Schönbrunner Finale - Gerhard Loibelsberger - E-Book

Schönbrunner Finale E-Book

Gerhard Loibelsberger

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Beschreibung

Italienische Flieger über Wien! Während alle gebannt in den Himmel starren, geschieht in der Nähe des Naschmarkts ein Mord. Joseph Maria Nechyba übernimmt die Ermittlungen. In Riesenschritten naht mittlerweile das Ende Österreich-Ungarns. Oberinspector Nechyba ist schließlich persönlich anwesend, als Kaiser Karl im Schloss Schönbrunn die Verzichtserklärung auf die Teilnahme an den Regierungsgeschäften unterzeichnet und die Republik ausgerufen wird. Kommt Nechyba auch dem Mörder auf die Spur?

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Seitenzahl: 337

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Gerhard Loibelsberger

Schönbrunner Finale

Ein Roman aus dem alten Wien

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgartunter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gustav_Klimt_020.jpg und © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kolo_Moser_-_Vogel_Bülow_-_1899.jpeg

ISBN 978-3-8392-5612-1

Widmung und Dank

Für Lisa. Danke!

Ein großes Dankeschön auch an Claudia Senghaas, die die Nechyba-Saga von Anfang an begleitet und lektoriert hat, sowie an Zdenka Becker, die alles, was in diesem Buch Tschechisch ist, übersetzte, bearbeitete und korrigierte.

Verzeichnis der historischen Personen:

Friedrich Adler (1879–1960): Redakteur, Hochschullehrer, Politiker, Kriegsgegner

Viktor Adler (1852–1918): Politiker, Arzt, Journalist

Arthur Arz von Straußenburg(1857–1935): Generaloberst der k. u. k. Armee

Arnold Baral(?–?): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Stephan Graf Burián (1852–1922): k. u. k. Außenminister

Georges Clemenceau(1841–1929): französischer Ministerpräsident

Ottokar Graf Czernin (1872–1932): k. u. k. Außenminister

Julius Deutsch (1884–1968): Unterstaatssekretär der Republik Österreich

Marie Drda (1896–1918): Mordopfer

Wilhelm Eisner-Buba(1875–1926), Oberst, Leiter des k. u. k. Kriegspressequartier

Josef Fischer (1857–?): Mörder der Marie Drda

Edmund Ritter von Gayer (1860–1952): Innenminister

David Lloyd George(1863–1945): britischer Ministerpräsident

Dr. Albin Haberda(1868–1933): Gerichtsmediziner

Johann Haderer (?–?): Onkel von Josefine Selewosky

Regina Herzl (1875–1918): Mordopfer

Friedrich Hexmann(1900–1991): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Josef Graf Hunyadi (1873–1942): Obersthofmeister Kaiser Karls

Karl I. (1887–1922): Kaiser von Österreich, König von Ungarn.

Franziska »Fanny« Kerl (?–1916): Wilhelm Kerls Frau

Wilhelm Kerl (1855–1922): Cafétier des Café Landtmann

Egon Erwin Kisch (1885–1948): Journalist, Revolutionär

Gustav Klimt (1862–1918): österreichischer Maler

Michael Kohn-Eber (?–?): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Franz Koritschoner(1892–1941): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Adolf Kratochwilla(1860–1938): Cafétier des Café Sperl

Karl Anton Kraus (1864–1933): Cafétier des Café Landtmann

Leopold Kulcsar(1900–1938): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Heinrich Lammasch(1853–1920): österreichischer Ministerpräsident

Wladimir Graf Ledóchowski(?–?): Flügeladjutant Kaiser Karls

Tomas Masaryk (1850–1937): Philosoph, Schriftsteller, Politiker

Viktoria Moldaschl (1842–1874): Mordopfer

Vittorio Emanuele Orlando(1860–1952): Präsident des Ministerrats des Königreichs Italien

Leo Pjatigorski (?–?): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Leo Rothziegel(1892–1919): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Edith Schiele (1893–1918): Egon Schieles Frau

Egon Schiele (1890–1918): österreichischer Maler

Dr. Johann Schober (1874–1932): Leiter der Wiener Polizeidirektion, Polizeipräsident

Josefine Selewosky (1896–?): Mörderin der Veronika Wessely

Sidney Sonnino (1847–1922): italienischer Außenminister

Karl Graf Stürgkh(1859–1916): österreichischer Ministerpräsident

Stefan Graf Tisza(1861–1918): ungarischer Politiker

Sándor Wekerle(1848–1921): ungarischer Ministerpräsident

Karl Werkmann (1878–1951): Privatsekretär Kaiser Karls

Johannes Wertheim(1888–1942): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Veronika Wessely (1838–1918): Mordopfer

Friedrich von Wiesner (1871–1951): Diplomat, Gesandter

Wilhelm II. (1859–1941): deutscher Kaiser

Woodrow Wilson(1856–1924): Präsident der USA

Zita von Bourbon-Parma (1892–1989): Gemahlin Kaiser Karls

Prolog I

Oberleutnant Lukáš winkte verärgert mit der Hand. Auf dem Weg zum Lebensmittellager kam ihm der verwegene Gedanke, dass Österreich den Krieg schon allein deswegen nicht gewinnen kann, weil die Soldaten ihren Offizieren die Leberwurstdosen wegfressen.

Zitat aus: Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk 2, aus dem Tschechischen übersetzt von Zdenka Becker.

14. September 1917

»Kompanie, raustreten!«

Karel Husak kroch aus dem Erdloch, das seiner Kompanie als Unterstand diente. Hinter ihm hörte er Ambrosius Zach fluchen. Mit wackeligen Beinen und knurrendem Magen traten die Soldaten dort an, wo der Schützengraben etwas breiter war. Husak sah sich um und registrierte mit Schrecken, wie wenige sie infolge des italienischen Dauerbeschusses geworden waren. Resigniert schüttelte er den Kopf.

Zach sah diese Geste und brummte:

»Ein Jammer …«

Hasserfüllt maß er Oberleutnant Weissenbacher, der nun ebenfalls aus dem Erdbunker gekrochen kam. Das Schwein hatte tatsächlich noch ordentliche Stiefel an. Zach verfluchte im Geiste seinen Kompaniekommandanten. Er selbst verrichtete seit Wochen nur mehr in notdürftig zusammengebundenen Lederfetzen seinen Dienst im Schützengraben. Ich sollte ihm in der Nacht die Stiefel fladern1. Aber was würde das helfen? Nichts, denn am Morgen würde der feine Herr Oberleutnant mich zur Verantwortung ziehen. Entweder, indem er mich während des ärgsten Feindbeschusses ins Feuer hetzen oder mir auf der Stelle eine Kugel in den Schädel jagen würde. Ich müsste ihn umbringen. Umbringen und mich dann päulisieren2 …

»Soldaten! Männer! Ihr werdet Zeugen eines historischen Ereignisses werden …« Oberleutnant Weissenbacher machte eine kunstvolle Pause, bevor er fortfuhr: »Der Kaiser höchstpersönlich wird an die Front kommen und unser Bataillon visitieren. Davon werdet ihr noch euren Kindern und Enkelkindern erzählen können.«

Wenn uns nicht vorher die Katzelmacher3 überrennen und abkrageln4, schoss es Karel Husak durch den Kopf. Wenig später hellte sich seine Stimmung auf, als er erfuhr, dass eigens für die Kaiservisite ihr Bataillon von der Front abgezogen und durch ein frisch zusammengestelltes Reservebataillon ersetzt werden würde. Endlich weg aus dem Totengraben, dachte Husak, als er plötzlich in der Ferne das Donnern der italienischen Geschütze hörte und der Feldwebel »Alarm!« brüllte. Augenblicke später pfiffen die ersten Granaten durch die Luft. Detonationen, Schrapnelle flogen, Erde stob. Ein Verwundeter brüllte vor Schmerz.

»Husak und Zach, holt’s Munition! Alle anderen auf ihre Gefechtsstellungen! Die Katzelmacher greifen an!«

Dem Befehl des Oberleutnants gehorchend, krochen Zach und Husak zum Munitionsbunker. Detonierende Granaten, Splitter, Dreck, Staub, bebende Erde. Schreie, Gewehrfeuer, Rauch, Inferno. Im Munitionsbunker angekommen, verschnauften beide für einige Augenblicke. Zach musterte Husak und brummte:

»Verkriech ma uns einfach, bis alles vorbei ist?«

»Wird nix helfen. Wenn unsere haben ka Munition, dann werden Katzelmacher uns überrennen. Dann sind ma tot.«

»Und wenn ma jetzt rauskriechen mit den Munitionskisten?«

»Dann sind ma vielleicht auch tot. Aber vielleicht a net. Meglicherweise überleb ma. Und können sehen den Kaiser.«

Zach schnappte eine Munitionskiste und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor:

»Scheiß auf den Kaiser!«

Das Reservebataillon traf in der Nacht ein. Und so setzten sich unter dem Kommando von Oberleutnant Weissenbacher und Major Novotny die Reste des Bataillons in Richtung Aldeno in Bewegung. Im Morgengrauen des 13. Septembers kamen sie in dem Winzerdorf an, wo sie bereits von einigen Stabsoffizieren nervös erwartet wurden. Hundemüde kampierten sie auf einer Wiese. Zach sah sich um und murmelte:

»Wenn ich mich so umschau, muss ich feststellen, dass wir ein trauriger Haufen sind. Unterernährt, in Lumpen gehüllt und stark dezimiert. Bin gespannt, was der hohe Herr dazu sagen wird.«

Husak nickte müde:

»Recht hast. Schaun wir sehr traurig aus. Vor allem man sieht, dass Bataillon große Verluste gehabt hat. Nur mehr 50 Mann oder weniger haben manche Kompanien.«

»Bestenfalls 50. Manche haben nur mehr 20 …«

Und während Zach und Husak im Gras liegend vor sich hin dösten, marschierten nach und nach kleine Gruppen von Soldaten an. Alles keine Frontsoldaten, sondern Offiziersdiener und Mannschaften aus den Versorgungs- und Nachschubkompanien: Schuster, Schneider, Tragtierführer, Pferdewärter und Köche. Letztere erkannte Zach an ihren Bäuchen. Plötzlich fuhr mit dröhnendem und qualmendem Motor ein Lastkraftwagen vor. Er hielt an, ein Oberst stieg aus, sah sich um und begann zu brüllen:

»Fix Laudon noch einmal! Was ist das hier für eine Sauwirtschaft? Kann keiner mehr grüßen?«

Die am Boden liegenden Soldaten erhoben sich mühsam, der Oberst füllte die Lunge mit Luft und tobte weiter:

»Bagasch5 übereinand. Was glaubt ihr eigentlich, wo ihr seid? Ihr seid im Krieg und nicht auf Sommerfrische! Ihr dreckigen Falotten, ihr! Seine Majestät kommt zur Besichtigung seiner glorreichen Truppen und ihr liegt faul auf der Erd’ umadum6? Unverschämtheit, so was!«

Alle standen stramm. Die Blicke gesenkt. Der Oberst schritt in frisch gebügelter Uniform und mit blank geputzten Stiefeln die Reihe der müden Soldaten ab. Vor der mittlerweile recht großen Gruppe der Neuangekommenen, die durch die Bank besser ernährt aussahen und vor allem nicht in Uniformlumpen gehüllt waren, blieb er stehen und befahl:

»Ihr bildet die ersten beiden Reihen. Ihr schaut einigermaßen respektabel aus.«

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und gab den Frontsoldaten folgenden Befehl:

»Ausziehen! Alles ausziehen!«

Die Männer sahen einander verwundert an, gehorchten jedoch. Und während immer mehr von ihnen pudelnackt auf der Wiese standen, holten der Lastwagenfahrer und ein Feldwebel stapelweise neue Uniformwesten und Hosen, Stiefel sowie neue Tschakos aus dem Lastkraftwagen. Nach Größe sortiert, wurden sie in der Wiese aufgestapelt. Dann ertönte der Befehl an die Nackten, neue Uniformen auszufassen. Husak murmelte:

»Da schau her, Majestät schenkt uns neiche Kleider.«

Zachs Blick streifte über Husak und die anderen Nackten. Lauter jämmerliche Krispindln7, ein Krüppelg’spiel neben dem anderen. Von fahler, geschundener Haut überzogene Skelette. Haut, die von Wanzen- und Flohbissen, Schrunden und Krätze gepeinigt wurde. Nervös begann sich Zach zwischen den Arschbacken zu kratzen. Dort hatte er seit Wochen eine Entzündung, die der Bataillonsarzt als »Wolf« diagnostiziert hatte. Wortlos schlüpfte er in passende Uniformteile und schnallte sich den Leibriemen um. Mit vor Freude zitternden Fingern schnürte er die funkelnagelneuen, blitzblank geputzten Stiefel zu. Kaum war er adjustiert, war von Ferne das Geräusch herannahender Automobile zu vernehmen.

»Kompanien, antreten!«

Der Oberst hatte einen blutroten Schädel und brüllte, was das Zeug hielt.

»Marsch, marsch, ihr faules Pack! Bagasch! Gsindl miteinander!«

Just in dem Augenblick, als die Kompanien des Bataillons Aufstellung genommen hatten, erschien die Wagenkolonne des Kaisers. Die Automobile hielten, Generalstabsoffiziere, Adjutanten, Chauffeure wuselten diensteifrig umher. Kaiser Karl stieg aus seinem Wagen. Schlank und rank, in tadellos gebügelter Uniform, an den Händen elegante Lederhandschuhe, an den Füßen blitzblank gewienerte Stiefel. Seine Backen schimmerten rosig, der schmale Oberlippenbart war sorgfältig gestutzt. Der Oberst salutierte und meldete, dass das Bataillon vollständig angetreten sei. Des Kaisers Blick schweifte über die Mannschaft. Er nickte und bemerkte anerkennend:

»Sehr gut. Wie ich sehe, hat das Bataillon während der letzten Gefechte kaum Verluste erlitten. Sehr brav. Weiter so.«

In der kommenden Stunde schritt der Kaiser das Bataillon Zug um Zug ab, blieb vor jedem Mann einige Sekunden stehen und brabbelte in einem fort Floskeln wie:

»Sehr gut! Aha! Sehr brav! Nur weiter so!«

Als er vor Zach stehen blieb und ihn für einen Sekundenbruchteil ansah, hatte Zach das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu spucken. Aber es kam nicht dazu. Als er genügend Spucke in seinem ausgetrockneten Mund gesammelt hatte, war der Kaiser schon ein ganzes Stück weiter. Vor Zach stand gerade ein Generalleutnant mit schiefem Gesicht, geöltem Haar und neckisch auf dem Kopf sitzendem Tschako. Für den lohnt sich die Spucke nicht, dachte Zach und schluckte.

1 stehlen

2verduften

3 Italiener

4 töten

5Gesindel

6herum

7dünne Menschen

Prolog II

Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde die Lage der Monarchie. Zur großen Sorge ob der wachsenden Feindseligkeit der slawischen Nationen gegen den Staat, kamen die kaum geringeren Besorgnisse über die Haltung der unterernährten, rechtlosen und deshalb immer unzufriedener werdenden Arbeiter in der Kriegsindustrie.

Zitat aus: Julius Deutsch, Ein weiter Weg – Lebenserinnerungen, Amalthea Verlag, Zürich-Leipzig-Wien, 1960.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Amalthea Verlages

10. Jänner 1918

Goldblatt war müde und fühlte sich gar nicht wohl. Im Kriegspressequartier hatte er den Tag damit zugebracht, Artikel zu redigieren, zu überarbeiten und umzuschreiben. Im Prinzip hatte er Schönfärberei des Kriegsverlaufs und der militärischen Erfolge der k. u. k. Armee und ihrer Verbündeten produziert. Eine Lüge nach der anderen, dachte Goldblatt, als er in den Ringwagen einstieg. In der Tramway herrschte ein unglaubliches Gedränge, die Scheiben waren angelaufen und es stank. Er fuhr den Ring vor bis zur Station Babenberger Straße, wo er ausstieg. Das letzte Stück zum Café Sperl legte er zu Fuß zurück. Als er eintrat, sah er sich nach dem Oberinspector um. Der saß nicht auf seinem Stammplatz, sondern einen Tisch weiter.

»Nechyba, ich begrüße Sie!«

Der Angesprochene sah kurz von der Zeitung auf und murmelte:

»Grüß Sie, Goldblatt! Nehmen S’ Platz!«

Goldblatt setzte sich und rief dem vorbeigehenden Ober zu:

»Das Übliche, Herr Franz!«

»Sehr wohl, Herr Leutnant!«

Goldblatt holte seine Tabatiere heraus und zündete sich eine Zigarette an. Seitdem er Soldat war, rauchte er wieder. Nicht manisch, aber ab und zu, wenn er Gusto hatte. So wie jetzt zum Beispiel, um sich zu entspannen und um seine Arbeit, die ihm zutiefst zuwider war, zu vergessen. Das gelang aber nicht, denn Nechyba ließ die Zeitung, es war die ›Neue Freie Presse‹, sinken und klopfte mit dem Zeigefinger auf einen Artikel.

»Ich hab’ mir gerade die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson angesehen. Die Bedingungen, unter denen er Frieden schließen will. Hier ist genau definiert, wie er sich die Nachkriegsordnung vorstellt.«

»Nechyba, ich bitt’ Sie! Hören S’ mir auf mit der Politik und dem Krieg! Können wir nicht über etwas Privates plaudern?«

Der Ober kam und servierte dem Leutnant seinen Goldblatt8. Der nippte an dem heißen Gebräu, nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies eine schlanke Rauchsäule in die Luft. Nechyba beobachtete ihn und dachte sich, jetzt hätte ich Lust auf eine Virginier. Da ihm aber das Rauchen ärztlicherseits streng verboten worden war, unterdrückte er den Impuls.

»Also gut, Goldblatt, erzählen S’ mir was Privates.«

Der Leutnant machte einen langen Zug von der Zigarette und begann dann zu erzählen:

»Wie Sie wissen, ist meine Lebensgefährtin, Judith von Zweytick, Malerin. Und da ich letztes Jahr eine Zeit lang mit dem Kunstmaler Egon Schiele in der Konsumanstalt für die Gagisten9 der Armee im Felde zusammengearbeitet habe, machte ich die beiden miteinander bekannt. Das führte dazu, dass sich eine Freundschaft entspann. Egon Schiele, der derzeit ungeheure Anerkennung von allen Seiten erfährt, entwarf nicht nur das Plakat für die 49. Ausstellung der Secession, die jetzt im Februar stattfindet, sondern stellt dort 29 Gemälde sowie 19 Zeichnungen aus.«

»Da kann man ihn ja nur beglückwünschen. Aber was hat das mit Ihrer Lebensgefährtin zu tun?«

»Nun, dank Egon Schiele wurde sie in die Gemeinschaft der Secessionisten aufgenommen und präsentiert bei dieser Ausstellung erstmals zwei ihrer Ölgemälde der Öffentlichkeit.«

»Na, da gratuliere ich, lieber Goldblatt! Das ist übrigens die erste erfreuliche Nachricht heute.«

»Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«

»Lauter ungute Sachen im Bureau. Aber damit hab’ ich zu leben gelernt. Was mir allerdings wirklich an die Nieren geht, ist das da.«

Neuerlich tippte Nechyba mit dem Zeigefinger auf die Seite 2 der ›Neuen Freien Presse‹.

Goldblatt warf einen Blick auf den Artikel und sagte dann gelangweilt:

»Seit wann interessieren Sie sich für die Politik des amerikanischen Präsidenten?«

»Das kann ich Ihnen schon sagen: Seit Präsident Wilson uns den Krieg erklärt hat und sich massiv in unsere Angelegenheiten einzumischen beginnt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Da! Da lesen S’ den Punkt zehn! Bei dem wird mir angst und bang.«

Goldblatt nahm die Zeitung und las besagten Punkt langsam und laut vor:

»Den Völkern Oesterreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, soll die erste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung gewährt werden.«

Er ließ die Zeitung sinken, nahm einen Schluck Kaffee und machte einen letzten Zug von seiner Zigarette. Dann murmelte er:

»Das wäre das Ende Österreich-Ungarns.«

Nechyba nickte:

»Das seh’ ich auch so.«

8schwarzer, kurzer Kaffee mit Trebernschnaps

9Offiziere

22. Jänner 1918

»Ja da schau her! Der Herr Oberinspector. Wollen S’ nicht Platz nehmen?«

Nechyba setzte sich an den Kaffeehaustisch und brummte:

»Das hätt’ i sowieso g’macht. Da brauch’ ich ka Einladung.«

Zygmunt Karminsky sah Nechyba fragend an und fuhr dann etwas verunsichert fort:

»Es ist mir eine Freude, Herr Oberinspector. Wünsche einen guten Tag! Geh, Herr Ober, bringen S’ dem Herrn Oberpolizeirat einen Schwarzen mit einem ordentlichen Schuss Trebern drinnen. Was? Sie haben keinen Trebern? Na gut, dann nehmen S’ halt einen Cogn… äh … einen Weinbrand!«

Nechyba war irritiert. Karminsky kannte seine persönlichen Vorlieben recht gut. Dieser fuhr in leutseligem Tonfall fort:

»Also, wie geht’s denn so immer?«

»Dir bald nicht mehr so gut …«

»Um Himmels willen! Was liegt denn gegen mich vor? Hab’ ich was ang’stellt? Ich bin doch ganz brav.«

»Du bist ein Hurentreiber, ein Strizzi26 und ein Stoßspieler27.«

Karminskys Mund verzog sich zu einem verbindlichen Grinsen:

»Aber Herr Oberinspector, ich bitt’ Sie! Das muss ich doch entschieden in Abrede stellen. Ich bin der Guade, ein Wohltäter. Ich geb’ obdachlosen Mädeln ein Dach über dem Kopf und füttere sie durch. Was bei Gott keine leichte Aufgabe ist in diesen Zeiten. Und was das Spielen betrifft, so tu’ ich halt gern ein bisserl dippln28. Aber das mach’ ich ausschließlich aus Spaß an der Freud’.«

»Ein Schleichhändler bist obendrein.«

»Ich bin a kleiner Gewerbetreibender. Das hab’ ich amtlich mit Brief und Siegel. Wie Sie wissen, gehört mir die Fleischhauerei Trnka. Der Witwe des gefallenen Fleischers hab’ ich einen ordentlichen Batzen Geld gezahlt. Seitdem führt sie das Geschäft für mich und verdient ein anständiges Gehalt. Wenn ich ihr mit meinen Beziehungen und meinem Geld nicht geholfen hätt’, hätt’ sie zusperren müssen und wär’ verhungert. Da sehen Sie, was ich für ein sozialer Mensch bin und warum man mich den Guadn nennt.«

»Vorn im G’schäft verkaufst du das bisserl Fleisch, das dir zugeteilt wird. Und hinten im Hof verkaufst du die Schwarzmarktware, du Falott29, du!«

»Geh bitte! Wer hat jetzt im Krieg nix mit dem Schleichhandel zu tun? Das macht doch a jeder! Ohne Schleichhandel würd’ ma alle verhungern. Also sind S’ nicht so streng, Herr Oberinspector. Außerdem haben Sie ja auch schon öfters von meiner Schwarzmarkttätigkeit profitiert.«

Der Ober servierte Nechyba den Kaffee. Es handelte sich um grauslichen Ersatzkaffee aus Eicheln und Zichorien. Nur dem heißen Weinbrand war es zu verdanken, dass das Gebräu einigermaßen angenehm duftete. Nechyba nahm vorsichtig einen Schluck und achtete darauf, sich nicht die Lippen zu verbrennen.

»Werd net frech. Weil, sonst geht’s dir gleich wirklich nimmer guad. Wennst mich reizt, verhafte ich dich auf der Stelle. Du Pülcher30, du. Also horch zu: Ich brauch’ ein Knöpfel31, und wenn du es auftreiben kannst, auch ein Englisches32.«

Nechyba nahm neuerlich einen Schluck und fuhr ungerührt fort:

»Und zwar gestern. Das Fleisch will ich zerlegt und pariert haben. Die Knochen zerhackt als Zuwaag. Na? Jetzt geht dir der Schmäh aus, was? Jetzt schaust ganz kariert.«

Der Guade nahm einen Schluck Weinbrand und flüsterte:

»Aber das kostet a kleines Vermögen …«

»Hab’ i g’sagt, dass ich was gratis will?«

»Haben S’ Geld unterschlagen oder geerbt?«

»Noch so eine depperte Bemerkung und du verbringst die Nacht in der Liesl33.«

»’tschuldigung. War nicht so gemeint. Also wann ich a Knöpfel auftreiben kann, wird das Kilo beiläufig um die 20 Kronen kosten.«

»Und das Englische?«

»Marantjosef34! Ich weiß net, ob ich des krieg. Aber unter 25 Kronen das Kilo wird sich da nix abspielen.«

»In Ordnung. Wann lieferst?«

»Das Knöpfel können S’ in zwei bis drei Tagen in meiner Fleischerei abholen. Das Englische braucht länger.«

»Ich hol gar nix ab. Übermorgen treff’ ma uns wieder hier im Café. Dann bekommst von mir die Lieferadresse.«

Nechyba trank aus, stand auf und wollte grußlos gehen. Doch der Guade war ebenfalls aufgesprungen und hatte seine Hand gepackt. Er schüttelte sie und versicherte mit treuherzigem Blick:

»Herr Oberinspector, es war mir ein Vergnügen. Auf den Kaffee mit Cogn… äh … Weinbrand sind Sie selbstverständlich eingeladen.«

Nechyba schüttelte dem Ganoven, obwohl ihm das peinlich war, die Hand. Dabei grantelte er:

»Den Kaffee hätt’ i sowieso net zahlt.«

26 Zuhälter

27 Spieler eines illegalen Kartenspiels

28Karten spielen

29Lump

30Verbrecher

31Knöpfel ist der Name des hinteren Teils des Rindes gemäß der Wiener Teilungsmethode: Schale, Fledermaus, Zapfen, Hieferschwanzel, Hieferscherzel, Tafelspitz, Tafelstück, schwarzes und weißes Scherzel, Gschnatter, hinterer Wadschunken, Bratzel, Ochsenschlepp

32Lungenbraten, Beiried, Rostbraten

33Polizeigefangenenhaus an der Elisabethpromenade

34Maria und Josef!

6. Februar 1918

Schon wieder! Schon wieder läutete das Telefon auf des Oberinspectors Schreibtisch. Dieser hielt nach einem kargen Mittagessen im Gasthaus Zum Rebhuhn gerade sein Mittagsschläfchen. Entsprechend langsam und unwirsch war seine Reaktion.

»Haut’s euch über die Häuser und lasst’s mich in Ruh. Ihr Nebochanten35 …«

Da der Apparat partout keine Ruhe gab und unaufhörlich weiterläutete, hob Nechyba schließlich doch ab und raunzte:

»Ja …«

»Herr Oberinspector, sind Sie das? Bin ich richtig verbunden?«

»Wer spricht?«

»Schmerda hier. Hofrat Schmerda. Ich wollt’ mich nur bei Ihnen bedanken, Herr Oberinspector. Also die Fleischlieferung ist angekommen und Ihre Frau Gemahlin zaubert derzeit wunderbare Sachen in der Küche. Wie in der guten alten Zeit vor dem Krieg …«

»Das freut mich.«

»Als Zeichen meiner Dankbarkeit und Verbundenheit hab’ ich ihr heut beim Mittagessen aufgetragen, dass sie sich Fleischknochen und ein Suppenfleisch mit nach Hause nehmen soll. Es ist nur legitim, lieber Herr Oberinspector, dass Sie auch wieder einmal ein ordentliches Stück Fleisch und ein kräftiges Supperl bekommen.«

Nechyba, vom Schlaf noch immer benommen, war verdattert.

»Da … da … sag ich ein ganz herzliches Dankeschön. Da machen S’ mir eine Mordstrum Freud’.«

»Na, das freut mich dann umso mehr. Übrigens: Die Verhaftung der Aufwiegler haben Sie und Ihre Leute vorbildlich durchgeführt. Jetzt, wo die Rädelsführer alle eing’sperrt sind, ist wieder Ruhe in den Betrieben.«

»Ja, hoffen wir’s, dass es so bleibt. Wenn sich die allgemeine Verpflegungssituation aber nicht bessert, sehe ich schwarz. Da werden die Leut’ auch ohne die linksradikalen Rädelsführer neuerlich streiken. Weil a knurrender Magen ist wie ein bissiger Hund …«

»Korrekt, Nechyba. Das ist absolut korrekt. Hoff’ ma, dass sich alles zum Besseren wendet. Nicht wahr?«

»Hoffen kann man ja …«

»Apropos Hoffnung: Wissen S’, auf was ich hoffen täte? Auf einen schönen saftigen Schweinsbraten, eine Schweinsstelze, geselchte Ripperln, einen fesch durchzogenen Schopfbraten vom Schwein und natürlich auf Schweinsschnitzerln …«

Nechyba schwieg. Es knisterte in der Leitung. Schließlich murmelte er:

»Wer hätt’ das net gerne?«

»Freilich, Nechyba, freilich. Ich bitt’ Sie, denken S’ an mich. Vielleicht fällt Ihnen was ein. Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein.«

Nechyba dachte an einen Schweinsbraten mit einer knusprigen Kruste und bekam vor Aufregung feuchte Hände. Der Speichelfluss in seinem Mund war kaum zu bändigen, und er musste zweimal schlucken, bevor er antworten konnte.

»Ich werd’ mich umhören, Herr Hofrat.«

»Ausgezeichnet, Nechyba. Ausgezeichnet. Also bis bald, gell? Beste Grüße, ich empfehle mich.«

Nechyba saß an seinem Schreibtisch und freute sich auf heute Abend. Fleischknochen und ein Suppenfleisch. Mein Gott! Wie lange hatte es das schon nicht mehr in seiner Küche gegeben? Ja, der Herr Hofrat ließ ihn nicht verkommen. Dafür musste er sich natürlich wiederum erkenntlich zeigen und den Guadn kontaktieren. Dass der dem Hofrat möglichst eine halbe Sau liefern würde. Da müsste dann ja auch wieder etwas für ihn selbst abfallen. Dieser Gedanke trieb seinen Blutdruck in die Höhe, sein Herz pochte schneller, und der Speichelfluss wollte weiterhin nicht versiegen. Nechyba sah auf seine Taschenuhr. Es war halb vier Uhr nachmittags. Im Polizeigebäude herrschte Totenstille und der Oberinspector hatte plötzlich Lust auf etwas Gesellschaft. Mit der Faust pumperte36 er an die Wand, sodass es im Nebenzimmer laut und deutlich zu hören war.

Augenblicke später trat sein Adjutant ein, der folgende Instruktionen empfing:

»Pospischil, Er hält die Stellung hier. Falls mein Telefon läutet, hebt Er ab und sagt, dass ich einen Auswärtstermin habe. Falls irgendwer persönlich nach mir fragen sollte, gibt Er die nämliche Auskunft. Anliegen dienstlicher Art werden notiert und mir morgen früh rapportiert. Hat Er verstanden?«

»Jawohl, Herr Oberinspector!«

»Gut. Ich geh jetzt.«

Nechyba setzte seine Melone auf, sein Assistent half ihm, in den Überzieher zu schlüpfen. Dann verließ der Oberinspector eiligen Schrittes seine Dienststätte. Draußen in der kalten Winterluft atmete er einige Male befreit durch und lenkte seine Schritte in Richtung Café Landtmann.

»Der Klimt is’ g’storben.«

»Kenn ich den?«

Leutnant Goldblatt sah seinen Freund Joseph Maria Nechyba irritiert an. Er rückte seine randlose Brille zurecht und replizierte:

»Also den wohl berühmtesten zeitgenössischen Maler werden Sie doch kennen.«

Nechyba gab Zucker in seinen schwarzen Kaffee, rührte um und murmelte:

»Sie meinen den Klimt … den … den … Gustav Klimt?«

Leo Goldblatt nickte und bestellte beim vorbeischlendernden Kellner:

»Gehn S’, bringen S’ mir einen ›Goldblatt‹ ohne Kaffee.«

Der Kellner stutzte, nickte dann und sagte:

»Der Herr Leutnant wünschen einen Trebern. Kommt sofort.«

Nechyba bemerkte amüsiert:

»Noch komplizierter kann man eine Bestellung wirklich net aufgeben.«

»Wieso? Ich hab’ Gusto auf einen ›Goldblatt‹. Da es keinen Bohnenkaffee gibt und der Türkische, der mit Ersatzkaffee zubereitet wird, noch grauslicher schmeckt, als wenn man ihn normal kocht, bestelle ich den ›Goldblatt‹ eben ohne Kaffee.«

»Und was bringt das?«

»Na, dass ich die Illusion hab’, auch in diesen Zeiten einen ›Goldblatt‹ bestellt zu haben.«

»Mein Gott, wann werden wir wieder eine Schale Bohnenkaffee bekommen?«

»Als Mitglied des Kriegspressequartiers antworte ich Ihnen: Sobald unsere glorreiche Armee den Feind besiegt hat. Inoffiziell, als Ihr Freund, sag ich nur: Lang kann das nicht mehr so weitergehen. An allen Ecken und Enden merken wir es jetzt auch bei der Armee. Die Mangelwirtschaft gibt den Ton an. Es ist schrecklich. Einfach nur schrecklich.«

Nechyba rückte ganz nahe zu Goldblatt und murmelte:

»Der Scheißkrieg muss endlich aufhören und …«

Er wurde von einer lauten Stimme unterbrochen:

»Leutnant Goldblatt, na, so eine Überraschung!«

Goldblatt erschrak, stand auf und salutierte.

»Ist schon gut, lieber Freund. Setz’ dich, setz’ dich …«