Kaiser, Kraut und Kiberer - Gerhard Loibelsberger - E-Book

Kaiser, Kraut und Kiberer E-Book

Gerhard Loibelsberger

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Beschreibung

In 13 Kurzgeschichten ermittelt Inspector Joseph Maria Nechyba diesmal nicht nur im alten Wien, sondern auch in Venedig, in Freiburg im Breisgau sowie in Röschitz im Weinviertel. Zusätzlich erhalten Nechyba-Fans interessante Einblicke in sein Privatleben. Natürlich wird auch wieder gekocht und gespeist. Und: Es kommt zur finalen Begegnung mit dem Naschmarkt-Mörder Aloysius von Schönthal-Schrattenbach.

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Gerhard Loibelsberger

Kaiser, Kraut und Kiberer

Ermittlungen im alten Wien, in Venedigund Freiburg

Impressum

Für Lisa

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Klimt,+Gustav%3A+Judith+II

ISBN 978-3-8392-4442-5

Zum Buch

13 Fälle für Nechyba In 13 Kurzgeschichten ermittelt Inspector Joseph Maria Nechyba diesmal nicht nur im alten Wien, sondern auch in Venedig, in Freiburg im Breisgau sowie in Röschitz im Weinviertel. Die Ermittlungen in Freiburg unternimmt Joseph Maria Nechyba im Namen seiner Majestät, des Kaisers Franz Joseph I. Dieser beauftragte den Inspector persönlich mit einer heiklen Mission im Großherzogtum Baden. Zusätzlich erhalten Nechyba-Fans interessante Einblicke in sein Privatleben. So erfährt man vom ersten abgelehnten Heiratsantrag an seine spätere Frau Aurelia, vom Tod seiner Ziehmutter Anna Grubenschlager sowie von der Hochzeitsreise der Nechybas nach Venedig. Natürlich wird auch wieder gekocht und deftig gespeist: Die Köstlichkeiten reichen von würzigen Krautrouladen über Lammgulasch und Szegediner Krautfleisch bis hin zu Gerösteten Knödeln mit Ei und vielem mehr. Und: Es kommt zur finalen Begegnung zwischen Inspector Joseph Maria Nechyba und dem Naschmarkt-Mörder Aloysius von Schönthal-Schrattenbach.

Gerhard Loibelsberger, geboren 1957 in Wien, startete 2009 mit den »Naschmarkt-Morden« eine Serie historischer Kriminalromane rund um den schwergewichtigen Inspector Joseph Maria Nechyba. 2010 wurden »Die Naschmarkt-Morde« für den Leo-Perutz-Preis nominiert. Darüber hinaus wurden die Werke des Autors bereits mit dem silbernen sowie goldenen HOMER Literaturpreis ausgezeichnet. Im Jahr 2017 erschienen der Italien-Thriller »Im Namen des Paten« – als Fortsetzung des Venedig-Thrillers »Quadriga« – sowie der erste Nechyba-Comic »Der Bankert vom Naschmarkt«. Zu Loibelsbergers 60. Geburtstag erschien der Lyrik-Band »Ants & Plants« als E-Book. Infos unter: www.loibelsberger.at

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Morphium, Mokka, Mördergeschichten (2019), Young Dummies  (E-Book only, 2018), Quadriga (2018), Schönbrunner Finale (2018), Ants and Plants (E-Book only, 2017), Der Henker von Wien (2015), Wiener Seele (2014), Kaiser, Kraut und Kiberer (2014), Todeswalzer (2013), Nechybas Wien (2012), Mord und Brand (2011), Reigen des Todes (2010), Die Naschmarkt-Morde (2009)

Inhalt

Impressum

Verzeichnis der historischen Personen

Krautrouladen (1902)

Der Kaudemhalchener (1904)

Sommerfrische-Mord (1905)

Der Schurl vom Heustadelwasser (1906)

Leichenfleddern (1906)

Liebe (1907)

Der Granat (1909)

Der Bierboykott (1911)

A Schoafe (1912)

Nechyba in Freiburg (1912)

Nur ein Dienstbote (1912)

Der Tod des Cafetier (1917)

Das Ende (1918)

Glossar der Wiener Ausdrücke

Quellen

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Verzeichnis der historischen Personen

Alexander von Dusch (1851 – 1923): badischer Regierungschef

Franz Josef I. (1830 – 1916): Kaiser von Österreich, König von Ungarn

Ferdinand Gorup von Besanez (1855 – 1928): Zentralinspector der Wiener Sicherheitswache, ab Juli 1908 stellvertretender Polizeipräsident, ab Juni 1914 Polizeipräsident

Johann von Habrda (1846 – 1916): Wiener Polizeipräsident von 1897 bis 1907

Dr. Albin Haberda (1868 – 1933): Gerichtsmediziner

Wilhelm Kerl (1854 – 1922): Besitzer des Café Landtmann

Adolf Kratochwilla (1860 – 1938): Besitzer des Café Sperl

Josef Lang (1855 – 1931): Scharfrichter (Henker)

Ludwig Viktor von Österreich (1842 – 1919): Erzherzog

Ignaz Pamer (1866 – 1957): Zentralinspector der Wiener Sicherheitswache

Johann Schwarzer (1880 – 1914): Fotograf, Kameramann und Filmproduzent. Gründete Österreichs erste Filmproduktion, die Saturn-Film

Krautrouladen (1902)

Liebevoll streichelte JosephMaria Nechybaden riesigen Krautkopf. Glücklich wie ein Kind, das ein heiß begehrtes Spielzeug erhalten hat, schob er sich durch das Gedränge des nachmittäglichen Naschmarktes. Jetzt drängelten keine Hausfrauen und Dienstmädchen, die hier vormittags anzutreffen waren, sondern Bauern und Fratschlerinnen1, die ihre sieben Sachen zusammenpackten und von dannen zogen. Ja, die meisten hatten ihr Obst und Gemüse schon eingepackt, einige waren überhaupt schon weg. Die Sonne brannte Nechyba auf seinen breiten Buckel, und er schwitzte in seinem Sakko und dem Überzieher. Eigentlich hätte er an so einem schönen Maitag auch ohne diesen ausgehen können, aber die Macht der Gewohnheit hatte ihn dazu veranlasst. Amüsiert betrachtete er das Gewurl2rund um ihn und genoss die Melange aus vielerlei Sprachen, die ihn umgab. Bei der Magdalenenstraße angelangt, beschloss er, noch einen Sprung ins ›Café Sperl‹ zu schauen, bevor er heimging, um mit dem Kochen zu beginnen.

»Nechyba«, lachte der Redakteur Goldblatt, als er den Inspector des k.k. Polizeiagenteninstituts mit einem Krauthäuptel unterm Arm das Kaffeehaus betreten sah. »Wen haben S’ denn da geköpft?«

»Einen Delinquenten«, grinste Nechyba und fügte hinzu. »Der ist verurteilt, heut Abend gekocht und geschmort zu werden.«

»Sie und Ihre Kocherei … ich kenn’ sonst kein Mannsbild, das selber kocht.«

»Was bitte soll ich denn tun? Ich bin nun einmal Junggeselle. Den anderen Männern kochen ihre Frauen. Da ich keine hab, koch ich selber. Und damit Sie’s wissen, Goldblatt: Ich koche gerne.«

Goldblatt, der ebenfalls unverheiratet war, schüttelte den Kopf und schlug Nechyba eine Tarockpartie vor. Gemeinsam mit dem Cafetier Kratochwilla und dem Scharfrichter Lang spielten sie einige Runden, wobei Nechyba unglaublich viel Glück hatte und permanent gewann. Irgendwann knallte Goldblatt seine Karten auf den Tisch und sagte:

»Aus! Schluss! Ich zahl die Runde und hör auf. Das war jetzt das, ich weiß nicht wievielte Mal hintereinander, dass ich lauter Glatz’n3 gehabt hab. Aber nicht soviel Glatz’n, dass ich einen Bettler spielen hätte könnte. Ich mag nimmer.«

Die anderen Mitspieler akzeptierten grinsend, und es entspann sich eine freundschaftliche Plauderei. Nechyba brach ziemlich bald auf und eilte heimwärts. Beim Juwelier Löwenstein, der bei Nechybas Wohnung ums Eck sein Geschäft hatte, lag der riesige Bernhardiner Max so wie immer heraußen auf dem Gehsteig. Im Gegensatz zu sonst war er heute merkwürdig verstört. Mit der Hinterpfote kratzte er sich den Bauch und wimmerte leise. Der Juwelier kniete neben dem Hund und tätschelte ihn.

»Was hat er denn, der Max? Hat der böse Wolf einen Haufen Steine g’fressen?«, erkundigte sich Nechyba und streichelte den massigen Hundeschädel.

»Mein Gott, wenn ich das wissert! Seit einer Stunde geht das schon so. Wahrscheinlich hat er g’fressen irgendeinen Dreck«, entgegnete ihm Löwenstein.

Nechyba stapfte die Stiegen zu seiner Wohnung empor, sperrte auf, legte den Krautkopf liebevoll auf den Küchentisch und machte als Erstes Feuer im Herd. Da er sowohl die Herdplatten als auch das Backrohr brauchte, fütterte er beide Heizkammern mit mächtigen Buchenscheitern. Mit kleinen trockenen Spänen legte er dann Feuer unter das Holz. Damit es richtig gut durchzog, ließ er die Ofentüren einen Spalt offen. Als das Feuer allmählich zu knistern und die dicken Holzscheite zu glimmen anfingen, öffnete sich Nechyba ein Fläschchen Wein. Einen Grünen Veltliner vom Nussberg. Mit Bedacht trank er einige Schlucke, dann zerlegte er den Krautkopf. Er schnitt den Strunk weg und löste vorsichtig die großen festen Blätter ab. In einem großen Häfen4holte er Wasser von der Bassena5am Gang und stellte es auf die große Herdplatte, die mittlerweile schon ziemlich heiß war. Er salzte das Wasser, und als es schließlich kochte, gab er zwölf Krautblätter hinein. Binnen kurzer Zeit waren sie blanchiert, und Nechyba schleppte den brennheißen Häfen auf den Gang zur Bassena, wo er das Wasser zischend abgoss. Dann schreckte er die heißen Blätter mit eiskaltem Wasser ab. Der Fleischhauerbub hatte ihm inzwischen das vorbestellte Faschierte6gebracht, und Nechyba musste jetzt nur noch runter zur Milchfrau, um frischen Rahm zu kaufen. Den hatte er vorher glatt vergessen. Zweimal kam er an David Löwensteins Geschäft vorbei. Und zwar immer dann, wenn Max sich unter Krämpfen wand und merkwürdige Flüssigkeiten auf den Gehsteig erbrach. Nechyba tat das Riesenvieh leid. Er fragte Löwenstein, was er zu tun gedenke, und der antwortete:

»Ich werd Max ausnahmsweise mit nach Hause nehmen. Sonst bewacht er in der Nacht ja immer mein Geschäft. Aber heut möchte ich ihn nicht allein lassen. Meine Frau wird ihm kochen ein Hühnersupperl. Vielleicht hilft das.«

Nechyba wünschte gute Besserung und keuchte die Stiegen zu seiner Wohnung empor. Die Handvoll Reis, die er vor dem Weggehen hingestellt hatte, war nun weich gekocht. Er nahm das Reindl vom Herd und ließ es abkühlen. Inzwischen weichte er eine Semmel ein, schnitt Speck und Zwiebel. Die Letzteren beiden röstete er in einer Pfanne an. Er gab Salz und Pfeffer, eine kräftige Prise Majoran sowie ein bisschen gemahlenen Kümmel dazu. Das Faschierte, die eingeweichte Semmel, den Reis sowie ein Ei mischte er nun darunter und knetete alles zu einer geschmeidigen Füllmasse. Dann holte er eine rechteckige Bratpfanne aus seinem Küchenkastl und schmierte sie mit Butter aus. Aus der Füllmasse formte er dicke Würstchen, die er jeweils in ein Krautblatt einrollte. Jede solchermaßen angefertigte Roulade wurde vorsichtige in die Bratpfanne gelegt. Als er damit fertig war, ging er in die Speisekammer, die auch an einem warmen Tag wie heute recht kühl war, und holte einen Topf Rindsuppe heraus. Er goss fingerhoch Suppe in die Pfanne. Doch halt! Er hatte die Erdäpfel7vergessen. Seufzend ging er nochmals zur Speisekammer und kramte aus der Erdäpfelkiste drei mittelgroße Knollen. Die trug er hinaus zur Bassena und wusch sie unter dem kräftigen Wasserstrahl. Zurück in der Küche, schälte und zerkleinerte er sie in mittelgroße Stücke, die er zwischen die Krautrouladen legte. Dann nahm er den Rahm, würzte ihn mit Paprikapulver, Salz sowie einem Spritzer Zitronensaft und versprudelte alles. Dieses Gemisch goss er über die Rouladen und die Erdäpfelstücke. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Er trank einen Schluck Wein, öffnete das Backrohr und schob die Pfanne hinein. Mit einem Blick auf die Taschenuhr vergewisserte er sich, wie spät es war. In einer Dreiviertelstunde würde alles fertig sein.

Neuerlich zerkleinerte er Speck und Zwiebel. Während er das restliche Kraut für eine Krautsuppe in kleine Stücke schnitt, schwitzte er in einer Kasserolle Speck und Zwiebel an. Anschließend gab er das Kraut dazu. All das röstete er kräftig, staubte es mit Mehl, würzte mit Salz, Pfeffer und Kümmel, rührte mehrmals um und goss schließlich mit der restlichen Rindsuppe auf. Nun kam der Deckel drauf, und die Kasserolle wurde auf eine Stelle der metallenen Herdplatte geschoben, die heiß, aber nicht zu heiß war. Dort konnte die Krautsuppe leise vor sich hinköcheln.

Er hatte es geschafft! Der Krautkopf war verarbeitet. Er zog sich Schuhe und Socken aus, setzte sich hin, trank einen Schluck Wein und genoss die Kühle des Linoleumfußbodens. Nach einem weiteren Schluck faltete er die Hände über dem Bauch und döste ein. Er träumte, dass Einbrecher beim Juwelier Löwenstein eingestiegen waren. Und kein Max war da, der sie hätte stellen oder verbellen können. Plötzlich war Nechyba hellwach und sagte laut zu sich:

»Der Max wurde vergiftet!«

Vom Nickerchen noch ganz benommen schlüpfte er in Socken und Schuhe, warf sich sein Sakko über und stürmte aus der Wohnung. Im letzten Moment, als er die Wohnungstür schon zuwerfen wollte, hielt er inne und erinnerte sich, dass er den Schlüsselbund auf den Küchentisch gelegt hatte. Er ging nochmals zurück in die Küche, nahm die Schlüssel, sperrte die Wohnungstür ab und lief, mehrmals laut gähnend, die Stiegen hinunter. Unten auf der Straße war es bereits dunkel, die Gaslaternen verbreiteten ihr warmes Licht. Plötzlich hielt Nechyba inne und murmelte:

»Ich bin ein alter Depp. Ich träum was und bild mir ein, dass es wahr sei. Wahrscheinlich ist eh nix. Der Hund hat halt irgendeinen Dreck g’fressen. Vergiftet? So ein Blödsinn!«

Fast hätte Nechyba umgedreht und wäre zurück in seine Wohnung gegangen. Da es aber zu Löwensteins Juwelierladen nur mehr ein paar Schritte waren, ging er schließlich doch weiter. Ruhig und verlassen lag das Geschäft da. Nechyba stand vor dem Juwelierladen und stierte in die Auslage. Als er so dastand und sich über sich selbst ärgerte, sah er plötzlich ein flackerndes Licht. Zuerst glaubte er, sich getäuscht zu haben, doch dann sah er es im Inneren des Ladens neuerlich.

»Also doch!«, grunzte er. Eiligen Schrittes ging er zum Haustor und läutete die Hausmeisterin heraus. Er zeigte ihr die Dienstkokarde des k.k. Polizeiagenteninstituts und fragte, ob es einen Hintereingang zu David Löwensteins Geschäft gäbe. Als sie mit einem verschlafenen »Ja, freilich« antwortete, raunzte er sie an:

»Auf was warten S’ denn? Zeigen S’ ihn mir, aber heute noch!«

Die Hausmeisterin schlapfte8 voran in den Innenhof. Dort deutete sie auf eine Tür, deren Fenster vergittert war. Das Türblatt war angelehnt, das Schloss aufgebrochen.

»Rennen S’ zur Wachstub’n und holen S’ Verstärkung. Ich geh inzwischen rein!«

»Wollen S’ net warten, bis die Verstärkung da ist?«

Doch Nechyba war schon bei der Tür und öffnete sie vorsichtig. Ein leises Quietschen erklang. Auf Zehenspitzen balancierte Nechyba seinen massigen Körper an einem Büro und einer Toilette vorbei in Richtung Verkaufsraum. Dort sah er zwei Silhouetten, die über eine Vitrine gebeugt waren. Eine Kerze warf flackernde Schatten. Als er näherkam, erkannte er, dass einer der beiden Einbrecher einen Sack aufhielt, in den der andere vorsichtig Schmuckstücke und Uhren hineingleiten ließ. Nechyba schaffte es, unmittelbar hinter die beiden zu kommen, ohne bemerkt zu werden. Als sie sich erschreckt umdrehten, stürmte er vor, packte ihre beiden Köpfe bei den Haaren und stieß sie krachend zusammen. Die Kerle schrien auf und schlugen um sich. Doch sofort krachten ihre Schädel wieder aneinander. Das wiederholte sich so lange, bis die beiden bewusstlos waren. Nechyba ließ sie zu Boden fallen. Er drehte ihre Körper mit dem Gesicht zum Boden. Ihre Arme streckte er breit aus. Dann schnappte er sich einen Stuhl und setzt sich zwischen die beiden. Als einer schließlich aufwachte und sich bewegen wollte, herrschte er ihn an:

»Bleib so liegen, sonst brech ich dir ein paar Knochen!«

Der zweite, der ebenfalls aufgewacht war, nahm diese Warnung nicht ernst. Er stützte sich mit den Händen ab und versuchte, aufzustehen. Nechyba schnellte hoch und sprang mit seinem ganzen Gewicht auf dessen Hand. Es knirschte hässlich. Der Einbrecher jaulte auf und rollte sich wie ein Fötus zusammen. Winselnd begann er zu weinen. Der zweite zuckte am ganzen Körper, blieb aber mit gespreizten Armen am Boden liegen. Bedächtig trat Nechyba neben ihn und stieg sanft auf seine Hand. Dann sagte er mit leiser Stimme:

»Was habt ihr mit dem Max, mit dem Bernhardiner, g’macht?«

Zuerst antwortete der Kerl nicht. Als Nechyba jedoch den Druck erhöhte, stieß er hervor:

»Na was werden wir schon g’macht haben? A Stückl Wurscht hamma g’nommen und Rattengift eineg’steckt. Das hat das blöde Hundsvieh dann schwanzwedelnd g’fressen.«

Es dauerte ziemlich lang, bis die uniformierten Kollegen von der Wachstube eintrafen. Sie schnappten die beiden Einbrecher beim Genick und führten sie ab. Außerdem baten sie Nechyba, mitzukommen, um das Festnahmeprotokoll anzufertigen. Nechyba nickte und ging schweigend mit. Herzlich begrüßte er den dienstführenden Beamten Alois Bitzinger, den er von früher kannte. Bitzinger war ein gemütliches Haus9. Umgehend schickte er einen Untergebenen um zwei Glas Bier. Nechyba bot ihm eine Virginier an, die er dankend annahm. Rauchend und Bier trinkend machten sie sich nach einem kleinen Plausch an das Verfassen des Protokolls. Zu diesem Behufe rief Bitzinger einen weiteren Beamten als Schriftführer zu sich. Der hatte den Mund voll, weil er aus einem Menagereindl10 gerade sein Abendessen in sich hineinstopfte. Entschuldigend sagte er:

»Ich hab grad so einen Hunger g’habt. Wollen die Herren kosten? Meine Frau macht ein exzellentes Krautfleisch …«

Nechyba traf fast der Schlag. Er sprang auf, schlug sich auf die Stirn und rief:

»Jessas! Die Krautrouladen!!!«

1 Marktweiber

2 Gewimmel

3Karten, die nicht zählen

4Topf

5 Gemeinsames Wasserbecken auf dem Gang

6Hackfleisch

7Kartoffel

8schlurfte

9gemütlicher Kerl

10Verschließbare Rein, in der man früher Essen transportierte

Der Kaudemhalchener (1904)

»Ja Kruzitürken11!Wo in Dreiteufelsnamen ist mein Sakko?«

Die donnernde Stimme des Hofrats Dr. Schmerda ließ die ganze Familie zusammenlaufen. Seine Frau, die Zwillinge Bernadette und Charlotte, Filius Alphonse, die Köchin Aurelia Litzelsberger sowie das Dienstmädel Gerti. Letztere versteckte sich hinter der Köchin und zupfte nervös an ihrer Schürze. Mit hochrotem Kopf und bohrendem Blick musterte der Hofrat die Seinen.

»Gerti, du Trampel! Warum versteckst du dich hinter der Frau Aurelia? Komm einmal her da!«

Zitternd wie Espenlaub trat das Kind vor seinen Dienstgeber.

»Du hast doch mein Sakko heute früh zum Ausbürsten geholt. Wo hast du’s hingegeben?«

»Außeg’hängt am Gang hab ich’s … zum Lüften.«

»Und dann?«

»Dann war’s plötzlich nimma da …«

Auf dieses unter Tränen gemachte Geständnis folgte eine Ohrfeige, die das dickliche Mädchen fast von den Beinen riss. Aurelia Litzelsberger fing die Kleine auf. Sie umarmte das heulende Elend und sagte in ruhigem Ton:

»Gnädiger Herr, ich fürchte, Ihr Sakko ist einem Kaudemhalchener in die Hände gefallen. Die Gerti wird Ihnen jetzt ein anderes holen. Das dunkelgraue vielleicht? Das müsste auch gut zu Ihrem Gilet12 und Ihrer Hose passen.«

»Kaudemhalchener? Ist das so ein Kerl, der sich in der Früh in Häuser einschleicht und alles stiehlt, was nicht niet- und nagelfest ist?«

Die Köchin nickte.

»Es tut uns leid, gnädiger Herr, dass das passiert ist. Ich werde der Gerti in Zukunft auf die Finger schauen, dass sie nix mehr draußen am Gang herumhängen oder herumstehen lässt.«

»Mein schönes marineblaues Sakko …«, jammerte der Hofrat. Nun klopfte ihm seine Frau auf die Schulter und sagte:

»Mach so, wie die Frau Aurelia gesagt hat: Nimm das dunkelgraue Sakko und echauffier dich nicht weiter. Du weißt doch, das tut deinem Magen nicht gut.«

Mit leidender Miene griff sich der Hofrat nun an den Leib und jammerte:

»Du hast ja so recht, meine Liebe. Ich spür’s eh schon wieder. Das Brennen und Ziehen im Magen.«

Der Hofrat ließ sich in einen Fauteuil fallen und seufzte. Plötzlich sah er auf, fixierte mit strengem Blick seine Kinder und sagte in barschem Ton:

»Was steht ihr da herum wie die Mamlasse13? Schaut, dass ihr in die Schule kommt! Alphonse! Denk daran, wenn du die Lateinarbeit heute nicht meisterst, gibt es Hausarrest. Und nun geht!«

*

Joseph Maria Nechyba zog sich gerade die Schuhe aus, als es an seiner Wohnungstür klopfte. In der Annahme, dass es seine Ziehmutter Anna Grubenschlager sei, rief er:

»Komm rein, du störst nicht.«

Vorsichtig wurde die Tür geöffnet. Aber statt der kleinen, zusammengesunkenen Gestalt der Anna Grubenschlager stand eine groß gewachsene Frau in der Tür.

»Nechyba, erwartest du Damenbesuch?«

Wie vom Donner gerührt sprang er auf. Bloßfüßig und mit rotem Kopf stammelte er:

»Au … Aurelia … was tust du denn hier?«

»Ich wollte mir schon seit einiger Zeit deine Wohnung anschauen. Aber heute scheint es ungünstig zu sein. Du erwartest ja jemanden …«

Nechyba stürmte auf die geliebte Frau zu und umarmte sie. Dabei murmelte er:

»Ja, auf dich hab ich g’wartet. Den ganzen Tag hab ich schon an dich gedacht. Und jetzt stehst da in der Tür …«

Er wollte sie küssen, doch sie wehrte ab.

»Also, wenn hast erwartet, Nechyba?«

»Niemanden! Aber wenn es so klopft, ist es immer die Antschi-Tant. Von der hab ich dir ja eh schon erzählt.«

Aurelia Litzelsberger sah ihn forschend an, dann nahm sie ihn bei der Hand und sagte:

»Komm, zeig mir deine Wohnung!«

Verlegen führt Nechyba sie durch die Wohnküche in den darauffolgenden Raum, der sowohl als Wohn- als auch als Schlafzimmer diente. Aurelia schaute sich überall um und fuhr dann mit einem Finger über die Oberkante eines Kastens. Den staubbedeckten Finger hielt sie ihm unter die Nase und sagte tadelnd:

»Na, Herr Inspector, beim Aufspüren von Staub sind wir aber nicht so erfolgreich wie beim Aufspüren von Strolchen.«

»Weißt, liebe Aurelia, ich bin halt nur a Mannsbild, das was alleine wohnt. Einmal im Monat putzt mir die Antschi-Tant die Wohnung. Ich bin ja nur selten da. Ich hab’ so viele Nachtdienste und überhaupt … Wenn ich’s gemütlich haben will, geh ich ins Café Sperl.«

Und wie er so verlegen dastand und sich schämte, konnte Aurelia nicht anders, als ihn umarmen und küssen. Nechyba ergriff die Gelegenheit und küsste stürmisch zurück. Ehe sich Aurelia versah, lag sie auf Nechybas Bett und schmuste mit dem geliebten Mann. Neuerlich klopfte es.

Es war, wie wenn man einen Kübel kaltes Wasser über die beiden geschüttet hätte. Wie Kinder, die etwas Unrechtes getan hatten, sprangen Joseph Maria und Aurelia vom Bett auf. Beide hatten rote Backen, Aurelia richtete sich hektisch ihr Haar, das sie wieder zu einem Knoten hochsteckte. Nechyba tappte inzwischen durch die Küche zur Wohnungstür und öffnete sie.

»Pepi! Bist schon lang daheim?«

»Nein. Erst seit einer Viertelstunde.«

»Magst auf ein Lammgulasch zu mir rüberkommen?«

»Das geht leider net. Weil … weil ich hab … ich hab was zu tun …«

»Pepi, was hast denn jetzt am Abend noch zu tun?«

»Er zeigt mir gerade seine Wohnung!«, ertönte eine Stimme aus dem Zimmer, »ich nehme an, Sie sind die Antschi-Tant. Joseph Marias Ziehmutter.«

Nechyba stand da wie ein dummer Schuljunge, während Aurelia auf die alte Frau zuging und ihr herzlich die Hand schüttelte.

»Ich bin die Aurelia. Wahrscheinlich hat er Ihnen eh schon von mir erzählt.«

Anna Grubenschlager fasste mit beiden Händen die Hand der Köchin und ließ sie nicht mehr los. Die alte Frau strahlte über das ganze Gesicht:

»Sie sind die Frau Aurelia! Na, dass ich Sie endlich einmal kennenlern. Haben S’ einen Hunger? Wollen S’ ein bisserl ein Lammgulasch probieren?«

»Ja gerne!«

»Na, dann kommen S’ mit in meine Wohnung. Und du, Pepi, könntest runter zum Wirt gehen und einen Krug Bier holen. Damit wir was zum Trinken haben. Zum Gulasch dazu.«

*

Als er mit dem Krug Bier zurückkam, hatte er den Eindruck, zu stören. Die beiden Frauen unterhielten sich in so einem vertrauten Plauderton, als ob sie einander schon seit Jahrzehnten kennen würden. Sie beachteten sein Erscheinen nicht weiter, denn Aurelia erzählte der alten Frau gerade, wie sie als junges Mädel im Haushalt des Erzherzogs Ludwig Viktor das Kochen erlernt hatte. Schmollend goss Nechyba Bier in die drei am Tisch stehenden Gläser und begann danach wortlos, das wunderbare Lammgulasch in sich hinein zu löffeln. Seine Ziehmutter erzählte nun, dass ihr das Kochen von ihrer Mutter beigebracht worden war. Diese sei eine ausgezeichnete Köchin gewesen, hatte aber eine sehr lockere Hand gehabt, was das Austeilen von Ohrfeigen betraf. Darauf antwortete Aurelia, dass ihr bei ihren Dienstmädeln auch öfters die Hand ausrutsche.

»Das tut mir nachher zwar immer leid, aber die Mädeln stellen sich manchmal wirklich fürchterlich deppert an.«

Die Antschi-Tant nickte nachdenklich, und Aurelia fuhr fort:

»Besonders leid hat mir das bei der kleinen Mizzi getan. Wie die dann so plötzlich tot war. Letztes Jahr …«

»War das die Kleine, die der Naschmarkt-Mörder umgebracht hat?«

Aurelia nickte, und Nechyba schaltete sich in das Gespräch ein:

»Die war a ganz a Liebe. Ein aufgewecktes Kind, das voll Neugierde und Tatendrang in die Welt hinausgeblickt hat.«

Aurelia nickte und seufzte:

»Aber was willst machen? Tot ist tot. Im Nachhinein kann ich die vielen Watschen, die sie von mir bekommen hat, auch nicht mehr rückgängig machen.«

Die Antschi-Tant merkte die Bedrücktheit, die sich nun breitmachte, und wechselte blitzschnell das Thema. Sie erhob das Bierglas mit folgendem Trinkspruch:

»Kinder, ich darf euch doch so nennen, seid bitte nicht traurig. Genießt vielmehr die Zeit, die euch der Herrgott gegeben hat, in vollen Zügen. Und vor allem: Genießt sie miteinander.«

Aurelia lächelt verlegen, und Nechyba, der die direkte Art seiner Ziehmutter kannte, knurrte:

»Das tun wir eh …«

Die Alte nahm einen kräftigen Schluck Bier und fügte verschmitzt hinzu:

»Aber ihr tut es nicht so richtig. So lieb, wie ihr euch habt, solltet ihr heiraten und zusammenziehen. Glaubt einer alten Frau: Die Zeit vergeht wie im Flug. Und es ist schade um jede Minute, die man nicht mit einem geliebten Menschen beisammen ist.«

*

Später auf der Straße, Nechyba begleitete Aurelia selbstverständlich zur Wohnung des Hofrats Schmerda zurück, gingen sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander. Aurelia hatte sich bei ihm eingehängt, beide waren in Gedanken versunken. Plötzlich brummte Nechyba:

»Weißt du, die Antschi-Tant hat recht.«

»Meinst das mit dem Zusammensein?«

Nechyba nickte, blieb stehen und packte Aurelia bei beiden Händen. Ein eilig dahinschreitender Passant rannte ihn sie hinein und murmelte eine Verwünschung. Dichter Verkehr von Straßenbahnen, Pferdefuhrwerken, Fiakern und Fußgängern umflutete das Paar. Inmitten dieses Gedränges und Lärms fragte Nechyba seine Aurelia mit leiser Stimme:

»Magst mich heiraten?«

*

Saugrantig betrat der Inspector am nächsten Morgen sein Büro. Eine Zeit lang saß er brütend hinter seinem Schreibtisch und seufzte immer wieder tief. Ursache dafür war die Reaktion seiner Aurelia auf den gestrigen Heiratsantrag. Statt ihm um den Hals zu fallen, hatte sie sich bei ihm eingehängt und ihn wortlos weitergezogen; hinein in das Gedränge der Passanten. Statt ihm eine Antwort zu geben, hatte sie ihm von dem verschwundenen Sakko ihres Dienstherrn erzählt. Und als sie sich vor der Tür der Schmerda’schen Wohnung geküsst hatten, bat sie ihn, in dieser Sache Ermittlungen anzustellen. Kaum war diese Bitte über ihre Lippen gekommen, war auch schon die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss gefallen. Er hatte da gestanden wie der Ochs vorm neuen Tor. Gekränkt und verärgert war er dann ins Café Sperl gegangen, wo er sich mit mehreren Schnäpsen versucht hatte zu beruhigen. Doch heute Morgen, als er aufgestanden war, war zusätzlich zu einem beachtlichen Kopfschmerz wieder dieses Gefühl der Kränkung da gewesen. Warum hatte sie ihm nicht geantwortet? Liebte sie ihn nicht? Oder nicht genug? Konnte sie sich ein Zusammenleben mit ihm und all seinen Schrullen nicht vorstellen? Sollte er in sich gehen und sich vielleicht ändern? Womöglich störte sie sein aufgezwirbelter Schnurrbart, der beim Küssen tatsächlich des Öfteren im Weg war? Oder war er ihr einfach zu fett? Gedankenverloren sah er an sich hinunter und strich mit beiden Händen über die gewaltige Wölbung seines Bauches. Andererseits, als sie gestern Abend mit ihm auf dem Bett gelegen hatte und ihren Körper an den seinen presste, hatte er nicht den Eindruck gewonnen, dass sein mächtiger Leib ihr zuwider war. Weiber! Der Inspector seufzte neuerlich. Dann gab er sich einen Ruck und pumperte14 mit der Faust an die Wand. Umgehend wurde die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, und sein Assistent trat ein.

»Pospischil! Was würde Er tun, wenn man Ihm sein bestes Sakko stehlen würde?«

Der Assistent grinste schief, griff in die Innentasche seines Sakkos, zog eine Stahlrute heraus und antwortete:

»Ich würd dem vermaledeiten Kerl, der das wagen würde, eine ordentliche Abreibung verpassen.«

»Und wenn es gestohlen worden wäre, während er es zum Lüften auf den Gang gehängt hat?«

Pospischil schaute seinen Vorgesetzten zuerst blöde an, dann kratzte er sich nachdenklich am Kopf. Schließlich antwortete er:

»Ich würde die ganzen Fetzentandler15 und die vazierenden Händler unter die Lupe nehmen.«

Nechyba starrte seinen Untergebenen an, grunzte zustimmend und beschrieb ihm dann das gestohlene blaue Sakko des Hofrats.

»Also, Pospischil. Stehen S’ nicht herum, sondern machen Sie sich auf den Weg. Schau’n Sie sich um. Ich stelle Sie für den heutigen Tag von Ihren anderen Pflichten frei.«

»Und wer holt Ihnen das Bier?«

Tatsächlich! Es war bereits Zeit fürs Gabelfrühstück. Der Gedanke, nun ein knuspriges Kümmelweckerl, das mit fein aufgeschnittenem kaltem Schweinsbraten gefüllt war, zu verzehren, heiterte sein Gemüt auf. Nechyba grinste und nuschelte:

»Schicken S’ mir den langen Paul. Der wird Sie heute beim Bierholen vertreten.«

*

Ein schönes Haus … Tja, an der Ringstraße gibt es die prächtigsten Häuser. Da wohnen die ganzen Großkopferten: Magnaten, Adelige, Industrielle. Es wär schön, hier zu wohnen. Aber unsereins kann sich das nicht leisten. Statt in einer 4- oder 5-Zimmer-Wohnung, leben einfache Leute wie ich in einem Untermietzimmer mit Wasser und Klo am Gang. Und damit man sich das überhaupt leisten kann, muss man von früh bis spät unterwegs sein und jedem einzelnen Heller nachrennen. Nein, arm sein ist nicht lustig. Ah! Noch ein schönes Haus. Das sieht überhaupt wie ein Palais aus …

Die Tür öffnete sich, und ich lüftete geistesgegenwärtig meinen Hut.

»Gott zum Gruß, schönes Kind.«

Das solchermaßen angesprochene Dienstmädchen errötete und eilte leichtfüßig davon. Ich schaffte es gerade noch, einen Fuß zwischen die zufallende Tür und den prachtvollen Türstock zu schieben. Dann war ich drinnen in dem Ringstraßenpalais. Ein leichter Schauer der Ehrfurcht überrieselte mich beim Betreten des mit prächtigem Marmor und funkelndem Messing ausgestatteten Entrees. Leichten Schrittes stieg ich die breiten Treppen empor. Ich fuhr nie mit dem Lift. Nein, ich ging zu Fuß in das Hochparterre, dann in das Mezzanin. Und, was sah ich da? Ein Anzug hängte zum Lüften auf dem Gang. Ich zögerte kurz, dann ignorierte ich ihn und spazierte weiter in die Bel-Etage. Nun musste ich schmunzeln, denn mein Bauchgefühl hatte mich nicht getäuscht. Auch hier hing ein Anzug zum Lüften im Gang. Ein prächtiger Dreiteiler aus feinstem englischem Stoff. Ohne zu zögern, griff ich zu. Meine linke Hand ließ die Schnalle der großen ledernen Arzttasche, die ich immer bei mir habe, aufspringen, und schwuppdiwupp war das Prachtstück von einem Anzug verstaut. Ich machte kehrt und ging nun mit gesetztem Schritt die Stufen hinunter. Im Mezzanin öffnete ein Dienstmädchen eine Wohnungstür. Es erblickte meine nun prall gefüllte Arzttasche und grüßte mich mit einem:

»Guten Morgen, Herr Doktor.«

Meine handgenähten Budapester knarrten, als ich abrupt im Gehen innehielt. Der Hafer stach mich, und ich machte zwei Schritte auf das Dienstmädchen zu. Mit einer bedächtigen Handbewegung griff ich nach ihrem unteren Augenlid und zog es herunter. Obwohl ich gut durchblutetes Gewebe sah, sagte ich in väterlichem Tonfall:

»Du bist so blass, mein Kind. Nicht gut durchblutet. Trink doch öfters ein Glas Milch. Das wird dir gut tun.«

Die Kleine errötete und machte dankbar einen Knicks vor mir. Ich wendete mich wieder den Stiegen zu und verabschiedete mich mit einem beschwingten:

»Guten Morgen.«

*

Nechyba stopfte gerade mit Genuss ein Stück Rotschmierkäse in den Mund, als es an der Tür klopfte. Verärgert über diese Unterbrechung seines Gabelfrühstücks, rief er:

»Wer stört?«

Die Tür wurde vorsichtig vom langen Paul geöffnet, der trat jedoch zur Seite, und Polizeirat Valentin Wakaunig, die rechte Hand des Polizeipräsidenten Johann von Habrda, betrat das Zimmer. Nechyba schluckte eilig hinunter und räumte die Reste des Käses sowie des Buttersemmerls in die Schublade seines Schreibtisches. Wakaunig betrachtete diese hektischen Verrichtungen mit steinerner Miene und richtete Nechyba dann Folgendes aus:

»Sie können gleich weiteressen. Wenn Sie fertig sind, sollten Sie aber schleunigst zum Herrn Polizeipräsidenten kommen. Der möchte Sie unbedingt sprechen. Warum, ist mir schleierhaft, aber es ist so. Übrigens ein Rat von mir: Wenn S’ net dauernd essen würden, wären Sie auch nicht so dick … Hawedere16, Herr Inspector.«

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand. Nechyba hatte einen roten Schädel bekommen. Er stürzte in einem Zug das restliche Bier hinunter und herrschte den in der Tür stehenden und blöde glotzenden Paul an:

»Was schaut Er so kariert? Mach Er die Tür zu. Und zwar von außen.«

Pospischil nickte und zog sich eilig zurück. Nechyba schnaufte. Was wollte der Polizeipräsident von ihm? Er wusste es nicht. Allerdings war ihm nach Wakaunigs Auftritt der Appetit vergangen. Schade um das gute Stück Käse … Na ja, er könnte es ja auch am Nachmittag als Jause verspeisen. Sorgfältig fegte er mit dem Handrücken die zahlreichen Semmelbrösel von seinem schwarzen Anzug, dann säuberte er seinen gewaltigen Schnauzbart und schließlich rückte er seine Krawatte zurecht. So, nun war er bereit, vor den Polizeipräsidenten zu treten.

»Nechyba! Hab Sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie haben in der letzten Zeit aber ganz schön zugenommen … Ich hab gehört, dass Sie mit einer Köchin liiert sind. Kocht diese Person so gut?«

Nechyba biss sich auf die Lippen. Wakaunig hatte dem Polizeipräsidenten offensichtlich von Nechybas Gabelfrühstück erzählt. Woher wusste der aber von seiner Aurelia? Als Habrda Nechybas Verlegenheit und Ratlosigkeit sah, begann er zu schmunzeln. In einem begütigenden Tonfall fuhr er fort:

»Das mit der Köchin hat mir deren Dienstgeber, der Hofrat Schmerda, ein alter Schulfreund, erzählt. Und da sind wir auch gleich beim Grund, warum ich Sie rufen hab lassen. Der Herr Hofrat vom Innenministerium hält große Stücke auf Sie. Und deshalb hat er mich gebeten, dass Sie in einer ärgerlichen Sache die Ermittlungen übernehmen sollen. Anfangs hab ich diese Bitte abgelehnt, aber die Situation hat sich verändert. Stellen Sie sich vor, es gibt da in Wien einen Kaudemhalchener, der sich frech in die allerbesten Häuser einschleicht und dort Gewand und Schuhe stibitzt. Nun ist das eigentlich kein Fall für das k.k. Polizeiagenteninstitut. Aber: Gestern wurde dem Herrn Gerichtspräsidenten Schmidt, der in einem Haus an der Ringstraße wohnt, sein dreiteiliger Anzug gestohlen. So wie vor einer Woche dem Hofrat Schmerda sein Sakko.«

Nechyba atmete erleichtert auf. So verhielt sich das also. Johann von Habrda sah Nechyba ernst an und fuhr in dienstlichem Tonfall fort:

»Inspector Nechyba, ich beauftrage Sie und Ihre Gruppe, diesen Kaudemhalchener so schnell wie möglich zu verhaften und aus dem Verkehr zu ziehen. Der Kerl hat übrigens auch dem Baron Wertstein einen Anzug samt der darin befindlichen Taschenuhr sowie dem Ministerialrat Zmeskal zwei Paar handgenähte Schuhe gestohlen. Dieser Pülcher17