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KRIMI-SPANNUNG ZWISCHEN CANAL GRANDE UND DEM HAFEN VON TRIEST Kann ein einfacher Job zu einem einzigen Spießrutenlauf werden? Wolfgang "Lupino" Severino soll als Bote einen Speicherstick von Venedig nach Grado transportieren. Dabei gerät er zwischen die Fronten zweier Mafia-Familien und setzt nicht nur seine große Liebe, sondern auch sein Leben aufs Spiel. Denn was sich anfänglich als leichter Auftrag dargestellt hat, entpuppt sich schnell als mörderisches Katz-und-Maus-Spiel. Und schon bald weiß Lupino nicht mehr, wer Freund ist und wer Feind. SCHWARZER CAFFÈ, DUNKLE RIVIERA UND SALZIGE MEERESBRISE Vor der malerischen Kulisse zwischen dem Dogenpalast in Venedig und dem Hafen von Triest liefert Gerhard Loibelsberger einen packenden Krimi in großem italienischen Stil: mit viel caffè espresso, salziger Luft aus der Lagune und mafiösen Machenschaften. ************** Leserstimmen: "Gerhard Loibelsberger schafft es, in die Unterwelt Italiens zu entführen und dabei trotzdem einen humorvollen, kulinarischen Krimi zu schreiben. Ideale Urlaubslektüre!" "Venedig, Grado und Triest sind eine perfekte Kulisse für Gerhard Loibelsbergers Krimi. Die alten Cafés, der Canal Grande, die Lagune von Grado - ein bisschen düster und mit viel Flair!" "Ein spannender Krimi, der mich nicht mehr losgelassen hat. Gerhard Loibelsberger versteht es, mit Überraschungsmomenten aufzuwarten und man weiß nie, was auf der nächsten Seite passiert ..."
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Seitenzahl: 314
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Gerhard Loibelsberger
Im Namen des Paten
Ein mörderischer Auftrag zwischen
Lagune und Riviera
Für meine Frau Lisa
„Champagner!“
Feiern war angesagt. Die Übernahme des Lebensmittelkonzerns in der Emilia-Romagna war unterzeichnet und mit einem opulenten Abendessen gefeiert worden. Seine Geschäftspartner hatten sich danach zurückgezogen, er aber war so aufgedreht, so voller Tatendrang, dass er noch zur Ca’ Vendramin Calergi fuhr. Ein Palast aus dem späten 15. Jahrhundert, in dem sich das älteste Spielcasino der Welt befindet.
Wie im Rausch setzte er am Roulettetisch fast immer auf die richtige Zahlenkombination. Er spürte es einfach, er konnte gar nicht anders. Die Zahlen lockten ihn, verführten ihn. Die Kugel rollte, rien ne va plus. Und kullerte in das Zahlenfeld, auf das er gesetzt hatte. Sein Stapel Jetons wuchs und wuchs. Neidisch belauerten ihn seine Mitspieler und Mitspielerinnen. Eine großgewachsene Russin mit blonder Mähne kopierte seine Spielweise. Was immer er setzte, sie setzte mit. Ein Verhalten, das ihn normalerweise störte. Doch heute war es ihm völlig egal. Getragen von einer Welle des Glücks ignorierte er sie, obwohl sie ein Kleid trug, das die Vorzüge ihres Körpers auf atemberaubende Weise betonte. Il Piccoletto blendete sie aus seiner Wahrnehmung aus. Sein Blick galt ausschließlich den Zahlen, den Jetons und der Roulettekugel. Alles andere versank um ihn herum.
Als er gegen drei Uhr morgens einen beachtlich hohen Stapel Chips an der Kassa eintauschte, war es ruhig geworden. Er bemerkte, dass die Blonde ebenfalls zur Kassa ging und dabei Russisch in ihr Handy sprach. Seine Begleiter hatten sein Motorboot gerufen, und so schritt er hinaus auf den Bootssteg, der von einem scharlachroten Baldachin überdacht war. Tief atmete er den leicht fauligen Geruch ein, den der leise plätschernde Canal Grande verströmte, und lächelte: Das war der Geruch seiner Stadt. Dieses merkwürdige Odeur liebte er. Mit ihm war er aufgewachsen und groß geworden. Nach dem heutigen – beziehungsweise mittlerweile gestrigen – Geschäftsabschluss würde er nun seine Business-Aktivitäten auch in die Emilia-Romagna ausdehnen. Zufrieden grinsend und etwas beschwipst von den unzähligen Gläsern Champagner bestieg er sein Boot. Es schwankte wie immer heftig unter ihm. Kein Wunder, schließlich brachte er gut und gerne 130 Kilo Lebendgewicht auf die Waage. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich auf den Sitz neben dem Fahrer fallen. Er freute sich auf sein Zuhause, auf seine Frau, die vielleicht noch wach war und auf ihn warten würde, sowie auf eine Dusche und sein Bett.
Das Hotel Canal Grande hieß nicht nur so, es lag tatsächlich an besagtem Gewässer. Ein nicht allzu großes, sehr sorgfältig instand gehaltenes 4-Sterne-Haus, das ausgesprochen konservativ geführt wurde. Von der frisch gestärkten Bettwäsche über die in Uniformen gekleideten Bediensteten bis hin zum Dresscode in der hoteleigenen Rokoko-Bar. Hier legte man Wert darauf, dass Männer ein Sakko trugen. Die drei Fremden, die die einzigen Gäste waren, trugen dunkle Anzüge. Teure Anzüge, maßgeschneidert aus Stoffen von Loro Piana und Co. Sie unterhielten sich leise in einer fremden Sprache, die der Barkeeper nicht zuordnen konnte. Mit ihm sprachen sie Englisch. Schwerer Akzent, teilweise unverständlich. Doch das war kein Problem. Gäste wie diese waren hier sehr willkommen, auch wenn sie nur Espresso, Schwarztee und Acqua minerale tranken. Der Barkeeper hoffte auf ein fettes Trinkgeld. Hoffnung darauf machten ihm die teuren Uhren der Männer, einer trug sogar eine mit unzähligen Brillanten verzierte Rolex, sowie deren sorgfältig manikürten Hände, die so gar nicht zu den grobschlächtigen Gesichtern passten. Solche Gäste ließen sich in der Regel nicht lumpen. Auch wenn sie keinen Tropfen Alkohol angriffen und stattdessen zum Acqua mineralenur Chips und Erdnüsse kauten. Gegen Mitternacht merkte der Barkeeper, dass Müdigkeit seine Gäste zu übermannen drohte. Also fragte er sie: „Are you sure that you don’t want any of my fabulous cocktails?“
„Tonight no alcohol.“
„I’ll mix you non-acoholic cocktails with a lot of vitamins.“
Fragende Blicke, Schweigen.
„Okay. But if there’s only little alcohol in it, you’ll drink the whole Canal Grande.“
„And the lagoon …“, ergänzte der Typ mit der Brillanten-Rolex. Nun lachten alle drei, die Müdigkeit war aus ihren Gesichtern verschwunden. Der Barmann, der sein Geschäft verstand, verschwand kurz in der Küche und kam mit einem Korb voll Gemüse und Obst zurück. Und dann begann er vor den Augen seiner Gäste zu zaubern: einen Sellerie-Zitronen-Cocktail mit einem ordentlichen Schuss Tabasco und einer Prise Rohrzucker, einen Karotten-Orangen-Drink mit Ingwer, einen Apfel-Ananas-Cocktail mit rosa Pfeffer und so weiter und so fort. Die Stimmung war prächtig, seine Gäste konsumierten mit Neugierde und Interesse. Die Zeit verging wie im Flug. Plötzlich läutete das Handy des Rolex-Trägers. Ein Ruck ging durch den Kerl, er antwortete knapp „Da, da …“, stand auf, zog ein Bündel Hunderteuroscheine aus der Tasche, warf drei auf die Theke und sprintete hinaus auf den Campo San Simeon Grande, wo an der Bootsanlegestelle ein Motorboot gestartet wurde. Die anderen beiden folgten ihm. Der Barkeeper blickte ihnen verblüfft nach und steckte schnurstracks zwei der drei Hunderteuroscheine in seine Tasche. Das nannte er ein Trinkgeld. Er gähnte laut, schlurfte zur Tür und sperrte ab. Dann machte er sich mit bleischweren Augenlidern daran, die leeren Gläser einzusammeln und in den Geschirrspüler zu schlichten.
Il Piccoletto streckte sich behaglich und beschloss, während der Bootsfahrt ein Vorab-Nickerchen zu machen. Sein Kopf fiel nach vorne, die Lider waren geschlossen, aus seinem halb geöffneten Mund krochen erste Schnarchgeräusche. In diesem Augenblick heulte der Motor eines rasant näher kommenden Bootes auf. Grelles Scheinwerferlicht erfasste ihn und seine Leute. Er schreckte aus dem gerade erst begonnenen Schlaf auf und warf sich instinktiv auf den Bootsboden. Dann brach das Inferno los. Mehrere automatische Waffen feuerten in ununterbrochenem Stakkato auf Il Piccolettos Boot. Seine Begleiter wurden im Kugelhagel zerfetzt. Ein Sprühregen von Blut, Haut- und Knochenpartikeln prasselte auf ihn nieder. Der Fahrer seines Bootes konnte noch Vollgas geben, bevor der Kugelhagel seinen Körper in spastischen Verrenkungen aufbäumen ließ. Dann kippte er um und fiel auf die Hand mit dem Gasregler. Das Boot raste mit irrwitziger Geschwindigkeit auf das gegenüberliegende Ufer des Canal Grande zu. Il Piccoletto griff ins Steuerrad. Seine Hand rutschte ab. Das Rad war glitschig von Blut. Trotzdem gelang es ihm, das Steuer herumzureißen und einen Crash zu vermeiden. Das Boot fuhr nun mit höllischem Speed in Richtung Rialto. Die Angreifer hatten keine Chance, ihm zu folgen.
„Vaffanculo!1“
Knurrte Lupino Severino. Der Bub, der ihn gerade am Jackenärmel gezupft hatte und der ihm schon seit geraumer Zeit gefolgt war, erschrak über diese rüde Reaktion. Lupino war müde und grantig. Er hatte gerade eine dreistündige Führung mit einer österreichischen Touristengruppe hinter sich. Eigentlich galt der Frust-Ausbruch dieser Gruppe und nicht dem Kleinen neben ihm. Als er dessen entsetzten Gesichtsausdruck sah, tat es ihm leid.
„Che vuoi?2“
Der Bub zögerte. Dann antwortete er leise, dass ein alter Freund ihn sprechen wolle. Neuerlich reagierte Lupino unwirsch: „Non ho nessun amici …3“
Der Kleine schaute irritiert. Dann antwortete er trotzig, dass er doch einen Freund haben müsse. Und dieser Freund habe einen Job für ihn. Er sei doch Privatdetektiv, oder nicht? Lupino war überrascht. Was war das für eine eigenartige Geschichte? Seine Neugier war geweckt, und er deutete dem Buben, dass er vorangehen solle.
„Come ti chiami?4“
„Nino.“
Zu seiner Überraschung führte ihn Nino schnurstracks zum Bahnhof Santa Lucia. Dort nahmen die beiden einen Regionalzug, mit dem sie nach Mestre zuckelten. Während der Fahrt über den Damm, der Venedig mit dem Festland verbindet, schwiegen beide. Der Kleine starrte aus dem Fenster auf die trüben Gewässer der Lagune und die sich in der Ferne abzeichnenden Hafenanlagen von Marghera. Die Sneakers des Kindes waren neu, seine Jeans von einem Designer, und die Jacke war ebenfalls ein teures Stück. Ziemlich kostspielig angezogen, der Kleine, dachte sich Lupino. Wer zum Teufel schickt mir diese Rotznase als Boten? Und was soll die ganze Scheiße mit einem Freund? Lupino ging in sich und dachte nach. Nein, als unterbeschäftigter Privatdetektiv, der seinen Lebensunterhalt als Fremdenführer verdiente, hatte er keine Freunde. Okay, da war Marcello; Besitzer der Osteria da Marcello und Bruder seiner Lebensgefährtin Luciana. Außerdem gab es noch den verrückten Gino, der als Koch in der Osteria da Marcello arbeitete. Das waren im Großen und Ganzen seine sozialen Kontakte. Seine Eltern waren beide tot, Verwandte hatte er nur im fernen Wien. Ach ja, fast hätte er ihn vergessen: Ranieri. Commissario Ranieri war ein Jugendfreund und später, als Lupino noch selbst Polizist war, sein Kollege. Seit sie gemeinsam den Venedig-Ripper zur Strecke gebracht hatten, war die Freundschaft zwischen den beiden noch enger geworden. Aber Ranieri würde ihm nie so einen Lausebengel als Boten schicken. Der würde einfach in der Osteria da Marcello vorbeischauen und dort mit ihm reden. Schließlich war die Osteria Lupinos zweites Wohnzimmer. In Mestre verließen der Privatdetektiv und der Bote den Regionalzug. Der Bub führte Lupino aus dem tristen Bahnhof hinaus in die nicht minder triste Stadt. Nach circa 10 Minuten Fußmarsch bog der Kleine plötzlich in ein Caffè ein. Es war eines jener Lokale, die in den frühen 1970er Jahren aufgesperrt hatten. Braune Kunstledersitzgruppen, dunkelbraune Täfelung, beige-orange-braune Tapeten. Da hier seit damals die Zeit stillstand, hatte sich am Interieur nichts verändert. Entsprechend abgefuckt sah alles aus.
„Un momento …“, murmelte der Bub und verschwand hinter dem Tresen. Eine aufgetakelte Mittvierzigerin, die eine weiße Bluse trug, unter der man erkannte, dass der Büstenhalter unter der immensen Last ihrer Brüste ächzte und dessen Träger tief in das üppige Fleisch einschnitten, stellte Lupino unaufgefordert einen Espresso vor die Nase. Er schlürfte ihn mit Bedacht. Im Hintergrund brabbelte leise ein Radio und die Tapeten, die während vieler Jahrzehnte von Zigarettenrauch gebeizt worden waren, verströmten nun ihrerseits muffigen Nikotingeruch. Müde und erschöpft harrte Lupino der Dinge.
Nach fünf Minuten stellte ihm die üppige Kellnerin neuerlich einen Espresso vor die Nase. Zu seiner Überraschung sah er, dass ihm nun auch zwei Stück Amaretti zum Kaffee serviert worden waren. Die runden Kekse lagen auf einer ebenfalls runden Papierunterlage, auf der sich eine handschriftliche Notiz befand. Lupino steckte die beiden Amaretti in den Mund und zerbiss sie. Dann spülte er mit einem kräftigen Schluck Espresso nach. Ein wunderbar harmonisches Geschmackserlebnis von süßem Mandel- und bitterwürzigem Kaffeearoma breitete sich auf seinem Gaumen aus. Und während er es genoss, las er folgende Botschaft: Vai al gabinetto. Prendi la media cabina e siediti!5
Lupino sah sich nun zum ersten Mal in dem Laden um. In einer hinteren Ecke hockten zwei Geschäftsleute um die vierzig, die auf dem Tisch vor sich eine Menge Unterlagen ausgebreitet hatten. Zusätzlich hatte jeder seinen Laptop offen, in den er hin und wieder etwas hineintippte. Gut möglich, dass das Polizisten sind, dachte Lupino. Mein sogenannter Freund könnte überwacht werden. Deshalb also das Verwirrspiel mit dem Lausbuben. Nun fiel ihm auch der Lieferwagen ohne Beschriftung auf, der unmittelbar vor dem Lokal im Halteverbot stand. Spielerisch nahm er die dünne Papierunterlage, zerknüllte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie in der Brusttasche seiner Jacke verschwinden. Dann stand er auf und begab sich gelangweilt zum Abgang, der zu den im Keller befindlichen Toiletten führte.
Er betrat die Herrentoilette und bekam Platzangst: Ein Kerl, gebaut wie ein Kleiderschrank, stand in dem engen Raum und tat so, als ob er pissen würde. Er trat auf Lupino zu und filzte ihn. Dieser grinste matt. Nein, eine Waffe hatte er nicht bei sich. Ein bewaffneter Fremdenführer – das wäre ja noch schöner! Nun deutete ihm der Kleiderschrank, dass er in die mittlere der drei WC-Kabinen gehen sollte. Lupino tat, wie ihm geheißen, der Kleiderschrank brummte etwas. Lupino deutete diese Mischung aus Brummen und Grunzen als „Siediti …“. Also setzte er sich auf die nicht gerade vor Sauberkeit strotzende Klobrille, worauf Goliath nickte und die Tür von außen schloss. In der Kabine stank es nach Urin und Goliaths Rasierwasser. Eine Mischung, die Lupino fast den Atem raubte. Die Wände bestanden aus ehemals weißen Plattenelementen, die mittlerweile in den Nuancen Grau, Mittel- und Dunkelbraun sowie einem blassen Kotzgelb abschattiert waren. Warum tu ich mir das an?, dachte Lupino und war drauf und dran, aufzustehen und fluchtartig diesen subterranen Albtraum zu verlassen, als er rechts neben sich ein kratzendes Geräusch hörte. Die Platte neben seinem Kopf bewegte sich und wurde mittels der Klopapierhalterung, die sich in der Nachbarkabine an dieser Stelle befand und die nun als Griff diente, weggehoben. Aus dem quadratischen Loch grinste ihn ein altbekanntes Gesicht an, und er hörte Il Piccolettos Bass flüstern: „Amico mio …“
Lupino torkelte wie besoffen durch die Straßen Mestres. In der Hand hielt er einen Autoschlüssel, den ihm Il Piccoletto gegeben hatte. Das war aber nicht weiter schlimm. Wirklich unangenehm war die Metallhülse, die in seinem Arsch steckte. Porca Madonna! Worauf hatte er sich da eingelassen? Kaum hatte er diese grauenhafte Retro-Bude, die vorgab, ein Caffè zu sein, und die in Wahrheit eine Mafiahütte war, verlassen, war die Schiebetür des im Halteverbot parkenden Lieferwagens aufgerissen worden. Wie in einem Hollywoodfilm waren drei unrasierte, schlampig gekleidete Polizisten herausgesprungen und hatten ihn mit dem Kopf zur Wand gedrängt. Danach wurde er aufs Genaueste perlustriert. Die zehntausend Euro, die er verteilt in seiner Hosen-, Brief- und Jackentasche bei sich trug, konnte er nicht erklären, musste er aber auch nicht. Das, was sie eigentlich gesucht hatten, fanden sie nicht. Kein Wunder: Es steckte ja in seinem Arsch. Il Piccoletto hatte darauf bestanden. Und er hatte Recht gehabt. Bei ihrer Unterredung in der WC-Anlage prophezeite er ihm, dass sie ihn nach dem Verlassen des Kaffeehauses filzen würden. Und genau so war es geschehen. Der Job, den er angenommen hatte, war simpel und mit zehntausend Euro extrem gut dotiert. Er musste die verdammte Metallhülse, in der ein Mini-Speicherstick steckte, nach Grado bringen. Zu Il Piccolettos Tante Antonella. Sie leitete derzeit die Familiengeschäfte. Er hatte sich vor Il Piccolettos Augen die Hülse in den Arsch gesteckt. Dort hatten die Fahnder auch nicht gesucht. Eine rektale Kontrolle auf offener Straße war undenkbar. Da Il Piccoletto zurzeit rund um die Uhr überwacht wurde und erst vor einer Woche einem Mordanschlag glücklich entkommen war, hatte er keine andere Möglichkeit, Kontakt mit seinen Verwandten in Grado aufzunehmen. Die Liste, die sich in der Metallkapsel befand, enthielt Namen, Adressen sowie Telefonnummern und E-Mail-Kontakte zu einer Reihe wichtiger Geschäftspartner in Kroatien, Österreich, Tschechien, Rumänien, Moldawien und Russland. Piccolettos Tante brauchte diese Liste, um in Vertretung des im Moment schwer gehandicapten Clan-Oberhauptes die Familiengeschäfte reibungslos fortführen zu können. Auf Lupinos Frage, wie er denn in diese beschissene Lage geraten war, gab ihm Il Piccoletto folgende Erklärung: Paolo Norino, der Capo della famiglia, hatte vor drei Monaten das Zeitliche gesegnet. Am Sterbebett hatte er überraschenderweise nicht seinen Sohn Mauro, sondern seinen Enkel Fabrizio mit der Führung der Familiengeschäfte betraut. Dieser Fabrizio Norino war extrem ehrgeizig. Er weigerte sich, die führende Rolle der Frulani-Familie, deren Oberhaupt Il Piccoletto war, im Veneto und entlang der nördlichen Adria anzuerkennen. Als Erstes hatte er deshalb versucht, ihn mit Hilfe von russischen Auftragskillern auszuschalten. Da der Anschlag misslungen war, hatte Fabrizio Norino der Polizia di Stato eine Reihe von Unterlagen zugespielt, die dem Untersuchungsrichter ausreichend Gründe geliefert hatten, Il Piccoletto überwachen zu lassen. Ergo konnte er derzeit seine Geschäfte nur vom unterirdischen WC aus führen, das aufgrund seiner Kellerlage abhörsicher war. Da diese Situation keine befriedigende Lösung darstellte, hatte er beschlossen, seine Tante Antonella Vegher, die in Grado für die Familienangelegenheiten verantwortlich war, mit seiner Vertretung zu betrauen. Um ihr alle wichtigen Informationen zukommen zu lassen, hatte Il Piccoletto seinen alten Freund Lupino um den Gefallen gebeten, einen Botendienst für ihn zu übernehmen. Dafür stellte er ihm einen Lieferwagen der Cateringfirma Al Gusto zur Verfügung. Er war im Parkhaus auf der Piazzale Roma abgestellt. Mit ihm musste Lupino nach Grado fahren. Die Übergabe der Liste sollte morgen Früh stattfinden. Es pressierte.
Schwarze Wolken ballten sich über Venedig zusammen, als Lupino mit einem Vorortezug zurück nach Santa Lucia fuhr. Diffuses Licht ließ die Lagune in merkwürdigem Graublau schimmern. Wind kräuselte die Wasseroberfläche. Wellen schlugen gegen den Bahndamm, über den der Zug in Richtung Serenissima ruckelte. Unheimlich, diese Stimmung. Ein Schauer überrieselte Lupino. Plötzlich sehnte er sich nach Lucianas Nähe. Nach Wärme und Zärtlichkeit. Wie lang waren sie nun schon ein Paar? Etwas mehr als vier Jahre. Eine Zeitspanne, die wie im Flug vergangen war. Ohne Luciana zu leben, konnte er sich kaum mehr vorstellen. Nun musste er grinsen. Wie man sich im Laufe der Jahre doch verändert. Früher, vor 10, 15 oder 20 Jahren, wäre eine fixe Beziehung ein Gräuel gewesen. Damals war Venedig ein einzig großes Jagdrevier für ihn. Junge, hübsche Mädels, vor allem deutschsprachige, waren seine Beute. Er legte sie serienweise flach, an einer ernsten Beziehung war er nicht interessiert gewesen. Dabei kamen ihm sowohl seine Zweisprachigkeit als auch sein Aussehen zugute. Die Figur hochgewachsen und schlank. Dazu ein markantes Gesicht mit Adlernase und blauen Augen, die er von seiner Wiener Mutter hatte. Als Kontrast dazu wucherte auf seinem Schädel dichtes, schwarzes Haar, und auf seinen Backen schimmerte bläulich schwarzer Bartwuchs. Das hatte er von seinem venezianischen Vater. Lupino war eine tolle Mischung – und das wusste er. Doch im Laufe der Jahre war er ruhiger und anlehnungsbedürftiger geworden. Auch sein Aussehen hatte sich verändert. Groß und schlank war er immer noch, doch seine schwarze Mähne war von unzähligen silbernen Fäden durchzogen, und der bläulich schimmernde Bartwuchs war verblasst. Graue Stoppeln zierten seine Wangen. Il bello ragazzo ist ein alter Mann geworden, dachte Lupino in einem Gemisch aus Vater- und Muttersprache. Nun, Ende 40, war er kein Getriebener mehr. Er musste sich nichts mehr beweisen, keine Trophäen der Männlichkeit erlangen. Wenn er eine attraktive junge Deutsche, Schweizerin oder Österreicherin sah, übermannte ihn nicht mehr der Jagdtrieb. Das, wonach er sich jetzt sehnte, fand er bei Luciana. Geborgenheit und Liebe.
In dem Moment, als er die breite Bahnhofstreppe hinunterging, setzte ein Platzregen ein, der von Blitz und Donner begleitet war. Im Laufschritt flüchtete Lupino ins Caffè Olimpia. Ein schmales Lokal, das hauptsächlich von Touristen frequentiert wurde. Entsprechend hoch waren die Preise. Heute war das Lupino egal. Hauptsache, ein trockenes Plätzchen. Er drängte sich an die Bar und orderte einen Piccolo Rosso. Interessiert wanderte sein Blick durch den engen Schlauch – mehr war das Caffè Olimpia nicht. Da immer mehr Menschen mit klatschnasser Kleidung hier Unterschlupf suchten, dampfte es. Lupinos Nase witterte Feuchtigkeit, Schweiß, das Aroma des Kaffees, der ununterbrochen aus der Kaffeemaschine zischte, sowie getoastete Piadini. Lupino versuchte mehrmals, Luciana zu erreichen, doch das Mobilnetz war heillos überlastet. Nach dem zweiten Piccolo Rosso entspannte er sich. Er bestellte einen mit Rohschinken, Ruccola und Käse gefüllten Tramezzino, den er hungrig hinunterschlang. Beim dritten Piccolo Rosso war seine Welt wieder in Ordnung. Eigentlich war das heute sein Glückstag gewesen. Zehntausend Euro verdiente er normalerweise in einem halben Jahr als Fremdenführer. Nun würde er diese Summe für einen 24-Stunden-Job erhalten. Wie er vorgehen wollte? Sobald das Unwetter vorbei war, nach Hause laufen und sich für einige Stunden schlafen legen. Müde genug war er mittlerweile – wozu auch der bereits vierte Piccolo Rosso einiges beitrug. Um drei Uhr in der Früh wollte er aufstehen, in Ruhe einen Kaffee trinken und dann zur Piazzale Roma aufbrechen. Sein Plan war, kurz vor vier mit dem Lieferwagen das Parkhaus zu verlassen und über Mestre auf die Autobahn aufzufahren. Um sechs Uhr morgens wäre er dann in Grado. Dort könnte er in einem früh aufsperrenden Lokal einen weiteren Kaffee schlürfen, um dann pünktlich um acht Uhr der Signora Frulani in ihrem Laden für Haushaltstextilien, Woll- und Stickzubehör die Metallkapsel zu übergeben. Nach der erfolgten Übergabe wollte er sich in Grado ein üppiges Frühstück gönnen und danach entspannt zur Piazzale Roma zurückfahren. Den Autoschlüssel würde er im Wagen stecken lassen. So war es mit Il Piccoletto vereinbart. Und dann – dann würde er um zehntausend Euro reicher sein. Beim fünften Piccolo Rosso träumte er von einem Urlaub mit Luciana auf den Malediven oder Seychellen oder vielleicht auch in Miami Beach mit einem Ausflug nach Disney World. Fliegen würde er natürlich Business Class, und als Unterkünfte kämen ausschließlich 5-Sterne-Hotels in Frage. Luciana würde er wie eine Prinzessin verwöhnen.
Der prachtvolle Barockbau der Villa Corti lag zehn Kilometer westlich von Mestre. Im ehemaligen Audienzzimmer der Villa hatte Fabrizio Norino seinen Arbeitsplatz eingerichtet. In dem großen Raum, man könnte fast Saal dazu sagen, hatte er vor die breite Balkontür einen Schreibtisch stellen lassen. Davor befand sich eine Loggia, die von gewaltigen Säulen gesäumt war. Der Schreibtisch war ein Riesending aus dem 19. Jahrhundert, das interessanterweise perfekt in den barocken Rahmen des Audienzzimmers passte. Hier arbeitete er, schmiedete seine Pläne und führte Krieg. Den Feldzug gegen die Frulanis – Venedigs mächtigen Mafia-Clan. Fabrizio Norino verfolgte ein Ziel: Er wollte die Macht der Frulanis brechen und deren Geschäfte übernehmen. Von seinem Schreibtisch, der aus dunklem Holz gearbeitet war und der auf kunstvoll gedrehten Beinen stand, dirigierte er ein Heer von Spitzeln, das ihn ständig über die Aktivitäten der Frulanis informierte. Wo immer er konnte, störte er die Geschäfte des gegnerischen Clans. Und nun, nun ging er aufs Ganze. Auf die Vernichtung der wichtigsten Köpfe der Frulani-Familie. Dazu hatte er sich entschlossen, einen Spezialisten von außerhalb einfliegen zu lassen. Pünktlich um zehn Uhr war sein Gast auf Venedigs Flughafen Marco Polo gelandet und von seinen Männern in Empfang genommen worden. Nun müsste er jeden Augenblick hier sein.
Norino stand auf, öffnete die Doppeltür und trat auf die Loggia hinaus. Er liebte es, von hier oben auf sein Reich zu blicken. Auf den gepflegten Barockgarten mit Teich und Springbrunnen, auf die sorgsam gestutzten Hecken, die ziegelroten Dächer der Wirtschaftsgebäude und auf die verschlungenen Wege, die allesamt mit weißem Kies bestreut waren. Hier stand er, Fabrizio Norino, der Feldherr. Jung, dynamisch, groß gewachsen, mit blonder Mähne. Schritte waren auf dem Kies zu hören. Norino sah, wie zwei seiner Männer einen kahlköpfigen Kerl mit dichtem Bart und Brille zum Eingang der Villa führten. Er atmete tief durch. Silvio Malherba war ante portas.
„Silvio il Bombardiere?“
„Sì …“
„Willkommen in Venetien! Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug. Nehmen Sie bitte Platz.“
„Grazie.“
Fabrizio Norino setzte sich ebenfalls und musterte Silvio Malherba. Was er sah, gefiel ihm nicht sonderlich. Ein nachlässig, gleichwohl aber teuer gekleideter Mann Ende 30, der sein Gesicht hinter einem dunklen Vollbart verbarg. Über dieser Pelzfresse schimmerte eine spiegelglatte Glatze. Sie erinnerte Norino auf irritierende Art und Weise an Skinheads. Eine Assoziation, die Unbehagen in ihm auslöste. Er mochte die Rechten nicht. Faschisten und Nazis waren Spinner. Mit solchen Leuten machte er nicht gerne Geschäfte.
„Kaffee?“
„Bitte …“
„Sie kommen aus Apulien?“
„Ich bin in Apulien geboren. Lebe aber seit Jahren in Neapel.“
„Sie sind Techniker?“
„Chemiker. Ich habe Chemie studiert, allerdings keinen akademischen Abschluss.“
„Sie wurden als Student verhaftet …“
„Das ist korrekt.“
„Wegen eines Bombenanschlages. Im Prozess konnte der Staatsanwalt Ihnen aber nicht nachweisen, dass Sie die Bombe gebaut hatten. Auch Ihre Bombenwerkstatt konnte nicht ausfindig gemacht werden.“
Malherba lächelte und goss einen Hauch von Milch in die Espressoschale, rührte um und nippte. Dann sah er Norino direkt in die Augen.
„Um eine Bombe zu bauen, brauche ich keine Werkstatt. Das mache ich in jeder Küche. Danach räume ich auf, wasche ab, entsorge den Müll. E basta.“
Leise vor sich hin lächelnd nahm der Bombenbauer einen weiteren Schluck Kaffee. Norino bemerkte nun eine Facette an seinem Gegenüber, die ihm gefiel. Malherba war ein Tüftler. Ein Pedant mit sorgfältig manikürten Händen, penibel gestutztem Vollbart, sündteurer Designerbrille sowie einem makellosem Gebiss. Gesicht und Schädel waren gebräunt, die abgerissene Jeans war ein Designer-Modell. Last, not least trug Malherba nach Maß gefertigte Schuhe. All das mochte Norino. So einen Mann hatte er gesucht. Malherba hatte Stil, im Gegensatz zu den Russen, die er für das fehlgeschlagene Attentat auf Il Piccoletto engagiert hatte. Das waren Proleten in Armani-Anzügen mit schlechtem Gebiss, mit Brillanten besetzten Uhren und noch schlechteren Manieren.
„Sie werden für mich einen Job erledigen. Nicht hier, sondern in Grado. Ich habe ein Apartment in einer meiner Villen für Sie vorbereiten lassen. Sie werden alles vorfinden, was Sie brauchen. Dort können Sie in Ruhe arbeiten. Am besten Sie beginnen sofort. Die Zeit drängt.“
„Perfetto.“
Malherba trank den Rest des Kaffees aus und stand auf.
„Um mit der Arbeit zu beginnen, brauche ich einige Ingredienzien. Wo bekomme ich die?“
Norino wandte sich an einen seiner beiden Untergebenen.
„Mimo! Du bringst Signore Malherba in sein Quartier und beschaffst alles, was er benötigt. Sobald er mit seinem … seinem Baby … fertig ist, wirst du ihn nach Grado chauffieren.“
Verwirrt und verschlafen wachte Lupino Severino um fünf Uhr morgens auf. Hatte er vergessen, den Wecker zu stellen? Oder hatte er ihn nicht gehört? Hektisch schlüpfte er in seine Kleider – war eine Regenjacke notwendig? Ein Blick aus dem Fenster ließ ihn erschauern: Nieselregen überzog die Dachlandschaft wie eine transparente Folie. Venedig eingepackt wie ein Panettone. Er zog seine Gummistiefeletten an und eilte aus dem Haus. Eine halbe Stunde später hatte er das Parkhaus an der Piazzale Roma verlassen und rollte über den Damm nach Mestre. Die Scheibenwischer quietschten, der Dieselmotor des Transporters brummte unwillig und diffuses Morgenlicht kroch langsam über die dunklen Gewässer der Lagune. Eine innerliche Kälte hatte von ihm Besitz ergriffen. Zwanzig Minuten später war er auf der A 57 in Richtung Grado unterwegs. Hier regnete es wesentlich stärker. Fontänen spritzten, die Sicht war schlecht und im Fahrerhaus liefen innen die Scheiben an. Trotzdem blieb er eisern am Gaspedal stehen und schlitterte – mehr als dass er fuhr – mit deutlich über 100 km/h auf der Autobahn dahin. Er war nun hellwach und voll konzentriert. Sein Ziel: möglichst um acht Uhr Grado erreichen und Donna Antonella die Kapsel mit der Liste aushändigen. Wenn er das hinter sich hatte, war alles im grünen Bereich. Dann würde er entspannt frühstücken gehen und den Tag, soweit das bei diesem Sauwetter möglich war, genießen.
Um 7:52 fuhr er über den Damm der regengrauen Lagune von Grado auf die wolkenverhangene Inselstadt zu. Da er sich daheim noch im Internet den Stadtplan und seine Zieladresse, Via Caprin 53, angesehen hatte, fuhr er vor dem ersten Kreisverkehr nach dem Damm scharf links und folgte dem Canale della Schiusa, bog bei der Via Barbana nach rechts ab und dann noch einmal nach rechts in die Fußgängerzone ein. Als er rechter Hand die Nummer 53 sah, ließ er den Lieferwagen an die linke Bordsteinkante rollen und schaltete den Motor ab. Es war 7:58. Entfesselte Windböen peitschten immer neue Regengüsse auf das Fahrzeug und auf die wenigen Menschen, die mit Regenmänteln und Schirmen bewaffnet durch die schmale Gasse eilten. Er überlegte, wann er die Metallhülse aus seinem Allerwertesten hervorholen sollte. Sicherheitshalber hatte er sie heute Morgen vor dem Wegfahren wieder versteckt. Im Geschäft vor der Signora? Wohl kaum. Sollte er sie bitten, dass er kurz ihre Toilette aufsuchen durfte? Was war, wenn sie ihm das verweigerte? Es war 8:06, als ein junges Mädchen mit einem vom Wind verbogenen Regenschirm unter dem Vordach des Hauses Nummer 53 Schutz suchte. Völlig durchnässt kramte sie mit klammen Fingern in den Tiefen ihrer Handtasche. Endlich fand sie, wonach sie suchte: den Schlüsselbund. Und zu Lupinos großer Überraschung ging sie nun auf die Eingangstür des Kurzwaren-, Woll-, Stickerei- und Wäschegeschäfts der Donna Antonella zu. Aus dem Schaufenster blickte väterlich ein gesticktes Porträt von Papst Johannes Paul II. auf sie herunter. Lupino hatte inzwischen Hose und Unterhose heruntergezogen und saß mit nacktem Hintern auf dem Fahrersitz. Nach kurzem Suchen hatte das Mädchen in dem großen Schlüsselbund den richtigen Schlüssel gefunden und steckte ihn ins Schloss der Eingangstür. Lupino hatte gerade zwei Finger in seinem Hintern, als es eine gewaltige Explosion gab. Glassplitter, Metall- und Mauerstücke sowie Stücke von Kurzwaren, Textilien, Wolle und Fleischfetzen des Mädchenkörpers wurden gegen den Lieferwagen mit der Aufschrift ,Al Gusto‘ geschleudert. Die Windschutzscheibe zerbarst. Eine unheimliche Stille senkte sich über die Straße. Nach Augenblicken des Erstarrens ließ er die Metallhülse in die Hosentasche gleiten, zog Hose und Unterhose herauf, öffnete die Autotür und stürzte hinaus in den Regen. Nichts wie weg, dachte er sich, als er im Laufen den Hosengürtel festzurrte.
Völlig verstört und mit einem merkwürdigen Summen in den Ohren wankte er durch die menschenleere Fußgängerzone Grados. Fette Regentropfen peitschten gegen Gesicht und Jacke und wuschen den meisten Dreck ab, den die Explosion ihm entgegengeschleudert hatte. Allmählich bekam er einen kühlen Kopf. Er hörte die näherkommenden Sirenen der Einsatzfahrzeuge und dachte: Weg von der Straße! Plötzlich stand er an der Riva San Marco. Vor ihm das von Häusern umgegebene Hafenbecken, in dem unzählige festvertäute Segelboote im aufgewühlten Wasser schaukelten. Wellen schlugen gegen die Hafenmauern, die Boote ächzten und stöhnten, die Schäkel klimperten metallisch. Rechter Hand jenseits der Straße sah Lupino durch den Schleier von Wasser, der ihm von Schädel und Stirn über beide Augen rann, die hell erleuchteten Fenster eines Caffès. Als er die Straße überqueren wollte, zuckte er zurück. Mit irrwitzigem Tempo, Blaulicht und Sirene raste ein Polizeiwagen an ihm vorbei. Er spritzte ihn von oben bis unten an. Lupino schüttelte sich wie ein nasser Hund. Dann lief er über die Straße hin zu den Lichtern des Lokals. Vor dem Eintreten hielt er kurz inne, holte tief Luft und betrat beherrscht und möglichst unauffällig das Caffè.
„Buongiorno! Un espresso doppio …“
„Un doppio …“, murmelte der Mann hinter der Bar, ohne aufzusehen. Er setzte gerade mit großer Sorgfalt die Milchhäubchen auf zwei Cappuccini. Die Anwesenden beachteten Lupino nicht. Mit gesenktem Kopf ging er zielstrebig aufs WC, wo es zum Glück einen Stapel Papierhandtücher gab. Damit wischte er sich die Nässe sowie die ekelhaften Blut- und Dreckspritzer aus dem Gesicht. Viel unangenehmer waren zwei Glassplitter. Einer steckte in seiner Stirn, der andere in der Wange. Er entfernte beide und tupfte die kleinen blutenden Stellen mit kaltem Wasser ab. Mit klammen Fingern brachte er seine Frisur in Fasson und begab sich einigermaßen wiederhergestellt zurück unter die Menschheit. Ein älterer Herr polterte herein und begann laut und aufgeregt von der Bombenexplosion zu erzählen. Lupino stürzte den Doppio hinunter, bezahlte und verließ das Lokal. Wie ein geprügelter Hund trabte er durch die trostlose Fußgängerzone. Wasser sickerte von seinem Kopf über den Hals hinunter ins Genick und weiter. Wenn ich jetzt nicht sofort ins Trockene komme, hole ich mir den Tod. Getrieben von diesem Gedanken betrat er die Lobby eines Hotels. Ein ästhetisch nicht sehr anspruchsvoller Neubau, vermutlich rund um die Jahrtausendwende errichtet. Innen das Übliche: Ein bisschen Marmor und Messing, zahlreiche Spiegel, Teppichböden. Er riss sich zusammen, ging, eine nasse Spur am Boden hinterlassend, auf die Rezeption zu, quälte sich zu einem Lächeln und fragte nach einem Zimmer. Die Rezeptionistin, ein asexuell aussehendes Wesen mit Kurzhaarfrisur und verschlafenem Gesichtsausdruck, tippte in ihrem Computer herum und fragte ohne ihn anzusehen: „Passaporto?“
Lupino schob ihr seinen Führerschein hin, den sie ohne zu zögern akzeptierte. Sie hackte seine Daten in den Computer, nahm ein zusammengefaltetes Kartonkärtchen, steckte eine Plastikkarte hinein und murmelte: „Camera 309, terzo piano. L’ascensore è alla destra.“
„Grazie.“
Die Aufzugskabine befand sich im Erdgeschoss, sodass Lupino – ohne lange zu warten – einsteigen und in den 3. Stock fahren konnte. Das Zimmer 309 war absolut durchschnittlich. Weder zu klein noch zu groß, nach Putzmittel riechend, völlig unpersönlich eingerichtet. Er sperrte ab, riss sich die klitschnassen Kleider vom Leib und betrat das Badezimmer. Neonröhren flackerten, dann grelle Beleuchtung. Ein Blick in den Spiegel ließ Lupino erschrecken. Er sah einfach scheiße aus. Angewidert wendete er sich von seinem Spiegelbild ab, trat in die gemauerte Dusche und drehte das Wasser auf. Eiskaltes Wasser prasselte ihm entgegen. Wärmer, wärmer! Ahhh! Sein frierender Körper drängte sich dieser Wohltat entgegen. Heißes Wasser. Herrlich.
„Donna Antonella …“
Weiter kam Lupino nicht. Ein Schlag in den Solarplexus nahm ihm die Luft. Er krümmt sich zusammen, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Mit am Rücken gefesselten Händen lag er da und schnappte nach Luft. Einer der Typen knurrte: „Maul halten. Du redest nur, wenn du gefragt wirst.“
Nun hörte er Donna Antonellas raue Stimme, die sehr leise sprach: „Allora … Tony, du hast den Kerl überwältigt und in den Trailer gebracht. Wo ist er dir über den Weg gelaufen?“
„In der Altstadt beim Yachthafen. Er hat sich dort nach Ihnen, Signora, erkundigt. Angelo hat ihn zuvor schon in der Stadt gesehen. Unmittelbar nach der Explosion. In einem Caffè, ganz in der Nähe.“
„Hebt ihn hoch!“
Zwei kräftige Hände packten Lupino an den Schultern und richteten ihn auf. Die weißhaarige, elegant gekleidete Dame musterte ihn kalt.
„Stimmt das?“
„Ich soll Ihnen …“
Weiter kam Lupino nicht. Wieder hatte er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Der Typ knurrte neuerlich: „Antworte auf die Frage!“
Lupino krümmte sich und rang nach Luft. Gleichzeitig hörte er Donna Antonella sagen: „Tony, mach die Herdplatte heiß.“
„Wie heiß, Donna Antonella?“
„Ganz heiß. Ich will das hier schnell zu Ende bringen. Der Kerl kostet uns Zeit. Allora! Warst du heute bei der Explosion dabei?“
„Ja …“
„Hast du die Bombe gebaut?“
„Nein.“
„Wer war es?“
„Weiß ich nicht.“
Donna Antonella deutete mit ihrer sehr gepflegten, ring- und edelsteingeschmückten rechten Hand auf die Herdplatte. Lupino wurde neuerlich zum Herd gezerrt, sein Gesicht wurde hinunter zur Platte gedrückt. Lupino spürte die Hitze und schrie. Im letzten Augenblick konnte er das Gesicht zur Seite drehen. Zischend verbrannte die Haut seiner linken Wange. Lupino brüllte vor Schmerz. Leise erklang Donna Antonellas Stimme: „Wer hat die Bombe gelegt?“
„Ich weiß es nicht!“
„Was hast du dann hier gemacht?“
„Auf Sie gewartet. Vor Ihrem Geschäft.“
„Wolltest du mich erschießen?“
„Nein!“
„Tony …“
Neuerlich wurde Lupinos Gesicht nach unten in Richtung der brennheißen Herdplatte gedrückt. Er schrie wie von Sinnen und trat mit den Beinen um sich. Kurz lockerte sich der Griff in seinen Haaren. Doch die Haare wurden nun von einer zweiten Hand gepackt. Sein Gesicht raste auf die Herdplatte zu. Plötzlich war es dunkel. Unmittelbar über dem glühenden Eisen ließen die Hände seinen Kopf los. Donna Antonella fluchte: „Porca Madonna! Wer hat das Licht ausgeschaltet?“
„Wir nicht …“
„Luca, sieh nach, was draußen los ist.“
Einer der Typen riss die Eingangstür des Trailers auf und stürmte hinaus. Eine Salve ertönte. Lupino sah die Silhouette des Kerls vor dem Trailer wanken. Dann ging alles blitzschnell. Donna Antonella kommandierte „Zum Auto!“ und hielt plötzlich eine abgesägte doppelläufige Schrotflinte in ihrer manikürten Rechten. Mit der Linken packte sie Tony am Arm und schob ihn vor sich, hinter seiner massigen Gestalt Deckung suchend, aus dem Trailer. Der Kerl hatte – weiß der Teufel woher – in beiden Händen eine Uzi und feuerte aus allen Rohren. Hinter ihm und Antonella stürmte auch der dritte Typ aus dem Trailer, ebenfalls mit einer Uzi wild um sich schießend. Während draußen ein irrwitziges Feuergefecht ablief, bei dem sich etliche Kugeln ins Wageninnere verirrten, kroch Lupino unter die Bank hinter dem Esstisch, wo er sich wie ein Baby zusammenrollte. Er hörte das Aufheulen eines Motors, zuschlagende Türen sowie quietschende Reifen. Eine letzte Feuersalve, dann war es still.
Die Stille dauerte nicht lange. Lupino wollte gerade unter dem Tisch hervorkriechen, als die Tür des Trailers aufgerissen wurde. Durch das Wohnwageninnere geisterte ein gleißender Lichtstrahl. Eine Gestalt betrat den Wohnwagen, dann noch zwei. Lupino sah nur deren Schuhe: Kampfstiefeln. Nervös zuckte der Lichtstrahl der Taschenlampe durch Raum, dann rief eine Männerstimme mit deutlichem Akzent: „Corneliu! Mach Licht!“
Kurze Zeit später wurde es in dem Trailer wieder hell. Ein vierter Mann betrat den Wohnwagen: „Verbrannt riecht es.“
„Verbranntes Fleisch. Donna Antonella hat Steak gegrillt …“
Kehliges Lachen. Eine andere Stimme, ebenfalls mit Akzent, fragte: „Was machen wir mit den beiden Toten vor der Tür?“
Der einzige Italiener und offensichtliche Anführer der Gruppe antwortete: „Anzünden … Donna Antonella mag ja Gegrilltes.“
Neuerliches Lachen.
Plötzlich ging einer der Kerle in die Knie und leuchtete mit seiner Taschenlampe unter den Tisch – direkt in Lupinos Augen.
„Da liegt einer … Raus da! Avanti!“
Da Widerstand zwecklos war, kroch Lupino mühsam mit seinen auf den Rücken gefesselten Händen unter Bank und Tisch hervor. Die Kerle, die paramilitärisch gekleidet und mit Sturmgewehren bewaffnet waren, musterten ihn neugierig. Einer griff ihm brutal ins Gesicht und betrachtete interessiert die verbrannte Wange.
„Ahh! La grigliata!“
Gelächter. Der Mann drückte ihm mit den Fingern auf die Wunde, Lupino schrie auf. Der Anführer fragte: „Warum hat die Alte dich gegrillt?“
Lupino zögerte, neuerlich drückte sein Peiniger auf die Wunde. Lupino schrie: „Sie wollte wissen, wer die Bombe gelegt hat!“
Gelächter.
„Und? Hast du es ihr gesagt?“
„Ich war’s nicht!“
Neuerliches Gelächter, das aber erstarb, als die Sirenen von Einsatzfahrzeugen zu hören waren. Der Anführer ließ Lupinos Gesicht los und zischte: „Weg hier!“