar bald eine eigene Wohnung bekam und Herbert Flemming als Lehrer am Gymnasium eine Anstellung fand. Dann waren im Abstand von je zwei Jahren die beiden Kinder gekommen, Friedegard und Gerold, und erst sechs Jahre später die Zwillinge Michaela und Gabriele. Die Verhältnisse hatten sich mit der Zeit wieder normalisiert, und allein schon durch die fünf Kinder, die alle hier geboren und aufgewachsen waren, hatte man die Vergangenheit überwunden und war am neuen Ort heimisch geworden. Peter, ihr Ältester, hatte sich tatsächlich entschlossen, Pfarrer zu werden. Darüber freute sich Esther immer wieder. Oft hatte sie sich daran aufgerichtet, wenn die Sorgen um die anderen Kinder sie niederdrückten.

Esther seufzte. Friedegard, ihre älteste Tochter, war diejenige, die ihr den größten Kummer bereitete. Sie war schon als Kind eigenwilliger gewesen als die anderen. Oft hatte sie sich gefragt, ob die Verhältnisse nicht bis zu einem gewissen Grad Schuld daran trugen. Das Mädchen war als ihr zweites Kind nach Kriegsende geboren worden. In der Zeit der Erwartung hatte sie manche Missstimmung ihres Mannes auffangen müssen.

Esther glaubte trotz aller gegenteiligen Behauptungen, dass Gemütsschwankungen, unter denen werdende Mütter litten, nicht ohne Einfluss auf die Kinder bleiben, die von ihnen geboren werden. Not und Bedrängnis während der Flucht, der Tod ihrer Mutter, die sie in einem wildfremden Dorf in fliegender Eile auf einem kleinen, kümmerlichen Friedhof hatte bestatten müssen, und die Ungewissheit der Zukunft hatten in ihr Angstzustände ausgelöst, die so heftiger Art waren, dass sie keinen Zweifel daran hegen konnte, dass das Kind, das sie damals unter dem Herzen trug, zumindest ein sensibles Kind sein würde. Wenn Peter auch ein fleißiger, strebsamer und guter Schüler gewesen war und ihr eigentlich immer nur Freude bereitet hatte; seine schreckhafte, scheue Art hatte ihr schon oft Sorgen gemacht. Immerhin würde er ängstliche Naturen, mit denen er später als Pfarrer gewiss oft in Verbindung treten musste, aus der eigenen Art heraus verstehen und ihnen besser helfen können.

Friedegard war immer selbständiger, aber auch selbstbewusster gewesen. Wenn Peter bei den verschiedenen Anforderungen in seinem Kinderleben mit einem »das kann ich nicht« reagiert hatte, hatte man bei Friedegards selbstsicherer Art, mit der sie sich gerne vordrängte, immer eher bremsen müssen.

Es war merkwürdig gewesen, wie dieses Kind einesteils durch seinen Charme und seine Lieblichkeit die Menschen seiner Umgebung beeindruckte und anderenteils durch seinen Trotz und Eigenwillen oft geradezu abstoßend gewirkt hatte. Dabei war Friedegard trotz allem ein äußerst liebebedürftiges Kind gewesen. Sie lernte ebenfalls leicht, hatte sich jedoch plötzlich geweigert, das Abitur zu machen und die Schule nach der Mittleren Reife verlassen.

Nach dem Besuch der Handelsschule hatte sie eine Stelle bei einem Rechtsanwalt angenommen, bei dem sie auch heute noch tätig war. Ihr Chef schien mit ihren Leistungen zufrieden zu sein.

Während ihrer Kindheit war Friedegard selbstverständlich mit den Eltern am Sonntag in die Kirche gegangen. Einige Zeit hatte sie sich sogar als Kindergottesdiensthelferin betätigt. In jenen Tagen war eine Freundschaft zwischen ihr und dem Jugendleiter Fred Ritter zustande gekommen, die in den Eltern die leise Hoffnung wachrief, dass das später einmal der rechte Mann für ihre Tochter sein könnte. Sie schätzten ihn sehr. Plötzlich aber hatte die Tochter sich von allen kirchlichen Bindungen losgesagt, die Freundschaft mit Fred grundlos beendet und einen radikal anderen Kurs eingeschlagen. Alles Zureden der Mutter war vergeblich gewesen. Ihr Widerstand hatte von Tag zu Tag bestimmtere Formen angenommen, und jetzt war es schon längst soweit, dass die Tochter sich dem Einfluss ihrer Eltern völlig entzogen hatte. Der Vater, der von jeher an dieser Tochter in besonderer Weise hing, resignierte einmal oder regte sich das andere Mal derart auf, dass Esther seines kranken Herzens wegen Todesängste ausstand.

Schon vor längerer Zeit hatte Friedegard eines Tages erklärt – es war nach einem heftigen Auftritt gewesen, den der Vater mit ihr gehabt hatte –, dass ihr im Hause des Rechtsanwalts, bei dem sie tätig war, ein Zimmer angeboten worden sei. Sie habe sich bereits Möbel bestellt und gedenke am nächsten Ersten dort einzuziehen.

»Wie kommst du mir vor!« Hatte der Vater aufbegehrt. »Kannst du nicht vorher deine Eltern um ihre Meinung fragen?«

»Fragen?« hatte Friedegard schnippisch geantwortet. »Bis die Möbel geliefert werden, bin ich ohnehin mündig, da hat das Fragen aufgehört!«

Schon damals war ein Gerücht aufgetaucht, das besagte, Friedegard habe Beziehungen zu einem verheirateten Mann. Esther hatte die Tochter zur Rede gestellt. Sie war jedoch ausgewichen und hatte es, als die Mutter darauf bestand, die Wahrheit zu erfahren, abgestritten. Friedegard hatte in der Tat ihre neue Wohnung bezogen und kam nach Belieben, oft auch wochenlang überhaupt nicht nach Hause. Neuerdings behaupteten Nachbarn, die Tochter des Studienrates mit diesem verheirateten Mann beobachtet zu haben. Und als die beiden Zwillinge eines Abends ganz aufgeregt berichteten, sie hätten die Schwester mit dem Mann in einem Café sitzen gesehen, da schien ein Zweifel ausgeschlossen.

Esther schrak aus ihrem Sinnen empor, als sie Schritte der Bank nahen hörte, auf der sie saß. Sie hatte Zeit und Stunde völlig vergessen. Wenn sie noch zu Marie-Ann wollte, musste sie sich beeilen.

»Wie schön, dass du zu mir kommst!« begrüßte sie die Freundin, als sie ihr die Tür öffnete. »Ich habe mich heute in Gedanken stark mit dir beschäftigt. Hast du ein wenig Zeit?«

»Eine Stunde höchstens. Der milde Abend hatte mich verleitet, den Weg durch den Park einzuschlagen. Dabei bin ich auf einer Bank an einer verborgenen Stelle ins Träumen gekommen und habe die Zeit völlig vergessen.«

»Wie romantisch!« versuchte Frau Steilknecht zu scherzen. Aber es wollte ihr nicht recht gelingen, denn sie ahnte, welch sorgenvoller Art die Träume gewesen waren, denen sich Esther hingegeben hatte.

»Wie geht es zu Hause?« fragte sie.

Esther antwortete nicht gleich. Konnte sie die Frage mit »gut« beantworten? War es andererseits nicht falsch, »schlecht« zu sagen? Erlebte sie nicht täglich so manches, was sie unbedingt zur Dankbarkeit stimmen müsste?

So beantwortete sie die Frage der Freundin schließlich mit einem aufrichtigen »danke – worüber sollte ich klagen? Das, womit ich nicht selber fertig werde, lege ich bewusst in Gottes Hand.«

Marie-Ann wusste, das war keine Phrase. Wie hätte Esther sonst auch mit all dem, was täglich auf sie einstürmte, fertig werden sollen?

War es Feigheit, dass sie vermied, über Friedegard zu sprechen? Zumindest wollte sie nicht damit beginnen. Durfte sie doch das Wesentliche nicht berühren. Sie musste jetzt erst mal der Sache ihren Lauf lassen, zumindest, bis das Mädchen sie von dem Versprechen, der Mutter nichts zu sagen, entbunden hatte.

»Hast du gute Nachricht von Peter?« fragte sie.

»Wir erwarten ihn übers Wochenende. Er hat längere Zeit nicht geschrieben, aber seinetwegen bin ich nicht beunruhigt. Du weißt, Peter hat mir noch nie Sorgen gemacht!«

»Ja, ich weiß es und bin froh darüber!«

»Desto mehr bin ich Friedegards wegen beunruhigt. Sie war schon länger als acht Wochen nicht zu Hause, und die Gerüchte, die über sie kursieren, von denen ich zu dir das letzte Mal sprach, scheinen nicht unbegründet zu sein.«

»Ich verstehe, dass dies ein großer Kummer für dich ist.« Frau Steilknechts Stimme klang gepresst.

»Herbert regt sich natürlich furchtbar darüber auf wegen seines Rufes als Lehrer am Gymnasium.«

»Das ist verständlich.«

»Ich denke aber noch mehr an Friedegard selbst. Ganz abgesehen von dem, was sie uns damit antut, nachdem sie eine bewusst christliche Erziehung genossen hat, weiß sie doch, dass sie unrecht tut und dass vor Gott schon das Verlangen nach einem verheirateten Mann gleichbedeutend mit Ehebruch ist.«

»Ich fürchte, Esther, sie hat all diese Bedenken längst über Bord geworfen und versteckt sich hinter der allgemeinen Ansicht, ›das tut doch jeder'. Obgleich dies ja in keiner Weise der Wahrheit entspricht. Es gibt glücklicherweise auch noch junge Menschen, die anders denken. Aber sie sieht unsere Auffassung als längst überholt an.«

»Marie-Arm«, die große Angst des Mutterherzens klang aus der Frage, »glaubst du wirklich, Friedegard wäre fähig, sich einem verheirateten Mann hinzugeben?«

»Esther, wo man sich von Gott bewusst losgesagt hat, scheut man sich auch nicht, seine Gebote zu übertreten. Was würdest du tun, wenn es so wäre?«

»Was könnte ich tun? Selbst wenn sie ein Kind erwarten sollte, bliebe ich nicht ihre Mutter? Müsste die verirrte Tochter nicht erst recht wissen, dass sie ein Zuhause hat?«

Marie-Ann atmete tief auf. So blieb es ihr erspart, davon zu reden. Esther schien etwas zu ahnen. Die Freundin stimmte ihr zu: »Das in die Irre gegangene Kind muss immer spüren, dass es heimkommen darf. Selbst wenn es noch nicht soweit ist wie der verlorene Sohn, der sich auf den Heimweg machte! Vergesst es nie, du und dein Mann: der Vater sah ihn, ehe ihn der Sohn entdeckte, und er eilte ihm entgegen.«

Marie-Ann begleitete Esther nach einer knappen Stunde nach Hause, lehnte es jedoch ab, einzutreten, weil sie noch nach der kranken Frau Gerbring sehen wollte.

Die Zwillinge saßen bei der Rückkehr der Mutter noch vor dem Fernsehapparat, obgleich es schon sehr spät war. Esther schaltete ihn wortlos aus, dann sagte sie: »Hatte ich euch nicht verboten, diesen Film anzusehen? Und außerdem wisst ihr, dass ihr um diese Zeit längst zu Bett sein sollt!«

Michaela hatte sich beim Eintritt der Mutter sofort schuldbewusst erhoben. »Verzeih, Mutti, es war so interessant, dabei haben wir die Zeit vollkommen vergessen.«

»Wenn es nur das gewesen wäre! Aber die Szene, die ich gerade noch mitbekommen habe, würde ich nicht interessant nennen. Sie war, mit einem Wort gesagt, schamlos.«

Gabriele hatte sich lässig und in sichtlichem Widerstreben aus dem Sessel geschält und fragte in fast herausfordernder Art: »Wie alt muss man nach deiner Meinung eigentlich sein, Mutti, um derartige Filme sehen zu dürfen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Du tust ja, als seien wir erst zehn. Als ob wir nicht längst wüssten, um was es geht – bei dem Angebot von Sex, das wir heute haben.«

»Ich bin gerne bereit, Gabriele, an einem der nächsten Tage mit dir darüber zu sprechen. Aber jetzt verlange ich, dass ihr beide sofort zu Bett geht. Morgen früh seid ihr nicht ausgeschlafen, wenn ihr zur Schule müsst.«

»Du kannst dir deine Moralpredigt auf morgen oder übermorgen, oder wann du willst, sparen«, murmelte Gabriele wütend und verließ, ohne »gute Nacht« zu sagen, das Zimmer. »Einfach mitten im Film auszuschalten.«

Michaela aber legte die Arme um den Hals der Mutter. »Gabi war wieder einmal eklig zu dir, aber ich sage ihr nachher noch meine Meinung.«

»Ich glaube, das ist nicht nötig! Sie weiß selbst genau, dass sie sich im Ton vergriffen hat. Aber sie ist im Augenblick hin und her gerissen. Mir ist es lieber, wenn du gleich schläfst.«

»Gute Nacht, Mutti. Sei nicht traurig!«

»Schlaf gut, Michaela!«

Herbert Flemming war bereits zu Bett gegangen, lag aber noch wach, als seine Frau das gemeinsame Schlafzimmer betrat.

»Du hast es schön lange ausgehalten!« murrte er. »Ich dachte, du wolltest nur kurz zu Marie-Ann.«

»Das hatte ich auch vor. Ich habe dann gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verging. Es wäre gut gewesen, du hättest während meiner Abwesenheit einen Blick zu den beiden Mädchen ins Wohnzimmer hineingeworfen. Sie saßen bis jetzt vor dem Fernsehapparat und waren in einen eindeutigen Sexfilm vertieft.«

»Willst du mich dafür verantwortlich machen? Du hättest eben zu Hause bleiben müssen!« Er drehte sich verärgert auf die andere Seite.

»Ach, Herbert! Ich hatte einfach das Bedürfnis, ein wenig Abstand zu gewinnen von all dem, was der Tag an mich herangetragen hat. – Seit wann ist denn Gerold zu Hause?«

»Ich habe deinen lieben Gerold heute Abend noch nicht zu Gesicht bekommen! Wahrscheinlich ist er noch gar nicht da. Im Krankenhaus kann er allerdings um diese Zeit nicht mehr sein!«

Im gleichen Augenblick wurde die Etagentür aufgeschlossen. Er, von dem die Eltern soeben gesprochen hatten, betrat, nachdem er angeklopft hatte, ihr Schlafzimmer und sagte: »Seid ihr noch wach? Es ist heute später geworden als sonst, ich war noch in Susannes Wohnung, um einiges, was sie nötig braucht, für sie zu holen.«

Zu seinem Vater gewandt, fuhr er fort: »Du wirst heute Abend zu müde sein. Ich hätte sonst gerne mit dir und Mutter einiges Dringliche besprochen.«

Frau Flemming blickte ihren Mann fragend und zugleich bittend an. Sie selbst wäre bereit gewesen, den Sohn noch anzuhören, mochte aber nicht gegen den Willen ihres Mannes handeln.

Er erwiderte ziemlich kurz: »Erstens wird es nicht so dringlich sein, dass du nicht bis morgen warten kannst, zweitens bin ich viel zu müde, um mir jetzt noch ein langatmiges Gerede anzuhören. Ich will endlich meine Ruhe haben!«

»Es ist recht, Vater. Dann eben morgen. Schlaft gut!« Gerold warf der Mutter noch einen verständnisinnigen, warmen Blick zu. Dann schloss er behutsam die Tür hinter sich.

Zu gerne hätte Esther noch mit ihrem Mann über das Vorhaben des Sohnes gesprochen, aber sie hatte nicht den Mut dazu. So begab sie sich zu Bett und schaltete das Licht aus. Als sie ihre Hand zu Herbert hinüberstreckte, um ihm »gute Nacht« zu sagen, tat er, als ob er bereits schliefe. Aber sie wusste genau, dass er noch wach lag. So war er nun. Erst hatte er sie fortgeschickt, weil sie ihn beim Korrigieren der Hefte störte, und dann zürnte er ihr, dass sie es gewagt hatte, fortzugehen. Esther machte sich nun beinahe selbst Vorwürfe. Es wäre schon wegen der Zwillinge besser gewesen, zu Hause zu bleiben. Und doch hatte ihr die kurze Zeit bei der Freundin gutgetan.

Herbert, dachte sie, warum verschließt du dein Herz jetzt so vor mir? Glaubst du wirklich, dass es eine Zeit gibt, in der eine Frau es nicht bestätigt haben möchte, dass sie die Geliebte ihres Mannes geblieben ist, auch nach mehr als 20jähriger Ehe? Auch dann, wenn die körperliche Vereinigung nicht mehr unbedingtes Bedürfnis ist?

Um wieviel leichter würde ich manche der uns auferlegten Lasten tragen, wenn wir miteinander darüber sprechen und vor allem darüber beten würden. Warum lässt du mich so allein?