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Wien 1873. Der Aufstieg und Fall des Wiener Bankhauses Strauch - eine Geschichte über Börsenspekulanten, Bauherren und Immobilienhaie. Und über die kleinen Leute, die davon träumen, rasant reich zu werden. Im Dreivierteltakt des Wiener Walzers dreht sich alles immer schneller und schneller und die Menschen stürzen sich in finanzielle und erotische Abenteuer. Willkommen inmitten des Booms der Wiener Gründerzeit und dessen abruptem Ende, dem Börsenkrach am 9. Mai 1873.
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Seitenzahl: 354
Gerhard Loibelsberger
Alles Geld der Welt
Ein Roman aus dem alten Wien
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Kiss_-_Gustav_Klimt_-_Google_Cultural_Institute.jpg
ISBN 978-3-8392-6578-9
Für meine Frau Lisa, die mich gedrängt hat,dieses Buch zu schreiben.
Eduard von Bauernfeld (1802 – 1890): Schriftsteller, Hausdichter des Burgtheaters
Gustav Ritter von Boschan (1841 – 1873): Entrepreneur und Spekulant
Samuel Deutsch (1818 – 1873): Börsenagent und Spekulant
Elisabeth (Sisi) (1837 – 1898): Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn
Gustav Ritter von Epstein (1828 – 1879): Bankier und Industrieller
Cajetan Felder (1814 – 1894): Jurist, Wiener Bürgermeister
Georg Graf Festetics de Tolna (1815 – 1883): ungarischer Politiker
Ferdinand I. (1793 – 1875): Kaiser von Österreich, König von Ungarn
Franz Josef I. (1830 – 1916): Kaiser von Österreich, König von Ungarn.
Eduard Lasker (1829 – 1884): Jurist, deutscher Politiker
Erzherzog Karl Ludwig (1833 – 1896): Bruder des Kaisers, Protektor der Weltausstellung
Ferdinand Kürnberger (1821 – 1879): Schriftsteller und Feuilletonist
Karl Loibelsberger (1845 – 1927): Schriftsetzer, Metteur en page, Urgroßvater des Autors
Max Modern (1833 – 1873): Börsenagent und Spekulant
Johann Baptist Placht (1838 – ?): Bankier und Betrüger
Salomon Freiherr von Rothschild (1774 – 1855): Bankier und Industrieller
Ferdinand von Saar (1833 – 1906): Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker
Eduard Sacher (1843 – 1892): Feinkosthändler, Restaurantbesitzer
Wilhelm Freiherr von Schwarz-Senborn (1816 – 1903): Generaldirektor der Weltausstellung
Adele Spitzeder (1832 – 1895): Betrügerin
Eduard Strauß (1835 – 1916): Komponist, Kapellmeister
Johann Strauß (1825 – 1899): Komponist, Kapellmeister, Walzerkönig
Moritz Szeps (1835 – 1902): Journalist, Herausgeber, Zeitungszar
Philipp Graf Stadion (1763 – 1824): österreichischer Außenminister und Finanzminister
Adolf Taußig (1840 – 1873): Bankkassier und Spekulant
Leopold Ritter von Wertheimstein (1801 – 1883): Bankier, Vizepräsident der Creditanstalt
Josephine von Wertheimstein (1820 – 1894): Salonière, Gattin von Leopold von Wertheimstein
Da lag er nun. Der alte Rosenstrauch. Kein Wimpernschlag, kein Schnaufer, kein Garnichts. Bleich und wächsern die Züge, der Körper in Totenstarre. Jetzt steht er vor Gott dem Herrn und wird Rechenschaft ablegen über sein Leben, dachte Heinrich von Strauch und musste lächeln. Reich, ja überreich, so konnte man die fünfundachtzig Lebensjahre seines Vaters mit Fug und Recht bezeichnen. Geboren als Sohn eines jüdischen Pfandleihers in Wien, hatte sich der junge Aaron Rosenstrauch emporgearbeitet zum allseits geachteten und mit allen irdischen Gütern gesegneten Bankier Antonius von Strauch. Dazu gehörte das Konvertieren zum katholischen Glauben ebenso wie die absolute Treue zum Kaiserhaus. Begonnen hatte alles im Jahr 1814. Wien war damals der Mittelpunkt Europas, wenn nicht gar der gesamten zivilisierten Welt. Auf Einladung des österreichischen Kaisers trafen sich hier die regierenden Fürsten Europas. Nachdem sie Napoleon niedergerungen hatten, galt es nun, das napoleonische Reich auszuweiden. In der blutig aufgebrochenen Karkasse des französischen Kaiserreiches wühlten nun mit gierigen Händen diejenigen, die den französischen Kaiser und seine einst so glorreiche Armee besiegt hatten. Es ging um die Neuordnung Europas. Und da nicht nur verhandelt, intrigiert, gefeilscht und debattiert, sondern auch gefeiert, getafelt und getanzt wurde, verschlang der Wiener Kongress ungeheuer viel Geld. Geld, das der österreichische Kaiser nicht hatte und das ausgeborgt werden musste. So kam es, dass der junge Geldverleiher Aaron Rosenstrauch zu einer Audienz bei Graf Stadion, dem seit Kurzem amtierenden kaiserlichen Finanzminister, gebeten wurde. Letzten Oktober hatten sie sich bei einem Volksfest im Park des Palais Augarten kennengelernt. Als sie einander neuerlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, hielt sich Graf Stadion nicht lange mit Begrüßungs- oder Höflichkeitsfloskeln auf, sondern kam sofort zur Sache:
»Rosenstrauch! Soweit ich mich entsinne, ist Er Geldverleiher, net wahr?«
»Jawohl, Exzellenz.«
»Ausgezeichnet. Ist Er liquid?«
»Die Geschäfte könnten schlechter gehen …«
»Formidable! Dann kann Er ja dem österreichischen Ärar1 hunderttausend Gulden leihen.«
Wann immer Antonius von Strauch in späteren Jahren diese Episode seinem Sohn, seiner Familie oder Freunden erzählte, machte er ein bekümmertes Gesicht und seufzte tief. Denn die gewaltige Summe von hunderttausend Gulden hatte er natürlich nicht verfügbar. Dennoch trieb er sie binnen einer Woche auf und ließ sie Graf Stadion zukommen. Ein Batzen Geld, den er zu einer Verzinsung von sieben Prozent an den Staat verlieh. Das war der erste entscheidende Schritt zur Gründung der späteren Privatbank A. Strauch. Ab diesem Zeitpunkt zählte er zum exklusiven Kreis der Finanziers des österreichischen Kaiserhauses sowie des österreichischen und ungarischen Hochadels. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufstieg des Aaron Rosenstrauch hatte begonnen. Und während Salomon Rothschild die politischen und privaten Aktivitäten des Fürsten Metternich finanzierte, lieh Aaron Rosenstrauch dem Grafen Stadion, dessen Sohn und dessen adligen Freunden Geld. Als die Rothschilds 1817 das Adelspatent zugestanden bekamen und ein »von« in ihrem Namen führen durften, erblasste Aaron Rosenstrauch vor Neid. Als sie 1822 vom Kaiser schließlich sogar in den Freiherrenstand erhoben wurden, bekam er infolge von inbrünstig empfundenem Ärger und unermesslicher Missgunst einen leichten Schlaganfall. Sein Puls raste, sein Schädel war tagelang blutrot, Schwindel- und Ohnmachtsanfälle plagten seinen Körper, und als Folge zog er seit damals den linken Fuß etwas nach. Als er sich schließlich gesundheitlich erfangen hatte, begann er, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um ebenfalls in den Adelsstand erhoben zu werden. Himmel und Hölle im sprichwörtlichen Sinn, denn im Zuge seiner Bemühungen riskierte er sogar sein Seelenheil, indem er der Religion seiner Väter abschwor und vom jüdischen zum christlichen Glauben konvertierte. Eine Tat, die er wie folgt kommentierte:
»Ich will den Adelstitel. Auch wenn ich dafür muss schmoren Tausend Jahr in der Hölle.«
Da Aaron Rosenstrauch keine halben Sachen machte, ließ er er auch gleich seinen Namen ändern. Mit Bedacht wählte er Antonius als seinen christlichen Taufnamen. Schließlich war Antonius jener Heilige, an den man sich wendete, wenn man etwas Verlorenes zurückgewinnen beziehungsweise wiederfinden wollte.
»Möge der heilige Antonius mir allzeit beistehen, dass ich gutes Geld, was ich verleih’, auch zurückbekomm’.«
Mit der Taufe verband er eine Änderung des Familiennamens. Er ließ die ersten beiden Silben streichen, und so wurde aus dem jüdischen Geldverleiher Aaron Rosenstrauch der katholische Bankier Antonius Strauch. Dieser Schritt erschloss ihm eine Reihe von neuen, vor allem magyarischen Kunden. Das war kein Wunder, schließlich wusste alle Welt, dass große Teile des ungarischen Adels antisemitische Ressentiments hegten. Eine Tatsache, die ihm ein ungarischer Magnat unverblümt ins Gesicht sagte:
»Ich mag keine Juden. Da Er sich aber hat taufen lassen, ist Er ein christlicher Jud’ und somit unser Jud’.«
Das Konvertieren zum christlichen Glauben ermöglichte Antonius Strauch, Grundbesitz zu erwerben. Ein Recht, das Juden in Wien, mit wenigen Ausnahmen und Unterbrechungen, bis 1860 nicht zugestanden worden war und worauf sogar der mittlerweile steinreiche Salomon Rothschild jahrzehntelang hatte warten müssen. Erst 1843, als er zum Ehrenbürger der Stadt erklärt wurde, konnte Salomon Rothschild in Wien Grundbesitz erwerben. Antonius von Strauch hatte für Salomon Rothschilds Festhalten am mosaischen Glauben nur Kopfschütteln über. Während dieser als Jude sein Geld nur in Aktien und Wertpapiere anlegen konnte, investierte Strauch massiv in Immobilien. Dafür hielt er sich an der Börse zurück und verlieh auch nicht an Krethi und Plethi Geld, sondern nur an seine altbewährte adelige Klientel. Dies führte dazu, dass das Bankhaus A. Strauch bei Weitem nicht so gewaltige Dimensionen und Umsätze hatte wie das der Rothschilds. Antonius von Strauch arbeitete lieber leise und wenn möglich im Verborgenen. Seine Leidenschaft war das Horten von Immobilien. Immer wenn er eine Liegenschaft erworben hatte, murmelte er:
»Ich bin doch nicht meschugge, dass der Herrgott meine Geschäfte behindert. Ein Herrgott ist so gut wie der andere. Aber jede Immobilie ist und bleibt einzigartig.«
Als im Frühjahr 1848 die Revolution in Wien ausbrach, begleitete Antonius von Strauch die kaiserliche Familie in ihr Exil nach Innsbruck. Dort knüpfte er noch engere Kontakte zum kaiserlichen Hof, indem er den hohen Herrschaften in ihrer Not Finanzhilfe gab. Dies war ihm im Gegensatz zu Salomon Rothschild und anderen Wiener Bankiers möglich, da er mittlerweile ertragreiche Immobilien in Ober- und Niederösterreich sowie in der Steiermark besaß. Zu dieser Zeit lernte er auch den jungen Erzherzog Franz Josef kennen, der im Herbst 1848 als Regent die Nachfolge seines Onkels Ferdinand antrat.
»Ja, mein Herr Papa hat schon einen guten Riecher fürs G’schäft und die richtigen Freunderln gehabt«, seufzte Heinrich von Strauch, als er die harten, nunmehr leblosen Gesichtszüge seines Vaters anstarrte. Ein Klopfen an der Tür des Aufbahrungsraums riss ihn aus der Fortführung seiner Erinnerungen. Er strich mit der Hand über sein Gesicht, atmete tief durch und sagte leise:
»Ja, bitte.«
Die Tür wurde geöffnet, Jean, der Kammerdiener des Vaters, trat ein, verbeugte sich und sagte:
»Herr Baron, Ihr Herr Schwiegervater wünscht Sie zu sprechen.«
Heinrich von Strauch atmete erneut tief durch und dachte: Jössas na! Den hab’ ich gerade noch gebraucht. Laut sagte er aber:
»Sag Er ihm, ich sei außer Haus gegangen.«
Jean verbeugte sich neuerlich und replizierte:
»Herr Baron, Sie mögen bedenken, dass Ihr Herr Schwiegervater von Ihrer Frau Gemahlin unterrichtet worden war, dass Sie hier seien und dass der Zeitpunkt günstig für einen Kondolenzbesuch sei.«
Möge, sei, seien … Wie er diese Konjunktive hasste. Himmelherrgott, man hatte nicht einmal etwas Ruhe, wenn man Totenwache am Sterbebett seines Vaters hielt. Immer hieß es: Möge er doch, sollte er doch, wäre es angeraten. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte er eine Zeit lang vor sich hin. »Ins Narrenkastl schaun« hatte sein Vater diese Angewohnheit genannt. Mein Gott, wie oft hatte er ihn deshalb gemaßregelt.
»Heinrich, reiß dich zusammen. Man schaut nicht ins Narrenkastl. Das tut man nicht. Das ist nichts als verlorene Zeit. Wenn dich wer so sieht, denkt er, du seist meschugge.«
Seist! Schon wieder so ein Konjunktiv. Er atmete neuerlich tief durch. Die Luft in der Kammer war stickig. Nicht zuletzt wegen der unzähligen Kerzen, die hier brannten und die zum Teil bereits verloschen waren. Der Rauch, den sie beim Absterben von sich gegeben hatten, war würzig und bitter und vermischte sich mit dem merkwürdigen Odeur, das vom Körper des Toten ausging.
Plötzlich musste er schmunzeln. Der Geruch ging nicht von dem Toten, sondern von seinem Frack aus. Da sein Herr Papa in den letzten Jahren an keinerlei Festivitäten mehr teilgenommen hatte, war das gute Stück lange Zeit verwaist im Kleiderschrank gehangen. Eingebettet zwischen Kampferkristallen und Lavendelbüscheln. Heinrich von Strauch schüttelte die Erinnerungen ab, räusperte sich und sagte:
»Er soll eintreten, der Herr Schwiegerpapa.«
*
Der 6. Oktober 1814 war ein strahlend schöner Herbsttag. Nach einem ausgiebigen Mittagessen mit seiner Mutter und seinen beiden jüngeren Schwestern zog sich Aaron Rosenstrauch in seine Kammer zurück. Er ließ sich auf der Récamière nieder, stopfte seine Meerschaumpfeife, entzündete den Tabak, lagerte die Beine hoch und blies kleine Wölkchen in die Luft. Er genoss es, heute nicht zu arbeiten. Das Geschäft – Pfandleihanstalt und Geldverleih –, das sein Vater aufgebaut hatte und das er nach dessen frühem Tod erfolgreich weiterführte, blieb heute geschlossen.
»G’schäft wird’s heute nicht viel geben. Nur Tinnef. Und für Tinnef sperr’ ich net auf. Zahlt sich net aus.«
Solche und ähnliche Entschuldigungen vor sich hin brabbelnd, lag er da, rauchte und erinnerte sich an den vergangenen Sonntag zurück. Unglaublich! Die große Hofredoute! Gut und gerne zehntausend Menschen drängten in die Räumlichkeiten der Hofburg. An die achttausend Wachskerzen beleuchteten die ungeheuren Säle. Die Estraden waren durchgängig mit Samt bedeckt. Der aus den Gemächern der kaiserlich-königlichen Burg führende Gang war mit Blumen und Gesträuchen geschmückt, der anschließende kleine Redoutensaal glich einem Feenhain. Durch eine Allee von Orangenbäumen gelangte man in den großen Saal, aus dem sich eine wahrhaft zauberische Aussicht in die kaiserlich-königliche Reitschule eröffnete. Diese edle Halle war zu einem Tanzsaal umgestaltet und in den Farben Blau und Silber dekoriert. Fünf- bis sechstausend Wachskerzen sorgten für eine wundervolle Beleuchtung. Auf dem Parkett tanzte eine dicht wogende Menschenmenge zu den Klängen eines hundertköpfigen Orchesters. Nach zehn Uhr abends kündeten Pauken und Trompeten die Ankunft der Allerhöchsten und Höchsten Herrschaften an. Der Kaiser von Russland und die Kaiserin von Österreich eröffneten den Zug. Es folgten paarweise der österreichische Kaiser und die russische Kaiserin, der König von Dänemark und die Großherzogin Beatrix, der König von Preußen und die Königin von Baiern, gefolgt vom König von Baiern und der Herzogin von Oldenburg und so weiter und so fort. Nachdem die Herrschaften die Säle mehrmals durchschritten hatten, geruhten sie von einer Estrade der Hofreitschule einem Ballett maskierter Kinder zuzusehen. Danach lustwandelten die Hoheiten bis nach Mitternacht durch die Säle. Das Fest selbst dauerte bis gegen Morgen fort. Die ganze Nacht hindurch wurden alle Arten von Speisen, Getränken und Erfrischungen auf das Reichlichste serviert. Lächelnd erinnerte sich Aaron Rosenstrauch an eine Unterhaltung mit einem Hofbeamten, die er erst gestern geführt hatte. Dieser beklagte lauthals, dass nach dem großen Fest ein Viertel von den zehntausend mit der kaiserlichen Krone geprägten Tee- und Eislöffeln fehlte. Rosenstrauch hatte ihn mit folgender Plattitüde getröstet:
»Ja, das ist Wien. Da kann man nichts machen.«
Genauso, wie man nichts dagegen machen konnte, dass die Hofbediensteten, die die Eintrittskarten zur Hofredoute den geladenen Gästen beim Eintritt abnahmen, diese sogleich an nicht geladene vor dem Tor wartende Wienerinnen und Wiener verkauften. So hatte auch Aaron Rosenstrauch Einlass gefunden. Den Kartenkauf tätigte er nicht aus Vergnügungssucht, sondern aus kaufmännischem Kalkül. Sein Bestreben war es gewesen, Herren des Adels kennenzulernen und sich ihnen bei dieser Gelegenheit als Geldleiher anzudienen. Leider war in dem Gedränge der Massen kein interessanter Kontakt zustande gekommen. Umso gespannter hatte er auf den heutigen Tag gewartet. Auf das Volksfest im Augarten. Auch hierher würden die Massen strömen, da der Eintritt in diesem Fall frei war. Aber im riesigen Park des Augartenpalais würden sich die Massen verlaufen. Und er, Aaron Rosenstrauch, würde sich gezielt in der Nähe der für die Souveräne und Berühmtheiten des Wiener Kongresses errichteten Tribünen herumtreiben. Knapp vor drei Uhr nachmittags stand er auf, schlüpfte in sein bestes Ausgehgewand, platzierte keck den Chapeau Claque2 auf seinem Haupt, griff zum Spazierstock und verließ flotten Schrittes sein in der Nähe der Karmeliterkirche gelegenes Wohnhaus. Zehn Minuten später befand er sich inmitten einer Menschenmenge, die in den Park des Augartenpalais strömte. Gegen fünf Uhr kamen dann die Allerhöchsten und Höchsten Herrschaften mit ihrem Gefolge, und das Fest nahm seinen Lauf. Begleitet von militärischer Musik zogen vierhundert zum Fest geladene Invaliden der napoleonischen Kriege ein. Sie marschierten an der Hofloge vorbei und nahmen in eigens für sie errichteten Zelten Platz, wo sie bewirtet wurden. Darauf begannen Spiele aller Art. Von diversen Wettläufen über ein Rennen kleiner orientalischer Pferde bis hin zu Kunstreiter-Vorführungen und choreografierten gymnastischen Übungen. Links vom Schloss hatte man einen hundert Fuß3 hohen Mast errichtet, auf dem ein hölzerner Vogel saß. Auf ihn schoss, sehr zum Gaudium der Zuschauer, eine Gruppe Tiroler Schützen mit Armbrüsten. Schließlich erhob sich auch ein Heißluftballon in die Lüfte. Der in dem Ballonkorb befindliche Aeronaut schwenkte, als er über die Köpfe der zwanzigtausend Menschen zählenden Menge schwebte, die Fahnen der in Wien anwesenden Regenten. In den verschiedensten Bereichen des Schlossparks spielten Orchester, in vier elegant dekorierten Zelten führten Böhmen, Ungarn, Österreicher und Tiroler in den malerischen Trachten ihrer Länder Nationaltänze auf. Die Allerhöchsten und Höchsten Herrschaften hatten mittlerweile die Tribünen verlassen, mischten sich ohne Begleitung unters Volk, beobachteten amüsiert das bunte Spektakel und plauderten auch mit den einfachen Menschen. Als es allmählich dämmerte, brachten die unzähligen herumschwirrenden Hofbediensteten hunderttausend Laternenlampen zum Leuchten. Sie schafften eine zauberhafte Atmosphäre, die durch ein Feuerwerk, das man vor dem Schloss abbrannte, noch märchenhafter wurde. Zu diesem Zeitpunkt machte Aaron Rosenstrauch die Bekanntschaft mit Philipp Graf Stadion, der bis vor Kurzem Außenminister des Kaisers war. Rosenstrauch plauderte mit ihm über die Faszination von Feuerwerken und über die Kosten all der Festivitäten des Wiener Kongresses. Graf Stadion warf einige Zahlen, die ihm bekannt waren, ein und äußerte seine Skepsis darüber, wie der Ärar all das wohl finanzieren wolle. Ohne Anleihen und Kredite werde es wohl nicht gehen, replizierte Rosenstrauch und präsentierte dem Grafen seine Geschäftskarte. Auf feinstem Büttenpapier standen nur drei Worte: Aaron Rosenstrauch, Geldverleiher.
*
Der Kondolenzbesuch seines Schwiegervaters Johann Ritter von Nordberg war kurz und höflich. Heinrich von Strauch verspürte keinerlei Sympathie oder Mitgefühl. Nun, er hatte nichts anderes erwartet. Schließlich hatte sein Schwiegervater nur nach massivem Druck, den der alte Strauch ausgeübt hatte, der Vermählung seiner Tochter Liebtraud mit Heinrich zugestimmt. Den Druck seines Vaters hatte auch Heinrich zu spüren bekommen. Ihm war damals so gut wie nichts an der blutjungen Liebtraud gelegen. Seine Liebe galt den drallen Mädeln aus der Vorstadt. Ihre strammen Waden, neckischen Bäuchlein und prallen Tutteln4 waren seine Passion. Die magere, anämische Erscheinung Liebtrauds sprach ihn ganz und gar nicht an. Obgleich er ihr zugestehen musste, dass sie dichte blonde Locken, ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht sowie schlanke, elegant wirkende Arme und Beine hatte. Auch war das Mädel nicht ungebildet. Von ihrem sechsten Lebensjahr an war sie von einer strengen Gouvernante sowie von erstklassigen Hauslehrern erzogen worden. Aber genau dieser Umstand störte ihn. Liebtrauds Ausstrahlung war die eines Engels. Heinrich von Strauch bevorzugte aber weibliche Bengel: ungezogene, wilde, ordinäre Mädeln. Doch so eine heiratete man in seinen Kreisen nicht. Und da ihm sein Herr Papa mit dem Entzug der finanziellen Alimentationen drohte, willigte er in die Heirat ein, die für ihn nichts anderes als eine strategische, pekuniäre Aktion war. Antonius von Strauch investierte anlässlich der Vermählung seines Sohnes eine hohe sechsstellige Summe in die Ziegelwerke und Schottergruben, die Liebtraud von Nordbergs Vater gehörten. Damit verhinderte er den Konkurs des alten Nordberg und übernahm gleichzeitig Anteile an dem Unternehmen. So wenig erfreulich die Ehe zwischen Liebtraud und Heinrich verlief, so positiv entwickelten sich die kommerziellen Belange der Nordberg Werke. Binnen weniger Jahre produzierten sie wieder satte Gewinne. Auch deshalb, weil Johann Ritter von Nordberg bei wichtigen Entscheidungen in seinem Unternehmen immer die Zustimmung des Baron Strauch einholen musste. Insofern war es nicht verwunderlich, dass ihn das Ableben des alten Strauch nicht sonderlich grämte. Nun gut, dachte Heinrich von Strauch, der Pietät und den Konventionen war Genüge getan. Er stand auf, rief Jean und befahl, die Kerzen, die rund um den Aufgebahrten ihr flackerndes Licht verbreiteten, zu löschen. Er spazierte durch die riesige Wohnung, die sich in der Beletage des Barockpalais befand, in dem sein Herr Papa gewohnt hatte. Plötzlich standen mit gebeugten Köpfen das persönliche Dienstmädel des Alten sowie die Köchin Ottilie, die er seit Kindheitstagen kannte, vor ihm. Beide machten höfliche Knickse.
Er wandte sich an das Dienstmädel:
»Bring’ Sie mir Hut und Überzieher. Ich werd’ jetzt was essen gehen. Ich verspür’ nämlich einen zarten Appetit.«
Die Köchin drängte sich vor und verkündete diensteifrig:
»Gnä’ Herr, ich moch Ihnen gern wos zum Essen. Sie müssen mir nur sagen, wos. Und Wein hamma a an guadn. Gell, Resi?«
Das Dienstmädel nickte, und während sie ihm in den Überzieher half, flötete sie:
»Soll i dem gnä’ Herrn vielleicht einen Gumpoldskirchner aufmachen?«
Heinrich von Strauch winkte dankend ab, sah sich aber das Mädel erstmals genauer an. Sie hatte rote Backen, ein üppiges Dekolleté, pechschwarze Augen und ebensolches Haar. Das war ihm bisher bei den Besuchen seines Vaters glatt entgangen. Einem spontanen Impuls folgend, griff er ihr an den Hintern. Resi kreischte kokett. Heinrich von Strauch war äußerst angetan, denn für einige Sekunden hatte er ein wunderbar dralles Hinterteil in der Hand gehabt.
Als er hinaus auf die Bräunerstraße trat, drehte er sich um und blickte empor. Dieses barocke Palais, das sein Vater 1849 erworben hatte, würde er nun erben. Genauso wie die Dienstboten seines Vaters. Am liebsten würde er sie vor die Tür setzen, aber das gebührte sich nicht. Außerdem stellte Resis – die Kleine hieß doch Resi? – praller Hintern einen nicht zu unterschätzenden Teil des väterlichen Erbes dar. Bei seinem Eheweib würde er allergrößten Argwohn erwecken, wenn er nur die Köchin und die patschierliche5 Resi in seinen eigenen Haushalt übernähmen täte. Also musste er auch den Kammerdiener, die Hausknechte, den Kutscher und alle anderen Dienstboten weiterbeschäftigen.
Als er den Graben überquerte, pfiff ihm eisiger Wind um die Ohren, und er beschloss, in das nächstgelegene Restaurant zu gehen. Er steuerte das barocke, von zwei mächtigen Atlanten flankierte Tor des Trattnerhofs an, durchschritt die Passage desselben und betrat die Restauration Zur großen Tabakspfeife. Er nahm nicht in dem von einem gewölbten Glasdach bedeckten Speisesaal, wo die der Restauration den Namen gebende große Pfeife in luftiger Höhe hing, Platz, sondern suchte sich einen freien Tisch in einem Stüberl. In diesem Raum war nur ein weiterer Tisch besetzt. An ihm saß ein etwa fünfzigjähriger Mann mit mächtigem Bart, der ihm auf eine Weise, die er nicht näher erklären konnte, bekannt vorkam. Beim erst nach einiger Zeit des Wartens erscheinenden Ober – eine Kellner-Unsitte, die in Wiener Lokalen seit jeher üblich war – orderte Heinrich von Strauch ein Krügel Bier. Er musste den Geruch von Kerzenrauch, Naphtalin und Kampfer, der ihm durch die Nase bis in den Rachen hineingekrochen war, fortspülen. Als der Ober mit dem Krügel daherkam, bestellte er eine Lungenstrudelsuppe und einen faschierten Rostbraten. Mit einer angedeuteten Verbeugung murmelte der Kellner »Bitte sehr, der Herr« und verschwand in Richtung Küche. Der andere Gast sah von seiner Zeitungslektüre auf, nickte ihm zu und sagte:
»Eine ausgezeichnete Wahl, die Sie da getroffen haben. Ich hatte auch den faschierten Rostbraten, und er war vorzüglich.«
»Sind Sie des Öfteren hier?«
»Wenn ich in der Stadt bin, schon. Es geht schließlich nichts über eine anständige Wiener Küche.«
Die sich anbahnende Unterhaltung wurde vom Ober, der die Suppe servierte, unterbrochen. Der andere Gast wünschte »Einen guten Appetit!«, und Heinrich von Strauch begann zu speisen. Er genoss die kräftige Rindssuppe, in der sich ein großes Strudelstück befand. Die Fülle war ein delikates Gemisch aus feinst geschnittenen Kalbslungenstücken, Butter, Bröseln, Eiern und allerlei Gewürzen. Vor allem der in der Fülle reichlich vorhandene Majoran entzückte seinen Gaumen. In der Zwischenzeit wurden dem Herrn am Nebentisch Palatschinken6 serviert. Heinrich von Strauch bestellte sich ein zweites Bier und grübelte nach, wo er seinen Tischnachbarn schon einmal gesehen haben könnte. Dessen bärtiges Antlitz kam ihm so unglaublich bekannt vor. Dann wurde der faschierte Rostbraten serviert. Auf dem Teller vor ihm lag ein eingerolltes Rostbratenstück, das sich inmitten einer Sauce aus passiertem Wurzelwerk befand. Dazu wurden Nockerln7 gereicht. Die in der Rolle enthaltene Fülle bestand aus faschiertem Rostbratenfleisch, das mit Rindermark, Zwiebeln, Sardellen, Kapern, ausgedrückten Semmeln sowie Limonischalen vermischt und verfeinert worden war. Ein wahres Gedicht! Er aß mit großem Appetit und nicht unbeträchtlichem Tempo. Sodass er schlussendlich gleichzeitig wie sein Nachbar mit dem Essen fertig war. Dieser hatte seine Palatschinken in aller Ruhe verspeist und dazu in der Zeitung geblättert. Heinrich von Strauch schnaufte zufrieden und seufzte:
»So! Jetzt brauch ich ein Verdauungsschnapserl.«
Sein Tischnachbar blickte von seiner Lektüre auf und brummte:
»Das ist eine hervorragende Idee.«
Heinrich von Strauch, den nun wieder die Neugier überkam, wer sein Nachbar wohl sei, lud ihn auf einen Barack ein. Diese Einladung wurde mit einem freundlichen Nicken angenommen, und als der Ober die Schnäpse serviert hatte, erhob er sein Glas:
»Sehr zum Wohl! Ich heiß’ übrigens Heinrich von Strauch. Prost!«
»Prost! Ich bin der Ferdinand Kürnberger.«
»Ah! Der Schriftsteller und Feuilletonist.«
Kürnberger nickte.
»Erst letzten Samstag habe ich einen Artikel von Ihnen gelesen. In der Presse war das …«
»Ja, ja, darüber, wie sich Wien derzeit verändert.«
»Sie haben bemäkelt, dass sich Wien in die falsche Richtung entwickelt.«
Kürnberger lächelte und replizierte:
»Und das in mehrfacher Hinsicht. Wien gehört ans Wasser!«
»Wie meinen S’ denn das?«
»Nun, dass Wien ans Wasser gehört!«
»Sie glauben tatsächlich, die Stadterweiterung Wiens sollte sich zur Donau hin erstrecken?«
»Dass sich Wien derzeit nach der Landseite entwickelt, ist höchstens das erste, aber nimmermehr das letzte Wort der Stadterweiterung. Jede Stadt, welche an einem schiffbaren Fluss liegt, besitzt verhältnismäßig mehr Hafenleben als Wien. Die Landstadt Wien hat seit jeher eine kindische Furcht, sich die Füße nass zu machen. Ich kenne keine andere Stadt, die an einem Fluss liegt und die sich von diesem im Zug ihrer Erweiterungen fortbewegt.«
Nachdenklich orderte Heinrich von Strauch neuerlich eine Runde Schnaps, nachdem er Kürnberger der Ordnung halber gefragt hatte.
»Das ist ein sehr interessanter Denkanstoß, den Sie mir da gegeben haben. Ich bin nämlich Bankier und Bauherr. Vielleicht sollt’ ich mir wirklich Gedanken über Bauprojekte machen, die an der Donau liegen.«
Kürnberger nickte und begann zu philosophieren:
»Wissen Sie, die paar Milliarden Ziegel, die in den letzten Jahren in Wien verbaut wurden, verherrlichen die Stadt noch lange nicht so wie die alten Erinnerungen, die mich zum Beispiel am Lugeck oder am Hafnersteig überkommen.«
Der Schnaps wurde serviert, die beiden Herren prosteten einander zu, während Heinrich von Strauch fragte:
»Sie sind nicht ständig in Wien?«
»Nein. Ich habe in den letzten Jahren in allen möglichen deutschen Städten gelebt. Aber von Zeit zu Zeit sehe ich die Alte gern.«
Kürnberger nahm einen Schluck Schnaps und fuhr dann fort:
»Mit der Alten meine ich meine Heimatstadt Wien.«
1Staat
2 Zylinder
3 circa 31 Meter
4Brüste
5fesche
6 Pfannkuchen
7Spätzle
Die Messerklinge näherte sich schwungvoll seinem Hals. Nur nicht bewegen. Nicht zucken. Nicht durchatmen. Das kalte Metall setzte oberhalb des Kehlkopfs an und glitt dann energisch seinen Hals hinab. Brennender Schmerz.
»Hab’ ich Ihnen weh’tan? Nix is g’schehn. Ein kleines Ritzerl nur. Ein bisserl einen Schwamm drauf, und das Bluten is augenblicklich gestillt. So. Is’ schon wieder in Ordnung.«
Heinrich von Strauch atmete tief durch, bevor er seinen Hals aufs Neue darbot und es ihm schien, dass er sich dem Barbier auf Leben und Tod überantwortete.
»Und, Herr Baron, wie laufen die Geschäfte?«
»Ausgezeichnet. Danke der Nachfrage.«
»Ich hätt’ a bisserl was auf die Seite gelegt. Wollen der Herr Baron mir nicht endlich einmal ein paar Aktien verkaufen? Ich hab’ Sie ja schon vor einigen Monaten einmal g’fragt. Aber da haben Sie sich taub gestellt.«
Strauch musste sich eisern beherrschen, um nicht das Gesicht zu verziehen und dadurch ein neues Ritzerl zu riskieren. Nein, seinem Barbier würde er auch in Zukunft kein einziges Wertpapier verkaufen. Da konnte er ihn noch so anflehen. Vor drei oder vier Jahren wäre das vielleicht erwägenswert gewesen, aber nicht heutzutage. Die Lage an der Börse war viel zu instabil. Dazu kam, dass die allermeisten Wertpapiere, mit denen an der Börse gehandelt wurde, nur einen Bruchteil ihres derzeitigen Kurses wert waren. Ein Faktum, das für ihn als Börsenfachmann und Spekulant evident, das aber dem normalen Bürger, der ein bisschen Erspartes im Sparstrumpf hatte, völlig unklar war. Also würde er dem Mann, dem er mehrmals in der Woche seinen nackten Hals zum Rasieren darbot, keinesfalls etwas verkaufen. Mochte der ihn noch so bedrängen. Es war lachhaft, dass die einfachen Leute glaubten, die Bäume der Börse würden ad infinitum in den Himmel wachsen. Mit diesen Deppen, er konnte kein anderes Wort für sie finden, hatte er seit Jahren ein beachtliches Vermögen verdient. Wobei die Deppen, die vor etlichen Jahren eingestiegen waren, bis zum heutigen Tage erstaunliche Gewinne erzielen konnten. Ihrer Gier verdankte er seinen Erfolg. Denn seine Klienten gaben sich mit einmal erzielten Gewinnen nicht zufrieden. Im Gegenteil, sie konnten den Hals nicht voll genug bekommen. Und das hatte ihn dazu veranlasst, die Schlagzahl seiner geschäftlichen Aktivitäten zu erhöhen. In den letzten Jahren hatte er immer wieder neue Gesellschaften gegründet, deren Aktien er umgehend an die Börse gebracht und mit einem saftigen Emissionsaufschlag verkauft hatte. Obwohl die meisten dieser Gesellschaften vorerst keinerlei nennenswerte Geschäftstätigkeit vorweisen konnten, waren ihm ihre Aktien aus der Hand gerissen worden. Wie die warmen Semmeln dem Bäcker in der Morgenstunde. Warum er diesen Irrwitz betrieb? Nun, er hatte bisher Glück gehabt. Die von ihm gegründeten Aktiengesellschaften entwickelten sich recht respektabel, obgleich ihre Gründung vorerst auf reiner Spekulation beruht hatte und sie anfangs meist über kein solides finanzielles Fundament verfügt hatten. Was ihn aber wirklich antrieb, war das Ausreizen der Möglichkeiten im großen Börsen-Spekulationsspiel. Er beherrschte nicht nur die Regeln, nach denen dieses Spiel ablief, er bestimmte sie zum Teil auch mit. Das gab ihm in guten Stunden ein Gefühl von Größe, Überlegenheit und Macht. In weniger guten Stunden, wenn der Gewissenswurm zu nagen begann, erschien ihm seine Tätigkeit eine perfide Rosstäuscherei zu sein, bei der er Gott und die Welt betrog. Aus seinem Beuschel8 kroch in solchen Momenten ein unbehagliches Gefühl hinauf ins Gehirn, das ihn ganz desperat machte. Eine Verstimmung des Gemüts, die ihn im Laufe der letzten Monate immer öfters ereilte. Genauer gesagt seit dem Herbst letzten Jahres, als zahlreiche börsennotierte Werte zu wanken begonnen hatten und ein Zusammenbruch vor der Tür zu stehen schien. Doch plötzlich hatte sich das Blatt gewendet. Die kommende Weltausstellung und die damit verbundene Euphorie hatten die düsteren Wolken vertrieben, und er hatte die Anteile an einigen der von ihm gegründeten Gesellschaften mit stattlichem Gewinn verkaufen können. Trotzdem hatte Heinrich von Strauch seit damals immer wieder schlaflose Nächte. Er träumte, dass er völlig mittellos in einem Erdloch hauste und hungerte. Ungewaschen, in Fetzen gehüllt, mit wild wucherndem Haupt- und Barthaar. Wenn er aus diesem immer wiederkehrenden Albtraum hochschreckte und sich danach bis zum Morgengrauen im Bett hin- und herwälzte, beherrschte ihn ein Gedanke: Dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis all die an der Wiener Börse notierten windschiefen, unterkapitalisierten Aktiengesellschaften als Leichen die Donau hinunterschwimmen würden.
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»So da! Fertig samma. Guad is gangen, nix is g’schehn.«
Er schreckte aus seiner Grübelei hoch. Mit Wohlgefallen registrierte er, dass die Haut seiner Backen glatt wie ein Kinderpopo war. Es folgte ein Seufzer der Entspannung, als der Barbier sein Gesicht zuerst mit kühlen Tüchern und dann mit Rasierwasser erfrischte.
»Und, Herr Baron, wollen S’ mir nicht endlich einmal einige Ihrer an der Börse so erfolgreichen Papiere verkaufen?«
Heinrich von Strauch lächelte freundlich. Er erhob sich, gab dem Barbier ein großzügiges Trinkgeld, schlüpfte in seinen Überzieher, setzte den Hut auf und verabschiedete sich mit folgenden Worten:
»Legen S’ Ihr Erspartes unter die Matratze. Da können S’ ruhig schlafen. Und ein ruhiger Schlaf ist wichtig für eine ruhige Hand beim Rasieren. Beherzigen S’ meinen Rat: Lassen S’ die Finger von Börsenpapieren. Habe die Ehre!«
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Dichtes Gedränge. Bettler, Dienstmädchen, noble Herren, Schusterbuben, Dienstmänner, Handwerker, Kleriker, freche Rotzer, gnädige Frauen, eitle Gecken, Blumenmädeln und Tagträumer. Zwischen ihnen bahnten sich Pferdefuhrwerke und Fiaker ihren Weg. Das Gedränge machte die Gäule nervös, und infolgedessen ließen sie jede Menge Pferdeäpfel fallen. Heinrich von Strauch war peinlich bemüht, in keine dieser übel riechenden Hinterlassenschaften hineinzutreten. Es wäre ja auch wirklich schade gewesen, seine Maßschuhe solchermaßen zu beschmutzen. Wo er doch auf dem Weg zu einem Termin in das Büro seiner Wohnbaugesellschaften, das in der Goldschmiedgasse lag, war. Nein, mit Pferdedung an den Sohlen wollte er ihn keinesfalls wahrnehmen. Deshalb tänzelte er wie ein junger Hupfer hin und her, wich einem Fuhrwerk aus, vermied mehrere Haufen von Pferdeäpfeln, rammte um ein Haar den üppigen Busen einer gnädigen Frau und hatte trotz all dem ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. Ja, dieses Gedränge war ihm recht. Sehr recht sogar. Es war die Bestätigung dafür, dass seine Tätigkeit als Entrepreneur nicht nur äußerst gewinnbringend, sondern für die Stadt auch unverzichtbar war. Schließlich war er neben Bankier auch Bauunternehmer. Und sein Bestreben war es, ein neues Großwien zu erbauen. Mit mehr als einem Dutzend Bauprojekten, die er initiiert hatte, wollte er dazu beitragen, die Grenzen der Stadt zu sprengen. Wien brauchte Männer wie ihn. Gründer, die Kapital aufstellten und die mit diesem frisch akquirierten Geld die Stadt erweiterten, ausbauten und modernisierten. Jetzt oder nie wird das neue Wien gegründet. Und das Gedränge, durch das er sich in der Wipplingerstraße kämpfte, gab ihm recht. Wien war für die vielen Wiener zu eng geworden. Wien musste wachsen. Die Reichshaupt- und Residenzstadt platzte förmlich aus allen Nähten. Wie eine fette Matrone, die ununterbrochen Malakofftorten, Cremeschnitten und Konfekt in sich hineinstopfte und deren Fleisch an allen Rändern aus dem Korsett quoll. Gründer wie er würden der Stadt ein neues Kleid schneidern. Hunderte Bauprojekte waren in Planung. Und um die besten Baugründe gab es ein riesengroßes G’riss9.
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»Ich wünsch dir einen wunderschönen guten Morgen!«
Ernst Xaver Huber begrüßte Strauch mit exzellent guter Laune, so wie es sich an einem sonnigen Wintervormittag gebührte. Huber und Heinrich von Strauch kannten einander seit einer kleinen Ewigkeit. Acht lange Jahre hatten sie gemeinsam im Akademischen Gymnasium die Schulbank gedrückt. Danach hatten beide ein Studium der Jurisprudenz begonnen, das Strauch jedoch nicht abschloss. Sehr bald interessierten ihn die Geschäfte der väterlichen Bank mehr als das Jusstudium. Also brach er es ab und absolvierte eine Banklehre. Da er sich bei Geldgeschäften erstaunlich geschickt anstellte, überantwortete Antonius von Strauch seinem Filius sukzessive ein immer größeres Pouvoir. Schließlich verlieh er ihm die Prokura und erlaubte ihm, selbst eine Bank zu gründen. Und hier kam Ernst Xaver Huber, genauer gesagt Dr. jur. Huber, ins Spiel. Er war in alle geschäftlichen Aktivitäten und Geldgeschäfte der H. Strauch Bankgesellschaft und später dann auch der H. Strauch & Cie Baugesellschaft sowie der zahlreichen weiteren Unternehmensgründungen involviert. Huber war, wie Wohlmeinende sagten, die rechte Hand Heinrich von Strauchs. Weniger Wohlmeinende nannten ihn schlicht und einfach Strauchs G’schaftlhuber.
Heinrich von Strauch war zufrieden. Die Entwürfe des jungen Architekten gefielen ihm und so sagte:
»Ernstl, lass ihm hundert Gulden für den Entwurf auszahlen. Seine Idee konveniert mir sehr. Ich bedanke mich und wünsche einen schönen Tag.«
Er machte eine dezente Verbeugung in Richtung Leo Hornegg und verließ das Zimmer. Huber bat den jungen Architekten, ihm in den Nebenraum zu folgen. Dort sagte er zu dem Kontoristen, der sich an einem Stehpult befand und schrieb:
»Gehen S’, Navratil, holen S’ hundert Gulden aus der Kassa. Der Herr von Strauch hat verfügt, dass wir unserem genialen Architekten einen Vorschuss gewähren. Meine Herren, das können Sie auch ohne mich erledigen, ich hab’ noch zu tun. Ich empfehle mich.«
Navratil legte den Federkiel zur Seite, löschte mit einer Prise Sand das gerade Geschriebene ab und ging zu einem wuchtigen Tresor, den er mit einem Schlüssel öffnete. Navratil holte zehn Scheine aus dem Tresor, verschloss ihn, ging zu seinem Schreibpult, öffnete ein Buch und schrieb leise vor sich hin murmelnd:
»Dem Herrn Architekten Hornegg hundert Gulden ausgezahlt. Wien am 17. Januar 1873. So! Wenn Sie mir hier bitte die Übergabe quittieren.«
Er reichte Hornegg den Federkiel, und der kritzelte seine Paraphe in das Buch. Navratil nahm den Federkiel zurück, legte ihn mit Bedacht auf das Pult und begann, die Scheine nachzuzählen. Einen Zehnguldenschein ließ er danach in der Seitentasche seines Gilets verschwinden. Den Rest drückte er Hornegg in die Hand, der verlegen stammelte:
»Aber das … das sind … sind ja nur neunzig Gulden. Der Herr von Strauch hat mir …«
»Psst!«, zischte Navratil. »Keinen Ton möchte ich mehr hören. Sonst gibt’s keinen weiteren Auftrag.«
»Aber …«
»Kein Wenn und kein Aber, mein lieber Hornegg. Ich war es, der Ihnen die Rutschen zum Herrn Doktor Huber gelegt hat. Und ich bin es, der dafür Provision kassiert. Also, bis bald, Herr Architekt!«
*
Heinrich von Strauch, der gerade das Bureau verließ, hatte Horneggs verdattertes Gesicht gesehen. Er packte den jungen Architekten am Unterarm und stieg mit ihm die Treppen hinunter.
»Das, was der Navratil gesagt hat, dürfen S’ ruhig für bare Münze nehmen, mein lieber Hornegg. Wir werden uns bald, sehr bald wiedersehen.«
»Aber …«
»Kein Aber, mein Lieber. Wissen Sie, was ich jetzt mache?«
»Nein, Herr Baron.«
»Ich kümmere mich um mein neuestes Projekt als Entrepreneur.«
»Sehr interessant, Herr Baron.«
»Das können Sie mit Fug und Recht sagen. Denn die von mir gegründete Niederösterreichische Wohnbaugesellschaft, deren Aktien ich zurzeit gerade an der Börse lanciere, wird Sie mit Arbeit eindecken.«
»Und? Wird sie auch bauen?«
Die beiden waren mittlerweile auf der Gasse angekommen. Es handelte sich um die Goldschmiedgasse, die vor zum Stock-im-Eisen-Platz führte. Strauch machte eine ausholende Geste in Richtung der gewaltigen Baustelle vor ihnen.
»Schaun Sie sich um! Das Gasslwerk hier, die Brandstatt und der Magaretenhof sind Geschichte. Hier im Herzen Wiens sprengen wir die verwinkelte Enge der alten Stadt und errichten neue moderne Häuser für neue moderne Menschen.«
»Was? Die Niederösterreichische Wohnbaugesellschaft baut hier in Wien?«
Strauch lachte, klopfte dem Architekten auf die Schulter, lüftete seinen Hut zum Gruß und sagte im Davoneilen:
»Aber nicht doch. Das ist pars pro toto eines der Projekte, an denen ich beteiligt bin. Und es gibt unzählige weitere. Wir alle bauen und bauen und bauen. Sie haben gar keine Vorstellung, mein Lieber, was wir alles bauen.«
*
Sodom und Gomorrha, wohin das Auge blickte. Was bildete sich dieser junge Tutter eigentlich ein? Nimmt sich einfach, was immer sich ihm anbietet. Unverschämtheit so was! Diese Gier, diese unvorstellbare Gier, die diesen Menschen antrieb, war abstoßend. Aber offensichtlich nicht für die Weiber. Die witterten diese Gier und wurden ganz weich. Bozwach10, wie man so sagte. Als ob die Gier ein Aphrodisiakum wäre. Na ja, wahrscheinlich war sie tatsächlich eines. Als er selbst jünger war, war er auch gierig hinter den Weiberröcken her gewesen. Kaum eine hatte ihm auf die Dauer widerstehen können. Waren das Zeiten! Damals, als der alte Herr Baron hier in sein Palais eingezogen war und er seinem Dienstgeber zu verstehen gegeben hatte, dass man für so ein großes Haus eine große Schar Dienstboten benötigte. Das hatte dem alten Freiherrn von Strauch gar nicht geschmeckt. Denn Dienstboten kosteten Geld. Und Geld wurde gespart, nicht ausgegeben. Allerdings hatte er seinem Dienstherrn klargemacht, dass man in einem Palais nicht wie ein Kleinhäusler residieren konnte. Wer ein Palais hatte, hatte auch Dienstboten. Dieses Argument leuchtete Antonius von Strauch ein, und so hatte er ihm den Auftrag gegeben, Dienstboten anzuwerben. Wie hatte er diesen Auftrag genossen! Von einer Dienstbotenvermittlerin hatte er sich ein junges Mädel nach dem anderen schicken lassen. Die schiachn11 Mädeln wurden immer gleich weggeschickt, nur die feschen durften zur Probe bleiben. Die Probe bestand darin, dass sie das Stiegenhaus aufwaschen, die Räume fegen, die Wäsche waschen und bügeln sowie in der Küche mit anpacken mussten. Wenn sie all das zu seiner Zufriedenheit verrichtet hatten, mussten sie dann auch noch herhalten. Joi, war das schön gewesen. In die jungen Hintern kneifen, die strammen Tutteln drücken und die Mädeln in einem stillen Winkel des riesigen Hauses pempern12. Nur die, die ihm mit dem nötigen Spaß an der Freud’ zu Willen waren, wurden eingestellt. Am Ende hatte er dem Herrn Baron dann nicht nur fleißig arbeitendes Personal, sondern sich selbst auch einen kleinen Harem verschafft. Diese Erinnerungen machten ihn ganz kribbelig, obwohl sein Verlangen nach Weibern im Laufe der Jahre abgeklungen war. Nur manchmal packte es ihn noch. Nicht mehr bei einer jeden, aber bei manchen. Sein letztes heftiges Begehren hatte ihn vor zwei – oder waren es schon drei? – Jahren übermannt, als er die Resi eingestellt hatte. Mein Gott, dieses Mädel hatte noch einmal die Säfte in seinen fast schon ausgetrockneten Leib schießen lassen. Ja, die Resi hatte im Laufe der letzten Jahre bei ihm Wunder vollbracht. Aber das war nun vorbei. Seit der junge Herr Baron die Resi zu seiner persönlichen Leib- und Magenbediensteten gemacht hatte, hatte die ihn nicht mehr an ihren wunderbaren Hintern gelassen. Das freche Mensch hatte ihm sogar gedroht, dass sie dem jungen Herrn Baron erzählen würde, wie er sie über Jahre hinweg missbraucht hatte. So ein freches Luder! Am meisten giftete ihn der Umstand, dass der junge Herr Baron die Resi für die Pflege seiner Garderobe einsetzte. Damit konnte er sie jederzeit zu sich rufen, wenn er sich ankleidete. Dieser raffinierte Saukerl. Heute früh hatte er beobachtet, wie die Resi dem Herrn Baron beim Anlegen der Kleidung half. Dabei hatte sie sich vor ihm niedergekniet. Aber nicht, um zu beten! So eine Sauerei! Nein, er durfte gar nicht daran denken. Sonst würde er noch kribbeliger werden. Mein Gott! Er ballte die Fäuste und bebte am ganzen Körper. So konnte er nicht weiter seinen Dienst versehen. Er musste sich abreagieren. Wie ein junger Hund lief er die enge Dienstbotentreppe hinunter, riss die Küchentür auf und stürzte sich auf die Köchin. Die kreischte zuerst vor Schreck und gleich darauf vor Vergnügen. Sie hob ihren Rock und präsentierte ihm ihr gewaltiges Hinterteil. Voll Gier packte er zu. Sodom und Gomorrha! Wunderbar …
*
Splitternackt stand er hinter dem großen Paravent, während Resis zärtliche Patschhand ihn wusch. Bei so einer Bedienung brauchte Heinrich von Strauch wahrlich kein Badezimmer. Als er aus der teuren Mietwohnung im Heinrichshof ausgezogen und in das Barockhaus, das ihm sein Vater vererbt hatte, eingezogen war, hatte er kurz überlegt, hier im zweiten Stock ein komfortables Bad und ein modernes Water Closet einzurichten. Schlussendlich hatte er diese Modernisierungen nur in der Beletage, in der jetzt seine Frau und seine beiden Söhne wohnten, durchführen lassen. Er selbst war in das Stockwerk darüber gezogen. So hielt er die ungeliebte Familie auf Distanz und musste das Schlafzimmer nicht mehr mit seiner Frau teilen. Ja, das war gut! Er grinste verzückt, als Resi ihn hinten zwischen den Arschbacken und nach vorne greifend gründlich einseifte. Das tat wirklich gut. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, die alles in allem nicht sehr glücklich verlaufen war. Einzig die regelmäßige Handwäsche, die ihm sein Kindermädchen angedeihen hatte lassen, war eine der wenigen schönen Erinnerungen. Allerdings hatte sie diese Körperpflegemaßnahme eingestellt, als der Bub beim Waschen regelmäßig eine Erektion bekam. Ab diesem Zeitpunkt musste er sich selbst waschen. Einen Umstand, den er sehr bedauerte. Von einer weiblichen Hand, die in einem Waschlappen steckte, gereinigt zu werden, liebte er. Jahrzehntelang hatte er auf diesen Genuss verzichten müssen. Nun aber, seit er das riesige Barockpalais seines Vaters samt dessen Dienstmädel geerbt hatte, hatte sich alles zu seinem Vorteil entwickelt. Er bewohnte ein ganzes Stockwerk mit Schlafzimmer, Ankleideraum, Speisezimmer, Rauchsalon, Arbeitszimmer und Dienstbotenkammerl. Hier hatte er Resi einquartiert, die seit dem Umzug als seine Kammerdienerin fungierte. Kammerdienerin? Heinrich von Strauch lachte auf, nicht zuletzt deshalb, weil Resi gerade seinen Brustkorb mit dem Waschlappen abrieb und er auf den Rippen kitzlig war. Er als Freiherr von Strauch leistete es sich, exzentrisch zu sein. Und da konnte sein Eheweib noch so sehr die Stirn runzeln und schnippische Bemerkungen machen. Auch dem ehemaligen Kammerdiener Jean und nunmehrigen Majordomus war die Missbilligung ins Gesicht geschrieben, wenn er sich in seinen Wohnbereich begab, um für Verpflegung, Getränke und Rauchwaren zu sorgen. Mehr durfte er für Heinrich von Strauch nicht machen. Reinigung und Pflege der Kleidung, das Zusammenräumen13 der Zimmer, das Bettenmachen und das Ausleeren des Leibstuhls oblagen der Kammerdienerin. Resi hatte das Pouvoir, sich in seinen Wohnräumen frei zu bewegen und allen anderen den Zutritt zu verwehren. Sie war sein guter Geist. Von ihr ließ er sich, wenn er zu Hause war, nach Strich und Faden verwöhnen. Wie zum Beispiel in diesem Moment, in dem Resi mit großer Liebe und Sorgfalt ihn untenrum abtrocknete. Genussvoll schloss er die Augen und murmelte:
»Net aufhören … weitermachen … ja … so is brav.«
*
»Die Herren wünschen zu trinken?«
Heinrich von Strauch blickte über den Tisch zu seinem Freund Gustav von Boschan und dem Zeitungsherausgeber Moritz Szeps und stellte folgende Frage: